Der blaue Vogel
Es ist stippevoll, die Leute sitzen in Logen und an langen Tischen eng zusammengedrückt – niemals wäre dergleichen reibungslos mit Deutschen zu erzielen. (»Alaum Se mah!«) Nur ein paar berliner Barfürsten haben einen Rauchrock an. Der kleine Vorhang teilt sich – Herr Jushnij tritt herfür.
[149] Er sieht aus wie ein sehr kluger hochbeiniger Vogel. Er hat gefährlich kluge, dunkle Augen, eine durchdringende Stimme. Er macht ein entzückendes deutschähnliches Geräusch. Er harangiert sein Publikum, reibt die schlanken Hände, ist immer überlegen und hat so viel Witz, Takt, Delikatesse und Geschmack –! Wo bleiben unsre bestenfalls literarisch verwanzten Conférenciers? »Auf Wiedersehn!« sagt Herr Jushnij. Denn so viel Deutsch kann er schon. Und es fängt an.
Um es gleich zu sagen: es ist keiner da, der etwa Überragendes könnte. Es sind sogar einige da, die weniger als mäßiger Durchschnitt sind. Aber so darf die Angelegenheit nicht angesehen werden. Die Berliner, die sofort, cash down on the table, augenblicks für ihr Geld Pointe, Frauen und Kostüme haben wollen, werden kaum begreifen, wenn man ihnen sagt, daß das hier der Exponent einer fertigen, feinsten Kultur ist, und daß noch niemals in Deutschland ein Cabaret so unter der Fuchtel eines gebildeten Despoten – eben des Herrn Jushnij – gestanden hat. Die Nummern sind nicht Nummern an sich – aber alle zusammen sind bestes Cabaret. (Mit Ausnahme einer Tänzerin fällt nichts ab.) Triumphe feiern der Maler, die Maler, die Malerin: Chudjakow und Tschelischtschew und Boguslavskaja. Das haben wir noch niemals gesehen. (Und man denke: den ganzen Abend lang nicht eine Zote!)
Sie singen russische Lieder. Figuren und Prospekt sind gemalt, nur die Köpfe sind lebendig – welch eine witzige Vereinigung von bunten Bauernfarben und lustigem, neuem, russischem Expressionismus, für diesen Zweck erfunden! (Bei uns wäre das Zurückgreifen auf Ländliches deutsch-national oder kitschig – bei ihnen ist es selbstverständlich.)
Ein großes Sofa füllt die Bühne, kleine Pritzelpuppen singen, Kissen werden lebendig – wie wenig aufdringlich, mit welch anmutiger Leichtigkeit ist das alles gemacht! und keinen Augenblick kitschig, keinen Augenblick kunstgewerblich, ohne alle Prätention! ›Bei den Zigeunern‹. Reinhardt zeigte das vor Jahren im ›Lebenden Leichnam‹ – seine Frauenstimmen waren viel schöner; wenn so ein Alt einsetzte, kamen einem die Tränen. Aber hier springt die Liebe zum alten Moskau über die Rampe hin und zurück, ein Raunen geht durch das Publikum, sie erkennen wieder: Ja, so war es! Dieser Kaufmann und sein Gehilfe und die Vorsänger – ja, ja!
Drei Nummern aber sind da, die uneingeschränkt zu bewundern sind. Peccavimus: ein Ton, und wir stehen wie im Hemde.
Das kann hier keiner. Da ist erstens ein Lied russischer Fabrikarbeiter: wie da die strohdumme Trine Nüsse knackt, mechanisch tanzt, jeden Vers mit einem kleinen »Hu!« beschließt, wie ihr dicker Partner sich nur grade so viel bewegt, wie es die Zeremonie erfordert – das ist [150] nun zum Entzücken gar. Und da ist zweitens ein lebendes Bild für das altfranzösische Lied: ›Le roi a fait battre tambour‹, das sie russisch singen: kennt ihr Dorés Bilder zu den ›Contes drôlatiques‹ von Balzac? Das ins Offenbachsche übersteigert, toll gewordenes Mittelalter – ein famoses Bild! Und dann, und dann . . .
Ja, George Grosz – das sollten Sie sich ansehen. Denn das kann keiner aus Ihrem Kreis: so den Irrsinn der großen Stadt zu verspotten, ihn 60 zum Einzelschicksal in Parallele zu setzen! ›Time is money‹ heißt dieses Wunder. Liebestragödie eines Großindustriellen Mr. Ford und einer großen Konfektioneuse, Mrs. Boden. Den altgriechischen Chor bilden Sandwichmen- und Schaufensterpuppen. Und wenn der Chansonnier dazu singt: Mr. Ford – dann setzen sich die Sandwichmen in Bewegung und singen ein Gebet: »Mr. Ford – Maccaroni-Großexport . . . « Und wenn er sagt: Mrs. Boden – dann flirren die Wachspuppen; »Mrs. Boden – Atelier Pariser Moden . . . « Und verdammt will ich sein, wenn man von diesem Rhythmus nicht träumt. Er ist ganz unvergeßlich. Schüsse fallen, die marionettenhaft Liebenden gehen mit Tode ab und kommen ein bißchen wieder, aber der Chor singt: »Maccaroni Großexport . . . « Voilà Dada.
Das war noch gar nicht da. Und man fühlte sich Zuhause in der Fremde, und alle Frauen sahen aus wie du: weich, mit halbgeöffnetem Mund und jener kleinen Kugelnase, auf die man unbedingt einen Kuß setzen muß. Du warst nicht da. Aber dein ganzes Land war da und sein Geschmack und seine Lebensluft, sein unerschöpflicher Reichtum und seine einzigartige Kultur.