Herr Wendriner beerdigt einen

»Gräßlich, so 'n feuchter Regentag! Haben Sie Ihren Schirm? Ich nehm immer 'n Schirm mit. Schrecklich, die arme Frau. Ich hab ihn noch gekannt, wie er in der Alexanderstraße seinen kleinen Laden gehabt hat – ein grundanständiger Mann. Nu – die Frau ist versorgt, der Mann hinterläßt mindestens seine achtmalhundertausend. Ich weiß nicht: ich hab ihn immer gern gehabt. Noch vor zwei Monaten haben wir über Gruschwitz Textil gesprochen, ich hab ihm den Tip gegeben, da hat er nebbich noch zweitausend dran verdient! Ich kann Weißensee schon nicht mehr sehn. Sehr gut hat der Doktor Schwarz gesprochen, ein ausgezeichneter Redner. Die? Das ist eine angeheiratete [203] Kusine von seiner Frau, näher kenn ich sie auch nicht. Nu drehn Sie sich doch bloß mal um! Eine Geschmacklosigkeit, so zur Beerdigung zu kommen. Das ist doch hier keine Premiere. Da ham Se recht – eigentlich is es ja doch eine . . . Hier weiter drüben liegt ein alter Onkel von mir, an den muß ich so oft denken, der hat immer gesagt: Ich wünsch dir, daß du nie so von der Börse kommst, wie du hingegangen bist! Recht hat der Mann gehabt. Diese Flaute ist was Fürchterliches. Ja. Haben Sie übrigens gehört, Esmarch und Ehrmann vergrößern ihr Kapital? Sehr gute Leute – können Sie sagn, was Se wolln. Entschuldigen Sie! Jetzt hab ich meinem Vordermann schon zweimal auf die Hacken getreten. Es ist aber auch eine kolossale Beteiligung. Kalt is. Ich wer mir noch wer weiß was holen. Aber ich habs mir nich nehmen lassen, zu kommen. Meine Frau hab ich zu Hause gelassen. Sie regt sich immer so auf. Beerdigungen sind nichts für Frauen. Außerdem hat sie heute Anprobe bei der Schneiderin, Sie waren doch neulich in Chemnitz? Sagen Sie mal, haben Sie da den kleinen Steinitz nicht gesehn? Der hat doch in eine Strumpffabrik reingeheiratet, sehr fixer Junge. Schade – ich hätt gern gewußt, was aus dem geworden ist. Ich arbeite gern mit Sachsen – die Leute gehn mit der Zeit mit. Ssss! Nicht so laut! Ach so, der Alte ist schwerhörig! Soll er nicht auf den Kirchhof gehn – es gehört sich nicht, so laut hier zu reden. Haben wir uns nicht schon mal hier getroffen? Komisch, immer treffen wir uns hier – das ganze Jahr sieht man sich nicht, und dann muß man sich hier treffen. Haben Sie Ihr Auto warten lassen? Ich hab mein Auto warten lassen – man kriegt hier draußen keins. Na, solls schon kosten. Meine Handschuhe sind ein bißchen kaputt – man merkts gar nicht, man trägt sie doch sonst nicht . . . Wissen Sie, ich hab immer zu meiner Frau gesagt: Bei meiner Beerdigung möcht ich am liebsten keine Beteiligung haben. Musik, ein schönes Quartett, und weiter gar nichts. Sie auch? Nein. Und so schnell, nicht wahr? Vorvorige Woche war er noch auf der Börse und hat Witze gemacht. Sie haben sofort einen Spezialisten zugezogen, aber es war nichts mehr zu machen. Vernachlässigt, wahrscheinlich. Man müßt mehr Diät halten. Ich hab ihn immer sehr gern gehabt. Auf mich hat er zählen können. Was ist da vorn? Warum geht das nicht weiter? Was warten die? Ach so, die Träger haben abgesetzt. Na – wissen Sie, von mir aus kanns nu weitergehn. Ich hab schließlich noch was andres zu tun, in der Stadt. Man hat doch seine Zeit nicht gestohlen. Skandal, diese Warterei! Na, endlich . . . ! Mein Schwager hat übermorgen Geburtstag, wollen Sie ein Stündchen zu uns kommen? Ganz einfach, zum Butterbrot . . . Schefflers kommen auch. Da können Sie ja gleich mal die Sache wegen der Anilin mit ihm besprechen. Meines Erachtens liegt die Sache wesentlich günstiger, als Sie glauben. Es klärt sich wieder auf. Ich bin doch nicht warm genug angezogen. Wissen Sie, wenn [204] man das alles hier so sieht, die Steine und die Kränze – ich frag mich so oft: die Aufregungen und die Arbeit und die Kalkulationen – für wen ist das eigentlich alles? Man tuts doch nur für seine Familie. Zum Schluß liegt man hier und ist nicht mehr da. Meinen Zylinder hab ich schon zwölf Jahre. Fahren wir nachher zusammen zurück? Bezahlen Sie doch Ihren Wägen – natürlich kriegt der Mann hier eine neue Fuhre! Wir können uns ja teilen – das ist vorteilhafter. Gehen Sie nachher noch zu der Frau? Ich auch nicht. Da sind wir. Gehen Sie ans Grab? Man muß ans Grab gehn, glaub ich. Ziehn Sie Ihre Handschuhe an – man macht sich die Finger so schmutzig am Sand. Vor uns sind ja noch so viele – wir haben noch Zeit. Neulich, wie der Eisner gestorben ist, wissen Sie, der von Eisner & Eisner, hat seine Nichte drei Tage lang nichts gegessen. Ich finde das übertrieben. Erinnern Sie mich, daß ich Ihnen nachher den Witz mit dem Ochsen im Schaufenster erzähle – großartig. Ach, wissen Sie, wenn ich hier draußen bin und so manchmal dran denke in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann – ich kann manchmal nicht schlafen, ich nehm Brom, nehmen Sie auch Brom? –, dann sage ich mir immer das eine:

Nur lebendig soll man sein!«


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1925. Herr Wendriner beerdigt einen. Herr Wendriner beerdigt einen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6071-2