[258] Die Fee Langeweile.

Ein König und eine Königin hatten eine wunderschöne Tochter, an deren Wiege traten böse Feen und wünschten dem Kinde allerlei Übles. Als sie fort waren, kam eine Fee, die sah lieblich aus, trug auch ein weißes Gewand, war also keine böse Fee, die sagte den trostlosen Eltern: »Ich kann die Machtsprüche jener nicht völlig wirkungslos machen, allein ich will die bösen Folgen möglichst dämpfen. Eure Tochter soll bei allem dem doch ganz ungefährdet durchs Leben kommen.« Mit diesen Worten berührte sie das Kind mit ihrem Stabe und verschwand.

Der König begleitete sie die Treppe hinab, und als er wieder heraufkam, sagte ihm die Königin: »Lieber, wir haben sie nicht gefragt, wer sie war und wie sie hieß.«

»Ich hatte die Frage auf der Zunge,« entgegnete der König, »allein, sowie ich den Mund aufmachte, mußte ich gähnen und konnte nicht sprechen.«

[259] »Seltsam!« rief die Königin, »ebenso ging es mir.«

Und dem ganzen Hofgesinde war es so gegangen, in der kurzen Viertelstunde, während die Fee in dem Palaste geweilt. Der Koch hatte eine Brühe verschüttet, weil er nicht die Anziemlichkeit begehen wollte, dem Oberküchenmeister, der gerade zuschaute, ins Gesicht zu gähnen, und während er sich abwendete und die Hand vorhielt, verschüttete er die Brühe. Dem Musiklehrer, der gerade den Hofdamen Stunde gab, blieb das hohe G in der Kehle stecken, und statt seiner wand sich ein widriger gähnender Ton langsam heraus. Der Kaplan, der die Frühmesse lesen sollte und eingeschlafen war, gähnte im Schlafe, die Hunde gähnten im Hofe, und selbst die Katze auf dem Boden unterm Dache ließ die eben gefangene Maus wieder frei, um zu gähnen. Es war seltsam, niemand konnte sich's erklären.

Als die Prinzessin herangewachsen war, kamen Feinde ins Land, eroberten es, und der König verlor sein Königreich. Überall wurde geplündert und gemordet. Auch in den Palast drang eine Schar, und die rohen Krieger fanden die zarte Jungfrau, wie sie eben willens war, mit ihren Hofdamen zu fliehen. Die Unholde stürzten über die Jungfrauen her und überwältigten sie schmählich; auch an die Prinzessin machten sich zwei Kannibalen, und schon war es ihnen gelungen, ihr die [260] sammetnen Gewänder vom Leibe zu reißen und sie auf den Boden zu werfen, als sie plötzlich innehielten, und in so anhaltendes Gähnen ausbrachen, daß sie die Kinnbacken gar nicht mehr zusammenbekamen.

»Teufel! was gibt's hier zu gähnen?« riefen die Kameraden dieser Wütriche. »Ist euch denn die Sache so langweilig; alle Wetter! uns kommt sie sehr belustigend vor.«

»Uns auch« – riefen jene – »aber – –« und nun fingen sie wieder an zu gähnen.

»Schlafmützen!« riefen die Wütenden; »selbst hierbei können sie die Augen nicht offen halten. So laßt uns heran.«

Und wie sie kamen, und kaum mit ihren vorher blutgetränkten Händen den Leib der schönen Prinzessin berührt hatten, gähnten sie ebenfalls wie toll. Da brach der ganze Trupp in Lachen aus und rannte von dannen. Die Prinzessin war aus einer großen Gefahr gerettet. Die Hofdamen, die nicht gerettet waren, suchten sich damit zu trösten, daß es im Kriege nun einmal nicht anders herzugehen pflegt.

Die Prinzessin flüchtete in ein benachbartes Königreich, wo ein sehr schöner Prinz eben den Thron bestieg. Der nahm die schöne Unglückliche bei sich auf und heiratete sie.

[261] Aber das Mißgeschick, das die bösen Feen heraufbeschworen hatten, setzte seine Verfolgungen fort. Der junge König, der sehr mißtrauisch und eifersüchtig war, faßte einen Verdacht gegen seine Gemahlin, als sei sie ihm untreu, und ließ sie zum Tode verurteilen. Die Knechte, die sie morden sollten, hatten nicht den Mut dazu, und setzten die schöne Frau im Walde aus. Hier lebte sie in größtem Elend, von Wurzeln sich nährend, in einer Höhle.

Da kam eines Abends ein Mann in einem schwarzen Mantel, mit einem roten Unterfutter zu ihr und setzte sich auf die Bank vor der Höhle.

»Wer sind Sie?« fragte die Prinzessin.

»Ich bin der Teufel und komme, Sie zu verführen.«

»Mich verführt man nicht so leicht«, entgegnete die Prinzessin lächelnd.

