William Makepeace Thackeray
Jahrmarkt der Eitelkeit
Roman ohne Helden
(Vanity Fair)

[5] Vor dem Vorhang

Während der Direktor des Puppentheaters vor dem Vorhang auf den Brettern sitzt und über den Jahrmarkt schaut, befällt ihn beim Anblick des bunten Treibens eine tiefe Melancholie. Da wird gegessen und getrunken, geliebt und kokettiert, gelacht und geweint, geraucht, betrogen, gestritten, getanzt und gegeigt, da drängen sich Großmäuler im Getümmel, Stutzer machen Frauen schöne Augen, Spitzbuben leeren Taschen, und Polizisten sind auf der Wacht; da schreien Quacksalber (andere Quacksalber, die Pest soll sie holen!) vor ihren Buden, und Bauerntölpel starren zu den flitterglänzenden Tänzerinnen und den armen, alten, geschminkten Clowns hinauf, während die Langfinger sich hinten an ihren Taschen zu schaffen machen. Ja, das ist der Jahrmarkt der Eitelkeit; gewiß kein moralischer Ort und auch kein lustiger, wenn es auch lärmend genug zugeht. Seht euch die Gesichter der Schauspieler und Possenreißer an, wenn sie von der Arbeit zurückkommen, wie der Hanswurst sich die Schminke aus dem Gesicht wäscht, ehe er sich mit seiner Frau und seinen kleinen Hanswürstchen hinter der Jahrmarktsbude zum Essen setzt. Bald geht der Vorhang auf, und er wird Purzelbäume schlagen und schreien: »Seid ihr alle da?«

Wenn ein nachdenklicher Mensch über solch einen Vergnügungsort wandelt, wird er vermutlich weder von seiner noch anderer Leute Fröhlichkeit überwältigt werden. Hier und da rührt und belustigt ihn wohl eine humorvolle oder ergreifende Episode – ein niedliches Kind, das eine Pfefferkuchenbude betrachtet; ein hübsches Mädchen, das errötend [5] den Worten ihres Liebhabers lauscht, während er ihr ein Geschenk aussucht; der arme Hanswurst dort hinter dem Wagen, der inmitten seiner braven Familie, die von seinen Kunststücken lebt, an seinem Knochen nagt. Der allgemeine Eindruck aber ist eher melancholisch als heiter. Wenn du nach Hause kommst, so setzt du dich in ernster, nachdenklicher, milder Stimmung hin und wendest dich deinen Büchern oder deinen Geschäften zu.

Eine andere Moral als die habe ich unserer Geschichte vom »Jahrmarkt der Eitelkeit« nicht unterzulegen. Manche betrachten Jahrmärkte überhaupt als etwas Unmoralisches und meiden sie mit ihrer Familie und den Dienstboten: vielleicht haben sie recht. Aber die, die anders denken, träge sind oder wohlwollend oder sarkastisch, treten vielleicht auf eine halbe Stunde näher, um sich die Vorstellungen anzusehen. Es gibt da alle möglichen Bilder: fürchterliche Kämpfe, großartiges Kunstreiten; Szenen aus dem Leben der vornehmen Welt und solche aus dem Mittelstand; ein bißchen Liebe für die Sentimentalen und ein paar komische, leichte Szenen. Das Ganze ist umrahmt von entsprechenden Kulissen und von den Kerzen des Verfassers brillant beleuchtet.

Was soll der Direktor des Puppentheaters noch sagen? – Er muß für die freundliche Aufnahme danken, die das Stück bei den achtbaren Leitern der öffentlichen Presse, beim hohen und niederen Adel und bei dem verehrungswürdigen Publikum überhaupt gefunden hat, als er mit seinem Theater in allen bedeutenden Städten Englands herumkam. Der Gedanke, daß seine Puppen den Beifall der besten Gesellschaft des Königreiches gefunden haben, macht ihn stolz. Von der berühmten kleinen Marionette Becky wurde gesagt, sie sei ungemein gelenkig und bewege sich sehr lebhaft am Draht. Die Puppe Amelia hat der Künstler ebenfalls mit größter Sorgfalt geschnitzt und angezogen, dennoch hat sie nur einen kleineren Kreis von Bewunderern gehabt. Die [6] Figur Dobbin tanzt sehr drollig und natürlich, wenn es auch etwas unbeholfen wirkt. Dem Tanz der kleinen Jungen haben einige gern zugesehen; und man achte bitte auf die reich gekleidete Figur des schurkischen Adligen, bei dem keine Kosten gescheut wurden und den der Teufel am Ende dieser Sondervorstellung holen wird.

Hiermit, und mit einer tiefen Verbeugung vor seinen Gönnern, zieht sich der Theaterdirektor zurück, und der Vorhang geht auf.


London, 28. Juni 1848

[7] [9]1. Kapitel
Chiswick Mall

Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts fuhr an einem sonnigen Junimorgen vor dem mächtigen eisernen Tor von Miss Pinkertons Mädchenpensionat in der Chiswick Mall eine große Familienkutsche vor, gezogen von zwei wohlgenährten Pferden mit glänzendem Geschirr. Sie wurden von einem beleibten Kutscher mit Dreispitz und Perücke in einem Tempo von vier Meilen pro Stunde gelenkt. Ein schwarzer Diener, der neben dem beleibten Kutscher auf dem Bock döste, streckte seine krummen Beine, sobald der Wagen an Miss Pinkertons glänzendem Messingschild hielt, und als er die Klingel zog, sah man wenigstens zwanzig junge Köpfe aus den schmalen Fenstern des stattlichen alten Backsteingebäudes lugen. Ja, ein genauer Beobachter hätte sogar das rote Näschen der gutmütigen Miss Jemima Pinkerton über einigen Geranientöpfen am Fenster des Empfangsraumes der Dame selbst erblicken können.

»Es ist die Kutsche von Mrs. Sedley, Schwester«, sagte Miss Jemima. »Sambo, der schwarze Diener, hat gerade geläutet; und der Kutscher hat eine neue rote Weste an.«

»Hast du alle für das Ausscheiden von Miss Sedley nötigen Vorbereitungen getroffen, Miss Jemima?« fragte Miss Pinkerton, jene majestätische Dame, die Semiramis 1 von Hammersmith 2, die Freundin von Doktor Johnson 3, die Korrespondentin von Mrs. Chapone 4.

»Die Mädchen sind heute morgen um vier Uhr aufgestanden, um ihr die Koffer zu packen, Schwester«, erwiderte Miss Jemima; »wir haben ihr einen Blumenstrauß gebunden.«

[9] »Sage lieber Bukett, Schwester Jemima, es klingt feiner.«

»Nun ja, ein Bukett, fast so groß wie ein Heuschober; ich habe zwei Flaschen Levkojenwasser für Mrs. Sedley und auch das Rezept dafür in Amelias Koffer gepackt.«

»Und ich hoffe, Miss Jemima, du hast eine Abschrift von Miss Sedleys Rechnung angefertigt; das ist sie, nicht wahr? Sehr gut – dreiundneunzig Pfund und vier Shilling. Adressiere sie bitte an John Sedley, Esquire, und siegle dieses Billett, das ich an seine Gemahlin geschrieben habe.«

Miss Jemima brachte einem eigenhändig geschriebenen Brief ihrer Schwester, Miss Pinkerton, ebenso tiefe Ehrfurcht entgegen, wie sie dem Brief eines Staatsoberhauptes entgegengebracht hätte. Nur wenn die Schülerinnen die Anstalt verließen oder wenn sie heiraten wollten, und einmal, als die arme Miss Birch an Scharlach gestorben war, schrieb Miss Pinkerton persönlich an die Eltern ihrer Schülerinnen, und Jemima war überzeugt, wenn etwas imstande sei, Mrs. Birch über den Verlust ihrer Tochter zu trösten, dann war es das fromme und beredte Schreiben, worin Miss Pinkerton ihr das Ereignis mitteilte.

Im vorliegenden Fall lautete Miss Pinkertons Billett folgendermaßen:


Chiswick, The Mall, 15. Juni 18..


Madame – nach ihrem sechsjährigen Aufenthalt in der Mall habe ich die Ehre und das Vergnügen, Miss Amelia Sedley ihren Eltern als junge Dame vorzustellen, die nicht unwürdig ist, in deren glänzendem, gebildetem Kreise die ihr zukommende Stellung einzunehmen. Es mangelt der liebenswürdigen Miss Sedley nicht an jenen Tugenden, welche eine junge englische Dame von vornehmer Abkunft charakterisieren, jenen Kenntnissen, die ihrer Geburt und ihrem Stand entsprechen. Ihr Fleiß und Gehorsam haben sie ihren Lehrern lieb und wert gemacht, und ihr reizendes, sanftes Wesen hat ihre älteren und ihre jüngeren Gefährtinnen bezaubert.

[10] In der Musik, im Tanzen, in der Orthographie, in allen Arten von Handarbeiten erfüllt sie wohl die sehnlichsten Wünsche ihrer Verwandten. In der Geographie bleibt noch manches zu wünschen übrig, und eine sorgfältige und unablässige Anwendung des Rückenbrettes, täglich vier Stunden in den nächsten drei Jahren, wird zur Erlangung jener würdevollen Haltung empfohlen, die für eine junge Dame von Welt erforderlich ist.

In den Grundsätzen der Religion und Moral wird sich Miss Sedley einer Anstalt würdig erweisen, die durch die Gegenwart des großen Lexikographen 5 und die Gönnerschaft der bewunderungswürdigen Mrs. Chapone geehrt worden ist. Bei ihrem Scheiden von der Mall nimmt Miss Amelia die Herzen ihrer Gefährtinnen und die liebevolle Hochachtung ihrer Lehrerin mit sich, welche die Ehre hat zu zeichnen als

Ihre gehorsamst ergebene Dienerin Barbara Pinkerton.


PS: Miss Sharp begleitet Miss Sedley. Es wird ausdrücklich gebeten, daß Miss Sharp ihren Aufenthalt am Russell Square nicht länger als zehn Tage ausdehnt. Die vornehme Familie, die sie eingestellt hat, wünscht ihre Dienste baldmöglichst in Anspruch zu nehmen.


Als Miss Pinkterton diesen Brief beendet hatte, schrieb sie ihren und Miss Sedleys Namen auf das Vorsatzblatt eines Exemplars von Johnsons Wörterbuch, jenem interessanten Werk, welches sie jeder Schülerin beim Ausscheiden zu überreichen pflegte. Auf dem Deckel des Buches konnte man die »Zeilen an eine junge Dame bei ihrem Abgang von Miss Pinkertons Schule in der Mall, von dem seligen, hochverehrten Doktor Samuel Johnson« lesen. In der Tat führte diese majestätische Dame den Namen des Lexikographen ständig auf den Lippen, und ein Besuch, den er ihr abgestattet hatte, war die Ursache ihres Rufes und ihres Vermögens geworden.

Nachdem Miss Jemima von ihrer älteren Schwester aufgefordert [11] worden war, »das Wörterbuch« aus dem Schrank zu holen, hatte sie dem erwähnten Behältnis zwei Exemplare entnommen. Als Miss Pinkerton die Widmung in das erste geschrieben hatte, reichte ihr Jemima mit zweifelnder und schüchterner Miene das andere.

»Für wen soll das sein, Miss Jemima?« fragte Miss Pinkerton äußerst kühl.

»Für Becky Sharp«, erwiderte Jemima, heftig zitternd, und ihr welkes Gesicht wurde rot bis zum Halse, als sie ihrer Schwester den Rücken wandte. »Für Becky Sharp, sie geht ja auch.«

»MISS JEMIMA!« rief Miss Pinkerton in den größten Großbuchstaben. »Bist du bei Sinnen? Stell das Wörterbuch in den Schrank zurück und wage in Zukunft nicht mehr, dir eine solche Freiheit herauszunehmen!«

»Ach, Schwester, es kostet doch nur zwei Shilling und neun Pence, und die arme Becky wird sich grämen, wenn sie keins bekommt.«

»Schick Miss Sedley sofort zu mir«, sagte Miss Pinkerton. Und so eilte die arme Jemima, verwirrt und ängstlich, ohne noch ein Wort zu wagen, davon.

Miss Sedleys Vater war ein ziemlich vermögender Kaufmann in London, während Miss Sharp Lehrschülerin war, für die Miss Pinkerton genug getan zu haben glaubte, auch ohne ihr beim Scheiden die hohe Ehre des Wörterbuches zuteil werden zu lassen.

Briefe von Schulvorsteherinnen sind kaum vertrauenswürdiger als Grabinschriften; wie es aber doch bisweilen vorkommt, daß ein Mensch das Zeitliche segnet und die Lobpreisungen des Steinmetzen über seinen Gebeinen verdient, also wirklich ein guter Christ, ein guter Vater, ein gutes Kind, eine gute Ehefrau oder ein guter Ehemann gewesen ist, also wirklich eine seinen Tod betrauernde, verzweifelte Familie hinterläßt, so kommt es auch hin und wieder in Mädchen- oder Knabenschulen vor, daß der Schüler [12] die Lobpreisungen des selbstlosen Lehrers verdient Miss Amelia Sedley nun war eine junge Dame dieser besonderen Art und verdiente nicht nur alles, was Miss Pinkerton zu ihrem Lobe sagte, sondern besaß noch viele andere liebenswerte Eigenschaften, die die wichtigtuerische alte Minerva von einem Weibe infolge des Rang- und Altersunterschiedes zwischen ihr und ihrer Schülerin nicht zu sehen vermochte. Denn Amelia konnte nicht nur singen wie eine Lerche oder eine Billington, tanzen wie Hillisberg oder Parisot, prächtig sticken und war fehlerfrei in der Rechtschreibung wie das Wörterbuch selbst, sondern sie besaß auch ein so gutes, freundliches, weiches, sanftes, großmütiges Herz, daß sie die Liebe von jedermann in ihrer Umgebung gewann, von der Minerva bis herab zu der armen Scheuermagd und der Tochter der einäugigen Kuchenfrau, die den jungen Damen in der Mall ihre Ware einmal in der Woche verkaufen durfte. Von den vierundzwanzig jungen Damen waren zwölf ihre Busenfreundinnen. Sogar die neidische Miss Briggs sprach nie schlecht von ihr; die hochwohlgeborene Miss Saltire (Lord Dexters Enkelin) gab zu, daß sie eine elegante Erscheinung sei, und bei Miss Swartz gar, der reichen wollhaarigen Mulattin von Saint Kitts 6, erlebte man an dem Tage, als Amelia die Schule verließ, einen solchen Tränenausbruch, daß man nach Doktor Floss schicken und sie mit Riechsalz halb betäuben mußte. Miss Pinkertons Zuneigung war ruhig und würdevoll, wie die hohe Stellung und die hervorragenden Tugenden dieser Dame nicht anders erwarten ließen; aber Miss Jemima hatte bei dem bloßen Gedanken an Amelias Abreise schon mehrmals geschluckt, und wäre nicht die Furcht vor ihrer Schwester gewesen, so hätte sie hysterische Anfälle bekommen wie die (doppelt zahlende) Erbin von Saint Kitts. Einen solchen Luxus mit seinem Schmerz zu treiben ist indessen nur besonders bevorzugten Schülerinnen gestattet. Die ehrliche Jemima dagegen hatte die Oberaufsicht über die Rechnungen, das Waschen und Ausbessern, [13] die Puddings, das silberne und das einfache Geschirr sowie über die Dienerschaft. Aber warum sprechen wir von ihr: wahrscheinlich werden wir bis in alle Ewigkeit nichts mehr von ihr hören, und weder sie noch ihre ehrfurchtgebietende Schwester wird jemals wieder in der kleinen Welt unserer Geschichte auftauchen, wenn sich erst einmal das große, verschnörkelte, eiserne Tor geschlossen hat.

Da wir indessen viel über Amelia erfahren werden, kann es nichts schaden, wenn wir gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft sagen, daß sie eines der besten und liebenswürdigsten Geschöpfe war, die je lebten, und es ist ein Segen, daß wir, da es sowohl im Leben als auch in Romanen (und in diesen besonders) von Bösewichten der schlimmsten Sorte nur so wimmelt, solch einen ehrlichen und gutherzigen Menschen zur Seite haben. Da sie keine Heldin ist, brauchen wir ihre Person nicht zu beschreiben; ich befürchte sogar, daß ihre Nase etwas zu klein und ihre Wangen viel zu rund und rot für eine Heldin waren; aber ihr Gesicht strahlte von blühender Gesundheit, und auf ihren Lippen lag das munterste Lächeln; sie hatte ein Paar Augen, die von lebhafter und ehrlicher guter Laune blitzten, wenn sie sich nicht gerade mit Tränen füllten, und das geschah in der Tat viel zu oft, denn das einfältige Ding konnte über einen toten Kanarienvogel oder über eine Maus, die die Katze gefangen hatte, oder über den Schluß eines Romans, war er auch noch so albern, weinen; und sagte man ihr ein unfreundliches Wort – vorausgesetzt, es fand sich jemand, der so hartherzig war –, um so schlimmer war es dann für diesen. Sogar Miss Pinkerton, diese strenge und göttergleiche Dame, schalt sie nur einmal, und obgleich sie von Gefühlen ebensowenig verstand wie von Algebra, gab sie allen Lehrern den ausdrücklichen Befehl, mit Miss Sedley so sanft wie möglich umzugehen, da diese eine rauhe Behandlung nicht vertrage.

Als der Tag der Abreise kam, wußte Miss Sedley daher nicht, für welche ihrer beiden Gewohnheiten – lachen oder [14] weinen – sie sich entscheiden sollte. Sie war froh, nach Hause zu kommen, und dabei doch wieder so unendlich traurig, die Schule verlassen zu müssen. Die letzten drei Tage folgte ihr die kleine verwaiste Laura Martin überallhin, wie ein kleines Hündchen. Sie mußte mindestens vierzehn Geschenke machen und entgegennehmen und vierzehnmal das feierliche Versprechen geben, jede Woche zu schreiben. »Schicke deine Briefe an mich bitte an die Adresse meines Großvaters, des Grafen von Dexter«, sagte Miss Saltire (die, nebenbei erwähnt, etwas knauserig war). »Du brauchst dich nicht um das Porto zu kümmern, schreibe mir nur jeden Tag, mein Herzblatt«, bat die ungestüme, wollhaarige, aber großherzige und liebevolle Miss Swartz, und die kleine Laura Martin – die eben schreiben gelernt hatte – ergriff die Hand ihrer Freundin und sagte, ihr ernst ins Gesicht schauend: »Amelia, wenn ich dir schreibe, werde ich dich Mama nennen.« Zweifellos wird Jones 7, der dieses Buch in seinem Klub liest, alle diese Einzelheiten äußerst töricht, unbedeutend, geschwätzig und übersentimental finden. Ja ich sehe direkt, wie Jones in diesem Augenblick – gerötet nach dem Genuß seiner Hammelkeule und einem Glas Wein – seinen Bleistift zückt, die Worte »töricht, geschwätzig« und so weiter unterstreicht und »sehr richtig« an den Rand schreibt. Ja, er ist ein Mann von großem Geist und bewundert das Erhabene und Heroische im Leben und im Roman; und deshalb sollte er sich lieber warnen lassen und sich anderem zuwenden.

Nun gut. Nachdem Mr. Sambo Miss Sedleys Blumen, Geschenke, Koffer und Hutschachteln in der Kutsche verstaut und dem Kutscher grinsend einen winzigen, schäbigen alten Rindslederkoffer, säuberlich mit Miss Sharps Namensschild versehen, gereicht hatte, den dieser hohnlächelnd wegpackte, schlug die Abschiedsstunde. Der Schmerz dieses Augenblicks wurde durch die vortreffliche Ansprache, die Miss Pinkerton an ihre Schülerin richtete, beträchtlich gelindert. Nicht daß die Abschiedsrede Amelia etwa zum Philosophieren verleitet [15] hätte oder sie irgendwie mit einer Ruhe, die der Vernunft entspringt, gewappnet hätte – nein, die Rede war unerträglich langweilig, hochtrabend und ermüdend; und da Miss Sedley ihre Schulvorsteherin nicht wenig fürchtete, so wagte sie nicht, in deren Gegenwart ihrem privaten Schmerz freien Lauf zu lassen. Ein Kümmelkuchen nebst einer Flasche Wein wurden in den Empfangsraum gebracht, was sonst nur bei dem feierlichen Anlaß von Elternbesuchen geschah, und nachdem man diesen Erfrischungen gehörig zugesprochen hatte, stand es Miss Sedley frei, zu gehen.

»Sie gehen doch wohl hinein und verabschieden sich von Miss Pinkerton, Becky?« sagte Miss Jemima zu einer jungen Dame, die, von niemandem beachtet, eben mit ihrer Hutschachtel die Treppe herabkam.

»Ich kann wohl nicht umhin«, sagte Miss Sharp gelassen zu Miss Jemimas Verwunderung; und nachdem Jemima an die Tür geklopft hatte und zum Hereinkommen aufgefordert worden war, trat Miss Sharp unbekümmert vor und sagte in vollendetem Französisch: »Mademoiselle, je viens vous faire mes adieux.« 8

Miss Pinkerton konnte nicht Französisch; sie stand nur denen vor, die es konnten; aber sie biß sich auf die Lippen, warf den ehrwürdigen Kopf mit der römischen Nase unter dem großen feierlichen Turban in den Nacken und sagte: »Miss Sharp, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!« Während die Semiramis von Hammersmith sprach, machte sie eine Handbewegung, teils zum Zeichen des Abschiedes, teils um Miss Sharp Gelegenheit zu bieten, einen zu diesem Zwecke ausgestreckten Finger zu schütteln.

Miss Sharp aber faltete nur sehr kühl lächelnd die Hände, verbeugte sich und verschmähte die ihr zugedachte Ehre völlig, worauf Semiramis ihren Turban unwilliger denn je zurückwarf. Es war wirklich ein kleiner Kampf zwischen der jungen und der alten Dame, und die alte zog den kürzeren. »Der Himmel beschütze dich, mein Kind«, sagte sie [16] und umarmte Amelia, wobei sie über des Mädchens Schulter hinweg Miss Sharp scheel anblickte.

»Kommen Sie, Becky«, sagte Miss Jemima und zog das junge Mädchen in höchster Angst hinaus. Die Tür des Empfangsraumes schloß sich für immer hinter ihnen.

