Zuschriften aus dem Publikum

Siegfried Jacobsohn hat einmal zu einem berliner Redakteur gesagt: »Ihr und frei –? Wenn über einen von euch beim Verlag zehn Beschwerde führende Briefe aus dem Publikum einlaufen, dann wird der betreffende Mann gekündigt!« Da antwortete der Redakteur: »Herr Jacobsohn, das ist nicht wahr. Es genügt ein Brief.« Wie ist das nun damit, und wie sehen diese Briefe aus –? Die Briefe sehen nicht schön aus.

Wenn man so die Redaktionspost eines großen Blattes zu lesen bekommt, dann ergibt sich als erster Eindruck: ganz Deutschland besteht aus Schulmeistern. Diese erhobenen Zeigefinger, diese Rechthaberei und Besserwisserei, der Ton, in dem diese Briefe verfaßt sind, zeigen, daß die wahre Höflichkeit des Geistes und des Herzens bei uns noch sehr selten sind. Als ob man nicht auch seinem schlimmsten Feinde einen formal unanfechtbaren Brief schreiben könnte! Sie können, scheints, es eben nicht. Und man braucht nur einmal die ›offenen Briefe‹ in deutschen Zeitungen zu lesen, um zu sehen, wie das aussieht: was sich da enthüllt, was einem da an Muff und schlechter Luft entgegenströmt.

[92] Aus diesen Briefen spricht zunächst die nationale deutsche Unart: »Mein Beruf ist der allerwichtigste, der allerschwierigste, der allernützlichste – und du alter Esel (euphemistisch mit dem furchtbarsten deutschen Schimpfwort: ›Laie‹ genannt) verstehst überhaupt nichts davon –!« Aus den Briefen spricht ferner eine jener Eigenschaften, durch deren Anwendung der Krieg verloren wurde: der Glaube nämlich, daß einer absolut, von oben bis unten, nichts als Recht und sein Gegner nichts als Unrecht haben könnte. Diese niederschmetternden ›natürlich‹, ›seffaständlich‹, ›zweifellos‹ donnernden andern zu Boden, ein völliger Mangel an Ritterlichkeit verhindert auch noch die leiseste Schonung.

Man blättere etwa in den Briefen an die ›Liebe Morgenpost‹, eine Fundgrube für Schürfarbeiten im dunkelsten Bergwerk Deutschland, und man findet des weiteren die deutsche Sucht, alles auf der Erde zu kodifizieren. (Die in dieser Beziehung sehr vernünftige Haltung der Redaktion kann daran nichts ändern.) Daß man das Leben eben nicht in ein für alle Mal von vornherein bestimmte Formeln, Gesetze, Vorschriften und Gebote pressen kann, geht dem Deutschen schwer ein. Es entspringt das seiner tiefen Lebensunsicherheit: er will gesichert sein gegen alle Zufälle, es soll für alles ein Paragraph da sein, der ihn des weiteren Denkens, der Rücksichtnahme, der Güte des Herzens enthebt. »Laut § 197 haben Sie . . . « Aus. Bis tief hinunter geht das – die kleinen Leute kopieren die schlechten Umgangsformen ihrer Herren, und jeder Grünkramhändler schreibt, wenn er schreibt, wie Napoleon aus der Köpenicker Straße. Das ist er auch.

Weiter oben aber haben sie es mit der ›Logik‹ – und nichts scheint ihnen größere Sünde und Vorwurf als der Schrei: »Sie haben sich widersprochen!« – ein Satz, auf den einmal Karl Wolfskehl geantwortet hat: »Ja. Ich bin doch nicht mein eigenes Schulbeispiel –!« Aber diese phantasielosen Studienräte und Nationalökonomen suchen mit der Lupe und mit der Lumpengabel in allen Abfallkästen, um triumphierend einen Widerspruch ans Licht zu zerren. Und haben sie den, dann gnade Gott dem Schreibersmann, der ihn verschuldet hat. Der masochistischen Gutgläubigkeit des übertölpelten Publikums (»Es hat aber in der Zeitung gestanden!«) entspricht so gar nicht jene seltsame Schulmeisterei, die noch höher thront als Gott, der nur alles weiß. Sie aber wissen alles besser. Es ist grade so, als habe ein stets überwacher Widerspruchsgeist nur darauf gewartet, daß er geweckt werde; kaum ist ein Vorschlag da, ein Entwurf, eine neue Meinung – so springen dir hundert daumennagelgroße Oppositiönchen entgegen und geben dir Saures. Mit Erfolg –?

