Le ›Lied‹

Bétove ist kein Druckfehler, sondern ein Klavierhumorist. Er hat eine Brille, einen schadhaften Fuß und lange Haare. Er spielt eine ganze Oper vor: mit Chor, Liebesduett und Racherezitativ, genau so schön von vorvorgestern wie die meisten Aufführungen in der Opéra Comique – neulich sah ich daselbst einen älteren, etwas asthmatischen Herrn als Figaro umherrollen, und jedesmal, wenn die Damens die Noten Wolfgang Amadeus Mozarts gesungen hatten, raste das Haus, und das Ganze erinnerte an den Humor, der unter Hartmann in Charlottenburg entwickelt wurde und wohl in Görlitz noch entwickelt wird. Becher her, stoßt an! Und dieselben Leute, die in der Opéra Comique solchem Gewerke applaudieren, gleich hinter den Boulevards, da, wo der kleine Platz Boieldieu abends so aussieht, als müßten gleich alle Passanten im Takt zu singen anfangen, und als käme hinter einer Ecke ein Page mit einem rosa Billett herausgelaufen, kommt aber keiner – dieselben [356] Leute freuten sich sehr über Herrn Bétove, weil seine harmlose Parodie lustig anzuhören war. Er parodierte, was hier für die Musikabonnenten im Schwange ist: ›Die Regimentstochter‹.

»Manche Völker sind musikalisch – dem Franzosen ist die Musik nicht unangenehm«, hat Jean Cocteau einmal gesagt. Oh, sie sind hier sehr gebildet. Vor einiger Zeit haben sie sogar einen Abend gegeben: ›Le lied à travers les âges‹ – die geschichtliche Entwicklung des deutschen ›Liedes‹, mit gesungenen Beispielen.

Bétove fährt also fort; jetzt singt er etwas Spanisches, er kann kein Wort dieser Sprache, soviel ist einmal sicher, aber er gurgelt und lispelt ein Spanisch, wie er es auffaßt; er hats gehört, wenn die spanischen Paare auf dem Varieté in die kontraktliche Leidenschaft kommen. Sogar die Pause ist da, in der nur die Schritte der Tanzenden rhythmisch auf den Planken schleifen, tschuck-tschuck-tschuck – da setzt die Musik wieder ein. Das ist gewiß nicht neu; wir haben das hundertmal gehört, wie einer englische songs kopiert, französisch näselt. Pallenberg kann das meisterlich und Curt Bois auch . . . Aber Bétove kündigt nun noch mehr Nationallieder an, nennt einen Namen, den ich nicht genau verstehen kann. Fritz . . . ? und beginnt ein Vorspiel. Still –

Das Präludium ist edel-getragen, und der kleine Mann am Klavier macht ein trauriges Gesicht, bekümmert den Kopf schüttelnd blickt er offenbar in das goldige Grün des Waldes, was mag sein blaues Auge sehn? Und nun beginnt er zu singen, und mir läuft ein Schauer nach dem andern den Rücken herunter.

Das ist kein Deutsch. Der Mann kann wahrscheinlich überhaupt nicht Deutsch, aber es ist doch welches. Es ist das Deutsch, wie es ein Franzose hört – Deutsch von außen. Da klingt: le ›lied‹.

Ein deutscher Mann schreitet durch den deutschen Wald, die Linden duften, und die deutsche Quelle strömt treuherzig in einem tiefen Grunde.

Im grünen Wallet
zur Sommerzeit –

Ich verstehe kein Wort, es hat keinen Sinn, was der da singt, aber es kann nichts anderes heißen. Die Musik ist durchaus von Loewe – es ist so viel dunkles Bier, Männerkraft, Rittertum und Tilsiter Käse in diesem Gesang. Soweit ich vor Grauen und Lachen aufnehmen kann, hört es sich ungefähr folgendermaßen an:

A-ha-haa-schaupppttt
da-ha-gerrächchzzz –!

– an die weichen Stellen der Melodie setzt der Kerl jedesmal einen halten Konsonanten und erweckt so den angenehmen Eindruck eines, der lyrisch Lumpen speit. Aber nun wird die Sache bewegter.

