Amerika heute und morgen

Arthur Holitscher, den Thomas Mann in einem wundervollen Prosastück zu einem sich selbst genügenden Ästheten namens Spinell verarbeitet hat, hat eine amerikanische Reise gemacht und darüber berichtet. [47] (S. Fischer, Verlag.) Und wie hat er berichtet! – Spinell ist tot, es lebe Arthur Holitscher! –

Was ist es mit diesem Amerika? – Lies hundert Bücher über der Deutschen Verwaltung, Sitten, Gebräuche, Wirtschaftsformen, höre Kollegs, sieh dir Fotografien an, und du wirst doch nicht, hast du deinen Wohnsitz anderswo, die Luft riechen, das spezifisch Deutsche erfassen.

Was wußte Holitscher, als er, der Fremde, das ungeheure Land Amerika aufsuchte. Und es kommt auch gar nicht darauf an, ob er in der subtilsten Frage, die es drüben gibt, der Rassenfrage, recht hat oder nicht, ob Ellis-Eiland, die Burg gegen die Einwandererströme, wirklich eine Notwendigkeit ist, ob die Kinderrepublik in Freeville eine Farce ist oder eine Wohltat, – darüber mag man in Spezialwerken nachlesen.

Aber daß endlich mal einer uns diesen Begriff ›Amerika‹ auflöst in hundert kleine menschliche Einzelzüge – das ist es. Wie wir nun nach zwanzig, dreißig Bildern, Impressionen merken, wie drüben auch mit Wasser gekocht wird, wie sie dort arbeiten und fröhlich sind und zerwalkt werden und in ihrem rasenden Tempo nicht einhalten, bis – zu Ende. Wie alles so anders ist als bei uns. Und das ist das Gute an diesem Buch: daß Holitscher nicht in unserem Maßstabe mißt, weil er weiß, daß Psychologie und Wirtschaftsform sich gegenseitig bedingen, weil er mit etwas völlig Neuem das völlig Neue, Andersgeartete mißt.

Der Absatz ›Chicago‹ war ja hier abgedruckt und zeigte schon die ganze Kunst, ohne ermüdende Einzelheiten den Kern zu geben, aber nicht mit der unverschämten Sicherheit des Zugereisten, sondern zweifelnd, vorsichtig, voll Skepsis.

Wie lebt alles, was er schrieb! Die Schulen, die großen Volksbildungsanstalten, die Sporthallen (die übrigens nie von Holitscher beweihräuchert werden, sondern immer als das betrachtet werden, was sie sind: als Tropfen auf den heißen Stein Kapitalismus).

Dieses Buch ist anders als alle anderen: J. V. Jensen war drüben und hat mit scharfen Augen gesehen und – nicht gesehen und hat mit seiner Stahlhand ein Amerika geformt, das es nicht gibt –, auch er hat begriffen, aber hinzugefügt (›Die neue Welt‹. Essays. S. Fischer, Verlag). Wolzogen war drüben und hat geschwätzig über Äußerlichkeiten berichtet – niemand, niemand fand diesen Ton.

New York, die Wolkenkratzer, und das Essen da und die Schutzleute und Wahltage in kleinen Nestern, Kanada, dies ungeheure Landreservoir, die Landstreicher . . .

Und all das untermischt mit fabelhaft geschickten Fotografien, Gegenüberstellungen, wie sie bei uns viel zu wenig gemacht werden; z.B. ›Arbeitswillig‹ und ›Verbraucht‹, und Gruppenaufnahmen: ›Solche Leute braucht der Westen‹, Männer voll unheimlicher Kraft [48] und Energie, die noch in den Überschüssen, in der maßlosen Korruption erkennen lassen, wie wertvoll die richtiggeleiteten Kräfte sein würden.

Lest dies Buch: so sieht es drüben aus. Lest dies Buch: so sieht einer die Welt.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1912. Amerika heute und morgen. Amerika heute und morgen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-60CB-7