Am Sonntagnachmittag

pflege ich gemeinhin alte ›Weltbühnen‹ zu lesen. Nein, meinen Kram nicht – sondern etwas ganz andres,

Erstens ist es sehr lehrreich, zu sehen, wie alte Aufsätze noch wirken – wie, wenn sie gut sind, die Sache zwar verstaubt, veraltet ist, aber wie neu, im hellen Glanze, der Kerl erstrahlt, ders geschrieben hat. Wie das Unwichtige wichtig und das Wichtige unwichtig wird – wie die ›Affären‹ vorbei sind und mausetot, wie aber der Stil noch frisch ist und die Gesinnung und der Mensch, der dahinter steht.

Und wenn ich dem S. J. seine alten Theaterkritiken durchgeblättert habe und Morgenstern und Walser und Hardekopf – Gott, bevor ich an das Blatt kam, hatten wir schließlich sehr anständige Mitarbeiter! –: dann lese ich, immer mal wieder, Polgarn.

Dies ist ja zum Glück keine Zeitschrift mit einem ungedienten Unteroffizier als Redakteur – die meisten deutschen Redakteure lassen ihre Mitarbeiter nicht ausreden, sondern bakeln an ihnen herum, und so sieht das auch alles aus! –, und so darf ich denn wagen, was anderswo nicht möglich wäre: einen Mitarbeiter dick und offen zu loben.

Loben? Ich muß ihn streicheln. Nein, wir alle sollten ihn streicheln.

Da sind tausendundeine Theaterkritik – ich kenne kaum einen dieser Schauspieler, keines der wiener Theater, ich verstehe so viele sachliche Anspielungen gar nicht – und dennoch ist es wie ein warmes Bad, das zu lesen. Das zergeht auf der Zunge – aber ich muß schon lachen, denn keines solcher Worte hat der verehrte Liebling meiner Sonntagnachmittage unzerspöttelt gelassen. Im sauersüßen Tadel einfach unerreichbar, sodaß man nicht weiß, ob da einer mit einer Drahtbürste geliebkost oder mit einer Puderquaste geschossen hat. Welche Fülle an Bildern! Es gibt einen spezifisch Polgarschen Witz: er verlegt Sinneseindrücke von einer Sphäre in die andre, vergleicht einen Theaterbombast mit einem Gericht, einen optischen Eindruck mit einer Hautempfindung und vermengt auf das freundlichste die Gebiete des menschlichen Daseins. Seine Kunsturteile sind von unangreifbarer Sauberkeit – seine Grazie einzig. Da ist eine kleine Geschichte[322] ›Scharlach‹ und eine ›Wie der Goethe entstand‹! Man müßte das alles abschreiben.

Warum das hier gesagt wird? Erstens aus Spaß. Zweitens aber, um einmal zu sagen, wie blödsinnig diese Wertung nach Quantität ist. Sind wir eigentlich Akkordarbeiter? Ich muß mich sehr vorsehen, so etwas zu sagen – sonst denken die Leute, ich spräche pro domo –: aber ich bin ein aufgehörter Schriftsteller und habe kein domum. Aber jener! Ist er denn deshalb weniger als andre, weil er sofort, schon in der zweiten Zeile, das Wesentliche sagt und nicht erst auf der achten Seite in Schwung kommt? Ja? Muß man Wälzer schreiben oder irgendeinen abendfüllenden Unfug, um ernst genommen zu werden?

Laß sie doch Literaturgeschichte schreiben, Polgar. In unsrer stehst du an erster Stelle – unter ›Besserer alleinstehender Herr in ungenierter kleiner Wohnung‹.

Und wir bedanken uns für so viele freundliche Stunden und wünschen dir alles Gute!


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1923. Am Sonntagnachmittag. Am Sonntagnachmittag. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5F1E-5