Der Fall Nathusius
Sechs Jahre nach Kriegsschluß haben die Franzosen einen deutschen General, Herrn v. Nathusius, verhaftet. Der ist, um das Grab seines Schwiegervaters zu besuchen, zu Allerseelen nach Forbach im Elsaß gekommen, auf Grund einer allgemeinen Erlaubnis, die für solche Fälle besteht. Er wurde erkannt, verhaftet, nach Lille und dann nach Metz geschafft.
Vorangegangen war ein Gerichtsverfahren in contumaciam, das mit der Verurteilung des Generals zu fünf Jahren Gefängnis wegen Möbeldiebstahls, begangen in Lille, geendet hatte. Solcher Gerichtsverfahren hat es bei den Franzosen eine Menge gegeben. Die deutsche Okkupation hatte eine wahnsinnige Wut, eine Weißglut von Haß unter den maßlos gequälten Bürgern hervorgerufen. Der bis zum Siedepunkt überhitzte Kessel, vier Jahre ohne Ventil, entlud sich in einer Reihe von Gerichtsverhandlungen gegen deutsche Offiziere und Mannschaften, und die wurden zur großen Befriedigung der französischen Bürger, die ihren Staat nun nicht mehr vergeblich angerufen hatten, wenigstens formell bestraft.
Die Maßnahme der französischen Behörde ist als unrichtig zu bezeichnen.
Ich habe im Jahre 1919 an dieser Stelle in einer langen Reihe von Aufsätzen die Brutalitäten, die Dummheiten, die Roheiten, die Unterschlagungen und die Diebstähle, die viehische Knechtung der eignen Landsleute und die erbarmungslose Behandlung Fremder durch die deutschen Offiziere gekennzeichnet. In einem einzigen Fall ist die damals noch kleinlaute Militärbehörde an den Herausgeber der ›Weltbühne‹ herangetreten und hat ihn und mich um nähere Angaben ersucht. Diese Angaben sind ihr geworden; wir haben niemals auf eine Antwort gewartet, und bis heute ist keine erteilt worden.
Der persönliche Fall des Generals v. Nathusius ist uninteressant. Ich weiß nicht, ob er schuldig ist; auch ist er im Augenblick wehrlos und könnte sich gegen Angriffe nicht verteidigen. Hier interessiert nur das allgemeine.
Selbstverständlich haben deutsche Offiziere während des Krieges Möbel gestohlen. Die Sache verlief meist so, daß die höhern Stäbe oder die Untergötzen gegen irgendeinen Wisch Papier Einrichtungsgegenstände [505] ›requirierten‹, sie bei Verlegung des Stabes umherschleppten, zunächst vielleicht in der Ortschaft selber, sie dann aus der Stadt entfernten und schließlich in die Heimat transportierten. Nur militärisch Verzückte oder nationale Politiker können diesen dauernden Mißbrauch der Dienstgewalt leugnen; Tausende von einfachen Soldaten werden ihn bezeugen.
Der Krieg war ein Kollektivverbrechen in Reinkultur.
Die siegreichen Staaten haben nach dem Kriege eine Kriegsverbrecherliste zusammengestellt und die Auslieferung der so bezeichneten Männer gefordert. Die Liste war sicherlich nicht sorgfältig bearbeitet, kein Wunder bei der Unmöglichkeit, die Führung von vierzehn Millionen Menschen im einzelnen zu beurteilen. Allein in dem mir bekannten Bezirk Rumänien fanden sich die schlimmsten Übeltäter nicht auf der Liste, mein guter trottliger Hauptmann steht drauf, die schlimmsten Wüteriche seiner Umgebung fehlen. Gott weiß, nach welchen Grundsätzen diese Liste angefertigt worden ist.
Und dann wurde sie nicht einmal angewendet! Die einfachste pädagogische Grundregel ist, einem Kinde keine Prügel anzudrohen, die man doch nicht austeilen will, und man kann sich ungefähr die Wirkung vorstellen, die damals durch die Reihen dieser mehr oder minder beteiligten Kollektivverbrecher gegangen ist. Die einen schwuren Rache, die andern machten sich in die Hosen, der Gasprofessor Fritz Haber ließ schon einen Flugapparat anspannen, um in die gastliche Schweiz zu entfliehen, und alle zusammen atmeten auf, als es dann doch nichts wurde und die berüchtigte ›Verantwortung‹ zum Glück nicht getragen zu werden brauchte.
Diese ressortmäßig verteilte Verantwortung ließ keinen sich als verantwortlich empfinden: Jeder hatte auf Befehl gehandelt, jeder hatte ›alle unnötigen Härten vermieden‹ und jeder wußte von nichts. Damit war aber dem Bürger in Lille nicht geholfen: der Schreibtisch war verschwunden, das Leinenzeug beschädigt, die alte Mutter beleidigt worden.
