Der Streit um den Sergeanten Grischa
Wenn die Operettenautoren Haskel und Jablonski einen Schmarren ›Anneliese von Dessau‹ zusammenschustern und ein fetter Tenor, ein bieriger Baß und zwei kreischende Sopran-Nutten unter Zuhilfenahme von etwas Statisterie, bengalischem Licht und einem Eßlöffel voll ›Deutschland, Deutschland über alles!‹ dergleichen in einem Theatersaal hinter der Rampe aufbauen –: dann gehen vierundzwanzig Männer hin und machen Theaterkritik.
Ich weiß, daß das Theater ein Massenerlebnis ist, eine lebendige Sache (mit leichtem Schlaganfall) – aber ich vermag nicht einzusehen, warum es gar so wichtig sein soll, wenn Hollaender, denken Sie mal, wieder die Neher verrissen hat, er hat was gegen die Neher, überhaupt das Achtuhrabendblatt . . . »Es wird alles«, spricht der Weise, »maßlos überschätzt.« Läßt Kerr die Schreibmaschine aufklappen, so reicht das weit über alles Theater hinaus, über den windigen Zank der Leute vom Bau, diese Talmiaufregungen, die schon erkaltet sind, wenn sie noch heiß serviert werden; weit über Nervenkrisen, Telefonattacken, wild gewordene Telegrammformulare . . . Kunst ist schon kein Selbstzweck – wie sollte Theaterkritik einer sein –!
Dies voraufgeschickt, mag von Zeit zu Zeit versucht werden, bedeutende Bücher mit derselben Sorgfalt und derselben Liebe zu betrachten, mit der sie geschrieben worden sind. Denn es ist nicht einzusehen, warum Werke, denen ein begabter und intelligenter Mensch Jahre seines Lebens gewidmet hat, in der Zeitung nur deshalb mit vierzehn Zeilen ›Buchbesprechung‹ wegkommen, weil sie keine Theaterstücke sind. Das Buch, von dem hier die Rede sein soll, kann sich nicht beklagen; es hat auch in der großen Presse die Beachtung gefunden, die es verdient.
Arnold Zweig, Producer, beehrt sich vorzuführen:›Der Streit um den Sergeanten Grischa‹ (bei Gustav Kiepenheuer, in Potsdam, o Ironie des Schicksals!) Ein Kriegsbuch? Ein Friedensbuch.
[405] Dem russischen Kriegsgefangenen Grischa Iljitsch Paprotkin glückt ein Fluchtversuch aus dem Lager, er irrt in den weiten Bezirken der Etappe Ober-Ost umher, stößt auf ein Häuflein von Marodeuren und Deserteuren; eine Frau gibt ihm Uniform und Erkennungsmarke eines russischen Soldaten, der in diesem Bezirk beheimatet gewesen ist; wenn Grischa gefaßt wird, soll er angeben, er sei durch die Front gekommen, um seine Eltern wiederzusehen . . . Er wird gefaßt. Es ist ein Befehl da, wonach sich alle Russen, die durch die Front kommen, binnen drei Tagen bei einer deutschen Etappenbehörde melden müssen. Grischa hat das nicht getan. Er wird, getreu nach dem Befehl von einem Divisionsgericht, zum Tode verurteilt. Da erst erkennt er seine Lage, schreit, wehrt sich, sagt die Wahrheit: er sei er selbst, er sei Grischa, nicht der andre – er sei gar nicht von vorn gekommen, sondern aus einem Gefangenenlager entwischt . . . Die Akten gehen an den Oberbefehlshaber.
Der Sergeant Grischa wird, obgleich er doch gar nicht unter jenen Befehl fällt, erschossen, weil Division und Oberkommando sich nicht riechen können, weil die beiden maßgebenden Offiziere sich im Aktengang anstänkern, weil Ressortkämpfe aufflackern, erlöschen, wieder aufbrennen . . . Grischa steht am grasigen Abhang und wird, du deutsches Gemüt, er wird ›umgelegt‹. Da liegt er. Und es ist gar nichts. Ein Russe, du lieber Gott . . .