Eine große Zeitung, ein Verlag, eine Bewegung soll natürlich auf das aufmerksamste zur Kenntnis nehmen, was aus dem Publikum kommt. Tuchfühlung ist alles, der Elfenbeinturm gar nichts. Aber soll man sich auch folgsam danach richten?

[93] Es gibt in der Tat nur sehr, sehr wenige Zeitschriften oder gar Zeitungen, die lediglich von den Herausgebern oder vom Verlag und nicht stillschweigend vom Publikum redigiert werden. Die größte Angst haben sie alle vor den ›Verbänden‹. (Alfred Kerr: »Ist ein Verein dafür da –? Es ist ein Verein dafür da.«) Nun sind diese Verbände in der Tat nicht von Pappe. Beamtengruppen sachlich anzugreifen, wagt nicht einmal die sozialistische Presse; sie kann es, wie die Dinge liegen, kaum wagen, weil jedem solchen Angriff eine geschlossene Phalanx gegenübersteht, die vor keinem Mittel zurückschreckt: vor Boykott nicht und vor Abbestellungen des Blattes nicht, vor Inseratenentziehungen nicht, vor nichts. Da wagt so leicht keiner etwas. Grotesk wirkt sich diese Angst aus, wenn es um die Satire geht: schleudere deine Pfeile gegen wen du willst, aber mit den Stadthebeammen ist nicht zu spaßen, mit den Volksschullehrern ist nicht gut Kirschen essen, mit dem ›Ansehen des Ärztestandes‹ jongliere du nicht. Und welche Empfindlichkeit! Die schlimmsten Leuteschinder verwandeln sich in zitternde Mimosen, wenn sie einmal dran sind. Das gibts nicht – und da stehen noch die ältesten Weiber auf wie ein Mann.

Tiefster Grund: wir haben Verleger, die Geld verdienen wollen – was begreiflich ist. Wir haben kaum einen Verleger, der Macht will – was unbegreiflich ist. Als sie neulich den Besitzer des›Matin‹ in Berlin gefeiert haben, da glaubten die deutschen Verleger sicherlich, neben einem Kollegen zu sitzen. Es war ein Irrtum. Dem Mann ist seine Zeitung ein Mittel zum Zweck: er will natürlich auch Geschäfte mit ihr machen (und was für welche!) – aber er will die Machtposition, die eine solche Zeitung jemandem gibt, der sie zu benutzen versteht. Davon ist bei uns wenig zu spüren. Ist das besser? Sind sie bei uns sauberer?

Nein. Sie sind, leider, nicht korrupt, sie sind etwas viel Schlimmeres. Sie sind beeinflußbar, und das unterliegt keiner Kontrolle, wie etwa die ziemlich zutage liegende Käuflichkeit der französischen Presse, wo selten der einzelne Redakteur, fast immer das Wirken des Verlages gekauft wird. Sie haben solche Angst bei uns. »Herr Kommerzienrat Petzold hat erst neulich im Adlon gesagt, er verstände nicht . . . « Die Zeitung versteht, ein leiser Griff, und alles ist in Ordnung. Das Publikum hat seine Zeitung: ziemlich genau die, die es haben will. Wer in den Spiegel hineinschaut, darf sich nicht wundern, was da herausguckt. Er selber.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1928. Zuschriften aus dem Publikum. Zuschriften aus dem Publikum. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-670A-E