Dann folgten die Aufregung und das Abschiednehmen unten. Worte vermögen es nicht zu schildern. In der Vorhalle hatten sich alle Dienstboten versammelt, die teuren Freundinnen, überhaupt sämtliche jungen Damen und der eben angekommene Tanzlehrer; da gab es ein solches Drängen und Umarmen, Küssen und Weinen, begleitet von den aus dem Zimmer der reichen Miss Swartz dringenden hysterischen Schreien, daß keine Feder es zu beschreiben vermag und ein gefühlvolles Herz es gern übergeht.

Endlich waren die Umarmungen vorüber; sie trennten sich – das heißt, Miss Sedley trennte sich von ihren Freundinnen. Miss Sharp war einige Minuten zuvor ruhig in die Kutsche gestiegen. Niemand weinte bei ihrem Scheiden.

Der krummbeinige Sambo schlug die Wagentür hinter seiner weinenden jungen Herrin zu und sprang hinten auf. »Halt!« rief Miss Jemima, die mit einem Päckchen zum Tor stürzte. »Es sind nur ein paar belegte Brote, meine Liebe«, sagte sie zu Amelia. »Falls Sie Hunger bekommen – und Becky, Becky Sharp, hier ist ein Buch für Sie, das meine Schwester – das heißt ich – Johnsons Wörterbuch, wissen Sie? Sie dürfen uns nicht ohne das Buch verlassen. Adieu! – Fahr zu, Kutscher! Gott segne euch!« Und das gutmütige Geschöpf eilte, ganz überwältigt von ihren Gefühlen, in den Garten zurück.

Aber siehe da! Gerade als der Wagen anfuhr, steckte Miss Sharp ihr blasses Gesicht aus dem Fenster und schleuderte tatsächlich das Buch in den Garten zurück.

Die arme Jemima fiel vor Entsetzen fast in Ohnmacht. »Nein, ich habe noch nie ...«, sagte sie, »so ein unverschämtes ...« Die heftige Erregung erlaubte ihr nicht, die angefangenen [17] Sätze zu vollenden. Die Kutsche rollte fort; das große Tor wurde geschlossen; die Glocke gab das Zeichen zur Tanzstunde. Vor den beiden jungen Damen liegt nun die Welt; deshalb: ade, Chiswick Mall!

Fußnoten

1 griechischer Name einer sagenhaften mächtigen assyrischen Königin.

2 Stadtteil von London.

3 Samuel Johnson (1709-1784), englischer Schriftsteller und Lexikograph; bestimmte durch seine moralischen und philosophischen Ansichten das Geistesleben seiner Zeit. Sein 1755 erschienenes Werk »A Dictionary, with a Grammar and History of the English Language« (Wörterbuch mit einer Grammatik und Geschichte der englischen Sprache) war von großem Einfluß auf das Englische.

4 Hester Chapone (1727-1801), unbedeutende englische Schriftstellerin.

5 Siehe Anm. Doktor Johnson zu S. 9.

6 auch Saint Christopher, eine der Westindischen Inseln.

7 häufig vorkommender englischer Familienname; bezeichnet hier den Durchschnittsbürger.

8 (franz.) Mein Fräulein, ich komme, von Ihnen Abschied zu nehmen.

2. Kapitel
In dem sich Miss Sharp und Miss Sedley rüsten, den Feldzug zu eröffnen

Nachdem Miss Sharp die im vorigen Kapitel erwähnte Heldentat vollbracht und gesehen hatte, wie das Wörterbuch über das Pflaster des Gärtchens geflogen und vor den Füßen der erstaunten Miss Jemima gelandet war, erschien auf dem Gesicht der jungen Dame, das bis dahin einen bleichen Haß gezeigt hatte, ein kaum liebenswürdigeres Lächeln, und sie sank in die Kutsche zurück und sagte erleichtert: »So, das war das Wörterbuch; und nun ist Chiswick Gott sei Dank überstanden.«

Miss Sedley war über Beckys trotzige Handlung fast ebenso bestürzt wie Miss Jemima, denn man möge bedenken, daß sie erst vor einer Minute die Schule verlassen hatte und daß die Eindrücke von sechs Jahren in einem so kurzen Zeitraum nicht ausgelöscht werden können. Ja bei einigen Menschen wirken die Schrecken und die Ehrfurcht der Jugendzeit ständig fort. Ich kenne einen alten Herrn von achtundsechzig Jahren, der mir eines Morgens beim Frühstück aufgeregt berichtete: »Ich habe heute nacht geträumt, Doktor Raine hätte mich geprügelt.« Die Phantasie hatte ihn im Laufe jenes Abends um fünfundfünfzig Jahre zurückgeführt. Im Innersten flößten ihm Doktor Raine und sein Stock jetzt mit achtundsechzig Jahren ebensoviel Furcht ein wie mit dreizehn. Wäre nun der Doktor mit einer großen Rute jetzt, in seinen alten Tagen, vor ihm erschienen und[18] hätte ihm mit schrecklicher Stimme zugerufen: Junge, die Hosen herunter! ... Nun ja, Miss Sedley war wegen dieser Unbotmäßigkeit höchst bestürzt.

»Wie konntest du das nur tun, Rebekka!« sagte sie endlich nach einer Pause.

»Ach, glaubst du denn, Miss Pinkerton wird herauskommen und mich in das schwarze Loch zurückholen?« fragte Rebekka lachend.

»Nein, aber ...«

»Das ganze Haus ist mir verhaßt«, fuhr Miss Sharp wütend fort. »Hoffentlich bekomme ich es nie wieder zu Gesicht. Ich wollte wahrhaftig, es läge auf dem Grunde der Themse, und wenn Miss Pinkerton dort wäre – ich würde sie bestimmt nicht herausziehen. Oh, wie gern würde ich sie in dem Wasser da treiben sehen, samt ihrem Turban und allem anderen, die Schleppe hinter ihr her, und als Schiffsschnabel ihre Nase!«

»Pst!« rief Miss Sedley.

»Warum? Wird der schwarze Diener schwatzen?« rief Miss Rebekka lachend. »Er soll ruhig zurückgehen und Miss Pinkerton sagen, daß ich sie aus tiefster Seele hasse; ich wollte, er täte es, und ich wollte, ich hätte auch eine Möglichkeit, es ihr zu beweisen. Zwei Jahre lang hat sie mich bloß beleidigt und beschimpft. Ich bin schlechter behandelt worden als eine Küchenmagd. Nie hatte ich eine Freundin, und außer dir gab mir niemand ein freundliches Wort. Ich mußte die kleinen Mädchen in den unteren Klassen beaufsichtigen und mit den größeren französisch sprechen, bis meine Muttersprache mir zum Halse heraushing. War es nicht ein köstlicher Spaß, daß ich mit Miss Pinkerton Französisch sprach? Sie kann kein Wort Französisch, aber sie ist viel zu stolz, es einzugestehen. Ich glaube, das war der Grund, weshalb sie mich laufenließ, und deshalb sei dem Himmel Dank für das Französische! Vive la France! Vive l'Empereur! Vive Bonaparte! 1«

[19] »Rebekka! Rebekka, schäm dich!« rief Miss Sedley; das war die größte Lästerung, die Rebekka je ausgestoßen hatte, denn wenn man in jenen Tagen in England sagte: »Es lebe Bonaparte!«, so war dies gleichbedeutend mit: »Es lebe Luzifer!« – »Wie kannst du nur! Wie wagst du, so schlecht und rachsüchtig zu denken?«

»Rache mag schlecht sein, aber sie ist natürlich«, erwiderte Miss Rebekka. »Ich bin kein Engel.« Und um die Wahrheit zu sagen, das war sie wirklich nicht.

Denn man wird im Laufe dieser kleinen Unterhaltung, während deren die Kutsche am Ufer des Flusses träge dahinrollte, bemerkt haben, daß Miss Rebekka Sharp zweimal das Bedürfnis verspürt hatte, dem Himmel zu danken; das erstemal jedoch geschah es nur deshalb, weil er sie von einer Person befreit hatte, die sie haßte, und das zweitemal, weil er ihr die Gelegenheit gab, ihre Feinde in Verlegenheit oder Verwirrung zu bringen. Beides waren nicht gerade liebenswürdige Beweggründe zu frommer Dankbarkeit, und freundliche und versöhnliche Gemüter würden sie auch nicht dafür gebrauchen. Miss Rebekka nun war nicht im mindesten freundlich oder versöhnlich. Dieser kleine Misanthrop (oder, besser gesagt, Misogyn, denn mit der Männerwelt hatte sie bisher wohl wenig Erfahrungen gemacht) war der Meinung, alle Welt behandele sie schlecht, wobei ziemlich sicher ist, daß alle Menschen beiderlei Geschlechts, die alle Welt schlecht behandelt, diese Behandlung auch verdienen. Die Welt ist ein Spiegel, aus dem jedem sein eigenes Bild entgegenblickt. Wirf einen mürrischen Blick hinein, und sie wird dir ein saures Gesicht zeigen, lach sie an und lach mit ihr, und sie ist dir ein lustiger, freundlicher Gefährte. Alle jungen Leute mögen nun ihre Wahl treffen. Eines ist jedoch sicher: Wenn die Welt Miss Sharp vernachlässigte, so war jedenfalls nicht bekannt, daß sie selbst jemals einem Menschen eine Freundlichkeit erwiesen hatte; man konnte auch nicht erwarten, daß vierundzwanzig junge Damen so liebenswürdig [20] sein würden wie die Heldin dieses Buches, Miss Sedley (wir wählten sie dazu, weil sie die gutmütigste von allen war; denn was hätte uns sonst daran hindern können, Miss Swartz oder Miss Crump oder Miss Hopkins zur Heldin zu machen?). Man kann nicht erwarten, daß alle so bescheiden und sanft sind wie Miss Amelia Sedley, daß sie jede Gelegenheit ergreifen, Rebekkas Hartherzigkeit und unfreundliches Wesen zu bekämpfen und durch tausend gute Worte und Dienste Rebekka wenigstens einmal dazu bringen, ihre Feindseligkeit gegenüber dem eigenen Geschlecht zu überwinden.

Miss Sharps Vater war Künstler und hatte in Miss Pinkertons Schule Zeichenunterricht erteilt. Er war ein gewandter Mann, ein angenehmer Gesellschafter, in seiner Kunst sorglos und hatte eine starke Neigung zum Schuldenmachen und eine Vorliebe fürs Wirtshaus. War er betrunken, so pflegte er Frau und Tochter zu schlagen, und im Katzenjammer des nächsten Morgens schimpfte er auf die Welt, die sein Genie verkannte, und schmähte mit viel Witz und oftmals nicht unberechtigt seine Malerkollegen, diese Dummköpfe und Narren. Da er sich nur mühsam über Wasser hatte halten können und in Soho, wo er lebte, im Umkreis von einer Meile Schulden hatte, glaubte er seine Lage durch die Heirat mit einer jungen Französin, einer Ballettänzerin, zu verbessern. Miss Sharp erwähnte den einfachen Stand ihrer Mutter nie, sondern pflegte in späteren Jahren zu sagen, die Entrechats seien eine Adelsfamilie aus der Gascogne 2, und sie tat sich auf ihre Abkunft einiges zugute. Und seltsam genug: Je mehr sie im Leben vorwärtskam, desto höher stiegen auch die Vorfahren der jungen Dame in Rang und Glanz.

Rebekkas Mutter hatte irgendwo eine gewisse Erziehung genossen, und ihre Tochter sprach ein tadelloses Französisch. Dies war in jenen Tagen eine seltene Fertigkeit und verhalf ihr zu einer Anstellung bei der orthodoxen Miss Pinkerton. Denn als ihr Vater nach dem Tode der Mutter erkannt hatte, [21] daß er sich nach seinem dritten Anfall von Delirium tremens wahrscheinlich nicht mehr erholen würde, schrieb er einen mannhaften und zugleich rührenden Brief an Miss Pinkerton, in dem er das verwaiste Kind ihrem Schutz empfahl. Dann sank er ins Grab, nachdem sich zwei Gerichtsvollzieher über seinem Leichnam gestritten hatten.

Rebekka war siebzehn Jahre alt, als sie nach Chiswick kam und als Lehrschülerin verpflichtet wurde. Wie wir gesehen haben, bestanden ihre Pflichten darin, mit den Schülerinnen französisch zu sprechen; dafür hatte sie Kost und Logis frei, bekam jährlich ein paar Guineen und durfte bei den unterrichtenden Lehrern einige Weisheitsbrocken aufschnappen.

Sie war klein und schmächtig, hatte ein blasses Gesicht, rotblondes Haar und hielt die Lider gewöhnlich gesenkt. Wenn sie aufsah, erblickte man sehr große, eigentümliche, anziehende Augen, so anziehend, daß sich Ehrwürden Mr. Crisp, der soeben von Oxford gekommene Hilfsgeistliche des Pfarrers von Chiswick, Ehrwürden Mr. Flowerdew, in Miss Sharp verliebte, als er von einem tödlichen Blick getroffen wurde, den sie von den Pensionatsbänken quer durch die Chiswicker Kirche zum Chorpult hin abschoß. Dieser betörte junge Mann trank bisweilen Tee bei Miss Pinkerton, der er durch seine Mutter vorgestellt worden war, und in einem abgefangenen Briefchen, das die einäugige Kuchenfrau hatte überbringen sollen, machte er tatsächlich eine Art Heiratsantrag. Mrs. Crisp wurde aus Buxton 3 herbeigeholt und entfernte ihren geliebten Sohn schleunigst; schon der bloße Gedanke an einen solchen Adler im Chiswicker Taubenschlag verursachte im Busen von Miss Pinkerton einen gewaltigen Aufruhr, und sie hätte Miss Sharp weggeschickt, wenn sie nicht gezwungen gewesen wäre, dann eine Kontraktstrafe zu zahlen. Nie glaubte sie den Beteuerungen der jungen Dame, die versicherte, mit Mr. Crisp nur im Beisein der Vorsteherin beim Tee gesprochen zu haben.

[22] Neben den vielen hochgewachsenen und kräftigen jungen Damen in der Schule wirkte Rebekka Sharp wie ein Kind. Aber sie hatte die traurige Frühreife der Armut. Manchen ungeduldigen Gläubiger hatte sie von der Tür ihres Vaters weggeplaudert; manchen Kaufmann hatte sie in gute Stimmung geschwatzt und ihm ein weiteres Mal das tägliche Brot abgeschmeichelt. Gewöhnlich saß sie bei ihrem Vater, der auf ihren Mutterwitz sehr stolz war, und hörte die Reden seiner zügellosen Kumpane mit an, die oft für Mädchenohren wenig geeignet waren. Wie sie selbst sagte, war sie jedoch nie ein Kind gewesen; schon mit acht Jahren war sie ein Weib. Warum nur ließ Miss Pinkerton einen so gefährlichen Vogel in ihren Käfig hinein!

Tatsächlich hielt die alte Dame Rebekka für das sanftmütigste Geschöpf der Welt, denn wenn ihr Vater sie mit nach Chiswick nahm, pflegte sie die Rolle der ingénue 4 so vollendet zu spielen, daß Miss Pinkerton meinte, sie sei ein bescheidenes und unschuldiges Kind, und ein Jahr noch vor dem Abkommen über Rebekkas Aufnahme im Hause – das Mädchen war damals sechzehn Jahre alt – überreichte ihr Miss Pinkerton majestätisch mit einer kleinen Ansprache eine Puppe als Geschenk, eine Puppe, die, nebenbei erwähnt, Miss Swindle gehört hatte und ihr weggenommen worden war, als man sie ertappte, wie sie heimlich während des Unterrichts damit spielte.

Wie lachten Vater und Tochter, als sie nach der Abendgesellschaft zusammen nach Hause wanderten (es war bei Gelegenheit der Jahresschlußfeier, zu der alle Lehrer eingeladen wurden), und wie wütend wäre Miss Pinkerton geworden, hätte sie die Karikatur gesehen, die Rebekka, die kleine Schauspielerin, von ihr aus der Puppe machte! Sie pflegte mit der Puppe Gespräche zu führen, die die Newman Street, die Gerrard Street 5 und das ganze Künstlerviertel begeisterten. Wenn die jungen Maler kamen, um mit ihrem faulen, liederlichen, gewandten, lustigen älteren Kollegen [23] Grog zu trinken, so fragten sie Rebekka regelmäßig, ob Miss Pinkerton zu Hause sei; sie kannten die arme Seele so gut wie Mr. Lawrence 6 oder Präsident West 7. Einst hatte sie die Ehre, einige Tage in Chiswick zu verbringen; sie kam mit der Idee zurück, eine andere Puppe zur Miss Jemmy zu ernennen; denn obgleich das ehrliche Geschöpf Jemima sie mit Gelee und Kuchen für drei Kinder vollgestopft und ihr beim Abschied sogar noch ein Siebenshillingstück geschenkt hatte, so war doch der Sinn fürs Lächerliche bei dem Mädchen weitaus stärker als die Dankbarkeit, und Miss Jemmy wurde ebenso unbarmherzig geopfert wie ihre Schwester.

Die Katastrophe kam, als Rebekka in ihre neue Heimat, die Mall, gebracht wurde. Die strenge Förmlichkeit des Hauses erstickte sie: die Gebete und die Mahlzeiten, die Unterrichtsstunden und die Spaziergänge, alles in klösterlicher Regelmäßigkeit, lasteten beinahe unerträglich auf ihr, und sie vermißte die freie Bettelarmut des alten Ateliers in Soho so sehr, daß jeder, auch sie selbst, glaubte, der Kummer um den Vater verzehre sie. Sie hatte ein kleines Zimmerchen unter dem Dach, wo die Dienstmädchen sie nachts schluchzend auf und ab gehen hörten; allein das geschah vor Wut und nicht vor Kummer. Bisher hatte Heuchelei ihr ferngelegen; nun, in ihrer Einsamkeit, lernte sie, sich zu verstellen. Nie war sie in weiblicher Gesellschaft gewesen; ihr Vater war trotz aller seiner Laster ein begabter Mann; sie zog seine Unterhaltung tausendmal dem Geschwätz ihrer Geschlechtsgenossinnen vor, mit denen sie jetzt zusammenkam. Die eitle Wichtigtuerei der alten Schulvorsteherin, die törichte Gutmütigkeit ihrer Schwester, das dumme Geschwätz und die Klatschsucht der größeren Schülerinnen und die kalte Korrektheit der Erzieherinnen ermüdeten sie; und das unglückselige Geschöpf besaß kein sanftes, mütterliches Herz, um sich von dem Geplappere und Geplaudere der kleineren Mädchen, die sie hauptsächlich zu betreuen hatte, besänftigen [24] und einnehmen zu lassen. Zwei Jahre lebte sie unter ihnen, und keine trauerte ihr nach, als sie ging. Die sanfte, gütige Amelia Sedley war die einzige, der sie sich einigermaßen angeschlossen hatte; und wer fühlte sich nicht zu Amelia hingezogen?

Das Glück – die überlegene Stellung der jungen Damen um sie her erfüllten Rebekka mit unaussprechlichem Neid. »Wie vornehm sich doch dieses Mädchen aufspielt, bloß weil sie die Enkelin eines Grafen ist«, sagte sie von der einen. »Wie sie doch vor der Kreolin und ihren hunderttausend Pfund kriechen! Ich bin tausendmal gescheiter und hübscher als dieses Geschöpf mit all seinem Reichtum. Ich bin ebenso gut erzogen wie die Grafenenkelin, trotz ihres vornehmen Stammbaumes; und doch beachtet mich hier niemand. Aber gaben nicht, als ich noch bei meinem Vater lebte, die Männer ihre lustigsten Bälle und Gesellschaften auf, um den Abend mit mir zu verbringen?« Sie beschloß, sich auf jeden Fall aus dem Gefängnis zu befreien, in dem sie sich befand, und begann nun, selbständig zu handeln und zum erstenmal in ihrem Leben zusammenhängende Zukunftspläne zu schmieden.

Sie nutzte daher die Bildungsmöglichkeiten, welche das Haus ihr bot; und da sie gute Begabung für Musik und Sprachen zeigte, so hatte sie in kurzer Zeit das kleine Wissensgebiet durchstreift, dessen Kenntnis man bei einer Dame jener Tage für nötig hielt. Sie übte sich sehr fleißig in der Musik, und eines Tages, als die Mädchen ausgegangen waren und sie zu Hause geblieben war, hörte die Minerva sie ein Stück so gut spielen, daß sie weise überlegte, sie könne sich die Kosten eines Musiklehrers für die kleineren Mädchen sparen, und sie gab Miss Sharp zu verstehen, daß sie künftig Musikunterricht zu erteilen habe.

Zum ersten Male und zum größten Erstaunen der majestätischen Vorsteherin weigerte sich das Mädchen. »Ich bin hier, um mit den Kindern französisch zu sprechen«, sagte [25] Rebekka kurz, »und nicht um Musikunterricht zu geben, damit Sie Geld sparen. Bezahlen Sie es mir, dann werde ich sie unterrichten.«

Die Minerva mußte klein beigeben und fand sie natürlich von dem Tage an unausstehlich. »Fünfunddreißig Jahre lang«, sagte sie mit einiger Berechtigung, »habe ich keinen Menschen erlebt, der gewagt hätte, in meinem Hause meine Autorität in Frage zu stellen. Ich habe eine Schlange an meinem Busen genährt.«

»Eine Schlange – Quatsch«, antwortete Miss Sharp der alten Dame, die vor Erstaunen fast in Ohnmacht fiel. »Sie haben mich aufgenommen, weil ich Ihnen nützlich war. Zwischen uns kann von Dankbarkeit keine Rede sein. Ich hasse diesen Ort und möchte gern weg von hier. Ich tue nur das, wozu ich verpflichtet bin, nicht mehr.«

Vergebens fragte die alte Dame, ob sie denn auch wisse, daß sie mit Miss Pinkerton spreche. Rebekka lachte ihr nur ins Gesicht, ein so schreckliches, sarkastisches, teuflisches Lachen, daß die Schulvorsteherin beinahe in Krämpfe fiel. »Geben Sie mir Geld«, sagte das Mädchen, »und Sie werden mich los – oder besorgen Sie mir, wenn Ihnen das lieber ist, eine Stelle als Erzieherin in einer adligen Familie – Sie können es, wenn Sie wollen.« Und in ihren späteren Auseinandersetzungen kam sie immer wieder auf diesen Punkt zurück. »Verschaffen Sie mir eine Stelle – wir können einander nicht ausstehen, und ich bin bereit zu gehen.«

Die würdige Miss Pinkerton besaß zwar eine römische Nase und einen Turban und war, von Gestalt ein Grenadier, bis zu diesem Tage eine alles bezwingende Fürstin gewesen, mit dem Willen und der Stärke ihres kleinen Lehrlings konnte sie es jedoch nicht aufnehmen. Sie kämpfte und bemühte sich vergeblich, das Mädchen einzuschüchtern. Bei dem Versuch, sie einmal öffentlich zu schelten, kam Rebekka auf die bereits erwähnte Idee, ihr auf französisch zu antworten, was die alte Frau ganz und gar aus der Fassung[26] brachte. Um ihre Autorität in der Schule zu wahren, erwies es sich als notwendig, diese Rebellin, dieses Ungeheuer, diese Schlange, diesen Feuerbrand zu entfernen; und da sie gerade hörte, daß Sir Pitt Crawleys Familie eine Gouvernante brauchte, empfahl sie – trotz Feuerbrand und Schlange – Miss Sharp für die Stelle.