Daraus hat Arnold Zweig einen Roman gemacht. Wie er in der Nachbemerkung angibt, ist die zugrunde liegende Geschichte wahr. Das wundert keinen, der die Preußen kennt. Was hat nun Zweig aus dieser Sache herausgeholt?
Es ist ein gut Stück Kriegswahrheit in dem Buch, ein Teil des Soldatenlebens der Deutschen im Osten: ihr aufgeplusterter Bürobetrieb, ihre leerlaufende Geschäftigkeit, ihr emsiges Nichtstun, ihre faule Betriebsamkeit; ihre Sauberkeit und Fürsorge für sich selbst, und, wenn was abfiel, auch für die Bevölkerung, ›Panjes‹ geheißen; und das Leben der Ostjuden, deren unendliche Überlegenheit über die kriegführenden Parteien, ihre äonenweite Weisheit und ihre tiefe Philosophie. Einzelheiten sind in diesem Roman mit einem gradezu bienenhaften Fleiß zusammengetragen, ein gehobener Naturalismus, die schärfste realistische Beobachtung, sauber stilisiert – man merkt oft, wie der Autor warm geworden ist, nirgends riecht es nach Schweiß.
Über die Gesinnung des tapfern Friedenssoldaten Arnold Zweig ist nicht zu reden. Das Buch konnte, bei stärkster pazifistischer Wirkung, schwach sein – es ist sehr stark. Es wird wahrscheinlich mehr Menschen zum Nachdenken über das Wesen des Krieges bringen als alle Propagandaaufsätze der letzten Jahre – es bohrt sehr tief und wendet sich an ganz einfache Empfindungen; es sagt gewissermaßen: »Wir beide wollen uns doch nichts vormachen, wie –?« Endlich einmal wird [406] der Krieg gar nicht diskutiert, sondern mit einer solchen Selbstverständlichkeit abgelehnt, wie er und seine Schlächter das verdienen. Erst heute –?
Es ist merkwürdig genug: nach neun Jahren stößt den Deutschen der Krieg sauer auf. In Frankreich ist das längst vorüber: ›Les Croix de Bois‹ von Roland Dorgelès und ›Gaspard‹ von René Benjamin liegen weit zurück; hier haben sie nur noch die aus Amerika importierte Mode der Kriegsfilme; die Literatur beschäftigt sich kaum noch mit dem Krieg. Bei den Deutschen hatten, bitte nach Ihnen, die Generale den Vortritt: die Pension der Republik gab ihnen die Muße, auf ihren Gütern und in den hohen Zimmern alter Wohnungen ihre Lügengeschichten zu erzählen: trockner Aktenkram, am Schluß mit blechernem Pathos, vertrauliche Briefe oder gestohlene Akten, die ganze Leere dieser Hirne fürchterlich erweisend. Es ist ungemein bezeichnend, daß unter dieser Memoirenliteratur auch nicht ein einziges lesbares Buch ist – sie sind alle gleich schlecht geschrieben, und wenn einer, der sich die Finger nicht am Füllfederhalter schmutzig machen wollte, einen Literaten engagierte, dann ließ er bei der Auswahl seinen Geschmack sprechen, und was herauskam, hieß Karl Rosner. Da haben wir Glück gehabt.
Und nun, nachdem das alles vorbei ist und selbst das Geschmier der von der Reichsbahnverwaltung vorzugsweise beförderten Hermine von niemand mehr ausgelacht wird –: nun kommen die Soldaten, die den Krieg am eignen Leibe erlebt haben, und wagen sich hervor und sagen die Wahrheit. Es war höchste Zeit.
Nach neun Jahren . . . Aber was heute die Reichswehr treibt; was in den kleinen Garnisonen, wo sie unter sich sind, vor sich geht; was da ›auf Stube‹ gemacht wird und bei den Sportsleuten; was die Werbeoffiziere für Leute sind und die Wehrkreiskommandeure; wie die Leute auf Urlaub gehen und wie sie sich beschweren, und worüber sie sich freuen und worunter sie leiden –: davon hören wir kein Wort. Die Reichswehr fühlt sich sehr wohl unter diesem Schweigen; sie hat es nötig. Und wir werden wohl erst in vierzig Jahren, wenn lebendige Wirklichkeit ›Geschichte‹ geworden ist, einen Roman zu lesen bekommen: ›Der Streit um den Sergeanten Noske‹ oder ›Die 11. Traditions-Kompanie‹. Wir sind gründliche Leute. Wir sind ungefährliche Leute.
