Der Rechtsstaat

Vous êtes dans le rêve; moi, je suis dans la vie. Croyez-moi, mon ami, la Révolution ennuie: elle dure trop . . . Et mettez-vous dans la tête que personne ne s'intéresse plus à la Révolution et qu'on ne veut plus en entendre parler.

Anatole France: ›Les Dieux ont Soif‹


Während die demokratische Republik Deutschland den dunkeln Spießbürger Herrn Külz in den ›Welt-Nothilfe-Verband‹ des Völkerbundes gegen Erdbeben und Überschwemmungen delegiert, wo der Maire von Zittau zusammen mit dem reaktionären Roten Kreuz gute Figur machen wird; während der Reichskanzler Luther, jeder Kubikfuß ein Kommunalbeamter, den aufhorchenden Journalisten fromme Märchen aus Südamerika erzählt, während auf allen Kongressen, Festessen, Ausstellungen und Fliegerempfängen deutsche Tüchtigkeit in den geduldigen Himmel gehoben wird – während Deutschland so in schön geschwungenem Bogen dem Jahr 1913 entgegentaumelt, sich wiederum einen Platz an der Sonne erobernd, den man mit viel Blut eines Tages [253] wird aufwaschen müssen: währenddessen ist ein kleines gelbes Buch erschienen.

Ernst Toller, ›Justizerlebnisse‹. (Laubsche Verlagsbuchhandlung, Berlin.)

Das Buch zerfällt in zwei Teile: in den ersten, der meist Vorkommnisse aus dem bayerischen Bürgerkrieg erzählt – und aus jenem andern, der Tollers und seiner Gefährten Erlebnisse in der Haft wiedergibt.

Der erste Teil ist historisch zu werten. Daß damals, in einem Agrarland, eine Revolution versucht worden ist, die das bayerische Volk in seiner Gesamtheit nicht hat haben wollen, daß diese Revolution mißglückt ist, und daß nun die weißen Sieger ihre Rache genommen haben, das sind geschichtliche Tatsachen, die heute kein Pathos, sondern nur noch sorgfältige Untersuchung durch solche Revolutionäre verdienen, die aus Mißerfolgen lernen wollen. Toller hat das Pathos fast ganz zugunsten einer glücklichen Sachlichkeit vermieden – er erzählt. Er gibt Tatsachen wieder; wenn er das Urteil gegen Leviné für einen Justizmord hält, so kann ich ihm da nicht folgen. Das Urteil war niemals juristisch zu werten, und es wäre von den bayerischen Richtern ehrlicher gewesen, sich nicht lange mit Paragraphen aufzuhalten, um ein Verdikt zu fällen, das vorher feststand. Der lächerliche Versuch, die Erschießung Levinés juristisch zu begründen, ist ein Nonsens. Seine Widerlegung scheint mir überflüssig.

Was folgt, verdient grade heute unsre Beachtung, weil sich kein Mensch mehr darum kümmert. Man soll diese Beamten stets mit der Nase in ihren eignen Unrat stoßen – sie werden zwar nicht stubenreiner davon, aber tut mans nicht, werden sie übermütig. Sie sind es schon.

Der zweite Teil des Buches ist die maßvoll ruhige Aufzeichnung eines Mannes, der wie ein Tier unter seinen bayerischen Peinigern – gegen Gesetz und Recht – gelitten hat. Die Verurteilung Tollers, der sich übrigens keinen Augenblick lang seiner Verantwortung entzogen hat, anders etwa als die geschlagenen und heute gefeierten Heerführer, – die Verurteilung seiner Genossen – die sinnlose Erschießung durch die Ordnungsbestien der damaligen Zeit – ja, selbst noch die viehische Ermordung Landauers sind Erscheinungen, die in einem Bürgerkrieg nicht wunder nehmen dürfen. Diese Justizuntaten sind zum Teil begangen, als die Täter in des Wortes wahrster Bedeutung rot sahen – die Urteile sind Rache- und Haßäußerungen, die mit Justiz gar nichts zu tun haben: bis dahin ist das alles begreiflich. Was aber dann vor sich gegangen ist, ist eine Schande. Eine Schande für die bayerischen Beamten und eine Schmach für die Reichsregierung, die es jahrlang mit angesehen hat.