»Ich kann«, sagte sie, »Miss Sharps Betragen bestimmt nicht tadeln, wenn ich ihr Benehmen gegen mich selbst ausnehme; und ich muß zugeben, daß ihre Talente und Kenntnisse hervorragend sind. Zumindest was den Kopf betrifft, macht sie dem Erziehungssystem in meiner Schule alle Ehre.«

Auf diese Weise brachte die Vorsteherin die Empfehlung mit ihrem Gewissen in Einklang; der Kontrakt wurde gelöst, und der Lehrling war frei. Der Kampf, hier in wenigen Zeilen beschrieben, dauerte natürlich einige Monate. Und da Miss Sedley, die nun siebzehn Jahre alt war und die Schule verlassen sollte, mit Miss Sharp befreundet war (»Dies ist der einzige Punkt in Amelias Betragen«, meinte Minerva, »der ihrer Lehrerin mißfallen hat«), so wurde Miss Sharp von ihrer Freundin eingeladen, eine Woche bei ihr zu Hause zu verbringen, ehe sie ihre Stelle als Erzieherin in einem Privathaushalt antrat.

So begann das Leben für die beiden jungen Damen. Für Amelia war es ganz neu, frisch und glänzend, in all seiner Schönheit. Nicht ganz so neu war es für Rebekka – denn in der Tat, um die Wahrheit über die Crisp-Affäre zu sagen, hatte die Kuchenfrau jemandem, der es wieder unter Eid weitererzählte, angedeutet, daß zwischen Mr. Crisp und Miss Sharp eine ganze Menge mehr vorgekommen sei, als an die Öffentlichkeit gedrungen war, und daß sein Brief nur eine Antwort auf einen andern gewesen sei. Wer vermag aber zu sagen, wie die Sache sich wirklich verhielt? Wenn das Leben für Rebekka nun auch nicht direkt begann, so begann sie es doch wieder einmal von vorn.

[27] Als die jungen Damen den Schlagbaum auf der Kensingtoner Chaussee erreichten, hatte Amelia ihre Gefährtinnen zwar nicht vergessen, aber doch ihre Tränen getrocknet, und sie errötete heftig und war entzückt, als ein junger Offizier der Leibgarde sie im Vorbeireiten erspähte und sagte: »Bei Gott, ein verdammt schönes Mädchen!« Und ehe noch der Wagen am Russell Square anlangte, hatten sie viel über die Vorstellung bei Hofe geplaudert, und ob junge Damen sich bei solchem Anlaß wohl puderten und Reifröcke trügen, und ob Amelia dieser Ehre wohl teilhaftig werden würde; daß sie auf jeden Fall den Ball beim Lord Mayor erleben sollte, wußte sie. Als man nun endlich zu Hause angekommen war, hüpfte Miss Amelia Sedley an Sambos Arm heraus, ein so glückliches und hübsches Mädchen wie kaum ein anderes in dem ganzen großen London. In diesem Punkte war Sambo ganz der Ansicht des Kutschers, ihr Vater war darüber einig mit der Mutter, und so dachten alle Dienstboten des Hauses, die lächelnd in der Vorhalle standen und ihre junge Herrin mit Verbeugungen und Knicksen begrüßten.

Man kann versichert sein, daß Amelia Rebekka jedes Zimmer im Hause zeigte und alle ihre Schubfächer, Bücher, das Klavier, ihre Kleider, Halsketten, Broschen, Spitzen und allerlei andere Kleinigkeiten. Rebekka mußte unbedingt den weißen Karneolschmuck und die Türkisohrringe sowie ein wunderhübsches geblümtes Musselinkleid annehmen, das sie ausgewachsen hatte, das ihrer Freundin aber wie angegossen passen mußte; und sie beschloß im Innern, die Mutter um Erlaubnis zu bitten, der Freundin ihren weißen Kaschmirschal schenken zu dürfen. Konnte sie ihn denn nicht entbehren, zumal ihr Bruder Joseph ihr soeben zwei aus Indien mitgebracht hatte?

Als Rebekka die zwei prächtigen Kaschmirschals sah, die Joseph Sedley seiner Schwester mitgebracht hatte, sagte sie ganz aufrichtig, »daß es herrlich sein müsse, einen Bruder zu haben«, und weckte damit sehr leicht das Mitleid der gütigen [28] Amelia für die arme Waise, die ohne Angehörige, freundlos und allein in der Welt stand.

»Du bist nicht allein«, sagte Amelia, »du weißt, Rebekka, ich werde stets deine Freundin sein und dich wie eine Schwester lieben – ganz bestimmt.«

»Ach, hätte ich doch Eltern, wie du – gute, reiche, liebevolle Eltern, die einem jeden Wunsch erfüllen und einen mit ihrer Liebe umgeben, dem Kostbarsten, was es gibt. Mein armer Papa konnte mir nichts schenken, und ich besaß auf der ganzen Welt nur zwei Kittel! Und dann noch einen Bruder zu haben, einen lieben Bruder! Oh, wie mußt du ihn liebhaben!«

Amelia lachte.

»Wie? Hast du ihn etwa nicht lieb? Wo du doch immer sagst, du liebst alle Menschen?«

»Ja, natürlich, ich habe ihn lieb, nur ...«

»Nur was?«

»Nur scheint Joseph sich nicht viel darum zu kümmern, ob ich ihn liebhabe oder nicht. Als er nach zehnjähriger Abwesenheit kam, reichte er mir zwei Finger! Er ist freundlich und gut, aber er spricht selten mit mir; ich glaube, er liebt seine Pfeife viel mehr als seine ...« Aber hier stockte Amelia, denn warum sollte sie schlecht von ihrem Bruder sprechen? »Er war sehr freundlich zu mir, als ich klein war«, setzte sie hinzu; »ich war erst fünf Jahre alt, als er wegging.«

»Ist er nicht sehr reich?« fragte Rebekka. »Alle indischen Nabobs sollen doch ungeheuer reich sein.«

»Ich glaube, er hat ein sehr großes Einkommen.«

»Und ist deine Schwägerin eine nette, hübsche Frau?«

»Hach, Joseph ist doch gar nicht verheiratet«, rief Amelia und lachte abermals.

Möglicherweise hatte sie es Rebekka schon einmal erzählt, aber die junge Dame schien es wieder vergessen zu haben; sie beteuerte eifrig, sie habe erwartet, eine Anzahl Neffen [29] und Nichten von Amelia zu sehen. Sie sei ganz enttäuscht, Mr. Sedley unverheiratet zu finden; sie sei überzeugt, Amelia habe ihr erzählt, er sei verheiratet, und sie sei so vernarrt in kleine Kinder.

»Ich dachte, du hättest in Chiswick genug davon gehabt«, sagte Amelia, etwas verwundert über das plötzliche Interesse ihrer Freundin. In späteren Tagen hätte Miss Sharp sich niemals darauf eingelassen, Meinungen zu äußern, deren Unwahrheit so leicht aufzudecken war, allein wir dürfen nicht vergessen, daß das arme unschuldige Geschöpf erst neunzehn Jahre alt, daß sie in der Kunst, sich zu verstellen, noch wenig bewandert war, erst Erfahrungen sammeln mußte. Die obigen Fragen in der Sprache des Innern dieses scharfsinnigen jungen Mädchens übersetzt, bedeuteten einfach folgendes: Wenn Mr. Joseph Sedley reich und unverheiratet ist, warum sollte ich ihn dann nicht heiraten? Ich habe zwar nur vierzehn Tage vor mir, aber es kann ja nichts schaden, wenn ich es versuche.

Sie beschloß im Innern, diesen lobenswerten Versuch zu unternehmen. Sie verdoppelte ihre Zärtlichkeit gegenüber Amelia; sie küßte das Halsband mit dem weißen Karneol, als sie es anlegte, und beteuerte, sie werde sich nie, nie davon trennen. Als die Tischglocke erklang, ging sie, wie junge Mädchen zu gehen pflegen, den Arm um die Taille ihrer Freundin geschlungen, die Treppe hinab. Als sie an der Tür des Gesellschaftszimmers anlangten, war sie so aufgeregt, daß sie kaum Mut fassen konnte einzutreten. »Fühl mal, wie mein Herz klopft, meine Liebe«, sagte sie zu ihrer Freundin.

»Ach wo«, meinte Amelia, »komm mit herein und fürchte dich nicht. Papa wird dir nichts tun.«

Fußnoten

1 (franz.) Es lebe Frankreich! Es lebe der Kaiser! Es lebe Bonaparte!

2 ehemalige Provinz in Südfrankreich.

3 Badeort in der englischen Grafschaft Kent.

4 (franz.) Naive.

5 Straßen in Soho, dem Künstlerviertel Londons.

6 Sir Thomas Lawrence (1769-1830), englischer Maler.

7 Benjamin West (1738-1820), amerikanisch-englischer Maler; war Präsident der Royal Academy von 1792 bis 1820.

[30] 3. Kapitel
Rebekka vor dem Feind

Ein sehr gedrungener, kurzatmiger Mann in wildledernen Hosen und Reitstiefeln, mit mehreren, ungeheuren Halstüchern, die ihm beinahe bis an die Nase reichten, in einer rotgestreiften Weste und einem apfelgrünen Rock mit fast talergroßen Stahlknöpfen (das war das Morgenkostüm eines Stutzers jener Tage) las am Kaminfeuer Zeitung, als die beiden Mädchen hereintraten; er sprang von seinem Lehnsessel auf, errötete heftig und verbarg bei ihrem Erscheinen das Gesicht fast völlig in seinen Halstüchern.

»Es ist nur deine Schwester, Joseph«, sagte Amelia lachend und schüttelte die ihr entgegengestreckten beiden Finger. »Du weißt, ich bin jetzt für immer nach Hause gekommen; und dies ist meine Freundin, Miss Sharp, von der ich dir bereits erzählt habe.«

»Nein, niemals, auf mein Wort«, sagte der Kopf hinter dem Halstuch unter heftigem Schütteln, »das heißt, ja; welch abscheulich kaltes Wetter, Miss«; und damit fing er an, aus Leibeskräften das Feuer zu schüren, obwohl es Mitte Juni war.

»Er sieht sehr gut aus«, flüsterte Rebekka Amelia vernehmlich zu.

»Meinst du?« sagte die letztere, »ich werde es ihm sagen.«

»Nicht um alles in der Welt, Teuerste«, sagte Miss Sharp und wich so schüchtern wie ein Reh zurück. Sie hatte vorher vor dem Herrn einen ehrerbietigen, jungfräulichen Knicks gemacht, und ihre sittsamen Augen schauten so beharrlich auf den Teppich, daß es ein Wunder war, wie sie Gelegenheit gefunden hatte, ihn zu sehen.

»Ich danke dir für die schönen Schals, Bruder«, sagte Amelia zu dem Feuerschürer. »Sind sie nicht schön, Rebekka?«

»Oh, himmlisch!« bestätigte Miss Sharp, und ihre Augen wanderten vom Teppich geradewegs zum Kronleuchter.

[31] Joseph machte immer noch mit dem Schüreisen und der Feuerzange ein ungeheures Getöse; dabei keuchte und schnaufte er und lief so rot an, wie sein gelbes Gesicht nur erlaubte.

»Ich kann dir keine so schönen Geschenke machen, Joseph«, fuhr seine Schwester fort, »aber ich habe dir in der Schule ein Paar sehr schöne Hosenträger gestickt.«

»Guter Gott! Amelia«, rief der Bruder, ernstlich beunruhigt, »was meinst du nur?« Und er riß mit aller Macht an der Klingelschnur, bis er sie in der Hand hielt, was den braven Burschen noch mehr verwirrte. »Um Himmels willen, sieh nach, ob mein Buggy 1 vor der Tür steht. Ich kann nicht warten, ich muß fort. Dieser verd ... Stallknecht! Ich muß fort.«

In diesem Augenblick trat der Vater der Familie herein, wie ein echter britischer Kaufmann mit den Petschaften klimpernd. »Was gibt es, Emmy?« fragte er.

»Joseph sagt, ich soll nachsehen, ob sein – sein Buggy vor der Tür steht. Was ist ein Buggy, Papa?«

»Das ist eine einspännige Sänfte«, sagte der alte Herr, der in seiner Art ein Schalk war.

Bei diesen Worten brach Joseph in ein wildes Gelächter aus, von dem er jedoch, wie von einem Schuß getroffen, jäh abließ, als er dem Blick von Miss Sharp begegnete.

»Diese junge Dame ist deine Freundin? Miss Sharp, es freut mich, Sie zu sehen. Haben Sie und Emmy mit Joseph bereits Streit gehabt, daß er durchaus fortwill?«

»Ich versprach meinem Kameraden Bonamy, mit ihm zu speisen«, erklärte Joseph.

»Ei, ei! Sagtest du nicht deiner Mutter, du wolltest zu Hause speisen?«

»Aber so wie ich angezogen bin, ist es unmöglich.«

»Sehen Sie ihn doch an, Miss Sharp; ist er nicht schön genug, um überall zu speisen?«

Hierauf blickte Miss Sharp natürlich ihre Freundin an, [32] und beide brachen in ein Gelächter aus, das dem alten Herrn sehr angenehm war.

»Haben Sie je bei Miss Pinkerton solch ein Paar wildlederne Hosen gesehen?« fuhr er fort, seinen Vorteil ausnutzend.

»Um Himmels willen! Vater!« rief Joseph.

»Da haben wir's! Nun habe ich seine Gefühle verletzt. Mrs. Sedley, meine Liebe, ich habe die Gefühle deines Sohnes verletzt. Ich habe auf seine ledernen Hosen angespielt. Frag doch Miss Sharp, ob es stimmt! Komm, Joseph, versöhn dich mit Miss Sharp, und laßt uns essen gehen.«

»Es gibt einen Pilau 2, Joseph, ganz so, wie du ihn liebst, und Papa hat den besten Steinbutt von Billingsgate 3 mitgebracht.«

»Komm, komm, mein Junge, geh mit Miss Sharp hinunter, und ich werde mit diesen zwei jungen Damen folgen«, sagte der Vater, reichte Frau und Tochter den Arm und ging munter davon.


Wenn Miss Rebekka Sharp im Innern beschlossen hatte, diesen dicken Beau zu erobern, so glaube ich nicht, meine Damen, daß wir ein Recht haben, sie zu tadeln; denn obgleich die jungen Mädchen das Geschäft der Jagd nach dem Ehemann im allgemeinen mit geziemender Sittsamkeit ihren Mamas überlassen, so müssen wir uns doch erinnern, daß Miss Sharp keine liebevolle Mutter besaß, die diese heikle Angelegenheit für sie in Ordnung bringen könnte, und daß, wenn sie sich nicht selbst einen Mann verschaffte, niemand in der weiten Welt ihr diese Mühe abnehmen würde. Weshalb lassen sich junge Mädchen sonst in der Gesellschaft einführen, wenn nicht aus dem edlen Streben, einen Mann zu finden? Was führt sie zu Hunderten in die Bäder? Was bewegt sie, eine entsetzlich lange Saison hindurch bis fünf Uhr morgens zu tanzen? Was treibt sie, sich mit Klaviersonaten abzumühen, bei dem gerade modernen Gesangmeister für eine [33] Guinee pro Stunde vier Lieder zu lernen, Harfe zu spielen, falls sie wohlgeformte Arme und hübsche Ellbogen haben, grüne Jägerhütchen mit Federn zu tragen, wenn nicht der Wunsch, mit diesen tödlichen Waffen einen »begehrenswerten« jungen Mann zur Strecke zu bringen? Was veranlaßt respektable Eltern, ihre Teppiche zusammenzurollen, im Hause das Unterste zuoberst zu kehren und ein Fünftel ihres Jahreseinkommens für Bälle und eisgekühlten Champagner auszugeben? Ist es bloß die Liebe zu ihresgleichen oder der echte Wunsch, junge Leute beim Tanzen glücklich zu sehen? Pah! Sie wollen ihre Töchter verheiraten; und wie die ehrliche Mrs. Sedley in der Tiefe ihres wohlwollenden Herzens bereits ein Dutzend kleiner Pläne zur Verheiratung ihrer Amelia ausgedacht hatte, so hatte auch unsere geliebte, aber schutzlose Rebekka beschlossen, ihr möglichstes zu tun, sich einen Mann zu sichern, den sie sogar noch notwendiger brauchte als ihre Freundin. Sie besaß eine lebhafte Phantasie; außerdem hatte sie »Tausendundeine Nacht« sowie »Guthrie's Geographie« gelesen, und tatsächlich hatte sie sich beim Ankleiden zum Essen, nachdem sie Amelia gefragt hatte, ob ihr Bruder sehr reich sei, ein prachtvolles Luftschloß gebaut, dessen Herrin sie war, mit einem Ehemann irgendwo im Hintergrund (sie hatte ihn noch nicht gesehen, und seine Gestalt war daher noch etwas verschwommen); sie war geputzt mit einer unendlichen Menge von Schals, Turbanen und Diamanthalsbändern, unter den Klängen des Marsches aus »Blaubart« 4 auf einen Elefanten gestiegen, um dem Großmogul einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Bezaubernde Märchenträume! Es ist das glückliche Vorrecht der Jugend, euch zu ersinnen, und manches phantasiereiche junge Geschöpf hat schon wie Rebekka Sharp solchen Tagträumen nachgehangen.

Joseph Sedley war zwölf Jahre älter als seine Schwester Amelia. Er stand im Zivildienst der Ostindischen Kompanie 5, und sein Name war zu der Zeit, von der wir schreiben, in der [34] bengalischen Abteilung des »Ostindischen Registers« als Steuereinnehmer von Boggley Wollah aufgeführt – ein ehrenvoller und einträglicher Posten, wie man allgemein weiß. Will der Leser erfahren, zu welchen höheren Stellungen Joseph im Dienste aufstieg, so verweisen wir ihn auf die bereits erwähnte Zeitschrift.

Boggley Wollah liegt in einem schönen, einsamen, sumpfigen Dschungelgebiet, berühmt wegen seiner Schnepfenjagden, wo man nicht selten auch einen Tiger antreffen kann. Ramgunge, wo sich eine Behörde befindet, ist nur vierzig Meilen entfernt, und etwa dreißig Meilen weiter liegt ein Kavallerieposten; das alles berichtete Joseph seinen Eltern nach Hause, als er seine Steuereinnehmerstelle antrat. Er hatte ungefähr acht Jahre seines Lebens ganz allein an diesem bezaubernden Ort zugebracht, wobei er kaum häufiger als zweimal jährlich, wenn nämlich ein Truppenkommando eintraf, um die von ihm erhobenen Steuern nach Kalkutta zu bringen, je einen Christenmenschen zu Gesicht bekam.

Glücklicherweise zog er sich um diese Zeit ein Leberleiden zu, und um das zu heilen, kehrte er nach Europa zurück. Diese Krankheit wurde ihm zu einer Quelle von Freude und Unterhaltung in der Heimat. Er lebte in London nicht bei seiner Familie, sondern hatte als lebenslustiger Junggeselle eine eigene Wohnung. Ehe er nach Indien ging, war er zu jung gewesen, um an den herrlichen Vergnügungen der Lebemänner teilzuhaben; nun, bei seiner Rückkehr, stürzte er sich um so eifriger hinein. Er lenkte seine Pferde durch den Park, speiste in vornehmen Restaurants (der Orientklub 6 bestand noch nicht), besuchte häufig die Theater, wie es in jenen Tagen Mode war, oder zeigte sich in der Oper, mühsam in enge Beinkleider gezwängt und mit Dreispitz.

Bei seiner Rückkehr nach Indien, wie auch später, pflegte er stets mit großer Begeisterung von den Freuden dieses Lebensabschnittes zu sprechen und gab zu verstehen, daß er und Brummel 7 die tonangebenden Salonlöwen jener Zeit gewesen [35] seien. Aber er war hier ebenso einsam wie in seinem Dschungel in Boggley Wollah. Er kannte kaum eine Seele in der Hauptstadt; und hätte er nicht seinen Doktor gehabt und seine Quecksilberpillen und das Leberleiden, so wäre er vor Langweile gestorben. Er war ein träger, mürrischer Bonvivant; der Anblick einer Dame erschreckte ihn außerordentlich, und so geschah es, daß er sich nur selten im väterlichen Kreise am Russell Square blicken ließ, wo es überaus lustig zuging und wo die Späße seines gutmütigen alten Vaters seine Eigenliebe verletzten.

Sein Leibesumfang verursachte Joseph viele besorgte Gedanken und Unruhe. Dann und wann machte er auch einen verzweifelten Versuch, sich seines überflüssigen Fettes zu entledigen; aber seine Trägheit sowie seine Vorliebe fürs Wohlleben wurden dieser Reformbestrebungen bald wieder Herr, und er kehrte wieder zu seinen drei Mahlzeiten täglich zurück.

Er war niemals gut gekleidet, obwohl er sich ungeheure Mühe gab, seine dicke Person zu putzen, und stundenlang mit dieser Beschäftigung verbrachte. Sein Diener verschaffte sich ein Vermögen mit seiner alten Garderobe; auf seinem Toilettentisch standen ebenso viele Pomaden und Essenzen wie bei einer welkenden Schönheit; um eine Taille zu bekommen, hatte er alle damals erfundenen Leibgurte, alle Korsette und Leibbinden ausprobiert. Wie die meisten dicken Menschen ließ er sich die Kleider sehr eng machen und wählte stets die glänzendsten Farben und den jugendlichsten Schnitt. Hatte er nachmittags endlich seine Toilette beendet, so fuhr er mit niemand in den Park und kam dann zurück, um sich abermals anzukleiden und mit niemand im Piazza-Kaffeehaus zu speisen. Er war eitel wie ein Mädchen, und vielleicht war seine außerordentliche Schüchternheit eine Folge seiner außerordentlichen Eitelkeit. Gelingt es Miss Rebekka bei ihrem Eintritt ins Leben, ihn zu besiegen, so ist sie ein Mädchen von ungewöhnlicher Gewitztheit.

