Frieden

So heißt der neue Roman Ernst Glaesers (erschienen bei Gustav Kiepenheuer in Berlin).

Die Literatur ist hinter der Zeit nur um etwa zehn Jahre zurück – sie hält grade zwischen Friedensschluß und Beginn der Inflation. Das Heer der Mitläufer, die jede geistige Strömung umschwirren, beginnt nun. Inflationsbücher zu schreiben – wie sie Kriegsbücher geschrieben haben . . . Die große Zeit hat kleine Bücher hervorgebracht, nun wollen wir sehen, ob die kleine Zeit große Bücher hervorbringt.

Sie liefert ›Erlebnisbücher‹. Das ist jedes Buch. Ja, aber diese so plakatierten Erlebnisbücher gehören zum Gefährlichsten, das es in der Kunst überhaupt gibt. Die Gattung gestattet nämlich jedem Dilettanten, auf jede Kritik auszurufen:

»Ja – das war aber so!«

Und hier zeigt sich die ganze Unvollkommenheit dieser Literatur. Daß etwas so oder so gewesen ist, besagt für die Kunst noch gar nichts. Und es ist nicht das Ästhetische oder das Formale allein, das ein wahres Erlebnis nachher im Buch unzulänglich erscheinen lassen kann, sondern die Wirklichkeit ist allemal dann für das Buch unzureichend, wenn sie nicht im innern Erlebnis des Künstlers zu etwas Neuem geworden ist. Es gibt keinen Naturalismus, der die Schöpfung naturgetreu wiedergibt. Alle stilisieren – indem sie fortlassen, hinzufügen . . . es beginnt schon bei der Aufnahme. Es gibt Künstler, die besser sehen als hören können; es gibt solche, die wittern die Frau, aber der Mann läßt sie kalt; mancher ist Tierstimmen-Imitator . . . nur absolute Naturalisten, die gibt es, außer dem lieben Gott, nicht.


»Du kannst nach Hause gehn«, sagte der Soldat.

So fängt das Glaesersche Buch an – aber leider geht es nicht so weiter; leider hält es den Ton einfacher Epik nicht durch, die die Wirklichkeit sublimiert wiedergibt. Das Buch zerfällt deutlich in zwei Teile: hie Ereignisse, erfundene oder halbwahre oder wahre – hie Meditation. Die Thesen, die Tendenz, die Überlegungen und die Glossen sollten aber, wie mir scheint, zur Handlung gerinnen.

Das erzählende Ich erlebt eine Reihe von Szenen: Rückkehr der Soldaten; Ausbruch des Waffenstillstandes, euphemistisch gern Revolution genannt; sinnloser Kampf sinnloser Soldaten gegen die Arbeiter . . . man nimmt das alles zur Kenntnis, nickt: Gewiß . . . ja . . . so ist das gewesen – aber wenn hier etwas wirkt, so ist es nur der Stoff, nur die Tatsache, daß es das einmal gegeben hat . . . Man kann auch alte Zeitungen lesen.

– »Sie wollen also, daß Ihnen der Dichter das verschönt? Wie? [323] Romantik? Lüge? Heldentum und Fanfare für die einen oder für die andern?«

Nein. Ich möchte nur gepackt werden. Ich möchte den tiefem Sinn oder die tiefere Sinnlosigkeit dieser Epoche verstehn, und mir solches zu zeigen, gibt es viele Wege. Meinethalben mit politischer These; mit Humor; mit der Aufzeigung der gesellschaftlichen Schichtungen . . . ich möchte das spüren, was hinter den Ereignissen gelegen hat, und das mag der Dichter Gott nennen oder Schicksal oder den naturnotwendigen Ablauf nach den Vorschriften des Marxismus . . . aber ich möchte etwas verspüren. Ich möchte verspüren, was an dem Jahre 1919 nicht einmalig gewesen ist. In diesem Buch verspürt man wenig.

Einzelheiten sind durchaus geglückt. Der Fabrikant, Herr Ziel, der ›eigentlich‹ gar keine Geschäfte machen möchte . . . Er ist so nett zu den Hühnern, beugt sich herunter, verbindet einem Küchlein das Bein . . . »Wenn ich Zeit hätte«, sagt er, »würde ich mir auf dem Lande eine große Geflügelfarm einrichten, auch ein Fasanenwäldchen, und am liebsten einen großen Teich mit Schilf, wo ich die Wasserhühner belauschen könnte. Wie ich so jung war wie Sie, war das immer mein Traum. Aber die Verhältnisse haben es anders gewollt . . . « Wie viele Wucherer haben mir das schon erzählt – es ist wirklich schön.

