Deutsche Kinodämmerung?

Am Vormittag rief mich mein dicker Freund Kie an. »Haben Sie heute abend Zeit? Der Maler Boris will Ihnen was zeigen!« – »Nein«, sagte ich, »heute abend« – und dann machte ich eine kleine Pause – »heute abend gehe ich in die ›Letzte Galavorstellung des Zirkus Wolfson‹.« – »In den Film?« rief Kie – »aber Peter! Da klettert ein Affe mit einem kleinen Kind auf einen Fabrikschornstein . . . Ein Mann in Ihrem Alter –!« Und dann sprachen wir über die bessern Sachen.

Abends ging ich hin. Ich habe eine alte, tief eingewurzelte Liebe zum Kitsch. Es war hinreißend. Aus dem Programmheft ging hervor, daß dieser Film auch einen Inhalt hat – ich habe gar nicht darauf geachtet. Manchmal schwamm die Leinwand in Sentimentalität – Zirkusmädchen bekamen Kinder, begruben dieselben und weinten edeln [389] Fürstensöhnen nach – quand même! Was heißt hier Drama! Der Affe, der herrliche Affe!

Er spielte still und routiniert, wie ein alter Kinoschauspieler – nur viel besser und nicht so prätentiös. Die große Szene hatte ihre Qualitäten: der Affe nahm das Kind, ein wirkliches, schreiendes Bündel (das sich hier und da bemerkbar bemachte), und kletterte einen Ungeheuern Schornstein damit hoch. Mir ist es ja herzlich gleichgültig, ob das ›geschnitten‹ oder ›kaschiert‹ oder echt ist – als ich es sah, war es für mich echt, und das ist die Hauptsache. Dieser ungeheure schwarze Schornstein ragte unheilverkündend in die Luft, da unten lag Lugano (da haben den Film vor acht oder zehn Jahren dänische Schauspieler gemacht) und ›Kaja, seine Tochter‹, kletterte dem Affen nach. Da oben, auf des Schornsteins Rand, ging es munter zu – das Kind zappelte und schrie, die Tiefe lag, wie es sich für eine anständige Tiefe gehört, schwindelerregend unter ihnen, Kaja kletterte, kam, sah und balgte sich mit dem Affen – und der große Todessprung zeigte endlich, wofür eigentlich das Kino auf der Welt ist. Laßt mich noch erzählen, daß der ganze alte Zirkuszauber von Staub, Pferdegestank, Kitsch und buntem Kram lebendig wurde, daß das Kind gut spielte – (was mag dieses Balg wohl sagen, wenn es einmal, herangewachsen, diesen Film sieht? »Und da stand im Zuschauerraum ein bejahrter Greis auf und rief frohlockend; ›Das bin ich!‹ Und da warf man ihn hinaus . . . «) – mein Freund Kiekam auch vor, fett, mit einer Brille, drei Doppelkinnen – seine tragischen Momente waren seine besten, man lachte sich krumm – kurz: es war reine wie ins Leben. Das Publikum war ›restlos‹ begeistert.

Warum sehen wir das nicht alle Tage? Ist das nicht viel, viel schöner als ›Die da nach der Sünde riefen‹ und ›Frauen, die den Kranz verloren‹ und ›Anders als der Rest‹? Es ist viel schöner.

Was geht vor? Rieselt es im Gemäuer des deutschen Kinomarktes?

Ein bißchen Angst haben die Herren schon. Konkurrenz ist ja gut, und wer sie fürchtet, ist schlapp oder dumm oder schwach. Auf Lubitsch wird das Ausland höchstens befruchtend wirken – denn was die können, kann er in drei Jahren auch. Und sie sind uns ein Stück voraus. Sie haben den riesigen Vorsprung der vier blutigen Jahre, in denen ihre Rohstoffproduktion munter weiterlief, und sie sind ja heute noch viel billiger, als wir es je sein können. Ohne Einfluß wird diese Invasion also nicht sein. Die kleinen Firmen werden sie zuerst merken, und das schadet gar nichts. Lieber noch eine gute amerikanische Trickmittelmäßigkeit als unsern horribeln Kram von vermanschter Literatur und schlechtem Kino. Ich will nicht sagen, daß der Weg des Affen zum Fabrikschornstein hinauf der Weg des Kinos ist – aber ein Weg ist es schon. Unsre Herren klopfen die Zigaretten auf dem Etuideckel zurecht, zünden sie sich an, klappern mit den [390] Augenlidern, und der Text sagt: »Graf Koks ist das Verhältnis seiner Nichte zu dem Onkel der Klosettfrau unsympathisch«. Gut – aber was geht das mich an? Es geht mich dagegen sehr wohl an, wenn einer drei Häuser überhüpft – wie das gemacht ist, ist gleichgültig – ich sehe erfreut zu. Und wie vergnügt werden wir erst sein, wenn Chaplin herkommt, der wirkliche Original-Charlie Chaplin, der große Amerikaner! Er brächte frisches Blut und frischen Wind mit.

Der deutsche Kinohimmel verdämmert sacht . . . ? Die kleinen Sterne bleichen, die großen Sonnen, es sind ihrer nicht viele, leuchten weiter, und fremde Gestirne ziehen auf: bunt, neuartig und mit blitzenden Schweifen. Vielleicht wird es dann wieder mehr Spaß machen, Kino-Astronomie zu betreiben als heute. Das walte Gott –!


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1920. Deutsche Kinodämmerung?. Deutsche Kinodämmerung?. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5E84-7