[36] Ihr erster Schachzug bewies beträchtliche Gewandtheit. Als sie Sedley einen gutaussehenden Mann nannte, wußte sie, daß Amelia es ihrer Mutter erzählen würde, die es wahrscheinlich Joseph wiedersagen oder sich doch jedenfalls über das Kompliment für ihren Sohn freuen würde. Allen Müttern tut das wohl. Hätte man der Sycorax gesagt, ihr Sohn Caliban 8 sei schön wie Apollo, so hätte es die Hexe gefreut. Vielleicht hörte Joseph Sedley das Kompliment auch selbst – Rebekka sprach ja laut genug –, und tatsächlich hatte er es auch gehört. Da er sich insgeheim für einen schönen Mann hielt, durchzuckte das Lob jede Fiber seines dicken Körpers und ließ ihn vor Wonne erbeben. Dann kam aber ein Rückschlag. Macht das Mädchen sich über mich lustig? dachte er, und darauf stürzte er, wie wir gesehen haben, geradewegs zur Klingel und wollte fort, bis die Scherze seines Vaters und die Bitten seiner Mutter ihn einhalten ließen und zum Bleiben bewogen.

Zweifelnd und erregt führte er die junge Dame zum Essen. Hält sie mich wirklich für schön, dachte er, oder nimmt sie mich nur auf den Arm? Wir haben davon gesprochen, Joseph Sedley sei eitel wie ein Mädchen. Der Himmel beschütze uns! Die Mädchen brauchen nur den Spieß umzudrehen und von ihresgleichen zu behaupten: »Sie ist so eitel wie ein Mann«, und sie haben vollkommen recht. Das bärtige Geschlecht ist ebenso erpicht auf Lob, ebenso wählerisch in bezug auf die Kleidung, ebenso stolz auf persönliche Vorzüge, sich ebenso seiner Unwiderstehlichkeit bewußt wie je eine Kokette auf der Welt.

So gingen sie also die Treppe hinab, Joseph über und über rot, Rebekka sehr sittsam, die grünen Augen zu Boden geschlagen. Sie war weiß gekleidet, die bloßen Schultern weiß wie Schnee – ein Bild von Jugend, schutzloser Unschuld und bescheidener, jungfräulicher Naivität.

Ich muß sehr sanft sein, dachte Rebekka, und recht viel Interesse für Indien an den Tag legen.

[37] Nun haben wir gehört, daß Mrs. Sedley einen schönen Curry 9 zubereitet hatte, gerade wie ihr Sohn ihn mochte, und im Laufe des Essens wurde Rebekka eine Portion davon angeboten. »Was ist das?« wollte sie wissen und richtete einen fragenden Blick auf Mr. Joseph.

»Köstlich«, erwiderte er, mit vollem Munde kauend. Sein Gesicht war rot von der heiligen Handlung des Hinunterschlingens. »Mutter, er ist so gut wie meine eigenen Currys in Indien.«

»Ach, wenn es ein indisches Gericht ist«, sagte Miss Rebekka, »muß ich es versuchen. Ich bin sicher, alles, was von dort kommt, muß gut sein.«

»Gib doch Miss Sharp etwas Curry, meine Liebe«, sagte Mr. Sedley lachend.

Rebekka hatte das Gericht noch nie zuvor gekostet.

»Finden Sie ihn auch so gut wie alles andere, was aus Indien kommt?« fragte Mr. Sedley.

»Oh, vortrefflich!« antwortete Rebekka, der der Cayennepfeffer Höllenqualen bereitete.

»Essen Sie ein Chili 10 dazu, Miss Sharp«, sagte Joseph, voll ehrlicher Anteilnahme.

»Ein Chili«, keuchte Rebekka, nach Luft schnappend. »Ja, ja!« Sie glaubte, ein Chili sei, dem Namen nach zu urteilen, etwas Kühlendes, und ließ sich daher eins geben.

»Wie frisch und grün sie aussehen«, meinte sie und steckte eins in den Mund. Es brannte aber noch mehr als der Curry; Fleisch und Blut konnten es nicht länger ertragen. Sie legte die Gabel weg. »Wasser, um Himmels willen, Wasser!« rief sie. Mr. Sedley brach in ein lautes Gelächter aus (er war ein ungehobelter Mann und an der Börse tätig, wo man handgreifliche Scherze liebte). »Sie sind echt indisch, das kann ich Ihnen versichern«, sagte er. »Sambo, gib Miss Sharp Wasser.«

Das väterliche Lachen rief bei Joseph ein Echo hervor, der den Spaß äußerst gelungen fand. Die Damen lächelten nur [38] wenig. Sie dachten, die arme Rebekka habe zuviel auszustehen. Diese hätte zwar den alten Sedley gern erwürgt, aber sie schluckte ihren Ärger hinunter, wie vorher den abscheulichen Curry, und sagte, sobald sie sprechen konnte, aufgeräumt, mit drolliger Miene:

»Ich hätte an den Pfeffer denken sollen, den die persische Prinzessin aus ›Tausendundeiner Nacht‹ in die Sahnetörtchen streut. Streut man in Indien Cayennepfeffer in die Sahnetörtchen, mein Herr?«

Der alte Sedley begann zu lachen und dachte, Rebekka sei doch ein munteres Ding. Joseph aber sagte bloß: »Sahnetörtchen, Miss? Unsere Sahne in Bengalen ist herzlich schlecht. Gewöhnlich brauchen wir Ziegenmilch; und, weiß Gott, der gebe ich jetzt den Vorzug.«

»Nun werden Sie wohl nicht mehr alles, was aus Indien kommt, lieben, Miss Sharp?« fragte der alte Herr; als sich aber die Damen nach dem Essen zurückgezogen hatten, bemerkte der schlaue alte Bursche zu seinem Sohn: »Nimm dich in acht, Joe; das Mädchen hat es auf dich abgesehen.«

»Pah, Unsinn!« sagte Joe, höchlich geschmeichelt. »Ich erinnere mich, da war ein Mädchen in Dumdum, eine Tochter Cutlers von der Artillerie, die später Lance, den Stabsarzt, heiratete. Sie hat mir im Jahre 1804 nachgestellt, mir und Mulligatawney, von dem ich vor dem Essen erzählt habe, ein verteufelt tüchtiger Kerl, dieser Mulligatawney, er ist jetzt Beamter in Budgebudge und wird in fünf Jahren sicherlich im Gouvernementsrat sein. Kurz und gut, die Artillerie gab einen Ball, und Quintin vom Königlichen Vierzehnten Regiment sagte zu mir: ›Sedley‹, sagte er, ›ich wette dreizehn gegen zehn, daß Sophie Cutler entweder Sie oder Mulligatawney noch vor der Regenzeit geangelt hat.‹ – ›Es gilt‹, sage ich; und meiner Treu – dieser Rotwein ist sehr gut. Von Adamson oder Carbonell?«

Ein leises Schnarchen war die einzige Antwort: der ehrliche Börsenmakler war eingeschlafen, und so konnte Joseph [39] den Rest seiner Geschichte für heute nicht mehr an den Mann bringen. Aber er ist in der Gesellschaft von Männern stets sehr mitteilsam und hat diese köstliche Geschichte viele Dutzend Male seinem Arzt, Doktor Gollop, erzählt, wenn dieser kam, um sich nach der Leber und den Quecksilberpillen zu erkundigen.

Da Joseph Sedley sehr krank war, begnügte er sich mit einer Flasche Rotwein, abgesehen von seinem Madeira beim Mittagessen. Außerdem führte er sich einige Teller voll Erdbeeren mit Sahne sowie vierundzwanzig Biskuitküchlein, die unbeachtet neben ihm auf einem Teller lagen, zu Gemüte, und in Gedanken (Romanschreiber haben das Vorrecht, alles zu wissen) beschäftigte er sich viel mit dem Mädchen droben. Ein nettes, lustiges, heiteres, junges Geschöpf, dachte er bei sich. Wie sie mich anblickte, als ich bei Tisch ihr Taschentuch aufhob! Sie ließ es zweimal fallen. Wer singt wohl im Salon? Soll ich hinaufgehen und nachsehen?

Aber seine Schüchternheit überfiel ihn mit unbezwingbarer Gewalt. Sein Vater schlief, sein Hut lag in der Vorhalle, und ganz in der Nähe, auf der Southampton Row, war ein Droschkenstand. »Ich werde in die ›Vierzig Räuber‹ gehen«, sagte er, »Miss Decamp tanzt«; und mit diesen Worten schlich er sich auf Zehenspitzen davon und verschwand, ohne seinen würdigen Vater zu wecken.

»Da geht Joseph«, sagte Amelia, die aus dem offenen Salonfenster sah, während Rebekka Klavier spielte und sang.

»Miss Sharp hat ihn verscheucht«, bemerkte Mrs. Sedley. »Armer Joe, warum ist er aber auch so schüchtern?«

Fußnoten

1 (engl.) leichter zweirädriger Einspänner mit nur einem Sitz.

2 türkisches Reisgericht.

3 Stadtteil von London; bekannt durch seinen Fischmarkt.

4 komische Oper des französischen Komponisten André-Ernest-Modeste Grétry (1741-1813).

5 Englische Ostindische Kompanie, 1600 gegründete Handelsgesellschaft mit besonderen Monopol- und Territorialrechten, die mit Indien Handel trieb.

6 Londoner Klub für Angehörige der Oberschicht, die in Indien gewesen waren.

7 George Bryan Brummel, genannt Beau (franz. Stutzer) Brummel (1778-1840), Freund des Prinzen von Wales (s. Anm. der Prinz zu S. 172 des 2. Bandes), führender Modeheld Englands.

8 eine Hexe und ihr mißgestalter Sohn aus Shakespeares Komödie »Der Sturm« (I. 2).

9 indisches Gericht aus Reis, Fleisch und vielen scharfen Gewürzen.

10 Pfefferschote.

[40] 4. Kapitel
Die grünseidene Börse

Die Panik des armen Joe dauerte zwei bis drei Tage; während dieser Zeit ließ er sich nicht zu Hause blicken; aber auch Miss Rebekka erwähnte seinen Namen nicht. Sie war voll ehrerbietiger Dankbarkeit Mrs. Sedley gegenüber, war über alle Maßen entzückt von den Basaren und fiel von einer Bewunderung in die andere im Theater, wohin die gutmütige Dame sie mitgenommen hatte. Eines Tages hatte Amelia Kopfschmerzen und konnte nicht an einer Landpartie teilnehmen, zu der die beiden jungen Mädchen eingeladen waren. Nichts konnte ihre Freundin bewegen, allein zu gehen. »Wie? Ich sollte dich allein lassen, wo du es doch warst, die der armen Waise zum erstenmal im Leben zeigte, was Glück und Liebe ist? Nimmermehr!« Die grünen Augen blickten zum Himmel auf und füllten sich mit Tränen; und Mrs. Sedley mußte zugeben, daß die Freundin ihrer Tochter ein bezaubernd gutes Herz besaß.

Was Mr. Sedleys Späße betrifft, so lachte Rebekka darüber mit einer Herzlichkeit und einer Ausdauer, die den gutmütigen Herrn nicht wenig ergötzte und erweichte. Aber nicht allein die Herrschaft gewann Miss Sharp für sich. Sie erweckte auch die Sympathien von Mrs. Blenkinsop, als sie das lebhafteste Interesse für das Einmachen von Himbeermarmelade, was im Zimmer der Haushälterin vor sich ging, an den Tag legte; sie blieb dabei, Sambo »Sir« oder »Mr. Sambo« zu nennen, zum großen Entzücken des Dieners; auch entschuldigte sie sich bei dem Zimmermädchen so liebenswürdig und bescheiden wegen der Mühe, die sie ihr verursache, wenn sie wagte, nach ihr zu läuten, daß die Gesindestube von ihr fast ebenso bezaubert war wie der Salon.

Eines Tages, als sie einige Zeichnungen ansah, die Amelia von der Schule nach Hause geschickt hatte, stieß Rebekka plötzlich auf eine, die ihr einen Tränenstrom entlockte, und [41] sie lief aus dem Zimmer. Es war an dem Tage, an dem Joe Sedley sich zum zweiten Male zeigte.

Amelia eilte ihrer Freundin nach, um die Ursache dieses plötzlichen Gefühlsausbruches zu erfahren, und das gutmütige Mädchen kam, ebenfalls ziemlich ergriffen, ohne ihre Gefährtin zurück.

»Du weißt, Mama, ihr Vater war unser Zeichenlehrer in Chiswick, und er machte das meiste an unseren Zeichnungen.«

»Meine Liebe! Miss Pinkerton sagte doch aber stets, daß er sie nicht anrührte, sondern bloß arrangierte!«

»Man nannte es arrangieren, Mama. Rebekka erinnert sich wohl noch an die Zeichnung und daß ihr Vater daran gearbeitet hat; und der Gedanke überkam sie ziemlich plötzlich, deshalb, weißt du, konnte sie ...«

»Das arme Kind ist ganz Herz«, meinte Mrs. Sedley.

»Ich wollte, sie könnte noch eine Woche bei uns bleiben«, sagte Amelia.

»Sie sieht Miss Cutler, mit der ich oft in Dumdum zusammen war, verteufelt ähnlich; nur ist sie blonder. Sie ist jetzt mit Lance, dem Stabsarzt bei der Artillerie, verheiratet. Weißt du, Mama, daß einst Quintin vom Vierzehnten Regiment mit mir wettete ...«

»Oh, Joseph, wir kennen diese Geschichte bereits«, sagte Amelia lachend. »Du brauchst sie uns nicht wieder aufzutischen; aber überrede Mama, daß sie an Sir Dingsbums Crawley schreibt.«

»Hatte er nicht einen Sohn bei der Königlichen Leichten Kavallerie in Indien?«

»Ja, willst du an ihn schreiben und ihn um Erlaubnis bitten, daß die arme, liebe Rebekka noch hierbleiben kann? Aber hier kommt sie ja mit rotgeweinten Augen.«

»Es ist mir schon besser«, sagte das Mädchen mit dem süßesten Lächeln, das ihr zu Gebote stand, ergriff die ausgestreckte Hand der gutmütigen Mrs. Sedley und küßte sie [42] respektvoll. »Wie freundlich sind doch alle zu mir! Alle«, setzte sie lachend hinzu, »außer Ihnen, Mr. Joseph.«

»Ich!« sagte Joseph, der eine sofortige Flucht plante. »Grundgütiger Himmel! Lieber Gott! Miss Sharp!«

»Ja; wie konnten Sie nur so grausam sein, mich am ersten Tage unserer Bekanntschaft dieses abscheuliche Pfeffergericht essen zu lassen? Sie sind nicht so nett zu mir wie die liebe Amelia.«

»Er kennt dich nicht so gut«, rief Amelia.

»Ich glaube nicht, daß jemand häßlich zu Ihnen sein könnte, meine Liebe«, bemerkte ihre Mutter.

»Der Curry war köstlich, ja, wirklich«, meinte Joe würdevoll. »Vielleicht war nicht genug Zitronensaft darin; ja, das war es.«

»Und die Chilis?«

»Beim Zeus, wie Sie dabei geschrien haben!« sagte Joe, von der Komik der Situation gepackt, und bekam einen Lachanfall, der wie gewöhnlich plötzlich wieder abbrach.

»Ein anderes Mal werde ich mich hüten, Sie für mich wählen zu lassen«, sagte Rebekka, als sie wieder zum Mittagessen hinabgingen. »Ich glaubte nicht, daß es Männer gäbe, die ihre Freude daran fänden, arme arglose Mädchen zu quälen.«

»Bei Gott, Miss Rebekka, um nichts in der Welt möchte ich Sie quälen.«

»Ja«, sagte sie, »ich weiß, daß Sie das nicht möchten.« Und dann drückte sie mit ihrer kleinen Hand die seine sehr zart und zog sie ganz erschrocken wieder zurück und sah ihm erst einen Augenblick ins Gesicht und dann auf die Treppenläuferstangen; und ich vermag nicht zu sagen, ob Josephs Herz nicht höher schlug, als das einfache Mädchen ihm so unwillkürlich ein schüchternes, zartes Zeichen ihrer Aufmerksamkeit gab.

Es war ein Annäherungsversuch, und daher werden vielleicht einige vornehme Damen von unbestrittener Sittenstrenge [43] die Handlung als unanständig verdammen; aber wie man sieht, mußte die arme Rebekka alle diese Mühe selbst auf sich nehmen. Wenn jemand zu arm ist, sich einen Dienstboten zu halten, so muß er, sei er auch noch so vornehm, seine Zimmer selbst kehren; hat ein liebes Mädchen keine liebe Mama, um die Sache mit dem jungen Mann ins reine zu bringen, so bleibt ihr nichts übrig, als es selbst zu tun. Ach, wie gut ist es, daß solche Frauen ihre Macht nicht öfter ausüben; wir können ihnen nicht widerstehen, wenn sie es tun. Schon bei der geringsten Absicht, die sie zeigen, sinken die Männer augenblicklich auf die Knie, ob alt oder häßlich, ist völlig gleichgültig. Und das ist die reine Wahrheit: Eine Frau kann bei günstiger Gelegenheit, wenn sie nicht gerade einen Buckel hat, heiraten, wen sie will. Seien wir dankbar, daß die lieben Geschöpfe wie die Tiere des Feldes sind und sich ihrer Macht nie bewußt werden. Wenn sie das täten, so würden sie uns völlig unterwerfen.

O Gott! dachte Joseph, als er das Speisezimmer betrat, ich bekomme genau dieselben Gefühle wie bei Miss Cutler in Dumdum.

Viele nette kleine Fragen über die Speisen richtete Miss Sharp bei Tisch halb zärtlich, halb schelmisch an ihn, denn nun stand sie schon auf ziemlich vertrautem Fuß mit der Familie, und die beiden Mädchen liebten sich wie Schwestern. Das tun junge, unverheiratete Mädchen immer, wenn sie zehn Tage in einem Hause gelebt haben.

Als ob Amelia Rebekkas Pläne in jeder Weise fördern wollte, mußte sie ihren Bruder an ein während der letzten Osterferien gegebenes Versprechen erinnern – »als ich noch ein Schulmädchen war«, meinte sie lachend – ein Versprechen, daß er, Joseph, sie mit nach Vauxhall 1 nehmen würde.

»Jetzt, wo Rebekka bei uns ist, wäre es gerade die beste Gelegenheit.«

»Oh, herrlich!« rief Rebekka und war im Begriff, vor Freude in die Hände zu klatschen; aber sie besann sich und [44] hielt inne, wie es einem bescheidenen Geschöpf, das sie war, geziemte.

»Heute abend wird nichts daraus«, sagte Joe.

»Na, dann morgen.«

»Morgen bin ich mit eurem Vater zum Essen eingeladen«, sagte Mrs. Sedley.

»Du glaubst doch nicht etwa, daß ich gehe, Mrs. Sed?« fragte ihr Mann. »Und daß eine Frau in deinem Alter und mit deiner Figur sich an so einem abscheulich feuchten Orte eine Erkältung holen soll?«

»Es muß doch aber jemand die Kinder begleiten!« rief Mrs. Sedley.

»Joe mag mitgehen«, sagte der Vater lachend. »Er ist gewichtig genug dazu.«

Bei diesen Worten mußte selbst Mr. Sambo am Seitentisch lachen, und der arme, dicke Joe verspürte die Neigung, der Mörder seines Vaters zu werden.

»Schnürt ihm das Korsett auf!« fuhr der alte Herr mitleidlos fort. »Spritzen Sie ihm doch Wasser ins Gesicht, Miss Sharp, oder tragen Sie ihn hinauf, das liebe Geschöpf fällt gleich in Ohnmacht. Armes Opferlamm! Tragt ihn hinauf, er ist federleicht!«

»Verdammt, wenn das jemand aushält!« brüllte Joseph.

»Laß Mr. Joes Elefanten kommen, Sambo!« rief der Vater. »Schick zum Zoo, Sambo.« Als aber der alte Witzbold sah, daß Joe vor lauter Ärger fast in Tränen ausbrach, hörte er auf zu lachen, streckte seinem Sohn die Hand entgegen und sagte: »Es herrscht ein offener Ton an der Börse, Joe – und du, Sambo, laß den Elefanten und gib mir und Mr. Joe ein Glas Champagner. Selbst Bony 2 hat nicht solchen im Keller, mein Junge!«

Ein Glas Champagner stellte Josephs Gleichmut wieder her, und noch ehe die Flasche geleert war – er, der Kranke, trank zwei Drittel davon –, hatte er seine Einwilligung gegeben, die jungen Damen nach Vauxhall mitzunehmen.

[45] »Die Mädchen müssen jede einen Herrn haben«, sagte der alte Herr. »Joe verliert Emmy bestimmt im Gedränge, Miss Sharp wird seine Aufmerksamkeit ganz in Anspruch nehmen. Schickt nach Nr. 96 und fragt bei George Osborne an, ob er mitfahren will.«

Ich weiß nicht warum – aber bei diesen Worten sah Mrs. Sedley lachend ihren Mann an, und Mr. Sedleys Augen zwinkerten unbeschreiblich schalkhaft, wobei er Amelia anblickte; und Amelia ließ den Kopf hängen und errötete, wie nur Siebzehnjährige erröten können und wie Miss Rebekka Sharp in ihrem ganzen Leben nie errötet war – wenigstens nicht seit ihrem achten Jahr, als sie von ihrer Patin beim Marmeladenaschen im Speiseschrank ertappt wurde. »Amelia sollte lieber ein paar Worte schreiben«, meinte der Vater, »damit George Osborne sieht, was für eine schöne Handschrift wir aus Miss Pinkertons Schule mitgebracht haben. Erinnerst du dich noch, Emmy, wie du ihn zum Dreikönigsfest zu uns einludest und Fest mit ß schriebst?«

»Ach, das ist viele Jahre her«, wehrte Amelia ab.

»Es ist, als ob es erst gestern gewesen wäre, nicht wahr, John?« wandte sich Mrs. Sedley an ihren Mann, und in jener Nacht führten beide noch ein Gespräch. Es fand in einem Vorderzimmer des ersten Stockwerkes statt, in einer Art Zelt aus Vorhängen von kostbarem Zitz 3 mit phantastischen indischen Mustern, gefüttert mit zartrosa Kaliko 4. Im Innern dieses Prunkzeltes stand ein Bett, auf dem sich zwei Kissen befanden, und auf jedem lag ein rundes, rotes Gesicht, eins umrahmt von einer spitzenbesetzten Nachthaube, eins von einer einfachen baumwollenen Zipfelmütze. In diesem Gespräch, buchstäblich eine Gardinenpredigt, stellte Mrs. Sedley ihren Mann wegen der grausamen Behandlung des armen Joe zur Rede.