Aber das sind Einzelheiten; sie kommen und gehen und zerrinnen in viel Gleichgültigem und Doppeldeutigem. Wenn der Leser wissen möchte, wie ich mir das Buch wünschte, so lese er die Seite 177, auf der die Idylle der heimgekehrten Soldaten steht. Das ist ein Notizenzettel, aus dem sich etwas machen ließe. Das sind Beobachtungen, echt, aus erster Hand, man fühlt: das stimmt alles; es könnte sich vielleicht noch etwas auflockern lassen – aber diese Stelle sitzt. Es glücken auch Einzelformulierungen, wie die Antwort einer Kellnerin auf die erstaunte Frage, warum auf dem Marktplatz so ein Hallo sei. »Weil sie heimkommen, weil doch jetzt Frieden wird.« – »Es ist doch aber Revolution.« – »Das hat damit nichts zu tun. Die, welche Revolution machen, gehen auf den Exerzierplatz. Die andern gehen auf den Markt.« Kürzer kann man das nicht sagen: so ist das Deutschland von damals gewesen, genau so.

Was dann noch an dem Buch gut ist, sind hier und da aufblitzende essayartige Bemerkungen, so eine vorzügliche über den Kronprinzen. »Der Kronprinz war in Holland. Ihm galt der Haß der Bürger. Man sprach über ihn wie über pornographische Literatur . . . er war verhaßt wie ein ausschweifender Student bei seiner Zimmervermieterin.« Das ist sehr gut; aber auch dies ist gesagt, nicht gestaltet.

Solcher fertig formulierten Thesen gibt es viele; sie fallen fast immer aus dem dünnen Rahmen des Geschehens und verdichten sich manchmal zu braven Ansprachen, wie sie die Räsonneure alter Stücke an den stummen Partner und die Zuhörer zu halten pflegten. Der [324] Schriftsteller monologisiert. Manchmal wird es ganz schlimm: »Arbeitermord setzte ein«, oder; »So lag die psychologische Situation« – also das ist Zeitung, und nicht einmal sehr gute. Arbeitermord kann nicht ›einsetzen‹; dies verkorkste Wort ist dem Rotwelsch des Militärs entnommen und paßt hier gar nicht her – was, Glaeser, hast du in diesem Augenblick gesehen? gehört? gerochen? gewittert . . . wie hat die Straße ausgesehen, wie war das alles? Hier sollte das Seziermesser des Epikers ansetzen. Der nicht so ein fatales Schlagwort von der »psychologischen Situation« übernehmen darf – er zeige sie. Formulieren möge nachher der Leser.

Aber alles das verschwindet hinter der Gesinnung eines solchen Buches. Und die habe ich nicht verstanden.

Nicht etwa, weil man sie parteimäßig nicht festlegen kann; darauf kommt es nicht an. Doch habe ich nicht verstanden, was der Autor will; alles ist vieldeutig, schillernd, steigt auf und legt sich wieder wie Nebel, dampft empor, quillt und wogt . . . Wer ist dieser Freiheitsheld, der versagt? Was soll das alles? Ich habe es nicht verstanden. Natürlich steht Glaeser gegen die Offiziere, die da morden lassen – natürlich. Aber das genügt doch nicht . . .

Und da ist eine herzlich unmotivierte Zeitlupendarstellung eines Coitus, auch dies sagt nichts, was man nicht hundertmal gelesen hätte . . . Bei solchem Unmaß verlogener Prüderie, wie sie heute in Deutschland produziert wird, muß hinzugefügt werden, daß ich mich nicht durch den Stoff, sondern durch seine künstlerisch unzulängliche Behandlung verletzt fühle.

Ich kann mit diesem Buch wenig anfangen. Weil ich aber grade auf dem Gebiet der Tendenzliteratur viele merkwürdige Erlebnisse gehabt habe, so setze ich meiner Schreibmaschine ein Megaphon auf und sage:

Ich kann mit diesem Buch wenig anfangen. Das kann an mir liegen. Und deshalb ist der Autor, der eine der saubersten und anständigsten Erscheinungen der jüngern Generation ist, noch lange kein wilder Höllenhund. Er hat Anspruch darauf, gehört zu werden. Der Mann hat episches Talent. Er hat auch einen leisen Humor. Möge er sein Talent von keinem Stoff und von keiner Doktrin auffressen lassen.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1930. Frieden. Frieden. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6173-3