Toller und seine Genossen sind zu Festung verurteilt worden. Das Gesetz versteht darunter eine Haft, deren Hauptschwergewicht in der [254] Entziehung der Freiheit liegt. Die Festungsstrafe ist bisher fast überall sehr milde vollzogen worden – man hat den Gefangenen hundert Erleichterungen gestattet, ihnen kleine Ausgänge gewährt, Besuche in der freisten Form erlaubt . . . Hier war nichts davon.

Hier wurde Rache genommen. Hier wurde durch ein ausgeklügeltes und rohes System von Brutalität, Feigheit und Herrscherwahnsinn mittlerer Spießbürger und kleiner Unteroffiziersnaturen gequält, gefoltert, gedrückt und gepeinigt.

Die Tabelle der ›Disziplinarstrafen‹, die während eines Jahres über die Wehrlosen verhängt worden sind, schreit zum Himmel. Es ist ganz ausgeschlossen, daß auf Seiten dieser Männer eine dreihundertundfünfundsechzig Tage währende Renitenz vorlag – hier muß ein System auf Seiten der Quäler vorgelegen haben, und es hat vorgelegen. Die Hälfte des Jahres saßen manche in Einzelhaft, die Hälfte des Jahres lag über vielen das Schreibverbot, das Verbot, Pakete zu empfangen, das Besuchsverbot, das Verbot, auf dem Hof spazieren zu gehen und schlimmeres. Bettentzug, Kostentzug, Bücherentzug – es wimmelt nur von solchen Quälereien. »Männlein wurde am 28. Juli 1921 mit Einzelhaft bestraft, weil er eine Bewegung mit dem linken Fuß beim Rapport machte, mit der er dem Vorstand seine Nichtachtung bezeugen wollte.« Es gibt keine Bewegung, mit der man diesem Vorstand seine Nichtachtung nicht bezeugen soll – aber man kann aus dem Beispiel ermessen, welch Ton in der bayerischen Hölle geherrscht hat. Leute, die Mut und Rückgrat hatten, kamen in die Zwangsjacke. Haben Sie einmal eine gesehen? Nein, Sie haben sie vielleicht nicht gesehen, wir leben achttausend Schritt von unsern Zuchthäusern, aber wir kennen sie nicht. Nun darf man bei Betrachtung dieser Dinge eines nicht vergessen, das ich stets anführe, wenn zum Beispiel von Hölz gesprochen wird.

Was dem Mann in der Freiheit als eine Lappalie erscheint, ist im Gefängnis von eminenter Wichtigkeit für die Seelenverfassung der Gefangenen. Wir dürfen nie außer acht lassen, daß das Gesichtsfeld und die Erlebnissphäre des Gefangenen auf ein Minimum zusammengeschrumpft ist, daß das Feld, in dem er körperlich und geistig lebt, sehr beschränkt ist. Nimmt man selbst an, daß jeder Gefangene während seiner Gefängniszeit abstumpft, so bleibt doch noch mindestens die Hälfte seiner gewöhnlichen Energie übrig, die nun statt auf Quadratkilometer auf Quadratmeter seelischer und körperlicher Erlebnisse angewiesen ist. Die Folge davon ist, daß jedes Erlebnis, jede Sinnenreaktion tausendmal stärker ist; daß jedes Vorkommnis tausendmal größern Eindruck hervorruft, als es das im freien Leben zu tun pflegt, wo es sofort wieder von andern verdrängt wird. Hier bleibt es haften, stockt, verstopft die innern Kanäle und ist dem, der so viel Zeit hat, zu denken, eine ständige Folter. Da wird eine vielleicht sachlich harmlose [255] Beleidigung durch die stets zu schlecht bezahlten Gefängniswärter zur blutigen Schmach, die den nächsten Zwischenfall noch mehr und noch schärfer empfinden läßt – und dieses Moment muß man immer in die Rechnung einsetzen, wenn man von Gefangenen spricht. Kommt dazu die Quälerei, erwachsenen Männern auf Jahre hinaus die Frauen zu nehmen, so kann man sich die Atmosphäre vorstellen.