»Ei, mein Schatz, lehren sie mich nicht die Weiber kennen!« sagte der Teufel mit einer groben Miene. »Ein junges Mädchen, das so allein im Walde wohnt und noch dazu so leicht bekleidet geht –«

»Ich bin von meinem Manne unschuldig verfolgt und verjagt«, sagte die Prinzessin.

»Unschuldig,« rief der Teufel und lachte höhnisch. »Man kennt das. Bei mir, mein Engel, kommen Sie mit dergleichen nicht durch. Wie gesagt, ich will Sie in die Hölle bringen.«

[262] »Aber ich will nicht hinein!« schrie die Prinzessin wütend.

»Man fragt die Leute nicht,« sagte der Arge. »Ich führe Sie ab. Vorher aber möchte ich eine Tasse Tee trinken. Hier unterm großen Eichbaum vor der Höhle muß sich's ganz hübsch sitzen lassen. Haben sie Teegeschirr bei sich?«

»In einer Höhle hat man kein Teegeschirr,« entgegnete die Prinzessin, die da hoffte, der böse Gast würde sich jetzt davon machen; allein er blieb, ließ durch seine Geister einen Teetisch unter der Eiche hinzaubern, setzte sich hin, braute sich Tee, goß der Prinzessin auch eine Tasse ein und fragte: »Befehlen Sie mit Arak oder mit Sahne?«

»Ich werde mir etwas Sahne ausbitten«, entgegnete die Prinzessin.

»Gut, hier ist welche. Ha, sie tanzen gewiß und singen auch sehr schön? Nicht wahr? Meine Geister haben da eine Laute mitgebracht. Wohlan, meine Schöne, singen Sie mir etwas vor, und tanzen Sie zugleich. Ich bin ein Freund der schönen Künste.«

Die Prinzessin ergriff die Laute und sang eine Romanze, die hundertundsiebzig Verse hatte. Der Teufel goß ungeheuer viel Arak in den Tee, demnach konnte er bei dem Gesange nicht munter bleiben. Er gähnte[263] fürchterlich und entschlief, ehe die Prinzessin noch den Tanz begonnen hatte.

Die Prinzessin steckte alles Silberzeug vom Teetisch ein, und entlief so rasch als sie konnte. »Gott sei Dank!« rief sie, »ich bin der Hölle und dem Teufel entgangen. Wieder eine große Gefahr überstanden.«

In der nächsten Stadt verkaufte sie das Silberzeug – den Teufel zu bestehlen kann unmöglich eine Sünde sein –, kaufte dafür neue Kleider und setzte ihre Reise fort. Sie wollte eigentlich in das ehemalige Königreich ihrer Eltern zurück, allein sie wußte den Weg nicht.

Als sie eines Abends ratlos vor einem Wegweiser stand, dessen beide Arme abgebrochen waren und der deshalb nur seinen guten Willen kundgab den Weg zu zeigen, aber ihn in Wahrheit nicht zeigte, sah sie eine alte Frau, die über und über in Tücher und lange schleppende Gewänder gehüllt war, auf sich zu humpeln.

»Gute Alte, gehen wir vielleicht einerlei Weg?« fragte sie.

»Es ist unmöglich,« war die Antwort, die dumpf unter den Tüchern hervorscholl, »jeder Weg, den ich einschlage, ist für mich der rechte.«

»Ei, habt Ihr so viel Gänge zu tun?«

»Entsetzlich viele.«

»Man erwartet Euch wohl überall?«

[264] »Man erwartet mich nirgends.«

»So überrascht Ihr neue Freunde?«

»Ich habe keine Freunde. Wer mich kommen sieht, wünscht sich zehntausend Meilen weit von mir.«

»Wer seid Ihr denn?«

»Ja, ratet mal.«

»Wie soll ich's raten?« sagte die Prinzessin unwillig. »Ich kann ja nicht einmal Eure Nasenspitze sehen.«

»Nasenspitze?« wiederholte die Alte; »die hab' ich nie gehabt. Das ist das Charakteristische in meinem Gesichte.«

»So laßt mich in Eure Augen blicken.«

»Zufällig hab ich keine.«

»So laßt mich Euren Mund sehn.«

»Er ist etwas groß, ich schäme mich seiner.«

»Ei, seid Ihr so eitel, gute Alte?«

»Nennt mich nicht ›Alte‹. Wißt Ihr denn, ob ich ein Weib bin?«

»So seid Ihr ein Mann.«

»Ja, und noch dazu der Eurige!« rief der Tod, und warf alle Hüllen weg und stand als Knochengerippe vor der erschreckten Wanderin. »Kommt, kommt! Ihr habt mich nicht umsonst nach dem Weg gefragt, ich will Euch nach Hause leiten.«

»Ich danke,« rief die Prinzessin. »Ich besinne mich[265] eben, daß die Gegend mir doch nicht so ganz unbekannt ist; ich werde mich allein nach Hause finden.«

»Nichts da, Ihr kommt mit mir, mein Schatz. Dem Tode entrinnt man nicht. Nur bis zum nächsten Meilenzeiger will ich Euch leben lassen. Erzählt mir unterdessen etwas – wir plaudern zusammen, während wir weitergehn.«

Die Prinzessin hub an zu erzählen. Der Tod setzte sich auf eine Bank am Wege und gähnte. »Etwas rascher,« rief er, »ich liebe nicht die langen Erzählungen. Wollen wir gleich zur Entwicklung kommen?«

»Wir sind schon ganz nahe dabei«, entgegnete die Prinzessin, die sich neben den Tod auf die Bank gesetzt hatte.

