Geßler

Rudolf: Das Volk hat aber doch gewisse Rechte –
Geßler: Die abzuwägen ist jetzt keine Zeit!

Schiller: ›Wilhelm Tell‹


Am vergangenen Donnerstag stand ich in Moabit da, wo die Geistigen dieses Landes so häufig und die politischen Mörder so selten stehen: auf der Anklagebank. Ein Artikel ›Offiziere‹, den im August 1920 die berliner ›Freiheit‹ veröffentlicht hatte, war dem fleißigen Pressereferenten des Reichswehrministeriums in die Hände gefallen, der hatte ihn dem Justizreferenten gegeben, und nachdem sie beide die kleine Arbeit kreuz und quer angestrichen hatten, stellte in Abwesenheit Geßlers irgendein Soldat den üblichen Strafantrag.

Warum hatte er gepetzt –?

Der Aufsatz schrie für hunderttausend Stumme. Gedruckt stand da, was wir alle empfinden, und was die meisten von uns aus Mangel an Zeit und Gelegenheit nicht so ausdrücken können: unser Abscheu gegen den Geist des alten Offizierkorps. Weil nun aber allemal dann, wenn einer »Haltet den Militarismus!« ruft, sich die Reichswehr umdreht und getroffen: »Hier bin ich!« schreit, so ging auch diese Erinnerung an die Kulturfeindlichkeit des altpreußischen Systems, das die denkenden Deutschen im Kriege zur Genüge kennen gelernt hatten, nicht vorbei, ohne daß sich ein demokratisch besetztes Reichsministerium für verpflichtet hielt, die Richter zu bemühen.

Das gelang daneben. Die Strafkammer sprach frei, und Herr Geßler war hereingefallen.

Das Reichswehrministerium sollte sich geschäftskundigere Offiziere anschaffen. (Wenn wieder so etwas vorliegt, bin ich gern erbötig, die nötigen Vorarbeiten selber zu leisten; erfahrungsgemäß ist das wirksamer . . . ) Aber ganz abgesehen davon: so wenig aus dem Freispruch für die Sache selbst etwas folgt, so zeigt der Fall doch so recht, womit [79] sich diese Krieger in ihren dienstlichen Mußestunden eigentlich befassen, und er zeigt, wer da an der Spitze steht.

Geßler ist kein Noske. Der Wachtmeistersohn, der selig ist, mit richtigen Generalen sprechen zu dürfen, ist nicht wie jener brutal und böswillig. Aber er ist nicht fähig, zu sehen, was er da verwaltet, und daß der Kampf um das deutsche Militärsystem ein geistiger Kampf ist: der Kampf um eine Weltanschauung und um eine reinere Sittlichkeit.

Über die politische Haltung des Reichswehrministers sind sich eigentlich alle Beteiligten vollkommen einig. Der Mann hat einen Offizier als Chef der Heeresleitung über, pardon, unter sich, der in der Nacht auf den 13. März 1920 davon abriet, gegen die anrückenden Kappisten vorzugehen, die rechtlich doch auf genau derselben Stufe stehen wie die Anhänger des erschossenen Leviné; der Minister erlaubt, ja befiehlt der münchner Reichswehrgarnison, sich nur ja an dem zu erwartenden Monarchistenrummel zu beteiligen, der beim Begräbnis Ludwig Wittelsbachs einsetzen wird; der Mann hat dem Reichstag einen Etat zugehen lassen, der uns fünf Milliarden Mark jährlich kostet, einen Etat, bei dem man nicht recht weiß, was man mehr bewundern soll: den Mut seiner Fabrikanten oder die Höhe der angeforderten Summen für eine Truppe, die unter den jetzigen Umständen niemals mit einem äußeren Feind zusammentreffen darf.

Wenn man diesen begabten Politiker bei der letzten Krise nicht fallen ließ, so geschah das, weil man die Reichswehr nicht ›beunruhigen‹ wollte – das heißt, der Apparat wurde Selbstzweck, und weil die Reichswehr einmal so da war, sollte sie um des lieben Friedens willen mit ihren Offizieren auch so bleiben und nicht geändert werden. Denn so liegt es: auf der einen Seite steht eine Republik – und auf der andern ihre Offiziere.

Es geht aber nicht um die belanglose Person Geßlers.

