Die Augen der Welt

Da ist nun Deutschland, ein Land, das sich für alles interessiert, was in der Welt vorgeht, und ist doch eine Provinz geblieben, trotz allem: Provinz Deutschland. Woran liegt das –?

Erst haben sie mit dem Säbel gerasselt, und wenn die andern unwillig dazu gemurmelt haben, dann haben sie das für Furcht gehalten und diese vermeintliche Furcht für Achtung vor dem deutschen Wesen. Und dann, als die Friedensbedingungen an den Schaufenstern klebten, haben sie Luft durch die Nase gestoßen, recht verächtlich, und haben nicht begriffen, was das heißt: einen Krieg verlieren, an dem sie immerhin ein gut Teil Schuld hatten. Und seitdem rasseln sie und wimmern sie, immer in schöner Abwechslung, und wenn sie draußen genug gewimmert [255] haben, dann kommen sie nach Hause und sagen: »So schlimm ist das alles gar nicht. Erstens haben wir gar nicht gewimmert. Zweitens haben wir nur im Interesse des Vaterlandes gewimmert. Und drittens hatten die andern doch mächtige Angst vor uns.«

Weit entfernt, in dem Gedeihen eines intakten Staatsbürokraten-Apparates das Heil des Landes zu sehn, wollen wir untersuchen, wie es in der Seele des Durchschnitts-Deutschen aussieht, wenn er an das Ausland denkt. Seine Begriffe sind wüst. Ein kleiner Teil von Gebildeten ist wirklich über das unterrichtet, was draußen vor sich geht – die Rechte und die Linke, soweit es das noch gibt, haben einige sehr gute Außenpolitiker, auf die aber, wenns zum Klappen kommt, niemand hört. Das Gros hat von Tuten und Blasen keine Ahnung.

In Deutschland dominiert, was die Außenpolitik angeht, der innenpolitische Stammtisch. Zu dessen ehernen Grundsätzen gehört die Phrase: »Die Augen der Welt sind auf uns gerichtet«. Dieser Satz ist einfach eine Lüge.

Deutschland spielt in der Welt nicht die Rolle, die es zu spielen glaubt.

Es hat für den lateinischen Kulturkreis eine kleine Bedeutung, wie mir scheint: eine zu kleine. Es hat für den angelsächsischen Kulturkreis eine kleine Bedeutung. Es hat für seine unmittelbaren Nachbarn eine Bedeutung, die meistens im Warenaustausch liegt und nicht so sehr auf dem Gebiet der Kulturpolitik. Deutschland weiß nicht, wie klein sein kulturpolitisches Hinterland ist.

Hat etwas in Paris Erfolg, auf welchem Gebiet auch immer: so hat es damit in allen französischen Kolonien Erfolg, die ja immerhin recht beträchtlich sind; es hat weiterhin Erfolg in der Levante und in Südamerika, wo die Franzosen das erstaunliche Kunststück fertig bekommen haben, wenig Waren und einen großen Teil ihrer Kultur zu exportieren, und das mit guter Wirkung. Hat etwas in England Erfolg, so weiß man, was geschieht: die halbe Welt ist, was ihre Lebensart angeht, angelsächsisch. Und man fragt sich, ob sich diese deutschen Radaupatrioten denn keinen Atlas kaufen können, auf dem ja immerhin zu sehen ist, wie diese Kugel heute nun einmal aussieht. Folgerungen –?

Der bestehende Zustand ändert am Wert dessen, was der Deutsche hervorbringt, zunächst gar nichts. Ich lebe jetzt seit rund sieben Jahren im Ausland, und nichts ist mir so fatal, wie jener Typus Deutscher, der sich an eine fremde Nation wegwirft. Er darf sie lieben – er soll sich nicht wegwerfen. Es gibt da eine Nummer von Deutschen, die haben gewissermaßen Notre-Dame gebaut, und wenn sie durch die londoner City gehn, dann möchten sie sich am liebsten auf dem Damm wälzen; sie protzen, und zwar mit der Macht der andern, gegen ihr Land. Das ist dummes Zeug und verrät nur die eigne Unsicherheit.