»Es war nicht nett von dir, Sedley«, sagte sie, »den armen Jungen so zu quälen.«

»Meine Teure«, verteidigte sich die baumwollene Zipfelmütze, [46] »Joe ist noch ein ganz Teil eitler, als du je in deinem ganzen Leben gewesen bist, und das will schon etwas heißen. Dabei hattest du wahrscheinlich vor etlichen dreißig Jahren, so um siebzehnhundertachtzig, einige Ursache zur Eitelkeit, ich kann's nicht leugnen. Aber Joe mit seiner stutzerhaften Schüchternheit macht mich ungeduldig. Er ist schlimmer als der andere Joseph 5, meine Liebe, und dabei denkt der Junge doch die ganze Zeit nur an sich selbst und was für ein hübscher Bursche er ist. Ich glaube fast, Madame, wir werden mit ihm noch unsere liebe Not haben. Da ist nun Emmys kleine Freundin, die ihn nach Leibeskräften umgirrt, das ist ganz offensichtlich; und wenn sie ihn nicht kapert, dann kapert ihn eine andere. Dieser Mann ist nun einmal dazu bestimmt, den Frauen zur Beute zu fallen, wie ich, täglich zur Börse zu gehen. Wir können noch von Glück sagen, meine Liebe, daß er uns nicht eine schwarze Schwiegertochter mitgebracht hat. Aber denk an meine Worte, die erste Frau, die nach ihm angelt, fängt ihn auch.«

»Morgen noch soll sie fort, dieses geriebene kleine Geschöpf«, stieß Mrs. Sedley energisch hervor.

»Warum nicht sie ebensogut wie eine andere, Mrs. Sedley? Immerhin hat das Mädchen ein weißes Gesicht. Mir ist es gleichgültig, wer ihn heiratet. Joe kann tun und lassen, was er will.«

Bald darauf verstummten beide Stimmen und wurden von der sanften, aber unromantischen Musik der Nase ersetzt. Wenn nicht gerade die Kirchenglocken die Stunden schlugen und der Nachtwächter sie ausrief, war es still im Hause von John Sedley, Esquire und Börsenmann vom Russell Square.

Als der Morgen kam, dachte die gutmütige Mrs. Sedley nicht mehr daran, ihre Drohungen gegen Miss Sharp in die Tat umzusetzen; denn obgleich nichts wachsamer und verbreiteter, aber auch nichts mehr zu rechtfertigen ist als mütterliche Eifersucht, so konnte sie es doch nicht glauben, daß die einfache, dankbare, sanfte kleine Erzieherin es wagen [47] würde, zu einer herrlichen Persönlichkeit wie dem Steuereinnehmer von Boggley Wollah aufzusehen. Auch war das Gesuch um Urlaubsverlängerung für die junge Dame bereits abgesandt, und man konnte nicht leicht einen Vorwand finden, sie so plötzlich wegzuschicken.

Und als ob alles sich zugunsten der freundlichen Rebekka verschworen hätte, kamen ihr sogar die Elemente zu Hilfe, obgleich sie anfangs nicht geneigt war, deren Eingreifen als günstig für sie zu betrachten. Denn am Abend, den man für Vauxhall bestimmt hatte – George Osborne war zum Essen gekommen, und die beiden älteren Herrschaften waren ihrer Einladung gefolgt und speisten bei Alderman 6 Balls in Highbury Barn –, gab es ein solches Gewitter, wie sie nur an Vauxhall-Abenden vorkommen, und so sahen sich die jungen Leute gezwungen, zu Hause zu bleiben. Mr. Osborne schien über diesen Verlauf der Dinge nicht im mindesten enttäuscht zu sein. Er und Joseph Sedley tranken tête-à-tête im Speisezimmer ein gehöriges Quantum Portwein, und dabei erzählte Sedley eine Anzahl seiner besten indischen Geschichten, denn in Männergesellschaft war er sehr gesprächig. Später machte Miss Amelia Sedley die Honneurs im Salon, und die vier jungen Menschen verbrachten den Abend so angenehm miteinander, daß sie erklärten, sie seien ganz zufrieden, daß sie wegen des Gewitters ihren Besuch in Vauxhall hätten aufgeben müssen.

Osborne war Sedleys Patenkind und gehörte seit dreiundzwanzig Jahren so gut wie zur Familie. Als er sechs Wochen alt war, hatte ihm John Sedley einen silbernen Becher geschenkt; im Alter von sechs Monaten eine goldene Klapper mit Pfeifchen und Glöckchen und einer Beißkoralle daran; von seiner Kindheit an bekam er regelmäßig zu Weihnachten von dem alten Herrn ein Geldgeschenk; auch erinnerte er sich noch genau, wie er, George, ein frecher zehnjähriger Bengel, einmal, als er zur Schule zurückkehrte, von Joseph Sedley, dem dicken, großtuerischen Tölpel, tüchtig durchgeprügelt [48] wurde. Mit einem Wort, George war mit der Familie so vertraut, wie es solche täglichen Freundschaftsbeweise und Umgangsformen nur mit sich bringen konnten.

»Weißt du noch, Sedley, wie wütend du warst, als ich die Troddeln von deinen Reitstiefeln abschnitt, und wie Miss – hm! – wie Amelia mir den Genuß einer Prügelsuppe ersparte, indem sie auf die Knie niederfiel und ihren Bruder Joe flehentlich bat, den kleinen George doch nicht zu schlagen?«

Joe erinnerte sich dieser denkwürdigen Begebenheit zwar genau, beteuerte aber, daß er sie vollkommen vergessen habe.

»Nun, weißt du noch, wie du mich vor deiner Abreise nach Indien in einer Gig bei Doktor Swishtail besuchen kamst und wie du mir eine halbe Guinee gabst und mir dabei den Kopf tätscheltest? Es schien mir immer, als seist du mindestens zwei Meter groß, und ich war daher bei deiner Rückkehr aus Indien ganz erstaunt, daß du nicht größer warst, als ich selbst bin.«

»Wie lieb war es von Mr. Sedley, in Ihre Schule zu kommen und Ihnen Geld zu schenken!« rief Rebekka, mit dem Ausdruck des äußersten Entzückens.

»Ja, noch dazu, wo ich doch die Troddeln von seinen Stiefeln abgeschnitten hatte. Knaben vergessen solche Geschenke, die sie während ihrer Schulzeit erhalten, nie und ebensowenig die Geber.«

»Ich liebe Reitstiefel«, sagte Rebekka. Joe Sedley, der seine Beine außerordentlich bewunderte und stets diese dekorative chaussure 7 trug, war über die Bemerkung höchlich erfreut, wenn er auch seine Beine dabei unter den Stuhl zurückzog.

»Miss Sharp«, schlug George Osborne vor, »Sie, als geschickte Künstlerin, müssen uns ein großartiges historisches Gemälde von der Stiefelszene liefern. Sedley muß in ledernen Hosen dargestellt sein, mit einem der beschädigten Stiefel [49] in einer Hand; mit der andern muß er mich an der Hemdkrause halten, und Amelia kniet mit erhobenen Händen neben ihm. Das Gemälde soll einen großartigen allegorischen Namen tragen, wie die Titelblätter in der Medulla und in der Abc-Fibel.«

»Hier werde ich aber keine Zeit dazu haben«, sagte Rebekka. »Ich will es machen, wenn – ich fort bin.« Und sie ließ die Stimme sinken und sah so traurig und elend aus, daß jedermann fühlte, wie grausam ihr Los sei und wie ungern man sich von ihr trennen würde.

»Ach, wenn du doch länger bleiben könntest, liebe Rebekka«, sagte Amelia.

»Warum?« gab die andere, noch trauriger, zurück. »Damit ich noch unglück ... damit es noch schwerer wird, dich zu verlassen?« Sie wandte den Kopf ab. Amelia begann, ihrem natürlichen Hang für Tränen, der, wie gesagt, eine Schwäche dieses einfältigen kleinen Dinges war, nachzugeben. George Osborne blickte die beiden jungen Mädchen gerührt und neugierig an, und Joseph Sedley holte aus seinem mächtigen Brustkasten etwas hervor, was einem Seufzer sehr ähnlich war, und ließ seine Augen auf seinen teuren Reitstiefeln ruhen.

»Wollen wir nicht ein bißchen Musik machen, Miss Sedley – Amelia?« bat George, der in diesem Augenblick eine außerordentliche, fast unwiderstehliche Lust verspürte, das erwähnte junge Mädchen in die Arme zu schließen und vor den Augen der ganzen Gesellschaft zu küssen, und sie sah ihn eine Sekunde lang an, aber wenn ich sagen wollte, daß sie sich in diesem Moment ineinander verliebten, dann wäre das wahrscheinlich nicht die Wahrheit; denn es steht fest, daß die Eltern diese beiden jungen Leute auf dieses Ziel hin erzogen hatten und ihr Aufgebot sozusagen schon seit zehn Jahren in den jeweiligen Familien immer wieder verlesen worden war. Sie begaben sich zum Klavier, das, wie es meist üblich ist, in dem hinteren Teil des Salons stand, und da es [50] ziemlich dunkel war, legte Miss Amelia auf die natürlichste Weise der Welt ihre Hand in die Mr. Osbornes, der selbstverständlich den Weg zwischen den Stühlen und Ottomanen viel besser finden konnte als sie. Das aber ließ Mr. Joseph Sedley tête-à-tête mit Rebekka am Salontisch, wo das Mädchen mit dem Knüpfen einer grünseidenen Börse beschäftigt war.

»Man braucht da nach Familiengeheimnissen nicht erst zu fragen«, meinte Miss Sharp. »Diese beiden haben ihres verraten.«

»Sobald er eine Kompanie bekommt«, sagte Joseph, »glaube ich, wird die Sache in Ordnung kommen. George Osborne ist ein so feiner Bursche wie nur je einer.«

»Und Ihre Schwester ist das netteste Geschöpf der Welt«, fuhr Rebekka fort. »Glücklich der Mann, der sie heimführt!«

Bei diesen Worten seufzte Miss Sharp tief auf.

Wenn zwei Unverheiratete zusammen sind und so delikate Themen wie dieses besprechen, so stellt sich bald ein vertrauter und intimer Ton zwischen ihnen ein. Wir brauchen das Gespräch nicht wiederzugeben, das Mr. Sedley und die junge Dame nun führten; denn die Unterhaltung war, wie schon aus der vorangegangenen Probe ersichtlich, weder besonders witzig noch wortreich; in Privatgesellschaften und auch sonst ist sie das selten, außer in überspannten und ausgeklügelten Romanen. Da nebenan musiziert wurde, so sprachen sie natürlich dementsprechend leise, obwohl das Paar nebenan auch durch eine noch so laute Unterhaltung nicht gestört worden wäre, denn sie waren mit ihren eigenen Angelegenheiten vollauf beschäftigt.

Fast zum ersten Male in seinem Leben, so kam es Mr. Sedley vor, sprach er ohne die mindeste Schüchternheit, und ohne zu stocken, mit einer Person des anderen Geschlechts. Miss Rebekka befragte ihn ausführlich über Indien, was ihm Gelegenheit bot, manche interessante Anekdote über jenes Land [51] und sich zum besten zu geben. Er beschrieb die Bälle im Regierungsgebäude, erzählte, wie man sich bei heißem Wetter mittels Punkahs 8, Tattys 9 und anderen Einrichtungen Erfrischung verschaffe, äußerte sich höchst witzig über die Schotten, die Lord Minto, der Generalgouverneur, begünstigte; und dann berichtete er von einer Tigerjagd, wobei eins dieser wütenden Tiere seinen Elefantentreiber vom Sitz heruntergerissen hatte. Wie entzückt war Miss Rebekka von den Regierungsbällen, wie lachte sie über die Geschichten von den schottischen Adjutanten und nannte Mr. Sedley dabei einen schlimmen, mutwilligen Spötter; und wie erschrocken war sie über die Beschreibung von dem Elefanten! »Um Ihrer Mutter willen, lieber Mr. Sedley«, bat sie, »um all Ihrer Freunde willen, versprechen Sie mir, daß Sie sich nie, nie mehr auf ein so schreckliches Unternehmen einlassen!«

»Pah, Miss Sharp«, sagte er und zog den Hemdkragen hoch, »die Gefahr macht ja den Sport erst aus.« Er hatte erst einmal an einer Tigerjagd teilgenommen, und zwar gerade, als der fragliche Vorfall sich ereignete, und dabei war er beinahe gestorben – nicht durch den Tiger, sondern vor Angst. Als er mit der Unterhaltung fortfuhr, wurde er immer kühner und erdreistete sich tatsächlich, Miss Rebekka zu fragen, für wen sie wohl die grünseidene Börse arbeite? Er war sehr überrascht und entzückt über seine anmutige, vertrauliche Art.

»Für irgend jemand, der eine Börse braucht«, erwiderte Miss Rebekka und blickte ihn äußerst sanft und gewinnend an. Sedley war im Begriff, eine seiner wortreichsten Reden zu halten, und hatte gerade begonnen: »Oh, Miss Sharp, wie ...«, als ein Lied, das nebenan gesungen wurde, endete und er seine eigene Stimme so deutlich vernahm, daß er innehielt, errötete und sich in großer Aufregung schneuzte.

»Haben Sie je so etwas wie Ihres Bruders Beredsamkeit gehört?« flüsterte Mr. Osborne Amelia zu. »Ich muß schon sagen, Ihre Freundin hat Wunder gewirkt.«

»Um so besser«, sagte Miss Amelia, die, wie fast alle unnützen [52] Frauen, im Innersten eine Kupplerin war und die erfreut gewesen wäre, wenn Joseph eine Frau nach Indien mitgenommen hätte. Sie hatte im Laufe dieser wenigen Tage, in denen sie beständig mit Rebekka zusammen war, eine innige Zuneigung zu dem Mädchen gefaßt und hatte an ihr unzählige Tugenden und liebenswürdige Eigenschaften entdeckt, die sie nicht bemerkt hatte, solange sie beide in Chiswick waren. Die Freundschaft junger Mädchen wächst ebenso schnell wie Jacks Zauberbohne 10 und erreicht in einer einzigen Nacht den Himmel. Man kann ihnen nicht übelnehmen, wenn nach der Heirat diese »Sehnsucht nach der Liebe« nachläßt. Was sentimentale Leute, die gerne große Worte machen, die Sehnsucht nach dem Ideal nennen, bedeutet einfach, daß Frauen gewöhnlich nicht zufrieden sind, bis sie Männer und Kinder haben, auf die sie ihre Liebe, die sonst gleichsam in kleiner Münze ausgegeben wird, konzentrieren können.

Nachdem Miss Amelia ihren kleinen Liederschatz erschöpft hatte oder lange genug im hinteren Teil des Salons gewesen war, erschien es ihr angebracht, ihre Freundin zum Singen zu bewegen. »Sie würden mir nicht zugehört haben«, sagte sie zu Mr. Osborne (obwohl sie wußte, daß es eine kleine Lüge war), »wenn Sie vorher Rebekka gehört hätten.«

»Gleichwohl muß ich Miss Sharp im voraus zu verstehen geben«, sagte Osborne, »daß ich, ganz gleich ob zu Recht oder Unrecht, Miss Amelia Sedley als beste Sängerin der Welt betrachte.«

»Sie werden es ja hören«, meinte Amelia, und Joseph Sedley war wirklich so höflich, die Kerzen zum Klavier zu tragen. Osborne gab zu verstehen, es lasse sich ebensogut im Finstern sitzen, allein Miss Sedley lehnte es lachend ab, ihm länger Gesellschaft zu leisten, und die beiden folgten daher Mr. Joseph. Rebekka sang weit besser als ihre Freundin (obgleich natürlich Osborne ruhig bei seiner Ansicht bleiben durfte) und gab sich außerordentliche Mühe, und selbst Amelia, die sie noch nie zuvor so gut hatte singen hören, war verwundert. [53] Sie trug ein französisches Lied vor, von dem Joseph überhaupt nichts verstand und das nicht zu verstehen auch George gestehen mußte; dann folgte eine Anzahl der einfachen Balladen, die vor vierzig Jahren Mode waren und in denen britische Matrosen, unser König, die arme Susanna, die blauäugige Mary und ähnliches mehr eine Rolle spielten. Sie sollen in musikalischer Hinsicht nicht besonders anspruchsvoll sein, allein sie appellieren doch an die guten, schlichten Gefühle, und die Menschen verstanden sie besser als die Donizettische 11 Milch- und Wassermusik mit ihren ewigen lagrime, sospiri, felicità, 12 die man uns heutzutage auftischt.

Empfindsame Gespräche, die zum Thema paßten, wurden zwischen den Liedern geführt, und Sambo, der den Tee gebracht hatte, sowie die entzückte Köchin und sogar Mrs. Blenkinsop, die Haushälterin, erniedrigten sich, auf dem Treppenabsatz zu lauschen.

Eins dieser Lieder, das letzte des Konzerts, lautete:


Ach! Öde war's an jenem Heideorte,
wo pfiff der Wind so kalt und schneidend drein;
der Hütte Dach ward hier zum sichern Horte,
und hell glänzt' auf dem Herd des Feuers Schein.
Da ging vorüber an der kleinen Pforte
ein Waisenknabe, traurig und allein,
und wie er sah das Feuer lustig glühen,
Fühlt' doppelt er im Schnee des Weges Mühen.
Und als er wieder griff zum Wanderstabe,
mit schwachem Herzen und mit müdem Fuß,
da lud man ihn, reicht' freundlich ihm die Gabe,
und sanfte Stimmen boten ihm den Gruß.
Der Tag bricht an – schon weiter ist der Knabe,
noch winkt der Herd zum gastlichen Genuß.
Die Pilger schirme all der Himmel droben!
Horcht, wie die Stürme auf der Heide toben!

[54] Es war eine Variation des vorhin Ausgesprochenen: Wenn ich fort bin. Als Miss Sharp die letzten Worte sang, zitterte ihre dunkle Stimme. Alle fühlten die Anspielung auf ihre Abreise und ihr glückloses Waisendasein. Joseph Sedley, der Musik liebte und ein weiches Herz hatte, war während des Liedes ganz verzückt und tief gerührt über den Schluß.

Hätte er den Mut dazu gehabt, wären George und Miss Sedley, wie der junge Mann es vorgeschlagen hatte, vorn geblieben, so hätte Joseph Sedleys Junggesellenstand hier sein Ende gefunden, und dieses Werk wäre nie geschrieben worden. Aber Rebekka ergriff nach dem Lied Amelias Hand und ging mit ihr vom Klavier weg in den dämmerigen vorderen Salon. In diesem Augenblick erschien Mr. Sambo mit einem Teebrett voller Sandwiches, Gelees und ein paar funkelnden Gläsern und Karaffen, die alsbald Joseph Sedleys ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Als die Oberhäupter des Hauses Sedley von ihrem Diner zurückkehrten, fanden sie die jungen Leute so ins Gespräch vertieft, daß die den Wagen nicht hatten vorfahren hören. Mr. Joseph sagte gerade: »Meine liebe Miss Sharp, ein kleines Teelöffelchen voll Gelee, um Sie nach Ihrer ungeheuren – Ihrer – Ihrer wunderbaren Anstrengung zu erfrischen.«

»Bravo, Joe!« ließ sich Mr. Sedley vernehmen, und kaum hatte Joe diese wohlbekannten, spöttischen Laute gehört, als er auch schon wieder in sein ängstliches Schweigen verfiel und sich davonmachte. Er lag nicht die ganze Nacht wach, um darüber nachzudenken, ob er in Miss Sharp verliebt sei, denn Liebesleidenschaft störte weder seinen Appetit noch Schlaf; aber doch dachte er im stillen, wie herrlich es doch sein müsse, solche Lieder nach dem Dienst zu hören, wie vornehm sich das Mädchen zu geben wisse, wie sie besser Französisch spreche als selbst die Gemahlin des Generalgouverneurs und welches Aufsehen sie auf den Bällen in Kalkutta erregen würde. Offenbar ist das arme Geschöpf in mich verliebt, überlegte er. Sie ist nicht ärmer als die meisten Mädchen, die [55] nach Indien kommen. Bei Gott, ich könnte es bei anderen weit schlechter treffen!

Unter diesen Gedanken schlief er ein.

Daß Miss Sharp wach lag und Betrachtungen darüber anstellte, ob er am folgenden Tage kommen würde oder nicht, braucht hier nicht erwähnt zu wer den. Der Morgen kam und mit ihm, unvermeidlich wie das Schicksal, Mr. Joseph Sedley, noch vor dem zweiten Frühstück. Noch niemals hatte man erlebt, daß er Russell Square eine solche Ehre erwies. George Osborne war aus irgendwelchen Gründen bereits dort und brachte Amelia, die an ihre zwölf Busenfreundinnen in der Chiswick Mall schrieb, völlig aus dem Konzept; und Rebekka war mit ihrer Arbeit vom Vortag beschäftigt. Als Joes Buggy vorfuhr und als der Steuereinnehmer von Boggley Wollah nach seinem üblichen Donnern gegen die Tür und seiner lärmenden Geschäftigkeit in der Vorhalle sich die Treppe hinaufarbeitete und dem Salon zusteuerte, tauschten Osborne und Miss Sedley verständnisinnige Blicke, und das Pärchen blickte schelmisch lächelnd Rebekka an, die tatsächlich errötete, als sie ihre blonden Ringellocken über ihre Filetarbeit neigte. Wie ihr Herz schlug, als Joseph erschien – Joseph, vom Treppensteigen keuchend, in glänzenden, knarrenden Stiefeln – Joseph, in einer neuen Weste, rot vor Hitze und Befangenheit, hinter seinem wattierten Halstuch noch mehr errötend. Für alle war es ein ängstlicher Augenblick, und Amelia war, wie ich glaube, sogar noch ängstlicher als die, die es am meisten betraf.

Sambo, der die Tür aufgerissen und Mr. Joseph gemeldet hatte, folgte dem Steuereinnehmer grinsend mit zwei schönen Blumensträußen. Das Scheusal war wirklich so galant gewesen, sie an jenem Morgen auf dem Covent Garden Market zu kaufen. Sie waren zwar nicht ganz so groß wie die Heuschober, die unsere Damen heutzutage in durchbrochenen Papiermanschetten herumschleppen, aber die jungen Damen waren trotzdem von dem Geschenk entzückt, als Joseph mit [56] einer äußerst feierlichen und schwerfälligen Verbeugung jeder einen Strauß überreicht hatte.