Warum wird der Roman von Zweig überall gekauft? Weil er ein anständiges Stück Ware ist. Weil er gut gearbeitet ist. Weil das Publikum einen fast untrüglichen Instinkt für sorgsame Mühe hat (die ein Künstler sich gibt) – weil keine Seite, kein Satz hingeschwindelt ist. Ich gehe nicht so weit, wie der vortreffliche Lion Feuchtwanger, zu sagen, daß dergleichen nun die Zukunft der deutschen Literatur sei – im Kielschwert des Zweigschen und des Feuchtwangerschen Detailfleißes [407] liegt die dichterische Kraft; fehlte die, kippte das Fahrzeug im leichtesten Wind. Wie groß der Kunstwille bei Autoren dieser Gattung ist, steht dahin – ihre handwerkliche Anständigkeit ist unbestreitbar. Aber lockert die Schleusen nicht! Ströme von Schweiß ergössen sich durch das Land, denn fleißig sind sie bei uns. Beschütze uns, heilige Staatsbibliothek, vor den Neumännern, die die Geschichte romanisieren! Also so geht das nicht. Die Modeschluderer lassen es allerdings doppelt schätzen, wenn einer arbeitet. Der Dichter Zweig hat gearbeitet. (Daher auch die Vorliebe der angelsächsischen Länder für solche Bücher, bei denen sich der Käufer nicht betrogen fühlt.)
Wir hier wissen das, was Zweig uns aus dem Krieg erzählt. Wie viele Männer haben ihn erlebt und gar nicht erlebt; wie viele Frauen ahnen bis auf den heutigen Tag überhaupt noch nicht, was der Krieg gewesen ist. Es sind herrliche, ganz und gar echte Züge in diesem Buch.
Der Feldwebel Matz geht auf Zehenspitzen zum Generalmajor Schieffenzahn hinein, um ihm ein Telefonat zu überbringen. Schieffenzahn ist am Schreibtisch vor Müdigkeit eingeschlummert. Matz, auf Zehenspitzen, will ihn nicht wecken. Nun so:
»Der siegt für uns, der plagt sich für uns, nu laß ihn man schlafen, Matz. Die Welt wird ja nicht einstürzen und Deutschland nicht ins Wasser fallen, bloß wenn er das 'ne Stunde später erfährt.« Absatz. »Damit entnahm er der Zigarrenkiste zwei der großen Brasil, um sich für seine Rücksicht zu belohnen und kopfschüttelnd, voll aufrichtiger Bewunderung, nach einem letzten Blick auf den Ruhenden, zog er ganz leise die Tür hinter sich zu.« Neid ist immer ein gutes Kriterium: Diese Sätze möchte ich geschrieben haben.
Ganz echt der Abschied der Arresthauswache von Grischa, als der zum Umlegen geführt wird. Sie haben den Russen lange Monate bei sich gehabt, er hat ihnen die Öfen geheizt, die Zigaretten mit ihnen geteilt, jeder hat den Russen gern gehabt. »Die Deutschen bringen keinen Laut heraus, nur ein junger, blaß und mit aufgerissenen Augen, erwidert ihm« – . . . was? Etwas völlig Blödsinniges, denn er weiß ja, wohin es mit jenem geht – aber etwas ganz und gar Echtes. Er sagt:
»Machs gut, Kamerad, leb wohl!«
Es wimmelt von sprachlichen Feinheiten, jede der letzte Extrakt sauberster Arbeit, quellender Einfälle. Bei der Erschießung: »Der Priester murmelt und priestert«. Einmal, als Grischa in seiner Zelle verzweifelt liegt: »Der Russe sprach mit sich selbst; halblaut und ununterbrochen raunte er in seiner Sprache Worte.« Und sofort die Reaktion des pathoslosen Soldaten daneben: »Er sabbert, dachte Sacht, es läuft ihm vom Munde weg wie Spucke . . . « Einmal das ganze deutsche Militär in einem Satz: »Macht der Angeklagte einen guten Eindruck – steht er militärisch stramm und sauber da, geweckt, aber nicht zu intelligent . . . « In Ordnung.