[256] Der Wert Deutschlands hat mit seiner Weltgeltung gar nichts zu tun. Man muß diese Weltgeltung nur genau kennen, sonst verrechnet man sich zum Schaden Deutschlands, so wie sich die Kaiserlichen 1914 verrechnet haben, wo sie den Islam und Indien und weiß Gott was noch alles in ihre verfaulte Rechnung eingesetzt haben, weil sie nicht Bescheid gewußt haben, wieviel sie in Wahrheit draußen wert gewesen sind. Viel weniger als sie geglaubt haben – etwa den zehnten Teil. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Es gibt viele Arten, einen Staat zu machen. Mit der deutschen Not ist kein Staat zu machen. Es ist eine glatte und simple Lüge, zu behaupten, die Augen der Welt seien auf Deutschland gerichtet, die Welt beschäftige sich intensiv mit der deutschen Krise . . . es ist nicht wahr. Daß die beteiligten Finanzleute alles Interesse haben, ihre in Deutschland angelegten Kapitalien zu retten, ist richtig; die breiten Massen der lateinischen Länder und der angelsächsischen Welt befassen sich wenig mit uns: wir spielen in ihrem Gefühlsleben eine ganz untergeordnete Rolle. Etwa die, die bei uns Bulgarien spielt oder Jugoslawien. Die Völkischen mögen ihr Geheul stoppen: damit ist nicht gesagt, daß Deutschland diesen beiden Ländern gleichzusetzen sei. Im Gegenteil, ich füge etwas hinzu, was keiner von den völkischen Beobachtern nachdrucken wird, die meine Artikel zu fälschen pflegen. Ich füge nämlich hinzu, daß der wahre Wert Deutschlands nicht richtig eingeschätzt wird: von manchen gebildeten Ausländern zu hoch, von den Massen zu tief.

Das ist Deutschlands eigne Schuld. Was wir an Kulturwerten exportieren, wie wir es exportieren: wenn man das sieht, möchte man sich in Grund und Boden schämen. Und das nimmt den nicht wunder, der etwa die Tendenzen des Vereins für das Deutschtum im Ausland kennt. Diese Tendenzen sind unentwegt wilhelminisch; die da haben nichts hinzugelernt und alles vergessen. Das einzige, was sie inzwischen gelernt haben, ist, wie man die Kinder in den Schulen zwingen kann, diesen Trubel mitzumachen.

Die braven Mittelparteien, die heute vom patriotischen Raptus befallen sind wie nur eh und je zu Beginn des Krieges, mit derselben Terminologie, mit denselben plumpen Propagandakünsten: sie irren, wenn sie glauben, die Welt horche auf Deutschland. Sie horcht gar nicht. Das Leben geht draußen seinen Gang, und nichts ist wahnwitziger und verfehlter als diese törichte Theorie vom ›Abgrund‹ und von der Welt-Katastrophe. »Noch geht es England gut . . . « In diesem ›noch‹ ist der menschenfreundliche Wunsch enthalten: »Uns geht es schlecht. Dann soll es denen aber auch schlecht gehen. Auch sie sollen in den Abgrund, in die Katastrophe!« Diese Katastrophe spielen die Deutschen aus wie einen Trumpf beim Kartenspiel. »Wenn wir schon untergehen sollen«, las ich neulich bei einem dieser wild gewordenen[257] Patrioten, »dann sollen sie wenigstens alle mit.« Sie denken gar nicht daran.

Man kann schon an der Verschiedenheit der Vokabeln erkennen, wie weit das Ausland von uns entfernt ist. Es gibt eine internationale Krise des Kapitalismus, aber die andern werden auf ihre Weise damit fertig, nicht auf die unsre. Da fahren nun so viel gute und brauchbare deutsche Reiseschriftsteller in der Welt herum, die allerhand Nützliches von draußen nach Hause bringen – ja, lernt denn die Masse der Deutschen nicht endlich erkennen, daß beispielsweise Asien immer asiatisch reagiert und eben nicht europäisch und am allerwenigsten deutsch? »Rußland muß badisch werden!« stand zu Kriegsbeginn auf den Viehwägen, in denen man das Menschenmaterial transportierte. Aber ich fürchte: eher wird Baden russisch.