»Bravo, Joe!« rief Osborne.

»Danke schön, lieber Joseph«, rief Amelia, bereit, ihrem Bruder einen Kuß zu geben, wenn er es wünschte. (Und ich glaube, für einen Kuß von einem so netten Geschöpf wie Amelia würde ich unverzüglich alle Gewächshäuser von Mr. Lee leerkaufen.)

»Oh, die himmlischen, himmlischen Blumen!« rief Miss Sharp, roch zärtlich daran, preßte sie an den Busen und schlug ihre Augen in schwärmerischer Bewunderung zur Zimmerdecke auf. Vielleicht warf sie auch erst einen schnellen, prüfenden Blick auf das Bukett, um zu sehen, ob sich nicht etwa ein billet-doux 13 zwischen den Blüten verberge; aber von einem Brief war nichts zu sehen.

»Spricht man in Boggley Wollah auch die Sprache der Blumen, Sedley?« fragte Osborne lachend.

»Quatsch!« erwiderte der empfindsame Jüngling. »Habe sie bei Nathan gekauft; bin froh, daß sie euch gefallen, und dann, meine liebe Amelia, ich habe auch eine Ananas gekauft. Ich habe sie Sambo gegeben, wir können sie zum Frühstück essen, angenehm erfrischend bei so heißem Wetter.« Rebekka sagte, sie habe noch nie Ananas gekostet und sei ganz erpicht darauf, eine zu probieren.

So ging die Unterhaltung weiter. Ich weiß nicht, unter welchem Vorwand Osborne das Zimmer verließ oder warum Amelia sich wenig später entfernte – wahrscheinlich doch, um das Zerteilen der Ananas zu überwachen; Joe blieb jedenfalls mit Rebekka allein zurück, die wieder zu ihrer Arbeit gegriffen hatte, und die grüne Seide sowie die glänzende Nadel zuckten unter ihren weißen, dünnen, flinken Fingern.

»Was für ein schönes, ein schööönes Lied Sie uns gestern abend gesungen haben, liebe Miss Sharp«, sagte der Steuereinnehmer. »Ich hätte beinahe geweint, wirklich, Ehrenwort.«

[57] »Weil Sie ein gutes Herz haben, Mr. Joseph; alle Sedleys haben ein gutes Herz, glaube ich.«

»Es hielt mich die ganze Nacht wach, und heute morgen habe ich versucht, es im Bett zu summen, wirklich, Ehrenwort. Gollop, mein Arzt, kam um elf Uhr zu mir (denn ich bin, wie Sie wissen, äußerst leidend, und Gollop besucht mich täglich), und, bei Gott, da sang ich gerade wie ein – Rotkehlchen.«

»Oh, Sie drolliges Geschöpf! Singen Sie es doch einmal vor!«

»Ich? Nein, Sie, Miss Sharp; Sie müssen es singen, meine liebe Miss Sharp!«

»Nicht jetzt, Mr. Sedley«, seufzte Rebekka. »Ich bin nicht in Stimmung; auch muß ich die Börse fertigmachen. Wollen Sie mir helfen, Mr. Sedley?«

Und ehe er noch wie? fragen konnte, saß Mr. Joseph Sedley, Beamter der Ostindischen Kompanie, tête-à-tête mit einer jungen Dame, warf ihr mörderische Blicke zu und streckte ihr flehend die Arme entgegen, die Hände waren ihm mit einer Lage grüner Seide gefesselt, die sie aufwickelte.


In dieser romantischen Stellung fanden Osborne und Amelia das interessante Paar, als sie hereinkamen und verkündeten, daß das Frühstück bereit sei. Die Seide war gerade fertig aufgewickelt, aber Mr. Joe hatte keine Silbe gesprochen.

»Bestimmt wird er sich heute abend erklären, meine Liebe«, sagte Amelia und drückte Rebekkas Hand; und auch Sedley war mit seinem Herzen zu Rate gegangen und hatte sich gesagt: Bei Gott, in Vauxhall will ich die große Frage stellen.

Fußnoten

1 ehemalige Londoner Gartengaststätte mit Vergnügungsbetrieb.

2 umgangssprachliche Kurzform für Bonaparte.

3 gefärbter Kattun.

4 stark appretierter Baumwollstoff.

5 Joseph, Gestalt aus dem Alten Testament; wurde wegen seiner Zurückhaltung und Keuschheit sprichwörtlich. (Siehe auch Anm. Potiphar zu S. 243.)

6 (engl.) Ratsherr.

7 (franz.) Schuhwerk.

8 großer, an der Decke hängender Fächer, der mit Hilfe eines Seiles bewegt wird.

9 angefeuchtete Bambusmatte, die zum Zwecke der Kühlung vor Fenster und Türen gehängt wird.

10 In dem alten Volksmärchen »Jack und die Zauberbohne« wächst eine Bohne bis über die Wolken in ein unbekanntes Land.

11 Gaëtano Donizetti (1797-1848), italienischer Opernkomponist.

12 (ital.) Klagen, Seufzer, Glückseligkeit.

13 (franz.) Liebesbrief.

[58] 5. Kapitel
Unser Dobbin

Cuffs Kampf mit Dobbin und der unerwartete Ausgang dieser Schlägerei werden allen Zöglingen aus Doktor Swishtails berühmter Schule noch lange im Gedächtnis haften. Dobbin (den die Knaben auch Dös-Dobbin, Hottehü-Dobbin nannten und mit vielen verächtlichen Spitznamen bedachten) war der ruhigste, schwerfälligste und, wie es schien, dümmste von allen jungen Herren bei Doktor Swishtail. Sein Vater hatte einen Kramladen in London, und man munkelte, er sei in Doktor Swishtails Schule nur unter der Bedingung »gegenseitiger Verbindlichkeit« aufgenommen worden, das heißt, sein Vater bezahle für Lebensunterhalt und Ausbildung mit Waren anstatt bar, und der junge Dobbin stand nun – einer der Letzten der Schule – in schäbigen Kordhosen und einer Jacke, deren Nähte seine groben Knochen sprengten, als Verkörperung von soundso vielen Pfund Tee, Kerzen, Zucker, billiger Seife und Rosinen (wovon nur eine sehr geringe Menge für den Schulpudding geliefert wurde) und anderer Waren. Es war ein fürchterlicher Tag für den jungen Dobbin, als einer der Zöglinge, von einem Jagdzug durch die Stadt auf Zuckerwerk und Würstchen zurückgekehrt, erspähte, wie vor des Doktors Tür ein Frachtkarren von Dobbin und Rudge, Spezerei- und Delikatessenhandlung, London, Thames Street, voller Waren, mit denen die Firma handelte, entladen wurde.

Von da an hatte der junge Dobbin keine ruhige Minute mehr. Fürchterliche und grausame Neckereien wurden mit ihm getrieben. »He, Dobbin«, verkündete einer der Witzbolde, »da stehen gute Nachrichten in der Zeitung; Zucker wird teurer, mein Junge.« Ein anderer stellte ihm eine Rechenaufgabe: »Wenn ein Pfund Kerzen siebeneinhalb Pence kostet, wieviel kostet dann Dobbin?« Und jedesmal folgte ein schallendes Gelächter der jungen Schurken, in das der [59] Hilfslehrer und alle anderen einstimmten, die den Einzelhandel richtig als schandbare, nichtswürdige Tätigkeit verdammten und meinten, er verdiene Spott und Verachtung eines jeden wahren Gentleman.

»Dein Vater ist doch auch nichts anderes als ein Kaufmann, Osborne«, sagte Dobbin unter vier Augen zu dem kleinen Knaben, der den Sturm gegen ihn heraufbeschworen hatte. Dieser antwortete darauf nur hochmütig: »Mein Vater ist ein Gentleman und hält eine Equipage.« Mr. William Dobbin aber zog sich in einen Schuppen im Hintergrund des Spielplatzes zurück, wo er den freien Nachmittag in bitterster Trauer und Wehmut verbrachte. Wer unter uns erinnert sich nicht ähnlicher Stunden bitteren, ach, so bitteren Kinderkummers? Wer empfindet eine Ungerechtigkeit so tief, wen kränkt Geringschätzung so sehr, wer hätte ein so feines Gefühl für Recht und Unrecht, wer ist so dankbar für jede Freundlichkeit wie ein edelmütiger Knabe? Und ach, wie viele solcher sanften Gemüter erniedrigt, beleidigt und quält ihr wegen ein paar arithmetischer Formeln und einiger Brocken Küchenlatein!

William Dobbin jedenfalls war stets unter den allerletzten Schülern Doktor Swishtails zu finden, da er sich außerstande sah, auch nur die Anfangsgründe der obigen Sprache, wie sie in der wunderbaren »Etoner Lateinischen Grammatik« aufgeführt sind, zu erlernen. Er wurde ständig von kleinen rotwangigen Bürschchen, die noch Lätzchen trugen, gehänselt, wenn er mit der untersten Klasse aufmarschierte, ein Riese unter den Kleinen, niedergeschlagenen, erschrockenen Blickes, in seinen engen Kordhosen, die Fibel mit unzähligen Eselsohren unter dem Arm. Alle, vom ersten bis zum letzten, machten sich über ihn lustig. Sie nähten ihm seine sowieso schon zu engen Kordhosen zu. Sie schnitten ihm die Bettgurte entzwei. Sie kippten Eimer und Bänke um, damit er sich daran die Schienbeine breche, was er auch jedesmal fast tat. Sie schickten ihm Pakete, aus denen er Kerzen und Seife vom [60] väterlichen Laden auspackte. Es gab kein Bürschchen in der Schule, das nicht mit Dobbin seinen Spott und Spaß getrieben hätte; und der Ärmste ertrug alles mit Geduld, sagte keinen Ton und war unaussprechlich unglücklich.

Cuff dagegen war der große Held und feine Pinkel der Swishtailschen Schule. Er schmuggelte Wein ein und schlug sich mit den Stadtjungen herum. Jeden Sonnabend ritt er auf einem Pony heim, das extra für ihn kam. In seinem Zimmer hatte er Stulpenstiefel, in denen er während der Ferien auf Jagd ging. Er besaß eine goldene Repetieruhr und schnupfte Tabak wie der Doktor. Er hatte die Oper besucht und kannte die Vorzüge der ersten Schauspieler, wobei er mehr von Kean 1 hielt als von Kemble 2. Er konnte in einer Stunde vierzig lateinische Verse aus dem Ärmel schütteln. Er konnte französisch dichten, und was konnte oder wußte er nicht noch alles! Sogar der Doktor selbst fürchte sich vor ihm, hieß es.

Cuff, unbestrittener König der Schule, herrschte über seine Untertanen und drangsalierte sie in großartiger Überlegenheit. Dieser wichste seine Schuhe, jener röstete ihm das Brot, andere wieder mußten ganze Sommernachmittage lang beim Kricket Balljunge für ihn spielen. »Feige« war der Junge, den er am meisten verachtete und mit dem er sich kaum je herabließ, persönlich zu verkehren, obwohl er ihn stets beschimpfte und auslachte.

Eines Tages hatten die beiden jungen Herren eine Meinungsverschiedenheit. Feige, der allein im Klassenzimmer war, schwitzte über einem Brief nach Hause, als Cuff eintrat und ihm einen Auftrag gab, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um Törtchen drehte.

»Ich kann nicht«, sagte Dobbin, »ich möchte meinen Brief fertigschreiben.«

»Du kannst nicht?« fragte Mr. Cuff und griff nach dem Schriftstück (in dem viele Wörter ausgestrichen oder falsch geschrieben waren und dessen Abfassung den Schreiber wer [61] weiß wie viele mühsame Gedanken und Tränen gekostet hatte, denn der arme Bursche schrieb an seine Mutter, die ihn liebte, obgleich sie nur eine Krämersfrau war und in einem Hinterzimmer in der Thames Street wohnte). »Du kannst nicht?« fragte Mr. Cuff. »Ich möchte mal wissen, warum nicht. Kannst du nicht morgen an die olle Mutter Feige schreiben?«

»Ich laß sie nicht beschimpfen«, begehrte Dobbin auf und sprang von seiner Bank hoch.

»Nun, wirst du gehen?« krähte der Hahn der Schule.

»Leg den Brief hin«, erwiderte Dobbin; »kein Gentleman liest fremde Briefe.«

»Hm, wirst du nun bald gehen?« fragte der andere.

»Nein, habe ich gesagt. Hör auf, sonst verdresche ich dich«, brüllte Dobbin, sprang auf ein bleiernes Tintenfaß zu und sah so bösartig aus, daß Mr. Cuff innehielt, seine Rockärmel wieder herabstreifte, die Hände in die Hosentaschen steckte und hohnlächelnd davonging. Von da an ließ er sich nie wieder mit dem Krämerjungen ein, obgleich wir ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen, daß er hinter Mr. Dobbins Rücken stets mit Verachtung von ihm sprach.


Einige Zeit nach diesem Vorfall geschah es, daß Mr. Cuff an einem sonnigen Nachmittag in der Nähe des armen William Dobbin auftauchte, der unter einem Baum auf dem Spielplatz lag und, abgesondert von den übrigen Schülern, die ihren verschiedenen Vergnügungen nachgingen, ganz einsam und beinahe glücklich sein Lieblingsbuch »Tausendundeine Nacht« durchbuchstabierte. Würden die Menschen doch bloß Kinder sich selbst überlassen; würden doch die Lehrer nur aufhören, sie einzuschüchtern; würden die Eltern doch bloß davon ablassen, die Gedanken ihrer Kinder zu lenken und ihre Gefühle zu beherrschen – Gefühle und Gedanken, die allen ein Geheimnis sind (denn was wissen wir schon voneinander, von unseren Kindern, unseren Erzeugern, unseren [62] Nachbarn, und wie unendlich viel schöner und heiliger sind doch wahrscheinlich die Gedanken der armen Knaben oder Mädchen, die ihr lenkt, als die der dummen und lasterhaften Person, die sie erziehen soll). Ach, würden nur, wie gesagt, Eltern und Lehrer ihre Kinder ein bißchen mehr sich selbst überlassen – der Schaden wäre unerheblich, wenn auch dabei weniger als in praesenti 3 erreicht würde.

William Dobbin hatte also einmal die Welt vergessen, war mit Sindbad dem Seefahrer im Tale der Diamanten oder bei dem Prinzen Namenlos und der Fee Peribanu in jener prächtigen Höhle, wo der Prinz sie fand und wohin wir wohl alle gern eine kleine Reise machen würden – als das gellende Geschrei eines kleinen Jungen ihn aus seinen angenehmen Träumen schreckte. Er blickte auf und sah Cuff einen weinenden kleinen Knaben bearbeiten.

Es war der Bursche, der die Sache mit dem Krämerkarren verkündet hatte; aber Dobbin war nicht nachtragend, schon gar nicht gegenüber Jüngeren und Kleineren.

»Wie konntest du es wagen, die Flasche zu zerbrechen?« schrie Cuff das Kerlchen an und schwang einen gelben Kricketstab über seinem Kopf.

Der Kleine hatte den Auftrag erhalten, über die Mauer, die den Spielplatz umgab, zu steigen, und zwar an einer besonderen Stelle, wo die Glasscherben entfernt und in den Ziegeln bequeme Löcher angebracht worden waren; er sollte eine Viertelmeile laufen, eine Flasche Rum mit Zitrone auf Kredit kaufen und allen draußen herumlungernden Spähern des Doktors zum Trotz wieder in den Spielplatz zurückklettern; als er diese Heldentat gerade vollbrachte, war er ausgeglitten, die Flasche war zerbrochen und das Getränk ausgelaufen. Er hatte sich die Hose zerrissen und erschien nun wieder vor seinem Auftraggeber – ein zitternder, schuldlos schuldiger armer Wicht.

»Wie konntest du es wagen, die Flasche zu zerbrechen?« schrie Cuff. »Du nichtsnutziger Pfuscher. Du hast das Zeug [63] getrunken und erzählst nun, die Flasche ist zerbrochen. Hand her, Bursche!«

Dumpf schlug der Stab auf die Kinderhand nieder. Ein Stöhnen folgte. Dobbin blickte auf. Die Fee Peribanu war mit dem Prinzen Achmed in die innerste Höhle entflohen; der Vogel Rock hatte Sindbad den Seefahrer weit aus dem Diamantentale in die Wolken entführt – da lag die Wirklichkeit wieder vor dem ehrlichen William: ein großer Junge schlug grundlos auf einen kleinen ein.

»Die andere Hand her, Bursche!« brüllte Cuff seinen kleinen Schulkameraden an, dessen Gesicht ganz schmerzverzerrt war. Dobbin flog am ganzen Körper, als er sich in seinen abgeschabten, engen Kleidern aufrichtete.

»Hier hast du noch was, du verflixter Kerl!« rief Mr. Cuff, und abermals schlug der Stab auf die Hand des Kindes. (Entsetzen Sie sich nicht, meine Damen, jeder Schuljunge hat das getan. Auch Ihre Kinder werden es höchstwahrscheinlich tun und selbst erdulden müssen.) Wiederum sauste der Stab herab, und Dobbin sprang auf.

Seine Beweggründe kenne ich nicht. In der Schule sind Foltermethoden ebenso gestattet wie in Rußland die Knute, und es ist eines Gentleman unwürdig, sich zu widersetzen. Vielleicht empörte sich Dobbins törichtes Herz wider diese Tyrannei; vielleicht kochte in ihm auch noch ein Rachegefühl, und es verlangte ihn, sich mit dem glänzenden und tyrannischen Raufbold zu messen, der in der Schule allen Ruhm, alles Gepränge auf sich konzentrierte, für den allein die Fahnen geschwenkt, die Trommeln gerührt, Ehrenbezeigungen gegeben wurden. Welchen Beweggrund Dobbin auch gehabt haben mag, er sprang jedenfalls auf und schrie: »Halt, Cuff; schlag das Kind nicht länger, oder ich werde ...«

»Oder du wirst was?« fragte Cuff, verwundert über die Unterbrechung. »Los, Hand her, du kleine Bestie.«

»Ich prügle dich, wie du noch nie in deinem Leben geprügelt worden bist«, erwiderte Dobbin auf Cuffs Frage; und der [64] kleine Osborne blickte, luftschnappend und in Tränen aufgelöst, verwundert und ungläubig auf, als er diesen erstaunlichen Kämpen mit einem Male zu seiner Verteidigung auftreten sah; Cuffs Erstaunen war kaum geringer. Man stelle sich unseren seligen Monarchen Georg III. vor, als er die Nachricht vom Aufstand der nordamerikanischen Kolonien hörte 4, man stelle sich den ehernen Goliath vor, als der kleine David vor ihn hintrat und ihn herausforderte – dann hat man die Gefühle vor Augen, die Mr. Reginald Cuff beherrschten, als er zu diesem Duell gefordert wurde.

»Nach der Schule«, antwortete er nach einer Pause selbstverständlich, mit einem Blick, als wolle er sagen: Mach dein Testament und teile in der Zwischenzeit deinen Freunden deine letzten Wünsche mit!

»Wie du willst«, meinte Dobbin. »Du mußt mein Sekundant sein, Osborne.«

»Gut, wenn du meinst«, erwiderte der kleine Osborne; denn bekanntlich hatte sein Vater eine Equipage, und so schämte sich der Kleine ein wenig seines Kämpen.

Ja, als die Stunde des Kampfes nahte, schämte er sich beinahe, »Drauf, Feige!« zu rufen; und während der ersten zwei oder drei Runden dieses berühmten Kampfes stieß nicht ein einziger der Knaben den Schlachtschrei aus, denn am Anfang ließ der versierte Cuff, ein verächtliches Lächeln auf dem Gesicht, leicht und spielerisch, als sei es nichts, die Schläge auf seinen Gegner niederhageln und schickte den unglücklichen Kämpen dreimal hintereinander zu Boden. Jedesmal erhob sich ein lautes Hurragebrüll, und alle stritten sich um die Ehre, dem Sieger ein Knie zu bieten.

Was werde ich erst für eine Tracht kriegen, wenn das vorüber ist, dachte der junge Osborne, während er seinem Mann hochhalf. »Es wäre doch das beste, du würdest aufgeben«, redete er auf Dobbin ein; »er hat mich doch nur ein bißchen verprügelt, Feige, und daran bin ich schon gewöhnt, weißt du.«

[65] Aber Feige, der am ganzen Leibe zitterte und aus dessen Nüstern Wut sprühte, schob seinen kleinen Sekundanten beiseite und trat zum vierten Male an.

Da er keine Ahnung hatte, wie er die gegen ihn gerichteten Schläge parieren könnte, und da Cuff die drei ersten Male angegriffen hatte, ohne seinem Gegner Gelegenheit zum Schlag zu geben, beschloß Feige, nun seinerseits den Kampf mit einem Angriff zu eröffnen; da er Linkshänder war, brachte er nun diese Faust ins Spiel und schlug einige Male mit aller Kraft zu – traf einmal Mr. Cuffs linkes Auge und ein anderes Mal seine schöne römische Nase.

Diesmal ging Cuff, zum großen Erstaunen der Umstehenden, zu Boden. »Gut getroffen, beim Zeus«, lobte der kleine Osborne mit Kennermiene und klopfte seinem Mann auf die Schulter. »Immer schön die Linke brauchen, Feige, mein Junge.«

Feiges Linke tat während des weiteren Kampfes ganze Arbeit. Jedesmal ging Cuff zu Boden. In der sechsten Runde schrien fast ebenso viele »auf ihn, Feige« wie »auf ihn, Cuff«. In der zwölften Runde war Cuff ganz angeschlagen, wie man so sagt, und hatte alle Geistesgegenwart verloren und weder Kraft zum Angriff noch zur Verteidigung. Feige dagegen war so ruhig wie ein Quäker. Sein bleiches Gesicht, seine glänzenden, aufgerissenen Augen und eine stark blutende Schramme an seiner Unterlippe verliehen dem jungen Burschen ein so wildes und gräßliches Aussehen, daß viele Zuschauer Furcht ergriff. Trotzdem bereitete sich sein unerschrockener Gegner zur dreizehnten Runde vor.

