Offener Brief

Sehr geehrter Herr!
Siegfried Jacobsohn übergab mir Ihren Brief vom 27.3.

Wenn Sie die Aufsätze ›Militaria‹ in der›Weltbühne‹ und nicht nur im Auszug gelesen hätten, würden Sie wissen, daß es uns nicht darauf ankam, einzelne Fälle zu enthüllen. Das ist nicht unsere Aufgabe. Was wir angegriffen haben, war nicht der einzelne Offizier, der sich Verfehlungen zuschulden kommen ließ – es war der Geist, der so tief in den Köpfen steckte, daß die meisten Offiziere heute noch nicht wissen und nicht wissen wollen, was da draußen eigentlich vor sich gegangen ist: daß der Mann ein kleiner Haufen Dreck war und der Offizier ein Herr . . . Aber beide keineswegs etwa deutsche Männer; daß der eine sehr mäßig und häufig ganz schlecht und unzureichend zu essen bekam und der andere im Kasino immer satt zu essen hatte und in fast allen Fällen weit über den Etat hinaus empfing und empfangen ließ; daß die Erziehung des Offizierkorps sich darauf beschränkte, bei seinen Angehörigen einen Dünkel großzuziehen, den nicht nur die Intellektuellen unter den Mannschaften bemerkten, sondern der alle bis aufs Blut demütigen mußte.

Demgegenüber scheint es mir belanglos, bei den paar Fällen, die ich zur Illustration anführte, den Denunzianten (!) zu machen. Das nutzt nichts. Bringe ich sie Ihnen nicht, so werden Sie in der nächsten Sitzung eines nationalen Vereins aufstehen und sagen: »Meine Herren, der Ignaz Wrobel ist ein Verleumder.« Bringe ich sie Ihnen, so geben Sie sie sicherlich weiter und von dreien winden sich zwei heraus – ich habe das zu oft (!) erlebt – und es bleibt einer. Oder aber, es gelingt der zuständigen Stelle wirklich, die drei oder die acht zu fassen, aber dann werden Sie immer erst sagen: »Gut, das sind acht, aber wo ist erwiesen, daß die Allgemeinheit so war.«

Sehr geehrter Herr, wir sind nicht mehr bei der Beweisaufnahme: wir sind nach dem Urteilsspruch, wenn auch leider nicht bei seiner Vollstreckung. Was uns alle – ich darf der Ordnung halber hinzufügen, daß ich mir im Kriege die Achselstücke erworben habe – so maßlos empört hat, das waren keine Einzelfälle – das war der Geist. Ich habe hier in Berlin, als ich zurückkam, viele Kameraden gesprochen – von allen Kriegsschauplätzen – und sie berichten alle, alle dasselbe.

Ich bedaure Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können – diese Verfahren post festum sind so wichtig wie die Frage, ob ein Dreieck in der Geometrie grün oder rot ist. Hier geht es um ganz etwas anderes.

Ich verkenne nicht die Tragik, die darin liegt, daß ein Mann das zusammenbrechen sieht, was er sein ganzes Leben lang mit den besten Kräften hochgehalten hat. Wir haben keine Zeit, uns bei der Tragik [102] aufzuhalten. Seien Sie überzeugt, daß wir Jungen alles tun werden, um den Offizier künftig unmöglich zu machen.

In ausgezeichneter Hochachtung ergebenst

gez. Wrobel


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1919. Offener Brief. Offener Brief. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-69E1-9