Der Eichwald rauschet, der Himmall bezieht sich, im Baß ringt dumpf die Verdauung, der deutsche Mann schreitet nunmehr hügelan, Tauperlen glitzern auf seiner Stirn, die kleinen Veilchen [357] schwitzen, der Feind dräut heimtückisch im Hinterhalt, jetzt schreit der Waldes-Deutsche wie beim Zahnbrecher, vor mir sehe ich Herrn Amtsrichter Jahnke, der am Klavier lahnt und mit seinem weichen, gepflegten Bariton unterm Kalbsbraten hervorbrüllt, und in den Schoß die Schönen – jetzt Welscher, nimm dich in acht! und ich höre so etwas wie

schrrrrachchchchttttt –!

da bricht die Seele ganz aus ihm heraußer, das Pianoforte gibt her, was es drin hat, und es hat was drin, die Melodie wogt, der kleine Mann auch – und jetzt, jetzt steht er oben auf dem steilen Hügel, weit schaut er ins Land hinein, Burgen ragen stolz beziehungsweise kühn, laßt es aus den Kehlen wallen, ob Fels & Eiche splittern, die Lanzen schmettern hoch in der Luft, das Banner jauchzet im kühlen Wein, frei fließet der Bursch in den deutschen Rhein, jetzt hat Bétove alle zweiundzwanzig Konsonanten mit einem Male im Hals, er würgt, er würgt – da kommt es hervorgebrochen, der Kloß ist heraus! das Klavier ächzt in allen Fugen, der Kaiser ruft zur deutschen Grenz', die Deutschen wedeln mit den – da steht er hehr, ein Bein voran, wenn kein Feind da ist, borg ich mir einen, den blitzenden Flamberg hoch in Händen, mein Weib an der Brust, den geschliffenen Helm im Nacken, der Neckar braust, der Adler loht, im deutschen Hintern sitzt das Schrot, es knallt das Roß, ein donnernd Halt, o deutscher Baum im Niederwald, mit eigenhändiger Unterschrift des Reichspräsidenten –!

Die Franzosen klatschen, wie ich sie noch nie habe klatschen hören. Neben mir kämpft der dicke Morus mit einem Erstickungsanfall. Wird gerettet.

Zum erstenmal seit zwei Jahren fühle ich: Fremde. Ich denke: wenn sie wüßten, daß du, einer der Verspotteten, unter ihnen sitzt . . . Würden sie dich zerreißen? Unfug. Gewiß, manchmal habe ich nicht gefühlt wie sie, habe nicht mitgelacht, nicht mitgeweint . . . aber heute ist da, zum ersten Mal, das andre, das fremde Blut, auf einmal sind sie drüben, und ich bin hüben.

Das war unsre deutsche Sprache? Die, in der immerhin »Füllest wieder Busch und Tal« gedichtet ist? Das ist Deutsch –? So hört es sich für einen Fremden an? Es muß wohl. Und ich brauche nicht mehr auszuziehen, das Fürchten zu lernen. Ich habe mich gefürchtet.

Es war, wie wenn man sich selbst im Film sieht. Viel schlimmer: wie wenn sich das Spiegelbild aus dem Rahmen löste, sich an den Tisch setzte und grinsend sagte; »Na – wie gefalle ich dir?« Da stehe ich auf, weiche einen Schritt zurück und sehe den da, mich entsetzt an . . . Das bin ich –

Den ganzen Abend und noch am nächsten Tage getraue ich mich nicht, deutsch zu sprechen. Vor mir selber traue ich mich nicht. Ich [358] höre überhaupt keine Vokale mehr, immer nur Konsonanten. Die Sprache ist wieder in ihren Spiegelrahmen zurückgekehrt, fremd sehen wir uns an, ich mißtrauisch, sie könnte vielleicht jeden Augenblick wieder auskneifen, mir gegenübertreten . . . Wir kennen uns nun schon so lange. Zum erstenmal habe ich sie nackt gesehn.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1926. Le 'Lied'. Le 'Lied'. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-67EE-E