Hätte ich die Feder eines Napier 5 oder könnte so gut schreiben wie »Bells Leben« 6, so würde ich diesen Kampf im einzelnen beschreiben. Es war der letzte Angriff der Garde (das heißt, er wäre es gewesen, hätte Waterloo 7 schon stattgefunden) – es war Neys 8 Kolonne, im Sturm auf den Hügel von La Haye Sainte, von zehntausend Bajonetten starrend und gekrönt mit zwanzig Adlern; es war das Kampfgeschrei [66] der Briten, die den Hügel hinabstürzten und sich dem Feinde entgegenwarfen, um ihn mit den wilden Armen der Schlacht zu umschließen; mit anderen Worten: Als Cuff, zwar mutig, aber ziemlich schwankend und betäubt, herankam, bearbeitete der Feigenhändler, wie bisher, mit seiner Linken tüchtig seines Gegners Nase und schickte ihn endgültig zu Boden.

»Ich denke, er hat nun genug«, meinte Feige, als sein Gegner ebenso glatt auf den Rasen sackte, wie ich die Billardkugeln habe in ihr Loch fallen sehen; und tatsächlich konnte oder wollte Mr. Reginald Cuff, als ausgezählt wurde, nicht aufstehen. Und nun stimmten alle Knaben für Feige ein solches Freudengeschrei an, daß man hätte glauben können, er sei während des ganzen Kampfes ihr Liebling gewesen, und daß selbst Doktor Swishtail aus seinem Studierzimmer trat, um sich nach der Ursache des Lärmes zu erkundigen. Natürlich drohte er Feige mit einem gehörigen Quantum Prügel; aber Cuff, der gerade wieder zu sich gekommen war und seine Wunden wusch, stand auf und sagte: »Ich bin schuld, Sir, nicht Feige – eh, Dobbin. Ich habe einen kleinen Knaben verprügelt, und deshalb ist mir recht geschehen.« Mit dieser großmütigen Rede ersparte er nicht allein seinem Sieger eine Tracht Prügel, sondern gewann auch seinen Einfluß auf die Knaben zurück, den er durch seine Niederlage beinahe eingebüßt hatte.

Der junge Osborne berichtete folgendes über den Vorfall nach Hause:


Zuckerrohrstockhaus, Richmond, März 18..


Liebe Mama!

Ich hoffe, es geht Dir gut. Ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du mir einen Kuchen und fünf Shilling schicken würdest. Hier hat es einen Kampf zwischen Cuff und Dobbin gegeben. Cuff, weißt Du, war der Hahn der Schule. Dreizehn Runden haben sie gekämpft, und Dobbin hat ihn tüchtig [67] verprügelt. Cuff ist deshalb jetzt nur noch zweiter Hahn. Der Kampf war wegen mir. Cuff hat mich verdroschen, weil ich eine Flasche Milch zerbrochen habe, und Feige war dagegen. Wir nennen ihn Feige, weil sein Vater Krämer ist – Feige und Rudge, Thames Street, in der Innenstadt. Weil er für mich gekämpft hat, glaube ich, wäre es gut, wenn Du Deinen Tee und Zucker bei seinem Vater kaufen würdest. Cuff geht jeden Sonnabend nach Hause, diesmal kann er aber nicht, weil er 2 blaue Augen hat. Er hat ein weißes Pony, das holt ihn ab, und einen Reitknecht in Livree auf einem Braunen. Ich wünschte, Papa würde mir auch ein Pony schenken, und ich bin

Dein gehorsamer Sohn

George Sedley Osborne.


PS: Grüß bitte die kleine Emmy von mir; ich schneide ihr gerade eine Kutsche aus Pappe aus.


Nach Dobbins Sieg stieg seine Würde ungeheuer in den Augen all seiner Schulkameraden, und der Name Feige – bisher ein Schimpfwort – wurde zu einem ebenso ehrenvollen und populären Beinamen wie alle anderen in der Schule. »Schließlich kann er doch nichts dafür, daß sein Vater ein Krämer ist«, sagte George Osborne, der sich trotz seiner Kleinheit unter den Swishtailschen Jungen großer Beliebtheit erfreute; und seine Ansicht fand überall Beifall. Man bezeichnete es als gemein, über Dobbins Geburt zu spotten. »Alte Feige« wurde zum Kosenamen, und der niederträchtige Hilfslehrer verhöhnte ihn nicht länger.

Dobbins Mut wuchs mit den veränderten Verhältnissen. Er machte erstaunliche Fortschritte im Lernen. Der herrliche Cuff selbst, über dessen Herablassung Dobbin sich nur errötend wundern konnte, half ihm bei seinen lateinischen Versen, »büffelte« mit ihm in den Freistunden, brachte ihn im Triumph aus der untersten Klasse in die mittlere und verhalf ihm auch da zu einem ordentlichen Platz. Man entdeckte, [68] daß er zwar schwach in den alten Sprachen war, in der Mathematik jedoch ungewöhnlich schnell auffaßte. Zu aller Zufriedenheit wurde er bei der nächsten öffentlichen Sommerprüfung der Drittbeste in Algebra und erhielt einen Preis, ein französisches Buch. Der geneigte Leser hätte das Gesicht seiner Mutter sehen sollen, als ihm der Doktor vor versammelter Schule, vor den Eltern und vielen anderen den »Télémaque« 9, jenen köstlichen Roman, mit der Widmung »für Gulielmo Dobbin« überreichte. Alle Knaben klatschten Beifall zum Zeichen ihrer Sympathie. Wer beschreibt sein Erröten, sein Stolpern, seine Verlegenheit oder zählt die Füße, auf die er trat, als er zu seinem Platz zurückging? Der alte Dobbin, sein Vater, der jetzt zum ersten Male Achtung vor ihm empfand, gab ihm vor aller Augen zwei Guineen, wovon das meiste für einen allgemeinen Schulschmaus verbraucht wurde; nach den Ferien kam er in einem Frack zur Schule zurück.

Dobbin war ein viel zu bescheidener junger Bursche, um anzunehmen, daß er diese glückliche Wendung seiner Verhältnisse seinem eigenen, mutigen und mannhaften Einsatz verdanke: infolge einer gewissen Halsstarrigkeit zog er vor, sein Glück einzig und allein der Vermittlung und Güte des kleinen George Osborne zuzuschreiben, dem er daher auch von nun an seine Liebe schenkte, eine Liebe, wie nur Kinder sie fühlen – eine Liebe, wie sie der ungeschlachte Orson in dem bezaubernden Märchenbuch für seinen Besieger, den herrlichen jungen Valentine 10, empfand.

Er warf sich dem kleinen Osborne zu Füßen und liebte ihn. Schon vor ihrer Bekanntschaft hatte er Osborne insgeheim bewundert. Jetzt war er sein Diener, sein Hund, sein Freitag 11. Er hielt Osborne für einen Ausbund von Vollkommenheit, für ihn war er der schönste, tapferste, fleißigste, gescheiteste, großherzigste Knabe der Welt. Er teilte sein Geld mit ihm, kaufte ihm unzählige Geschenke: Messer, Federtaschen, vergoldete Siegel, Süßigkeiten, kleine Singvögel [69] und romantische Bücher mit großen bunten Abbildungen von Rittern und Räubern, in denen man oft die Widmung »Für George Sedley Osborne, Esquire, von seinem lieben Freund William Dobbin« lesen konnte. Diese Huldigungsbeweise nahm George gnädig entgegen, da sie seinen hohen Verdiensten zukamen.


So geschah es denn, daß Leutnant Osborne, als er am Tage des Vauxhall-Ausfluges am Russell Square ankam, zu den Damen sagte:

»Mrs. Sedley, hoffentlich haben Sie noch Platz; ich habe Freund Dobbin eingeladen, hier mit uns zu essen und uns nach Vauxhall zu begleiten. Er ist fast so schüchtern wie Joe.«

»Schüchtern! Pah!« rief der beleibte Herr und warf einen Siegerblick auf Miss Sharp.

»Das stimmt, aber du bist unvergleichlich anmutiger, Sedley«, fügte Osborne lachend hinzu. »Ich traf ihn im Bedfordklub, als ich dich dort suchte, und ich sagte ihm, Miss Amelia sei heimgekommen und wir hätten alle vor, heute abend auszugehen, und Mrs. Sedley sei ihm nicht länger böse, daß er auf der Kindergesellschaft die Punschbowle zerbrochen habe. Können Sie sich noch an die Katastrophe vor sieben Jahren erinnern, Madame?«

»Über das rote Seidenkleid von Mrs. Flamingo«, sagte die gutmütige Mrs. Sedley, »was er doch für ein Tolpatsch war, und seine Schwestern sind auch nicht viel anmutiger. Lady Dobbin war gestern abend mit dreien davon in Highbury. Figuren haben die, Kinder, nein!«

»Der Alderman ist sehr reich, nicht wahr?« fragte Osborne verschmitzt. »Meinen Sie nicht auch, daß eine von den Töchtern für mich eine gute Partie wäre, Madame?«

»Sie Dummkopf! Wer würde Sie schon nehmen mit Ihrem gelben Gesicht? Das möchte ich gern wissen.«

»Ich und ein gelbes Gesicht? Warten Sie, bis Sie Dobbin [70] gesehen haben. Der hat dreimal das gelbe Fieber gehabt, zweimal in Nassau und einmal auf Saint Kitts.«

»Lassen Sie nur, Ihres ist gelb genug für uns, nicht wahr, Emmy?« meinte Mrs. Sedley, worauf Miss Amelia nur mit einem Lächeln und einem sanften Erröten antwortete. Sie blickte auf Mr. George Osbornes blasses, interessantes Gesicht und den schönen, glänzendschwarzen, gekrausten Backenbart, der dem jungen Herrn selbst außerordentlich wohl gefiel, und dachte in ihrem kleinen Herzen, daß es weder in Seiner Majestät Armee noch in der ganzen Welt je ein solches Gesicht oder einen solchen Helden gegeben habe. »Ich kümmere mich nicht um Hauptmann Dobbins Hautfarbe«, sagte sie, »oder um seine Ungeschicklichkeit. Ich weiß, ich werde ihn stets gern haben.« Der Grund dafür war seine Freundschaft und Ritterlichkeit für ihren George.

»In der ganzen Armee gibt es keinen netteren Menschen und keinen besseren Offizier, obgleich er nun einmal kein Adonis ist«, sagte Osborne. Dabei sah er treuherzig in den Spiegel und erhaschte dort den scharf auf ihn gerichteten Blick von Miss Sharp. Er errötete ein wenig, und Rebekka, dieses schlaue Hexlein, dachte in ihrem Herzen: Ah, mon beau Monsieur! Ich glaube, daß ich dein Kaliber jetzt kenne.

Als an diesem Abend Amelia im weißen Musselinkleid, frisch wie eine Rose, in den Salon getrippelt kam, bereit, in Vauxhall die Herzen zu erobern, und wie eine Lerche sang, trat ein langer ungelenker Herr mit großen Händen und Füßen und großen Ohren, die unter dem kurzgeschnittenen, schwarzen Haar noch mehr auffielen, auf sie zu. Er trug den häßlichen Uniformrock und den Dreispitz jener Zeit und machte ihr die linkischste Verbeugung, die je von einem Sterblichen dargebracht worden war.

Es war kein anderer als Hauptmann William Dobbin von Seiner Majestät ... tem Infanterieregiment, so eben aus Westindien zurückgekehrt, wo ihn das gelbe Fieber gepackt hatte. [71] Dorthin hatte das Geschick sein Regiment beordert, während viele seiner tapferen Kameraden auf der Pyrenäenhalbinsel Ruhm ernteten 12.

Er hatte seine Ankunft mit einem so schüchternen und schwachen Klopfen angezeigt, daß es die Damen oben nicht gehört hatten; sonst wäre Miss Amelia ganz sicher nicht so kühn gewesen, singend ins Zimmer zu kommen. Nun aber drang das süße, frische Stimmchen geradewegs in das Herz des Hauptmanns und nistete sich dort ein. Als sie ihm die Hand zur Begrüßung hinhielt, zögerte er einen Augenblick, bevor er sie mit der seinen umschloß, und dachte bei sich: Ei, ist es möglich, bist du das kleine Mädchen im rosa Kleidchen, das ich doch erst kürzlich gesehen habe – an dem Abend, wo ich die Punschbowle umwarf, gerade nach meiner Ernennung? Bist du das kleine Mädchen, das George Osborne heiraten wird, wie er immer erzählt? Was für ein blühendes, junges Mädchen du bist! Der Schurke hat doch wahrhaftig das Große Los gezogen! All dieses dachte er, ehe er Amelias Hand ergriff und dabei seinen Dreispitz fallen ließ.

Seine Geschichte von der Beendigung der Schule bis zu dem Augenblick, wo wir das Vergnügen haben, ihn wieder zu treffen, habe ich zwar nicht ausführlich erzählt, aber meines Erachtens doch für den scharfsinnigen Leser in dem Gespräch auf der vorhergehenden Seite einigermaßen verständlich angedeutet. Dobbin, der verachtete Krämer, war nun Alderman Dobbin, und Alderman Dobbin war Oberst bei der Londoner Bürgerwehr, die damals darauf brannte, den Einfall der Franzosen zu vereiteln. Der Herrscher und der Herzog von York hatten eine Truppenbesichtigung durchgeführt, an der auch Oberst Dobbins Korps beteiligt gewesen war (in diesem Korps war der alte Osborne nur ein kleiner Korporal). Oberst und Alderman war in den Ritterstand erhoben worden. Sein Sohn war zur Armee gegangen, und bald trat Osborne in dasselbe Regiment ein. Sie hatten [72] in Westindien und Kanada gedient. Ihr Regiment war eben nach England zurückgekehrt, und Dobbin empfand für George Osborne immer noch die gleiche warme und hochherzige Freundschaft wie als Schuljunge.

Nun setzten sich diese trefflichen Leute bald zum Essen nieder. Sie sprachen von Krieg und Ruhm, von Bony und Lord Wellington 13 und der letzten Nummer der »Gazette«. Jede Zeitung in jenen Tagen hatte in ihren Spalten einen Sieg, und die beiden tapferen jungen Männer brannten darauf, ihre eigenen Namen auf der ruhmvollen Liste zu erblicken, und verfluchten ihr mißliches Geschick, zu einem Regiment zu gehören, das bisher noch keine Gelegenheit gehabt hatte, sich auszuzeichnen. Miss Sharp brannte vor Begeisterung bei diesem aufregenden Gespräch, Miss Sedley dagegen zitterte und wurde fast ohnmächtig beim Zuhören. Mr. Joe erzählte einige seiner Tigerjagdgeschichten, beendete die von Miss Cutler und Stabsarzt Lance, bediente Rebekka bei Tisch und aß und trank selbst riesige Mengen.

Er sprang auf, um den Damen mit umwerfender Anmut die Tür zu öffnen, als diese sich zurückzogen, und zum Tisch zurückgekehrt, schenkte er sich einen Becher Rotwein nach dem andern ein und stürzte ihn mit nervöser Hast hinunter.

»Er trinkt sich Mut an«, flüsterte Osborne Dobbin zu, und endlich kamen Stunde und Wagen für Vauxhall.

Fußnoten

1 Edmund Kean (1787-1833), englischer Schauspieler.

2 Charles Kemble (1775-1854), englischer Schauspieler.

3 (lat.) gegenwärtig.

4 Die 13 ehemaligen englischen Kolonien in Nordamerika erklärten 1776 dem viel mächtigeren England ihre Unabhängigkeit. Dies führte zum Unabhängigkeitskrieg (1776-1783), in dem die Kolonien die englische Herrschaft abschüttelten. Der englische König Georg III. (1738 bis 1820) betrachtete anfangs die Unabhängigkeitserklärung als eine nicht einst zu nehmende Drohung.

5 Sir William Francis Patrick Napier (1785-1860), englischer Offizier; wurde bekannt durch sein umfangreiches Werk »History of the War in the Peninsula and in the South of France« (Geschichte des Krieges in Spanien und Südfrankreich).

6 »Bell's Life in London« (Bells Leben in London), Londoner Sportjournal; gegründet von dem Schriftsteller Pierce Egan (1772-1849).

7 Bei Waterloo wurde Napoleon I. am 18. 6. 1815 von den vereinigten Armeen der Engländer und Preußen endgültig geschlagen.

8 Michel Ney, Herzog von Elchingen, Fürst von der Moskwa (1769-1815), französischer Marschall; kommandierte in der Schlacht bei Waterloo einen Teil des französischen Heeres.

9 »Les aventures de Télémaque« (Die Abenteuer des Telemach), Erziehungsroman des französischen Schriftstellers François de Salignac de La Mothe Fénelon (1651-1715).

10 zwei verlassene Brüder in einem alten französischen Märchen. Orson wird von einem Bären weggetragen und wächst wild heran, Valentine wird von einem König gefunden und aufgezogen. Später begegnet Valentine Orson, besiegt ihn und zähmt ihn.

11 Diener Robinsons aus dem Roman »Robinson Crusoe« von Daniel Defoe (1661-1731).

12 Gemeint ist der Krieg in Spanien (1808-1814) gegen Napoleon I. Napoleon hatte durch seinen Feldzug 1807/08 den spanischen König zum Rücktritt gezwungen und seinen Bruder Joseph als König eingesetzt. Spanien verbündete sich daraufhin mit England, und die englische Armee unter Wellington vertrieb Napoleon aus Spanien.

13 Arthur Wellesley, Herzog von Wellington, Fürst von Waterloo (1769-1852), englischer Feldherr und Staatsmann; befehligte die englischen Landtruppen gegen Napoleon.

6. Kapitel
Vauxhall

Ich weiß, daß die Melodie, die ich jetzt blase, äußerst sanft ist (obgleich bald schrecklichere Kapitel folgen werden), und muß daher den gütigen Leser bitten, zu bedenken, daß wir augenblicklich bloß über eine Börsenmaklerfamilie vom Russell Square sprechen, deren Mitglieder spazierengehen, [73] frühstücken, Mittag essen, sich unterhalten und sich verlieben wie andere gewöhnliche Sterbliche auch, und es passiert kein einziges leidenschaftliches und wunderbares Ereignis, das das Wachsen ihrer Liebe bezeichnen könnte. Die Sache steht jetzt, kurz gesagt, so: Osborne, verliebt in Amelia, hat einen alten Freund zum Mittagessen und nach Vauxhall eingeladen; Joe Sedley ist verliebt in Rebekka. Wird er sie heiraten? Das ist die große Frage, die uns nun beschäftigt.

Wir hätten dieses Thema auf vornehme, romantische oder witzige Art behandeln können. Angenommen, wir hätten die Szene nach dem Grosvenor Square 1 verlegt, ohne an den Ereignissen selbst etwas zu ändern. Würden uns da nicht manche Leute zugehört haben? Angenommen, wir hätten gezeigt, wie Lord Joseph Sedley sich verliebte und der Marquis von Osborne Lady Amelia gewann, mit der vollen Zustimmung des Herzogs, ihres edlen Vaters; oder angenommen, wir hätten, anstatt den vornehmen Adel zu beschreiben, auf die untersten Schichten zurückgreifen und erzählen können, was in Mr. Sedleys Küche geschah: wie der schwarze Sambo sich in die Köchin verliebt habe (was wirklich stimmte) und wie er sich ihretwegen mit dem Kutscher prügelte, wie der Küchenjunge beim Stehlen einer kalten Hammelkeule ertappt wurde und wie Miss Sedleys Kammermädchen sich weigerte, ohne Kerze zu Bett zu gehen. Solche Ereignisse hätten wohl die Lachmuskeln des Lesers in Bewegung gesetzt und würden als Szenen aus dem »Leben« betrachtet werden. Oder angenommen, wir hätten im Gegenteil einen Hang zum Grausigen und machten den Liebhaber des neuen Kammermädchens zum Berufseinbrecher, der mit seiner Bande in das Haus eindringt, den schwarzen Sambo zu Füßen seines Herrn hinschlachtet, Amelia im Nachtkleid entführt und sie erst im dritten Band wieder freiläßt, dann wäre die Geschichte so überaus spannend geworden, daß der Leser die erregenden Kapitel atemlos verschlungen [74] hätte. Man stelle sich zum Beispiel vor, dieses Kapitel hätte folgende Überschrift gehabt:

Der nächtliche Überfall

Die Nacht war dunkel und wild – die Wolken schwarz – schwarz – tintenschwarz. Der brausende Wind riß die Schornsteinkappen von den Dächern der alten Häuser und wirbelte die klappernden Dachziegel durch die einsamen Straßen. Keine Seele wagte diesem Sturm zu trotzen – die Nachtwächter verkrochen sich in ihre Häuschen, wohin ihnen der prasselnde Regen folgte – wo vielleicht krachend der Blitz einschlug und sie traf. Einer war auf diese Weise gegenüber dem Findelhaus erschlagen worden. Ein versengter Mantel, eine zertrümmerte Laterne, ein zerbrochener Stab war alles, was von dem starken Will Standhaft übrigblieb. Ein Droschkenkutscher war in der Southampton Row vom Bock geweht worden – wohin? Aber der Wirbelwind bringt keine Kunde von seinem Opfer, nur den Abschiedsschrei, als er davongetragen wurde! Schreckliche Nacht! Es war dunkel, stockdunkel. Kein Mond. Nein, nein. Kein Mond. Nicht ein Stern. Nicht ein einziger, schwacher, funkelnder, einsamer Stern. Zwar war am zeitigen Abend einer aufgetaucht, aber er zeigte sein Antlitz nur einen Augenblick schaudernd am schwarzen Himmel und zog sich dann wieder zurück.

Eins, zwei, drei! Es ist das Signal, das Schwarze Maske verabredet hat.

»Mofy! Ist das deine Stimme?« fragte jemand vom unteren Hausraume her. »Ich will den Hund zum Schweigen bringen und die Tür augenblicklich aufmachen.«

»Halt dein Maul, und tummle dich!« sagte Vizard mit einem entsetzlichen Fluch. »Hierher, Männer; wenn sie schreien, dann heraus mit euren Messern, und brav damit gearbeitet! Kümmere du dich um das Silberzimmer, Blowser, und du, Mark, um die Kiste, worin der alte Spitzbube seinen [75] Mammon aufbewahrt; und ich«, setzte er mit leiserer, aber unheimlicherer Stimme hinzu, »ich will nach Amelia sehen!«

Hier folgte Totenstille. »Ha«, sagte Vizard, »hat da nicht eben der Hahn einer Pistole geknackt?«


Oder angenommen, wir hätten den vornehmen Rosenwasserstil angewendet.


Der Marquis von Osborne hat soeben seinen petit tigre 2 mit einem billet-doux zu Lady Amelia geschickt.

Das liebe Geschöpf hat es aus den Händen ihrer femme de chambre 3, Mademoiselle Anastasie, empfangen.