Den in Doorn traf es überhaupt nicht.
Er erklärte gleich, nur vor seinen Gott zum Beten, aber nicht vor ein menschliches Gericht treten zu wollen, und beschäftigte sich im übrigen damit, aus der Untertanenrepublik des Herrn Ebert an Geldeswert herauszuschlagen, was irgend herauszuschlagen war.
Die Möbeldiebstähle also stehen fest. (Die Rumänen, zum Beispiel, haben in Bukarest nach dem deutschen Rückzug eine Ausstellung aller Mobilien veranstaltet, die der frühere Zirkusclown und spätere Polizeikommissar Pinkoffs hat stehlen, aber deren Abtransport er nicht mehr hat bewerkstelligen können.)
Wir hier sind wohl von jedem Verdacht des Nationalismus frei. Um so nachdrücklicher ist zu sagen, daß man die Haltung der französischen Behörden in dieser Sache nicht gutheißen kann.
[506] Die gerichtliche Verurteilung einzelner Individuen wegen einzelner Delikte nach einem solchen Massenverbrechen kommt ungefähr dem Versuch gleich, dem Soldaten, der am Kriege teilgenommen hat, eine Geldstrafe wegen ruhestörenden Lärms und wegen unbefugten Waffengebrauchs aufzubrummen.
Ja, aber das Völkerrecht, gegen das sich die deutschen Offiziere vergangen haben! Du lieber Gott! Sämtliche Haager Abkommen sind in diesem Kriege auf allen Seiten mißachtet worden. Es ist nicht wahr, daß dieser Krieg nur zwischen den bewaffneten Kontingenten der einzelnen Staaten unter Schonung des Privateigentums geführt worden ist. Fliegerangriffe, Bombenbelegung und Besetzung haben gleichermaßen Militär und Zivil getroffen. Die jämmerliche theoretische Unterscheidung zwischen dem ›Bürger‹ und dem ›Soldaten‹ des feindlichen Staates hat sich nicht durchführen lassen; die bunte Jacke hat diese nicht zu alleinigen Kämpfern gemacht und jene nicht vor Gewalttat und Verletzung an Leib und Gut geschützt.
Müßiger Versuch, der Rechtlosigkeit zwischen Staaten durch ein Gerichtsverfahren beizukommen, das dem Privatstreit zwischen Müller und Schulze um des Nachbars Esel nachgebildet ist. Die Diskrepanz zwischen rührend kleinlichen Gerichtsverfahren und jener barbarischen Weltungeheuerlichkeit reizte zur Satire, wenn es nicht stets so traurig endete.
Der kümmerliche Versuch, eine einmal losgelassene Menschheit mitten im Lauf anzuhalten und den einen Mord mit einem Blechstückchen zu belohnen, den andern aber mit Zuchthaus zu bestrafen, ist unausführbar. Wo ist der Übergang vom Erlaubten zum Verbotenen in diesem Tohuwabohu von Gruppentotschlag, Einzelmord, Diensthandlung, falscher Auslegung eines Armeebefehls und überflüssiger Requisition? Die Bergpredigt ganz und gar, das Strafgesetzbuch zum Teil aufzuheben und dann hinterher noch zu ›verurteilen‹ – dazu gehört die ganze Kaltschnäuzigkeit dieser Nationalstaaten, die ihre Wirtschaftsgesetze mit sittlichen Imperativen verdecken. Wären es noch natürliche Stämme und Rassen des Bluts oder der Bodenbildung! Armselige Gefüge, die bei der leisesten Lüpfung der Schutzzollgrenzen ins Nichts zusammenkrachen, fahnendrapierte Laufjungen ihrer Finanzleute und Nutznießer! Und jeder hat einen ›Erbfeind‹ – er weiß nur noch nicht, wo.
Der Wahnsinn der Staatenspielerei nach einer solchen mißachteten Lehre fängt an, unerträglich zu werden. Die Verhaftung des Generals v. Nathusius, die wirkt, wie wenn sie sich ein deutsch-nationaler Propagandist für die Reichstagswahlen ausgedacht hat, um dem Sinowjew-Brief in England Konkurrenz zu machen, ist eines der tausend Fanale, die wir uns zur Warnung aufleuchten sehen.
Wie diese Affäre enden mag, und wie man sich gegenseitig arrangiert, [507] ist heute und von Südfrankreich aus nicht zu übersehen. Aber was zu übersehen ist, ist dieses:
Jeweils ganze Völker mit dem Fluchwort des ›Prestige‹ in die Fahnentollheit zu hetzen, das arme Luder Staat, hörig den Großbauern und den produzierenden, transportierenden Kaufleuten unterworfen, als einen Götzen aufzublähen, den die Machtlosen anzubeten haben, ein Regierungsgebäude, Annex der Börse, siegreich oder im Racheschwur zu beflaggen: das ist ein Verbrechen, gegen das sich alle Anständigen zu wehren haben.
