Tollers Publikum

In dem kleinen Theaterraum des Hauses an der Berliner Straße zu Charlottenburg sitzen etwa zweihundert Menschen und starren auf das Stückchen Bühne, das da in fahlem Licht vor ihnen steht. Was denken sie sich?

Neben den wenigen Verständigen, neben den berliner Literaturschiebern saß das kompakte Theaterpublikum, das nie alle wird. Man hörte ordentlich durch die Dunkelheit, wie es in ihren Schädeln knirschte. Sie versuchten, das da oben in ihre Schablonen einzuordnen, und es ging nicht; sie versuchten, Episoden zu erhaschen, Bonmots und geflügelte Worte, und es ging nicht; sie versuchten, dem Ding beizukommen, wie man eben so irgendeinem Theaterstück von Hardt oder Blumenthal oder Schönherr beikommt, und es ging nicht.

Es konnte nicht gehen, hier ist völlig Neues. Wenigstens für unsre Zeit Neues – denn es scheint, daß ostasiatische Völker ein solch stilisiertes Theater, das nicht vortäuscht, sondern eine selbständige Sache ist, schon längst haben. Und es ging auch so –! Welche Überraschung: es ging auch so. Es ging ohne die Scharen murmelnder, gleichgültiger, verrosteter und verstaubter Statisten, ohne das Ab und An und Auf von Mimen und Virtuosen, ohne Kulissenkram, ohne Rummel und ohne Spektakel. Es ging. Was nämlich die gesamten Stadttheater Deutschlands zusammen nicht mehr haben: Geist – das war hier. Es war Ernst, und es ging uns etwas an, und eine Faust griff in unsre Brust und preßte das Herz zusammen, das zuckende Bündel. Und wir schwiegen.

Das Publikum aber war stumm. Nach jener fürchterlich-herrlichen Szene, wo die fünf Soldaten – blutendes Quintett – sich parallel aus den stinkenden Kissen erhoben und nur eine Stimme aus ihnen schrie, nur ein Mund aus ihnen sprach, ein Herz klopfte, eine Lunge atmete: da weinten einige Frauen in weißen handgestickten Blusen. Die lieben Frauen –! Haben sie im Kriege geweint? Haben sie damals geweint, als die »Lusitania« torpediert wurde? Als auf hoher kalter See Leute gemordet wurden? Wasser schluckten und versanken? Als Tausende und Tausende in den Stacheldrähten hingen, in den Ackergräben verröchelten? Sie weinten vielleicht, wenn ihr Junge, ihr Mann, ihr Geliebter dabei war. Wußten sie den in Sicherheit, dann jauchzten sie und freueten sich, denn siehe! das Hauptquartier hatte eine gewonnene Schlacht gemeldet. Und der Begriff ›französische Mütter‹ war hierorts ausgelöscht. Die lieben Frauen –! War ihr Herz nicht immer bei den Siegern? Bei denen, die obenauf waren? Bei den Starken? Da standen sie, die drei Krankenschwestern auf der kleinen Bühne, und da saßen die andern unten im Parkett – aber nur die da oben brachen mit einem Wehlaut zusammen vor dem, was da in den Betten lag. Die Blusendamen weinten. Es war so rührend. War es das? War es das wirklich? Hätten nicht dieselben Damen einer Kriegsliteratur zugejubelt, die Gott behüte entstanden [202] wäre, wenn dieser Krieg gewonnen worden wäre? Sie hätten gejauchzt, wenn die Witze auf die feigen Franzosen und ekelhaften Engländer und schmutzigen Russen nur so gehagelt wären. Keine Sorge: sie haben gejauchzt. Besinnt ihr euch noch auf die Kriegspossen des Kriegsanfangs?

Zwei Reihen vor mir saß ein Mann mit martialischem Kragen und furchterregenden Schmissen im Gesicht, getränkt von Offensivgeist. Was dachte er sich? Wie muß er ein Stück gefühlt haben, das seine heiligsten Güter in den Staub zog, oder wie man zu sagen pflegt? Er folgte dem Judenjungen da oben noch allenfalls, wenn der in der Idee ›Vaterland‹ aufging – höher hinauf reichte es bei ihm nicht. Phrasen. Drückebergerei. Utopie.

Das Publikum blieb stumm. Doch: einmal lachten sie. Das war, als der Medizinprofessor den Todkranken Rizinus verordnete. Ach, wir haben nicht gelacht, als uns das bei lebendigem Leibe passierte. Schade: ich hätte es lieber gesehen, wenn dieser Menschenarzt nicht zur Marionette stilisiert worden wäre – er hätte einen gut sitzenden Gehrock tragen müssen oder, noch besser, eine prallsitzende Uniform, und das Gehirn des Publikums hätte ihn durchaus ernst nehmen sollen. Schade: er war durchsichtig dumm. Und daß seine große Rede (»Die Rüstungsindustrie schlägt das analytische Verfahren, wir, die Ärzte, das synthetische ein«) eine blutige Parodie auf das salbungsvolle Pathos dieser Helfershelfer zum Morde war: das merkte keiner von denen. Man muß ihre Götter nicht travestieren. Es genügt, sie darzustellen.