Der Tod zog seine Uhr hervor und rief erschreckt: »Paff! schon ein viertel auf zwölf. Um zwölf Uhr muß ich in der Stadt sein. Bis dahin hält der Hokuspokus des Arztes noch das Leben des Königs auf.«

»Welches Königs?« fragte die Prinzessin. Aus der Antwort des Todes erfuhr sie, daß es ihr grausamer Gemahl sei, der auf dem Sterbebette lag. »Ach!« rief sie, »wenn er tot sein wird, ziehe ich in die Stadt ein und bin Königin. Vorher muß ich mich aber von dem Tod freimachen.« Und sie erzählte weiter.

Der Tod gähnte, als wollte er eine ganze Welt verschlingen. [266] Die Prinzessin erzählte immer weiter; endlich fiel der Tod von der Bank und lag im Grase und schlief wie ein Murmeltier. Diesen Zeitpunkt benutzte die Prinzessin, um zu entschlüpfen. So war sie auch aus der dritten, ihr prophezeiten großen Gefahr befreit.

Jetzt ging sie in ihr Königreich und regierte dort viele, viele Jahre. Es war ununterbrochener Friede unter ihrem Zepter. Kein Krieg, kein Aufstand, nicht einmal ein Auflauf auf den Straßen kam zustande. Wozu das? fragten sich die Untertanen, es macht uns doch nur Langeweile. Sehr viele starben aus Langeweile, aber es war ein seliger Tod, und man beneidete sie. Endlich starb die Königin auch. Da der Teufel sie nicht in der Hölle aufnehmen wollte, denn er wußte es aus Erfahrung, wie böse mit ihr zu verkehren war, brachte man sie auf den Mond. Von dem Augenblick an kam der Mond nie aus dem ersten Viertel heraus. Die Astronomen, die am Himmel herumstöbern und jede Heimlichkeit daselbst herausbringen, bemerkten, daß der Mond sich eine Schlafmütze über die Ohren gezogen hatte und daß er fest schlief. Man mußte die Königin wieder fortnehmen und brachte sie auf die Sonne. Alsbald merkten wieder die Astronomen, daß an der Sonnenscheibe ein ungeheurer schwarzer Fleck sich kundgab. Als sie näher hinschauten, war es ein fürchterliches [267] Maul, das die Sonne gähnend aufsperrte, und das sie gar nicht wieder schloß, so daß es bereits begann auf der Erde so dunkel zu werden, daß die Schneider in der Mittagsstunde nicht mehr das Öhr ihrer Nadeln finden konnten, um den Faden einzufädeln. Es war demnach hohe Zeit, daß man die unglückliche Königin wieder schleunig von der Sonne wegnahm. Man brachte sie auf einen Stern, aber flugs wichen die andern Sterne, siebenzig Millionen Meilen in der Runde, aus ihren Bahnen, und wenn man nicht wollte, daß das ganze Weltsystem auseinander fiele, so mußte man auch hier die Königin schnell fortbringen. So brachte man sie denn in den Himmel, wo sie eigentlich nicht hinkommen sollte, weil sie dessen noch nicht würdig war. Die Heiligen, die alles über winden und ertragen, überwinden und ertragen auch die Langeweile.

»So ist's denn wahr geworden,« rief die Königin, »das Mißgeschick das mir zugedacht war, hat sich in Glück verwandelt. Dank sei der gütigen Fee, die an meiner Wiege erschien.«


Wer die Kunst zu ennuyieren
So recht aus dem Grund versteht,
Den kann kein Unglück mehr berühren,
Er herrscht in ew'ger Majestät. –
[268]
Er tötet seine Feinde
Mit unsichtbarem Pfeile.
Nicht Tod, nicht Sünde, nicht Teufel
Hält Stand der Langenweile.
Sie weichen alle.
Das Weltall selbst,
Die Sterne, die kreisenden Sonnen,
Die ewigen Bronnen,
Sie alle zerstieben,
Und sinken in Nichts,
Vor dem Strahl des Angesichts,
Vor dem unsichtbaren Pfeile,
Der mächtigen Fee,
Der Fee Langeweile.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Ungern-Sternberg, Alexander von. Märchen. Braune Märchen. Die Fee Langeweile. Die Fee Langeweile. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7260-2