Neben den Kaufleuten sind es die Beamtenschichten, die sich durch Kooption ergänzen und den Staat als eine Pensionsanstalt auffassen, einzig dazu bestimmt, sie vor immer zu erneuerndem Lebenskampfe zu schützen, sind es die Beamten, die das größte Interesse an der Erhaltung des Aberglaubens: Staat haben.
Hier und nur hier liegt das tiefe Problem europäischer Unfruchtbarkeit. Sie spielen Staat. Immer noch spielen sie Staat und haben nicht eingesehen und wollen nicht einsehen, daß sie längst Beute und Spielball einer über alle Grenzpfähle hinauslangenden Internationale von Händlern geworden sind, die Gesetze machen und anwenden lassen, wie das Geschäft es befiehlt. Immer noch nehmen sie das Spiel ernst; immer noch stellen sie sich im Viereck um die Gräber der armen Opfer einer nutzlosen Schlächterei auf, beschweren die Skelette mit geschmacklosen Mälern, blasen die jeweilige Hymne und bepredigen sich den geschwellten Gehrock. In allen diesen Totenfeiern steckt die Gutheißung des Krieges und die Reklame für einen neuen.
Dieser neue wird die ›Zivilbevölkerung‹ eines Besseren und Tödlicheren belehren. Man wird die Stäbe vergasen, und Schützengraben und Schlachtfeld wird Haus, Keller und Bodenluke sein. Ich wünschte, es würde so. Vielleicht würden dann die heillosen Staatsuntertanen einsehen, was Krieg ist. Je größer die Masse der Verlierenden sein wird, um so gefährdeter wird die Stellung der Kriegsgewinnler werden. Und sie sind immer noch die einzigen Kriegsgewinner gewesen.
Wollte Gott, Frankreich besänne sich im Falle Nathusius. Bliebe es hart, es könnte unsern Nationalisten keinen größern Gefallen tun. Will es wirklich demokratische und pazifistische Politik machen, wie es die reine Absicht des Blocks der Linken ist, so muß es seine Ansicht über die Individualaburteilung von Kollektivverbrechern revidieren.
Alle meine Freunde, die belgische, ehemals okkupierte Städte besucht haben, berichten den gleichen Eindruck: heute noch, nach sechs Jahren, eine dumpfe, stets latente, sich an jeder Gelegenheit neu entzündende, unermeßliche Wut, in Erinnerung an alles, was man ihnen dort angetan hat. Der versöhnlichere Charakter breiter französischer Volksschichten mag rascher über das Vergangene hinweggeglitten sein. Um so mehr Grund für das Kabinett Herriot, durch Freilassung des Generals [508] v. Nathusius etwas zu bezeugen, das mehr wäre als eine Geste: der Anfang eines praktischen, wirklichen Sozialismus.
Ich halte es grade für unsre Pflicht, die wir immer einer versöhnlichen Politik zwischen Frankreich und Deutschland das Wort geredet haben, auf falsch basierte und gänzlich überflüssige Härten der andern Seite hinzuweisen.
Über diesen Einzelfall hinaus aber bleibt uns die harte Arbeit, Grenzpfähle zu zerschlagen, an denen das einzig Wetterfeste die Ölfarbe ist, und einer europäischen Menschheit immer wieder zu zeigen, zu wessen Nutzen sie sich in metaphysisch zusammengekleisterte Klumpen ballt.
Was ist der Fall Nathusius? Ein Pickel an einem schwer infizierten Körper. Sie doktoren an dem Pickel herum und getrauen sich nicht an die einzige Kur, die hier hilft und die man in feiner Gesellschaft nicht einmal ausspricht: Aufgabe der absoluten Souveränität, Abschaffung der Staatsgrenzen.
Im Mittelalter wars die Kirche. Tausende und Hunderttausende haben sich ihr unterworfen ohne Einsicht und gegen bessere Einsicht, weil sie Zehntausende verbrannt hat. Sie war Gemeingut, kleineres Übel, verklemmter Schmerz. Die ihrem Jahrhundert voraus waren, heulten es in ihre Tagebücher oder wählten sonderbar verschnörkelte Formen, um vermummt vor ihre Zeitgenossen zu treten. Wer Ohren hatte, der sollte hören . . . Die Kirche hat viel Gutes getan, aber sie lastete auf allem, was da frei war, und drehte das Rad der Zeit perpetuierlich zurück. Im Mittelalter war es die Kirche.
Heute ist es der Nationalstaat.