[408] Ein Dichter ist ein Mensch, der seine Gefühle aufbewahren kann. Welch ein sorgfältiger Arbeiter dieser Zweig ist, zeigt die Stelle, in der beschrieben wird, wie der zum Tode verurteilte Russe sein eignes Grab graben muß. Der Keim zu diesem Thema liegt schon in einer Novelle Zweigs, die hier in der›Weltbühne‹ im Jahre 1914 erschienen ist (›Die Bestie‹), und derentwegen unser Blatt damals vom Oberkommando in den Marken beschlagnahmt worden ist. Da ist es ein belgischer Bauer, der sich sein Grab vor der Erschießung gräbt, und beide Mal ist der schöne dichterische Gedanke ausgeführt, wie den Grabenden die Erde freut: die fette, fruchtbare, saubere Bauern-Erde.
Wenn es manchmal mit dem Stil der gesprochnen Sprache für mein Empfinden nicht so recht klappt, so hängt das mit einer sehr, sehr schwer zu entwirrenden Sache zusammen. Ich will nicht von den kleinen Spritzern reden; merkwürdig, wie ein musikalischer Autor so etwas stehen lassen kann: Ein Militär-Lokomotivführer unterhält sich vorn auf der Lokomotive mit seinem Heizer. »Weißt du noch, wie du immer Wild zu sehen glaubtest . . . ?« Nun gibt es im Volk wenig erzählende Imperfekta; da steht fast allemal das Perfektum, und natürlich hat der Mann gesagt: »Weißt du noch, wie du immer gedacht hast, da wär Wild . . . « Und daß das Wort ›Triumph‹ mit einem f geschrieben ist und das Wort ›Atmosphäre‹ auch: das hat mich einen Löffel Fruchtsalz gekostet. Ich weiß, daß die Sprache fortschreitet und sich wandelt: dies ist kein schöner Wandel, wenn auch ein diskutierbarer.
Aber das ist es nicht; es ist nicht nur dieser Satz und jener – es ist etwas andres, schwereres.
Es gibt einen Realismus, der mit der fotografischen Abbildung der Wirklichkeit eine Freude am Abbilden vereint; einen Naturalismus der Tuchfühlung, des leichten Puffs mit dem Ellenbogen: »Du weißt doch, wie ichs meine?« Hauptmann hat das im großen Stil; der Vorgang ist so unerklärlich wie jeder biochemische; das, was herauskommt, lebt einfach, ist ein warmer Organismus, der zuckt. Die Gefahr für schwache Autoren ist zu große Nähe des Objekts. Bei Zweig liegt die exakteste Beobachtungsgabe zugrunde: sie ist aber häufig in eine Sphäre heraufgehoben, die mir zu ›edel‹ erscheint. Das Buch fängt so an:
»Es steht ein Mann im dicken Schnee, unten am Fuße eines schwarz angekohlten Baumes, der spitzwinklig in gute Höhe ragt mitten im verbrannten Walde, schwarz auf vielfach zertretener Weiße. Der Mensch, gekleidet in viele Hüllen, versenkt die Hände in die Taschen – – « Nein, so fängt es leider nicht an. Sondern so:
»Die Erde, Tellus, ein kleiner Planet, strudelt emsig durch den kohlschwarzen, atemlos eisigen Raum, der durchspült wird von Hunderten von Wellen, Schwingungen, Bewegungen eines Unbekannten, des Äthers, und die, wenn sie Festes treffen und Widerstand sie aufflammen [409] läßt, Licht werden . . . « O du mein Deutschland! Aber könnt ihr denn nicht begreifen, daß der liebe Gott benebst anhängendem Kosmos im Zwiebelmuster einer Kaffeekanne zu finden ist und nicht in dem, was ihr als ›Relativität‹ ausgebt? Wozu das? Entehrt Naturalismus? Erscheint er euch zu niedrig, wenn ihr ihn nicht durch pathetische Beziehungen zum ›All‹ adelt? Ein neuer Adel. Taugt nicht viel.