Ich habe – kontrollierbar – vierzehn Monate hindurch in der ›Weltbühne‹ den Kapp-Putsch vorhergesagt und habe immer wieder betont, daß der Knochenzerschlager Noske entfernt werden müßte, weil er nur gegen seine ehemaligen Kollegen, gegen die Arbeiter, so roh sei, Wachs aber in den Händen politisch gefährlicher Offiziere. Die Tatsachen haben mir Recht gegeben. Und ich sage nun heute:

Dr. Geßler ist für den Posten eines deutschen Reichswehrministers nicht geeignet, weil er sein Problem nicht versteht. Diese Erkenntnis verbreitet sich seit einiger Zeit auch langsam in Regierungskreisen, und vielleicht wird man eines Tages einsehen, daß man – ohne jeden Bolschewismus und ohne jeden Kladderadatsch – einen Beamten in Pension gehen lassen darf, der weder ein Republikaner noch eine Begabung ist. Denn die Bedeutung eines deutschen Reichswehrministers ist zweifach.

Er muß erstens ein Mann sein, der wirklich verstanden hat, daß [80] jener ›Geist von Sedan, der uns über hundert Schlachtfelder geführt hat‹, dem Volke nicht erhalten werden soll. Eben der nicht. Ob die Reichswehr überhaupt die Aufgabe hat, einen Geist zu verbreiten, anstatt still und ohne Phrasen ihre Pflicht zu tun, ist eine andre Sache – ich habe noch nie gehört, daß beispielsweise die Feuerwehr so viel Wesens von sich macht –: sicher ist, daß dieser Geist der verderblichste ist, den es für Deutschland je gegeben hat – und daß das Land eben an diesem Ungeist zugrunde gegangen ist. Dieser Ungeist sagt: Du bist nichts – dein Rang ist alles! Dieser Ungeist sagt: Untertanen haben zu gehorchen – Hände an die Hosennaht –. Dieser Ungeist sagt: Wozu du selbst zu feige bist, das tu nur, aber tu es im Namen einer Vielheit, im Namen einer Macht! – Es ist so süß, seinen Nebenmenschen fühlen zu lassen, daß man ihn treten und einsperren darf – und der ist wehrlos, der ist wehrlos! – Das war Schwarz-Weiß-Rot.

Davon hat Geßler nie etwas gehört, nie etwas gelesen und nie etwas verstanden. In einem berüchtigten Erlaß knüpft er bewußt gerade an die alten, schlechten Traditionen des kaiserlichen Heeres an, eines Heeres, in dem im Frieden von zweitausend Soldaten je einer durch Selbstmord endete – gequält und gepeinigt von seinen Vorgesetzten. Erinnert ihr euch an gewisse Vorgesetzte noch aus dem Kriege –?

Davon weiß Geßler nichts. Es ist ihm, wie er sagt, unverständlich, daß die Hetzer der radikalen Blätter (der Hetzer bin ich – und die Ordnung ist er) »in gehässiger Form an die Ungerechtigkeiten erinnern, die sie während der Dienstzeit und besonders im Kriege von ihren Vorgesetzten erfahren hatten«. Die Kindlichkeit, in einem geistigen Kampfe nichts andres zu sehen, als den Flunsch eines ehemaligen Soldaten, der einmal drei Tage Mittel bezogen hat, wird nur noch von der Unkenntnis eines Realpolitikers übertroffen, der, wie in dem Hauffschen Märchen, Abner, der Jude, nichts gesehen hat. Ich zum Beispiel bin als Schipper zu den Preußen gezogen worden, bin mit den Achselstücken wieder weggegangen und habe keine Strafe, sondern sogar einen richtigen Orden bekommen. Den Orden habe ich in den Papierkorb geworfen, und er ist vergessen. Nicht vergessen aber ist die geistige Haltung des deutschen Offizierkorps, das ich im Kriege sehr genau in allen Zuständen, sogar im nüchternen, kennengelernt habe. Der Kampf, der hier vor sich geht, ist der zwischen Uniformen und Menschen, zwischen Preußen und Geistigen, zwischen Chargen und Männern. Kein Zweifel, wo das sittliche Recht steht.