In Niederschönenfeld ging es zu wie in einem Tollhaus. Nur saßen die gefährlichen Irren nicht in den Zellen.

Die Briefzensur für ankommende und abgehende Briefe: ein einziger Willkürakt; unter keinen Umständen Urlaub, auch nicht, wenn alle Sicherheitsmaßregeln angeboten wurden und es sich etwa um den Tod einer alten Mutter handelte; sinnlose Verschärfung der Haft während des Kapp-Putsches, der ja immerhin nicht von linken Revolutionären ausgeführt wurde; lügnerische Denunziationen durch das Personal; Hunger; Peinigung, Qual ohne Ende. Das endete im Fall Hagemeister mit dem Tod.

Die Bayern haben sich durch ihre Richter, also durch eine Instanz, die für die Feststellung des Sachverhalts ohne Bedeutung ist, attestieren lassen, daß sie am Tode Hagemeisters nicht schuld seien – die Tatsachen im Buche Tollers sprechen lauter, reiner und wahr. Der Mann ist in seiner Zelle verreckt wie ein Hund; ohne ärztliche Hilfe, ohne Zuspruch, ohne Freund. Wer ihm helfen wollte, verfiel der politischen Rache des obersten Personals, das wahrhaft an dieser Schande schuld hat.

Da ist zunächst der damalige Justizminister Müller-Meiningen zu nennen, ein Bursche, der sich seinerzeit ›Demokrat‹ nannte, und den die Demokratische Partei niemals wegen seiner Haltung zur Verantwortung gezogen hat. Also hat man das Recht, die Partei für mitschuldig zu erklären. An ihr wäre es gewesen, von einem solchen Menschen abzurücken. Einer der schlimmsten war ferner ein Herr Hoffmann, der inzwischen befördert worden ist – er leitet heute den gesamten Strafvollzug in München; man kann sich ungefähr vorstellen, wie der aussieht. Sie alle übertraf Herr Kraus.

Kraus, der heute, zur Belohnung, mehr Gehalt bekommt als damals, scheint auf die Gefangenen losgegangen zu sein wie ein Berserker. Toller hat ihn in diesem Buche bewußt und vorsätzlich beleidigt und ihn herausgefordert, ihn zu verklagen – er wird sich hüten. Denn der Wahrheitsbeweis sähe wahrscheinlich vernichtend für ihn aus, und er hat alle Ursache, zu schweigen. »Ich bin Festungsvorstand, Sie Gefangener! Ich befehle, Sie gehorchen. Ich weiß, warum ich hier bin. Ich bin hergekommen, um durchzugreifen, und ich greife durch, wenn es sein muß, mit Waffengewalt!« Das etwa ist die Tonart jenes Noske, der heute noch die SPD ziert – und genau so regierte Kraus. »Es ist selbstverständlich, daß die Angehörigen vom Strafvollzug betroffen[256] werden müssen.« – »Wer seine Gesinnung nicht ändert, wird nicht entlassen.« – »Beschwerden sind Vielschreiberei und beweisen hetzerische Unzufriedenheit.« Soweit die Festung, auf der sonst Duellanten anders behandelt werden . . .

Man kann sich danach ausmalen, wie es in den bayerischen Zuchthäusern ausgesehen hat und noch aussieht, in denen politische Gefangene sitzen – es ist natürlich völlig gleichgültig, was die bayerische Regierung als ›politische Gefangene‹ ansieht – diese da sind sämtlich so politisch, wie es die Richter sind.

Alle Beschwerden Tollers an den Reichstag, den damaligen Präsidenten Ebert blieben erfolglos. Ebert war viel zu feige, um es mit Bayern, das kräftig zurückgeschlagen hätte, anzulegen – er tat das lieber mit Sachsen und Thüringen. Aber wo er euch doch vom Bolschewismus ›gerettet‹ hat . . .

Was lehrt aber nun das Buch Tollers –?