Und hier ist das Manko des Buches.
Die Sache geht noch an, wenn es sich um die Juden handelt; die versteht der Vollblutjude Zweig sehr gut. Schon bei den Soldaten wird die Sache zweifelhafter. Es stimmt alles: er ist der erste Autor, der den Mut hat, zu sagen, daß das Telefongespräch zwischen einer Krankenschwester und einem Schreiber durch einen Mann im Keller vermittelt wird, der da stumpfsinnig stöpselt, er hat einen Brief von seiner Frau bekommen: zu Hause klappt es nicht mit der Kriegsunterstützung . . . Es stimmt vieles: wie sie geschlafen haben und gegessen; sehr oft, auch wie sie reden; wie die Formationsbürokratie viel wichtiger war als der ganze Krieg . . . Alles, was da gegen den dreimal verfluchten deutschen Militarismus steht, stimmt. Aber wenn Zweig von den Offizieren spricht, dann stimmt etwas nicht. Shakespeare ist auch Hamlet. Zweig betrachtet – sehr gehirnlich, sehr überlegen – seine Figuren. Aus weiter Nähe.
Natürlich ist er viel zu klug, nun das umgekehrte Militär-Buch zu schreiben: der pechrabenschwarze General und der gute Muschkot; das wäre ja kindisch. Diese Rangordnung hat man nicht umzukehren, sondern zu ignorieren. Das tut er. Er zieht seinen Leuten Zivil an. Aber diese Offiziere sind. Zweig, seien Sie mir nicht böse, sie sind von unten gesehen. Auch Exzellenz von Lychow, geb. Fontane. Sie sind mit den feinsten Mitteln psychologisch erklärt. So waren sie auch – so waren sie nicht.
Der Generalmajor Schieffenzahn wird sondiert; er schlummert, wie dargetan, am Schreibtisch ein, nachdem er sich seiner Kadettenjugend erinnert hat, er wird biologisch expliziert, es ist alles in schönster Ordnung. Aber es fehlt das Einfach-Kräftige, das diese Burschen bei aller Schlauheit hatten – Schieffenzahn ist jüdisch gesehen, er ist ganz durchtränkt mit Judentum, und er trägt Schläfenlocken, sozusagen Gardepeies.
Es ist zunächst das jüdische Element, das sich hier hindernd einschiebt. Ich spreche gar nicht von der Zuneigung Zweigs zu seiner Figur Posnanski, dem ironischen und Gutes wirkenden Kriegsgerichtsrat und von meiner Abneigung gegen solche Männer: ja, sie waren so witzig und haben es alles durchschaut und die stumpfsinnige Brutalität der Preußen gemildert, wo sie nur konnten, und sie hatten die herrlichsten Talmudworte für alles und waren schnell in der Auffassung und blendend. Und haben mitgemacht.
[410] Das Heer aber war in seinen Grundtönen deutsch: bayerisch das Fluchen und niederdeutsch der Furz; plattdeutsch das Schmalzpaket und säcksch das Kaffeegelabber. Eine pommersche Gänsebrust rituell gekocht? Ja, aber es ist nicht ›das‹.
Arnold Zweig hat das beste deutsche Kriegsbuch geschrieben – immer neben Vogels ›Es lebe der Krieg!‹. Das deutsche Kriegsbuch ist noch nicht geschrieben.