Wenn man den ganzen Tag über nichts als Dienstvorschriften liest, verdummt man. Beliebt den tapferen Kriegern Literatur? Wissen sie nichts von Appens (›Charleville‹) – von Lille und von Boelcke (nicht der Flieger, sondern ein andrer Hauptmann mit sehr verständigen Ansichten)[81] – von der großen Denkschrift des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes aus dem Jahre 1916 (›Ursachen des Zusammenbruchs‹ von Walter Lambach) – von Professor Kantorowicz – von all den zahllosen Quellen – von Professor Nicolai und seinem Buch ›Die Biologie des Krieges‹ – von den vielen Wissenschaftlern, den Philosophen, den Kritikern, die ohne Parteistellung Krieg und Kriegführung und Kriegsdenkart verflucht haben –? Nein. Sie wissen nichts. Sie lesen nur das, was sie und ihr Tun bestätigt. Alle ihre Gegner sind Juden, Bolschewisten, bestochene Spione und irgendsonne Zivilisten . . . Prost –!

Wenn aber schon der Reichswehrminister das, was er verwaltet, dem innern Wesen nach nicht kennt – (ein sozialdemokratischer Schulrat Berlins sollte einmal seiner Materie so dumpf gegenüberstehen) – dann muß er, zweitens, wenigstens ein kluger Taktiker sein. Er hats gewiß nicht leicht. Der größte Teil der Reichswehroffiziere, besonders die zahlreichen Generalstäbler, stehen, wie man das nennt, auf dem Boden der gegebenen Tatsachen und haben auch der Republik, nach einigem Drängen der Öffentlichkeit, einen Eid geleistet . . . Ja. Die Gesinnung geht keinem aus den Knochen. Ich halte sogar die Männer für die wertvolleren Elemente, die zur neuen Zeit ihr klares ›Nein!‹ sagen und dann die Konsequenzen ziehen. Aber da gibt es Pensionsfragen – und vor allem Machtfragen, Wer die Reichswehr wirklich in Händen hat, der hat einen Teil der Staatsgewalt. Die fast höfisch geleckten Offiziere aus der Umgebung Geßlers lassen sich sicherlich nicht von einfachen persönlichen Vorteilen leiten. Daß sie unpolitisch sind, werden sie selber nicht glauben.

Alles, was hier über die Reichswehr gesagt wird, trifft in erster Reihe die Offiziere. Die Mannschaften kämpfen zum Teil einen sehr schweren Kampf gegen diese Gesinnung. Eine Unterstützung beim Reichswehrminister finden sie dabei nicht.

Die politische Niederlage, die sich Geßler in Moabit geholt hat, sei ihm von Herzen gegönnt. Der Strafantrag ist gestellt worden, weil die Militärpolitiker eine Lokalnotiz in dreihundert Generalanzeigern brauchten: »Wieder ein Verleumder des Offizierkorps verurteilt!« – Das hebt immer. Aber es ist eine traurige Firma, die solche Reklame nötig hat. Warum das Ministerium zu ihrer Inszenierung einen Urlaub Geßlers abgewartet hat, weiß kein Mensch – schließlich ist jener kein Faktor, mit dem gewandte Offiziere zu rechnen hätten . . .

Die Reichswehr, die sich lächerlich überschätzt, die heute noch den Begriff ›militärisches Geheimnis‹ im Strafgesetzbuch verteidigt, obgleich sie, unter der steten Kontrolle der Entente stehend, gar keine mehr hat und jedes einzelne ein Hochverratsversuch wäre – diese republikanische Staatseinrichtung, die keine ist, und deren Mannschaftsbehandlung, wie mir allenthalben versichert wird, an die gute [82] alte Zeit erinnert – so: mit Schliff und Bimsen und Ruck und Zuck – die also an ein Wesen erinnert, an dem die Welt genesen ist . . . diese Reichswehr gehört in die Hand eines erfahrenen republikanischen Mannes.

Eines Mannes, der sich nicht durch technische Berichte blenden läßt, die allemal dann Schwierigkeiten vortäuschen, wenn man ernsthafte Reformen befürchtet, eines Mannes, der sich des großen geistigen Problems bewußt ist, das in einer solchen Organisation steckt, eines Mannes endlich, der seine Stellung so ausfüllt, wie es den Interessen des Reiches und nicht den Sonderinteressen eines Ressorts nützlich und dienlich ist.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1921. Geßler. Geßler. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6679-D