Die Tatsache, daß im Rechtsstaat Deutschland Hunderte und Hunderte von solchen Männern, wie es Hoffmann, Müller-Meiningen und jener Kraus sind, ungestraft, frei und in allen Ehren umherlaufen. Hier scheint mir das Gefährlichste, das Grausigste, das sittlich Depravierendste zu liegen.

Diese Leute sprechen natürlich von ihren Taten, sie erzählen sich die Einzelheiten dessen, was sie damals angerichtet haben, am Stammtisch, in ihrer Familie, sie erzählen es ihren Kindern – und loben es. Und die, denen sie es erzählen, lernen also daraus, daß es gottgefällig, ersprießlich und vorteilhaft ist, so zu handeln – und so erzieht jeder dieser Übeltäter zehn andre. Das gleiche gilt für die uniformierten Totschläger; für Polizeibeamte aller Farben – für alle jene, die »den lausigen Kommunisten mit dem Gesicht an der Wand mal erst acht Stunden haben stehen lassen«, wozu sie meist mit bewunderungswürdigem Mut ein MG dahinter aufbauten . . . Diese alle sind frei.

Verschickt Mussolini seine Feinde in die Kolonien, lassen die Bolschewiki weiße Monarchisten in den Gefängnissen erschießen, geschieht etwas Gewalttätiges in China, dann können wir uns gar nicht lassen vor lauter Entrüstung, So etwas von moraltriefenden Leitartikeln war noch nicht da. Weil aber diese wackern Bürger gern etwas fordern, was sie ›Staatsbejahung‹ nennen, so sei ihnen empfohlen, mit ihrer Entrüstung zu Hause anzufangen. Hic Rhodus.

Aber dazu sind sie zu feige. Dazu langts nicht. Kein Wort in der großen Presse über das, was da in Bayern geschehen ist, was heute noch, stündlich und täglich, mit mißliebigen Oppositionellen geschieht, kein Hahn kräht danach, wenn es sich um anonyme Proletarier handelt.

Und was am unangenehmsten an diesen Scheindemokraten wirkt, das ist ihre Verlogenheit. Sie wagen niemals, das zuzugeben, was sie [257] täglich und stündlich tun. Sie knütteln jede Freiheit nieder – aber wenn man sie an ihren schrecklichen Festtagen reden hört, glaubt man, es seien lauter Freiheitshelden. Hätten sie doch den Mut, einmal, nur einmal das zu bejahen, was sie tun – man könnte sich mit ihnen unterhalten. So aber gibt es keine Verständigung. Menschen leiden lassen und dann nicht einmal den Mut aufbringen, es zuzugeben – Demokratie, du Phantom! Feiertagsgespenst! hohles Nichts! Kathederschmuck! Zierat am Gefängnisportal! Ornament der Kredit-Konten!

Das Buch Tollers hat eine Wirkung gehabt:

Die bayerische Regierung hat ihn nach Erscheinen des Werkes aufgefordert, die noch ausstehenden Verpflegungsgelder für seine Festungszeit zu bezahlen, und es ist zu hoffen, daß er den Brüdern eine ähnlich tapfere Erklärung abgegeben hat, wie er das bei seiner Zeugenvernehmung in Berlin durch einen bayerischen Beamten getan hat.

Toller ist den Sozialdemokraten, die an seinem Unglück mitschuldig sind, unangenehm, und den Kommunisten zu sehr ›bürgerlicher Ideologe‹, oder was sie sonst für einen falschverstandenen russischen Ausdruck kopieren. Schon deshalb ist es unsre Sache, für ihn zu sein. Dabei lasse ich das dichterische Phänomen Toller ganz außer Betracht – ich halte es für gleichgültig, ob der Mann ein großer Künstler ist oder nicht. In diesem Zusammenhang interessiert der Kämpfer Ernst Toller, dessen Mut, dessen Charakterstärke und dessen saubere Sachlichkeit über allem Zweifel erhaben sind.

Ehre seinem Werk.

Dieser Rechtsstaat aber hat jedes Anrecht verloren, uns durch den Mund seiner führenden Kleinbürger irgend eine Moral zu predigen. Er schweige, gehe in sich und fange mit seelischer Reinigung bei sich zu Hause an.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1927. Der Rechtsstaat. Der Rechtsstaat. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-616D-4