Alt-Heidelberg

Als der Großvater die Großmutter nahm,
Da herrschte noch sittig verschleierte Scham;
Man trug sich fein ehrbar und fand es nicht schön
In griechischer Nacktheit auf Straßen zu gehn.

Langbein (1813)


Im Deutschen Theater zu Berlin, wo einst Max Reinhardt Meister war, hat man ›Alt-Heidelberg‹ gespielt, jenen Reißer aus unsrer Väter Tagen, einen anachronistischen Buntdruck. In allen Schaufenstern liegen ›Rheinlieder‹ aus, mit bunten Umschlägen wie aus den achtziger Jahren: blondgelockte Mädchen kredenzen wackern Jünglingen ein Glas edeln Weines, der Rhein fließt romantisch und unbeschreiblich grün bedruckt vorüber, und innen steht ein schönes altes Lied. Die Sehnsucht nach dem Früher ist allgemein, Deutschland spielt: gute alte Zeit. Es ist, wie wenn eine Welt vor ihrem endgültigen Untergang noch einmal alles, alles rekapitulierte, was je dagewesen ist, und vor allem das Schlechte: ein Haus ist heruntergebrannt, und das erste, was die Leute unverändert wieder aufbauen wollen, sind die sehr unhygienischen Toilettenräume. Sie waren so romantisch . . . Noch nie war die Sehnsucht nach dem Bürgerlichen so groß wie heute – noch nie so groß die Wertschätzung jener spezifisch bürgerlichen Tugenden, ihre Pflege und ihre falsche Vergötterung.

[325] Wie nun jede Zeit das Bestreben hat, sich die vorige als harmlos, ruhig und still-vergnügt und satt-zufrieden vorzustellen – im Gegensatz zu jener bösen, bewegten und übeln, in der man zu leben grade das Pech hat: so lügt sich diese die Jahre 1870 bis 1914 in eine freundliche Epoche leiser Beschaulichkeit um und zurecht, und, nicht genug damit, will sie sie auch noch nachahmen. Drollig und tragisch zugleich, wie dieses Kostüm in dieser Zeit wirkt. Es geht ja nicht, auch wenn ihr euch noch so anstrengt. Es geht ja nicht, vom ›Heim‹ zu reden, wenn selbst die paar Quadratmeter Holzplanke den Wohnungsämtern unterliegen; es geht nicht, vom ›frisch-fromm-fröhlichen‹ Studenten zu sprechen, wenn er gezwungen ist, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen; es geht nicht, von der ›keuschen deutschen Jungfrau‹ zu fabeln, wenn Kunigunde den ganzen Tag über im Büro die schnatternde Schreibmaschine bedient. Es geht nicht.

Aber wie in einem Anilinglanz sonnen sie sich in dieser versunkenen, maßlos überschätzten Epoche. Sie ist nicht nur zeitlich vorbei – sie ist auch mausetot, und wenn es nicht so graue, so bürgerliche Dinge wären, die man da aufwärmt, so könnte man an die Romantiker gemahnt werden, die Kreuzfahrer sein wollten, als Stevenson am Bau der ersten Lokomotive bastelte. Vorbei, vorbei. Und heute? Heute pumpen sie sich die Formen aller Kulturen, um die Leere ihrer eignen zu verkleistern, und wo ein Loch ist, da stellt ein altes Schmuckstück bald sich ein. Es gibt einen medizinischen Begriff von den ›ausgeschliffenen Bahnen‹, die das Denken leichter läuft, weil es sie so oft gelaufen ist (man erinnere sich, zum Beispiel, an das kleine Einmaleins). Kriege sind über uns hereingebrochen, Volksbelustigungen, denen man in Deutschland den Namen ›Revolution‹ anhängte, Krachs und Börsenbaissen – aber voll Sehnsucht rutscht alles die geliebte, alte, ausgeschliffene Bahn. Wie einst im Mai . . . Aber damit ist es doch vorbei. Und sie wollen es nicht sehen. Und je härter und erbarmungsloser die Zeit wird, desto verzweiflungsvoller klammert sich eine ganze Generation von alten Jungen an die Dinge, an denen einst ihr Herz hing. Nun grade – nun erst recht . . . Und stemmen sich gegen den rollenden Stein der Zeit, gegen die ganze Erde – aber es hilft nichts, es hilft nichts, es hilft nichts. Vor dem Sterben fallen manche Kranke in Euphorie – das heißt: es geht ihnen noch einmal sehr gut, noch einmal blühen sie, scheinbar, auf, noch einmal werden die Wangen rot, die Augen glänzend, noch einmal . . . Und sie hoffen und fühlen sich federleicht und wohl und ganz gesund und denken, morgen aufzustehen und heraus zu dürfen . . . Und ahnen nicht, daß sie morgen in der Tat hinausdürfen durch die Tür, die Füße vorneweg . . . So ist das mit unserm Alt-Heidelberg.

Sie spielen die alten Possen. Sie weinen über die alten Schmachtfetzen. [326] Sie baden sich in den alten Vorstellungen. Sie schmunzeln über die alten Scherze. ›Alte Sachen? Alte Sachen?‹ Noch niemals ist in diesem Artikel der Absatz so reißend gewesen wie heutzutage. Man fühlt: Im Leben ist das zwar alles dahin, so wollen wir es wenigstens auf den Bühnen, den Ansichtskarten, den Filmen – so wollen wir wenigstens da das alte, geliebte, schlechte Leben vorgetäuscht sehen, und wenn wirs noch so teuer bezahlen müssen . . . Alt-Heidelberg, du feine . . . !

Auch das wird vorübergehn. Eine neue Generation wird kommen, die da nichts mehr weiß von der Väter Idealen und nichts mehr von ihren Wünschen und Hoffnungen. Und es wäre geschmackvoll und vernünftig, diese Prozedur abzukürzen und beizeiten Schluß mit einer Serienaufführung zu machen, deren Besetzung immer schlechter und deren Publikum immer wahlloser wird. Liebe Direktion Deutschland! Wir bitten um ein neues Stück . . .


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1923. Alt-Heidelberg. Alt-Heidelberg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5CE4-C