Die Küche der Befehlsempfänger, wo die Ordonnanzen und die Reiter und die Chauffeure auf den Bänken lümmeln und dem Stabskoch von weitem ehrfurchtsvoll in die vorgesetzte Suppe sehen; die dicke Luft in der Schreibstube, wo geduckte Schreiber sich das Wohlwollen der niedern Götter durch fingiertes Nichtvorhandensein erkauften, ihnen gegenüber war der fremde, eben eintretende Soldat ein Freier; der Kriegsschauplatz, der stets aufgeräumt sein mußte, ein Hund spielt mit einem Knochen, an einem Ende der Hund, am andern der Gefreite Fulte, und der Unteroffizier König steht dabei und grinst – da kommt der Hauptmann aus dem Unterstand. Hund und Fulte ab wie der Blitz. »Uofizieh Köönch!« – »Hahaumann!« – »Was ist das für ein Knochen?« – »Eh . . . Da hat wohl der Hund vom Herrn Leutnant mit gespielt!« – »Der Hund? Na, das kennt man schon –!« Aus. Keine Spur von Pointe – es ist der vollendete Stumpfsinn aller dreihundertundfünfundsechzig Tage aller vier Jahre. »Wie wars auf Urlaub, Mensch?« – »Zu kurz! Aber vielleicht hier . . . !« (ausgestreckter Arm, geballte Faust, Einknicken des Unterarms: Soldatengeste für einen stattgehabten Beischlaf); die sinnlosen Brocken, die in den schläfrigen Gehirnen hängen blieben – irgend etwas, eine aufgeschnappte Redensart, die tausendmal wiederkam, Fetzen aus einer bekanntgegebenen Feldherrntirade . . . »Empfangen haben wir drei Büchsen Schmalzersatz, Dörrgemüse, Marmelade, achtzehn Brote – Sie wollen Deutschland niederringen, es wird ihnen nicht gelingen. Nu wer'ck mal jehn, Löhnung empfangen!« Dixit. Das Soldatengespräch, dessen Charakteristikum war, daß immer einer sprach und drei nicht zuhörten, niemand hörte zu, sondern jeder redete seins, der eine hier lang, der andre da lang . . . In welchem Buch steht das –?
Das Wesen der Offiziere: die Aktiven, mit denen man umgehen konnte, weil sie das Befehlen gewohnt waren und es ihnen kaum noch Spaß machte, so selbstverständlich war es ihnen geworden; die Kasinogespräche, die sich um Gehaltsfragen drehten, unermüdlich, wie eine Töpferscheibe: um Reglementsauffassungen, um Stunk und um Gehaltsfragen, zwitschernd unterbrochen von säuischen Witzen ältester Observanz; dazwischen die sehr klugen schmalen Köpfe des guten Adels und des I a (während der von III b schmutziger war als gerissen; du hast nicht überall gute Schüler gehabt, o Nicolai!); die [411] Reservebolzen, die alle militärischen Vögel der Welt in ihren Köpfen hatten, wo sie sie flattern ließen; die maßlose Wichtigkeit, die sie sich beimaßen, auf den Wogen des Lebens getragen von der Uniform und einem Zuchthausreglement . . . warum schreibt das keiner?
Alle haben es erlebt, viele haben es gesehen, manche könnten es schreiben. Man muß sie erzählen hören; wie das vor Echtheit tönt, wie es uns warm und kalt den Buckel herunterläuft; diese Freude, wenn zwei zusammenkommen und in drei Worten, einer kopierten Geste, sich als solche legitimieren, die das Typische erkannt haben – also nicht: »Da hatten wir einen Feldwebel, der . . . « sondern, merkwürdig ruhig, unterirdisch, noch nicht grollend: »Machen Sie mal den Knopf zu!« – warum schreibt das keiner?
Weil die Deutschen alles, alles sehen, nur eins nicht. Nur das Einfache nicht.
Arnold Zweig unsern Gruß! Sein Buch ist voll wärmster Güte und voller Mitgefühl, voller Skeptizismus und voller Anständigkeit, voller Verständnis und oft voller Humor. Sanft hat er das getan, was im November durch die Schuld und das Unverständnis der Arbeiterführer versäumt worden ist: er hat einem seelenlosen Götzen die Achselstücke und die Knöpfe abgetrennt, nein, sie fallen von selbst ab, so gleichgültig sind sie ihm, und nackt und dumm steht das Ding da und glotzt mit blinden Augen in die Welt. Keine Sorge, die ›Tradition‹ wird es schon wieder mit rauschendem Leben anfüllen und mit Blut. Mit dem Blut der andern.
Dieser ›Streit um den Sergeanten Grischa‹ ist ein schönes Buch und ein Meilenstein auf dem Wege zum Frieden.