Das Publikum blieb stumm. Ergriffenheit? Du lieber Gott, auch die Kuh bleibt stumm, wenn man ihr die ›Neunte Symphonie‹ vorspielt. Sie rupft ihr Gras. Und Realforscher schreiben einen gelehrten Essay über die Wirkung der Musik auf die pflanzenfressenden Tiere.

Das Publikum blieb stumm. Und da oben riß einer sein Herz auf und predigte das Evangelium der Liebe – zum wievielten Mal auf dieser Welt? Und ich dachte: Aber es ist ja nicht neu. Es ist ja immer dasselbe, von Christus bis Tolstoi immer dasselbe, nur, daß der es wieder einmal als erschütternd neu und lebendig gefühlt hat, daß das Erstarrte sich in ihm zu lösen begann, und daß er die alten Worte durchblutete und zu neuem Leben aufschrie.

Das Publikum blieb stumm. In diese Köpfe geht nichts mehr. Verdummt, eingeschüchtert, verängstigt, durch ein vierjähriges Trommelfeuer von Lügen und Übertreibungen eines verlogenen Presse-Apparates zu Grunde gerichtet, lassen sie apathisch alles vorbeigehen, was gepredigt wird, und wachen erst auf, wenn das Straßenbahnabonnement erhöht wird. Und vor einem kleinen Stückchen Holz, vor ein paar schwarzen Vorhängen stand einer und schrie das hinaus, was uns alle angeht, was unsre Sache ist, was wir wollen und sind und erstreben und nicht erreichen. Schrie von dem Haß, mit dem allein es nicht getan [203] sei . . . und ich wurde ganz klein auf meinem Stuhl. Ich bekenne: ich habe gehaßt, vier, fünf, sechs Jahre lang, und ich hasse heute noch mit der ganzen Kraft, deren ich fähig bin. Ich weiß, daß es nicht recht ist. Ich weiß, daß ich so nur das Korrelat eines alldeutschen pensionierten Obersten bin. Ich weiß, ich weiß. Und doch hasse ich den Typ des Deutschen, wie er sich in diesen Stabsärzten, in diesen Offizieren, in diesen Verwaltungsbeamten, in diesen Subalterngeistern darstellt, und fühle mich dem letzten slawischen Bauern näher als diesen da.

» . . . und hätte der Liebe nicht.« Auch diese seien arme, verblendete Menschen, sagt Toller. Vergib mir.

Vor wem sprechen diese Gestalten? Vor wem öffnet sich ein Herz weit, weit, vor wem strömen Blutbäche, rinnen Adernbahnen? Vor einem Parkett, das auch nicht auf der untersten Stufe zu dieser Leiter steht. Vor Leuten, die zum allergrößten Teil und bestenfalls dem ›Kommis des Tages‹ nachlaufen, den brandhaarigen, argumentgewandten Podiumssatrapen, die heute so können und morgen so, »Marschiert! Marschiert!« sagt da oben der Mann des Stückes zur Masse. Aber zuvor: Habt den Geist! Ein freundlicher Imperativ. Und eine blanke Unmöglichkeit,

Das Stück gehört nicht in dieses Theater. Es ist ein Wagnis gewesen, es aufzuführen, und ein dankenswertes Wagnis. Ein gekrümmter Knöchel schlug an verschlossene, dicke Bohlentüren. Es ward nicht aufgetan. Toller telegrafierte aus dem Gefängnis, in das man ihn geworfen, weil nach § 9 b des Gesetzes über den Belagerungszustand vom Jahre 1851 die derzeitige Revolution als beendet anzusehen war: sein Stück gehöre den Arbeitern, nicht den Bürgern. Himmel, entsinnt ihr euch, welche unglaublichen Charakteristiken über Ernst Toller durch die Blätter gingen, als er in München politisch tätig war? Ein lächerlicher Verbrecher. Ein verrückter Schwarmgeist. Ein Hanswurst. Ein Rowdy. Ein eitler Geck, der Napolium äfft. Gott schenke uns viele solche.

Das Stück gehört den Arbeitern. Wenn die's nicht verstehen, ist es ein Schmarrn. Wenn sies nicht ganz verstehen, nicht auf den ersten Anhieb verstehen: so mögen sie es zweimal sehen und es lesen und sich erklären lassen. Aber in der Masse gärt und brodelt es, der Zahlabend der Bezirksorganisationen gibt bei keiner Partei – auch bei den Unabhängigen nicht – die geistige Nahrung, die not täte und die dem jungen ringenden Arbeiter Brot schenkte und Segen. Das Stück gehört vor die richtigen Augen, vor die richtigen Köpfe, vor die richtigen Gehirne. Hier ist es bestenfalls eine kleine Sensation.

»Wenn wir das gewußt hätten«, sagte hinter mir eine junge Dame zur andern jungen Dame, »dann wären wir nicht hingegangen! Sonst sieht man doch immer am Titel, was los ist – aber hier . . . !«

Laß mich noch kämpfen, Toller. Kämpfe du mit dem Kreuz, ich kann es noch nicht. Ich will zu dir kommen und dir sagen, wenn ich den langen Weg gegangen bin, der zur Liebe führt.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1919. Tollers Publikum. Tollers Publikum. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6B6B-3