Sie haben draußen ihre eignen Sorgen, und sie brauchen die unsern nicht. Und Deutschland ist ihnen viel gleichgültiger als jene im Geist Provinziellen ahnen.

Genau so, wie die rasenden alten Weiber, die sich Windjacke und Stahlhelm kaufen, damit sie sich als Männer fühlen, die Rückwirkung der deutschen Krise auf die Welt überschätzen –: genau so tun es leider die Kommunisten. Es war einer der größten und unbegreiflichsten Irrtümer Lenins, zu glauben, die Revolution springe fast mechanisch auf die Welt über, wenn sie nur in Rußland gesiegt habe. Falsch: die Welt ist dazu nicht reif. Es ist nichts mit jener von vielen Deutschen so laut oder heimlich herbeigesehnten Apokalypse – es ist der Wunsch des Schülers, die Schule solle verbrennen, weil das Zeugnis nichts taugt. Die Schule aber verbrennt nicht.

Die andern denken nicht daran unterzugehen, nur deshalb, weil bei uns in schändlicher Weise Bankwucher betrieben wird. Sie denken nicht daran, in das ›Chaos‹ zu stürzen, und zwar deshalb nicht, weil bei ihnen, den Lateinern, den Angelsachsen, den Amerikanern, ganze Schichten des Bürgertums noch viel gesünder und kräftiger sind als das von den Theoretikern des Umsturzes gewöhnlich in Rechnung gestellt wird. Diese Rechnung ist falsch. Was da in Frankreich knistert, was da in England bröckelt – ihr könnt hundert Beispiele zitieren, Äußerungen aus deren eignen Munde. Und ihr zitiert sie alle falsch, weil einer englischen Bürgersfrau die Wandlung der Sitten für die Nachmittagsbesuche bereits wie Bolschewismus erscheint. Man muß mit französischem Maßstab messen, wenn man Marseille verstehen will, und mit englischem, wenn man begreifen will, was sich in England wandelt. Mit Wünschen ist nichts getan. Ein anständiger Arzt hat erst einmal vor der Therapie eine richtige Diagnose zu stellen, und wenn wir ehrlich sind, müssen wir klar sehn. Wir können die Tatsachen beklagen, aber wir müssen sie sehn, wie sie sind. Was da durch die Welt schleicht, ist eine geistige Krise erster Observanz, die also die wirtschaftliche [258] nach sich zieht – doch geht hier nichts unter. Es wandelt sich nur etwas, und zwar grundlegend. Womit Deutschland zunächst gar nicht geholfen ist.

Das ist unbequem, das ist hart, das ist langweilig. Also wollen sie das nicht sehn. Sie wollen: das volle Theater, mit einem atemlos gespannten Publikum, das ihren sentimentalen Arien und ihrem Panzerkreuzer-Gerassel lauscht. Das Land irrt. Das Theater ist halbleer, und das Stück interessiert nicht.

Also sollte man wohl diesem Notstand anders begegnen, als mit jenen abgebrauchten Gesten zu einer Galerie hin, die gar nicht vorhanden ist. Welche Würdelosigkeit ist darin: im Gerassel und im Gegrein welche Würdelosigkeit! Wie sie nach jedem Zeitungsaufsatz fiebern, der von ihnen Notiz nimmt. Welche Überschriften! »Paris optimistisch!« »London gespannt!« Aber es stimmt ja alles gar nicht; das da ist Angelegenheit eines kleinen Klubs politischer Fachleute, und damit basta. Euer Einfluß auf die fremden Kulturkreise ist vorhanden, aber er ist kleiner und ganz anders beschaffen als ihr meint.

Exportiert eine Geistigkeit, die die Welt angeht, eine, die in Deutschland gewachsen und die echt ist! Exportiert Qualitätswaren, die es wirklich sind, nicht solche, die durch Dumping und niedrige deutsche Löhne in fremde Absatzmärkte hineingepumpt werden und die man den Fremden vergeblich als Qualität einzureden sucht! Exportiert Gutes, und ihr werdet Gutes ernten. Was heute exportiert wird, ist Größenwahn, der aus einem Insuffizienzgefühl herrührt, und damit erobert man keine Welt.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1931. Die Augen der Welt. Die Augen der Welt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6328-E