Teurer Marquis! Was für eine liebenswürdige Höflichkeit! Das Briefchen Seiner Lordschaft enthält die ersehnte Einladung ins Devonshire-Haus!

»Wer ist das erstaunlich schöne Mädchen dort?« fragte der sémillante 4 Prinz G-rge von Cambridge in einem Palast in Piccadilly noch am gleichen Abend (er war gerade aus der Proszeniumsloge in der Oper gekommen). »Mein lieber Sedley, im Namen aller Cupidos 5, stellen Sie mich ihr vor!«

»Ihr Name, Monseigneur«, sagte Lord Joseph mit feierlicher Verbeugung, »ist Sedley.«

»Vous avez alors un bien beau nom« 6, sagte der junge Prinz, während er sich recht enttäuscht auf dem Absatz herumdrehte. Dabei trat er einem alten Herrn auf den Fuß, der, in tiefe Bewunderung der schönen Lady Amelia versunken, hinter ihm stand.

»Trente mille tonnerres!« 7 schrie das Opfer und krümmte sich in der agonie du moment 8.

»Ich bitte Eure Gnaden tausendmal um Verzeihung«, sagte der junge étourdi 9 errötend und neigte seine blonden Locken tief. Er war dem größten Hauptmann aller Zeiten auf die Zehen getreten!

»Oh, Devonshire!« rief der junge Prinz einem hochgewachsenen, gutmütigen Edelmann zu, dessen Gesichtszüge ihn als [76] einen vom Blut der Cavendish 10 auswiesen. »Nur auf ein Wort! Beabsichtigen Sie noch, sich von Ihrer Diamantkette zu trennen?«

»Ich habe sie für zweihundertundfünfzig Pfund an Fürst Esterhazy hier verkauft.«

»Und das war gar nicht teuer, potztausend«, rief der fürstliche Ungar und so weiter und so fort.


Sehen Sie, meine Damen, so hätte die Erzählung aussehen können, wenn der Verfasser die Absicht gehabt hätte, sie so zu schreiben. Er ist nämlich, um die Wahrheit zu gestehen, ebenso bekannt mit Newgate 11 wie mit den Palästen unserer verehrten Aristokratie und hat beide von außen gesehen. Da ich aber die Sprache und Sitten von Rookery 12 nicht verstehe noch die Konversation in vielen Sprachen, die nach den Modeschriftstellern die Tonangebenden führen sollen, so müssen wir, wenn der Leser gestattet, bescheiden unseren goldenen Mittelweg beibehalten und die Schauplätze und Personen beschreiben, die wir am besten kennen. Mit einem Wort, dieses Kapitel über Vauxhall wäre ohne obige kleine Erörterung so außerordentlich kurz ausgefallen, daß es die Bezeichnung Kapitel kaum verdient hätte. Und doch ist es ein Kapitel, und sogar ein sehr wichtiges. Gibt es nicht in jedermanns Leben kurze, scheinbar bedeutungslose Kapitel, die doch die ganze übrige Geschichte beeinflussen?

Wir wollen also mit der Gesellschaft vom Russell Square in die Kutsche steigen und in die Vauxhall-Gärten fahren. Auf dem Vordersitz zwischen Joe und Miss Sharp ist kaum noch Platz. Mr. Osborne sitzt gegenüber, eingezwängt zwischen Hauptmann Dobbin und Amelia.

Alle Insassen der Kutsche waren sich einig, daß Joe an dem Abend Rebekka Sharp bitten würde, Mrs. Sedley zu werden. Die Eltern daheim hatten sich stillschweigend in die Sache ergeben, obgleich, unter uns gesagt, der alte Mr. Sedley für seinen Sohn so etwas wie Verachtung fühlte. [77] Er nannte ihn eitel, selbstsüchtig, träge und weibisch. Er konnte sein weltmännisches Gehabe nicht ausstehen und lachte herzlich über seine prahlerischen Aufschneidergeschichten. »Der Bursche wird mein halbes Vermögen erben«, sagte er, »daneben wird er selbst eine ganze Menge besitzen, aber ich bin völlig sicher, wenn du und ich und seine Schwester morgen sterben müßten, würde er ›Ach du lieber Gott!‹ sagen und sich seinem Essen ganz wie sonst widmen. Ich werde mir seinetwegen keine grauen Haare wachsen lassen. Meinethalben soll er heiraten, wen er will. Das ist nicht meine Angelegenheit.«

Amelia dagegen war, wie alle jungen Mädchen ihres Geistes und Temperamentes, ganz begeistert für die Verbindung. Ein- oder zweimal hatte Joe angesetzt, ihr etwas sehr Wichtiges zu sagen, und sie hätte ihm herzlich gern ihr Ohr geliehen; aber der fette Bursche konnte sich nicht durchringen, sein großes Geheimnis preiszugeben, und wandte sich nur, zum Verdrusse seiner Schwester, mit einem abgrundtiefen Seufzer ab.

Dieses Geheimnis hielt Amelias sanftes Herz in ständiger Aufregung. Wenn sie auch nicht mit Rebekka über den zarten Gegenstand sprach, so entschädigte sie sich doch durch lange und vertrauliche Unterredungen mit Mrs. Blenkinsop, der Haushälterin, die dem Kammermädchen einige Andeutungen machte, welche es wiederum, wahrscheinlich ganz nebenbei, gegenüber der Köchin erwähnte; diese nun trug zweifelsohne die Neuigkeit in allen Kaufmannsläden herum, so daß Mr. Joes Heirat jetzt von einer beträchtlichen Anzahl Personen aus der Russell-Square-Umgebung besprochen wurde.

Mrs. Sedleys Meinung war natürlich, daß ihr Sohn sich durch die Heirat mit der Tochter eines Künstlers erniedrige. »Aber, mein lieber Gott, Madame«, rief Mrs. Blenkinsop, »wir waren doch auch nichts anderes als Krämer zu der Zeit, als wir Mr. S. heirateten, der kleiner Angestellter [78] bei einem Börsenmakler war, und wir hatten zusammen keine fünfhundert Pfund, und doch sind wir jetzt reich genug.« Amelia teilte ganz und gar diese Ansicht, zu der sich nach und nach auch die gutmütige Mrs. Sedley bekehren ließ.

Mr. Sedley blieb neutral. »Soll Joe doch heiraten, wen er will«, wiederholte er; »das ist nicht meine Angelegenheit. Das Mädchen hat kein Vermögen, aber Mrs. Sedley hatte auch keins. Sie scheint gutmütig und gescheit zu sein, und vielleicht gelingt es ihr, ihn in Ordnung zu halten. Lieber sie, meine Liebe, als eine schwarze Mrs. Sedley und ein Dutzend mahagonibrauner Enkelkinder.«

So schien denn alles zu Rebekkas Glück zu lächeln. Als sei es selbstverständlich, ergriff sie Joes Arm, wenn man zum Essen ging; sie saß neben ihm auf dem Bock seines offenen Wagens (und fürwahr, er war ein gewaltiger Stutzer, wenn er so dasaß und prächtig gekleidet heiter seine Grauschimmel lenkte). Obgleich niemand ein Wort von der Heirat sprach, so schien es doch jedermann eine ausgemachte Sache zu sein. Alles, was sie noch brauchte, war der förmliche Antrag. Ach! Wie sehr vermißte Rebekka jetzt eine Mutter, eine liebe, zärtliche Mutter, die das Geschäft in zehn Minuten abgewickelt und im Laufe eines kleinen, zarten Gespräches unter vier Augen den verschämten Lippen des jungen Mannes das interessante Geständnis entlockt hätte!

So standen die Dinge, als der Wagen über die Westminsterbrücke fuhr.

Die Gesellschaft kam zur festgesetzten Zeit an den Königlichen Gärten an. Als der majestätische Joe aus dem knarrenden Fahrzeug stieg, begrüßte die Menge den dicken Herrn stürmisch, der daraufhin errötete und sehr groß und gewichtig wirkte, als er mit Rebekka am Arm davonschritt. George nahm sich natürlich Amelias an. Sie sah so glücklich aus wie ein Rosenstock im Sonnenschein.

»Dobbin«, sagte George, »sei doch bitte so gut und kümmere dich um die Schals und die anderen Sachen.« So mußte [79] der ehrliche Dobbin sich begnügen, während George und Miss Sedley davongingen und Joe sich mit Rebekka durch das Gartentor zwängte, seinen Arm den Schals zu geben und am Eingang für die ganze Gesellschaft zu bezahlen.

Bescheiden folgte er ihnen; er war kein Spielverderber. Um Rebekka und Joe kümmerte er sich keinen Pfifferling. Amelia dagegen hielt er sogar des brillanten George Osborne für würdig, und während er das hübsche Paar die Wege auf und ab gehen sah und des Mädchens Vergnügen und ihre Bewunderung bemerkte, beobachtete er ihre unschuldige Glückseligkeit mit einer Art väterlicher Freude. Vielleicht fühlte er auch, daß er gern etwas anderes als einen Schal am Arm gehabt hätte (die Leute lachten über den linkischen jungen Offizier mit dieser weiblichen Bürde), aber William Dobbin hatte keinen Hang zu selbstsüchtigen Plänen; und wie sollte er unzufrieden sein, solange sein Freund sich gut unterhielt? Und dabei nahm Hauptmann Dobbin von allen Herrlichkeiten des Gartens keine Notiz; nicht von den hunderttausend Lampen, die ständig brannten; nicht von den Geigern mit Dreispitz, die unter einer vergoldeten Muschel in der Mitte des Gartens hinreißende Melodien spielten; nicht von den Sängern, die mit lustigen und sentimentalen Balladen das Ohr entzückten; nicht von den Volkstänzen, die stramme Londoner und Londonerinnen mit Sprüngen, Stampfen und unter Lachen tanzten; nicht von dem Ausrufer, der verkündete, daß Madame Saqui sogleich auf einem bis zu den Sternen reichenden Schlappseil himmelan steigen würde; nicht von dem Einsiedler, der ständig in der erleuchteten Einsiedelei saß; nicht von den dunklen Wegen, die so geeignet waren für Liebesgeflüster junger Leute; nicht von den Bierkrügen, die schäbige alte Livrierte herumreichten, und nicht von den funkelnden Lauben, wo glückliche Schmauser glauben machten, sie verzehrten fast unsichtbare Schinkenschnitten. Von all diesem und auch von dem sanften Simpson, diesem freundlichen, lächelnden Idioten, [80] der wohl, glaube ich, schon zu jener Zeit an der Spitze des Ganzen stand, nahm Hauptmann William Dobbin, wie gesagt, nicht die mindeste Notiz.

Er trug Amelias weißen Kaschmirschal mit sich herum, und nachdem er unter der vergoldeten Muschel zugehört hatte, wie Mrs. Salmon die »Schlacht von Borodino« sang (eine wilde Kantate gegen den korsischen Emporkömmling, den kürzlich in Rußland sein Schicksal ereilt hatte) 13, versuchte Mr. Dobbin im Weitergehen, die Melodie zu summen, ertappte sich aber dabei, daß er die Melodie summte, die Amelia Sedley auf der Treppe gesungen hatte, als sie zum Essen herunterkam.

Er mußte über sich selber lachen, denn in Wahrheit sang er nicht besser als eine Eule.


Es versteht sich von selbst, daß unsere beiden jungen Paare sich aufs feierlichste versprachen, während des ganzen Abends beisammenzubleiben, und sich zehn Minuten später schon trennten. Gesellschaften trennten sich schon immer in Vauxhall und trafen sich beim Abendessen wieder, wo sie sich die unterdessen erlebten Abenteuer erzählen konnten.

Welche Abenteuer hatten Mr. Osborne und Miss Amelia erlebt? Das ist ein Geheimnis. Der Leser mag aber überzeugt sein, daß sie sich vollkommen glücklich fühlten und ihr Betragen äußerst korrekt war. Da sie seit fünfzehn Jahren fast ständig zusammen gewesen waren, so bot ihr Tête-à-tête nicht viel Neues.

Als aber Miss Rebekka Sharp und ihr korpulenter Gefährte sich in einem einsamen Weg verloren, in dem kaum mehr als acht Dutzend andere Paare wie sie umherschlenderten, fühlten beide, daß die Situation äußerst delikat und kritisch sei, und jetzt oder nie, dachte Miss Sharp, sei der Augenblick für die Erklärung, die auf Mr. Sedleys schüchternen Lippen schwebte. Im Panorama von Moskau, wo sie vorher gewesen waren, war ein roher Bursche Miss Sharp[81] auf den Fuß getreten, so daß sie mit einem kleinen Schrei in Mr. Sedleys Arme zurückgefallen war; und dieser kleine Vorfall steigerte die Zärtlichkeit und das Selbstvertrauen des Herrn so sehr, daß er ihr verschiedene von seinen besten indischen Geschichten mindestens zum sechsten Male erzählte.

»Ach, wie gern möchte ich einmal nach Indien!« seufzte Rebekka.

»Wirklich?« erkundigte sich Joseph mit überwältigender Zärtlichkeit und wollte zweifellos dieser sinnreichen Frage eine noch zärtlichere folgen lassen (denn er schnaufte und keuchte gewaltig, und Rebekka konnte mit der Hand, die sich nicht weit von seinem Herzen befand, die fieberhaften Schläge dieses Organs zählen), als – ach, wie ärgerlich! – die Glocke zum Feuerwerk ertönte und mit einmal ein großes Geschiebe und Gerenne einsetzte, so daß auch unser interessantes Liebespaar gezwungen war, dem Menschenstrom zu folgen.

Hauptmann Dobbin hatte eigentlich die Absicht gehabt, sich beim Abendessen wieder der Gesellschaft anzuschließen, da er die Belustigungen von Vauxhall wirklich nicht besonders reizvoll fand – aber er ging zweimal an der Laube vorbei, wo die jetzt vereinigten Paare beisammensaßen, ohne daß jemand Notiz von ihm nahm. Es war für vier Personen gedeckt. Die beiden Paare plauderten munter, und Dobbin wußte, daß sie ihn so vollständig vergessen hatten, als habe er auf dieser Welt nie existiert.

»Ich würde nur de trop 14 sein«, sagte der Hauptmann und blickte ziemlich sehnsüchtig zu ihnen hin. »Das beste ist wohl, ich gehe und unterhalte mich mit dem Einsiedler«, und so zog er sich aus dem Stimmengesumm, Lärm und Besteckgeklapper zurück in den dunklen Weg, an dessen Ende der berühmte Papp-Einsiedler hauste. Es war nicht besonders kurzweilig für Dobbin, und tatsächlich weiß ich aus eigener Erfahrung, daß das Alleinsein in Vauxhall für einen Junggesellen eines der traurigsten Vergnügen ist.

[82] Die beiden Paare in ihrer Laube unterhielten sich äußerst angeregt und vertraulich und waren vollkommen glücklich. Joe strahlte in seiner ganzen Herrlichkeit und gab den Kellnern majestätisch unaufhörlich Anweisungen. Er machte den Salat an, entkorkte den Champagner, zerlegte das Geflügel und aß und trank den größten Teil der aufgetragenen Erfrischungen. Zum Abschluß mußte er noch einen Arrakpunsch trinken; jedermann in Vauxhall trinkt Arrakpunsch. »Kellner, Arrakpunsch!«

Diese Bowle Arrakpunsch war der Anlaß zu der ganzen Geschichte; und warum soll nicht eine Bowle Arrakpunsch ein ebenso guter Anlaß sein wie jeder andere? War nicht eine Schale mit Blausäure der Grund, weshalb die schöne Rosamunde 15 sich von der Welt zurückzog? War nicht ein Becher Wein die Ursache für das Ableben Alexanders des Großen 16? (Zumindest behauptet es Dr. Lemprière 17.) Nun beeinflußte dieser Arrakpunsch das Schicksal sämtlicher Hauptpersonen in diesem »Roman ohne Helden«, den wir jetzt erzählen. Er wirkte auf ihr ganzes Leben ein, obgleich die meisten von ihnen keinen Tropfen davon kosteten.

Die jungen Damen tranken keinen; Osborne mochte ihn nicht, und folglich trank Joe, der dicke Prasser, den Inhalt der Bowle allein aus; und die Folge davon wiederum war eine anfangs staunenerregende, dann fast peinliche Heiterkeit; denn er sprach und lachte so laut, daß sich Dutzende Neugieriger um die Laube scharten, sehr zum Leidwesen der harmlosen Gesellschaft drinnen, und als Joe schließlich anfing zu singen, und zwar in den rührseligen hohen Tönen Betrunkener, lockte er den Musikanten unter der vergoldeten Muschel fast das gesamte Publikum weg und erntete von seinen Zuhörern ungeheuren Beifall.

»Bravo, bravo, Dicker!« rief einer. »Da capo, Daniel Lambert 18!« schrie ein anderer. »Was für eine Figur: zum Seiltanzen!« brüllte ein dritter Spaßvogel zur unaussprechlichen [83] Verlegenheit der Damen und zum großen Mißvergnügen von Mr. Osborne.

»Um Himmels willen, Joe, laß uns doch lieber gehen«, rief der junge Mann, und die Mädchen erhoben sich.

»Halt, mein Lirum-larum-liebchen«, juchzte Joe, der jetzt kühn wie ein Löwe war und Miss Rebekka umfaßte. Rebekka fuhr zurück, konnte aber ihre Hand nicht befreien. Das Gelächter draußen verdoppelte sich. Joe fuhr fort zu trinken, seine Liebestollheit zu zeigen und zu singen; seinen Zuhörern zuwinkend und gläserschwenkend, forderte er alle auf, hereinzukommen und seinen Punsch mit ihm zu teilen.

Mr. Osborne war gerade im Begriff, einen Herrn in Stulpenstiefeln zu Boden zu schlagen, der von dieser Einladung Gebrauch machen wollte, und ein Tumult schien unausbleiblich zu sein, als zum Glück ein Herr namens Dobbin, der im Garten umhergeschlendert war, auf die Laube zutrat. »Packt euch, ihr Narren!« rief dieser Herr, drängte einen großen Teil der Menge beiseite – vor dem Anblick seines Dreispitzes und seines grimmigen Aussehens verzog sich sowieso bald alles – und betrat höchst aufgeregt die Laube.

»Guter Gott! Dobbin, wo bist du bloß gewesen?« fragte Osborne, riß den weißen Kaschmirschal vom Arm seines Freundes und hüllte Amelia damit ein. – »Mach dich ein bißchen nützlich und kümmere dich um Joe, während ich die Damen zum Wagen bringe.«

Joe wollte aufstehen und sich ins Mittel legen, aber ein einziger Finger von Osborne warf ihn wieder schnaufend auf seinen Sitz zurück, und so konnte denn der Leutnant die Damen in Sicherheit bringen. Joe warf den Weggehenden Kußhände nach und schluchzte: »Gott segne euch, Gott segne euch!« Darauf ergriff er Hauptmann Dobbins Hand und vertraute diesem Herrn jämmerlich weinend das Geheimnis seiner Liebe an. Er bete das Mädchen an, das eben hinausgegangen sei; er wisse wohl, daß er durch sein Benehmen ihr Herz gebrochen; er wolle sie am nächsten Morgen in der Sankt-Georgs-Kirche [84] am Hanover Square heiraten; er wolle den Erzbischof von Canterbury im Lambethpalast herausklopfen; ja, das wolle er, beim Zeus! Damit der gleich bereit sei. Diese Äußerung griff Hauptmann Dobbin geschickt auf und überredete ihn, den Garten schleunigst zu verlassen und zum Lambethpalast 19 zu eilen. Sobald sie aber einmal den Ausgang hinter sich hatten, bugsierte er Mr. Joe Sedley ohne viel Mühe in eine Droschke, die ihn sicher vor seiner Wohnung absetzte.

George Osborne brachte auch die Mädchen wohlbehalten nach Hause. Als aber die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte und er über den Russell Square ging, lachte er zur Verwunderung des Nachtwächters laut los. Amelia sah ihre Freundin kläglich an, als sie die Treppe hinaufstiegen, küßte sie und ging, ohne ein Wort zu sagen, zu Bett.

Morgen muß er mir den Antrag machen, dachte Rebekka. Viermal hat er mich seine Herzallerliebste genannt und mir vor Amelias Augen die Hand gedrückt. Morgen muß er mir den Antrag machen. Das gleiche glaubte auch Amelia, und dabei dachte sie wohl auch an das Kleid, das sie als Brautjungfer tragen würde, und an die Geschenke, die sie ihrer netten kleinen Schwägerin machen könnte, und an eine spätere Feier, bei der sie selbst die Hauptrolle spielen würde, und so weiter und so fort.

Oh, ihr ahnungslosen jungen Geschöpfe! Wie wenig wißt ihr von der Wirkung des Arrakpunsches. Was ist die Freude beim abendlichen Arrakpunsch gegenüber der Pein am folgenden Morgen? Mir, einem Mann, kann man es glauben: Keine Kopfschmerzen der Welt gleichen denen, die der Vauxhall-Punsch verschuldet. Noch nach zwanzig Jahren erinnere ich mich an die Folgen von, auf Ehrenwort, nur zwei Gläsern; und Joseph Sedley, mit seinem Leberleiden, hatte mindestens einen Liter von dem abscheulichen Gebräu hinuntergestürzt.

Der nächste Morgen, der, wie Rebekka dachte, die Morgenröte [85] ihres Glückes bringen sollte, fand Sedley unter Qualen stöhnend, die zu beschreiben die Feder sich sträubt. Das Sodawasser war noch nicht erfunden. Dünnbier – unglaublich! – war das einzige, womit unglückliche Herren das Fieber linderten, das die Zechgelage der vergangenen Nacht bewirkt hatten. Mit diesem milden Getränk vor sich, fand George Osborne den ehemaligen Steuereinnehmer von Boggley Wollah ächzend auf dem Sofa in seiner Wohnung. Dobbin war bereits anwesend, um, gutmütig wie er war, seinen Patienten vom vergangenen Abend zu pflegen. Die beiden Offiziere blickten auf den ausgestreckten Bacchanten, tauschten verstohlene Blicke und grinsten sich verständnisinnig an. Sogar Sedleys Diener, ein äußerst feierlicher und korrekter Mensch, sonst stumm und gravitätisch wie ein Leichenbestatter, konnte nur mit Mühe Haltung bewahren, als er seinen unglücklichen Herrn betrachtete.

»Mr. Sedley war gestern abend außerordentlich ungebärdig, Sir«, flüsterte er Osborne vertraulich zu, als dieser die Treppe heraufkam. »Er wollte mit dem Droschkenkutscher anbinden, Sir. Der Hauptmann mußte ihn wie ein kleines Kind in seinen Armen hinauftragen.« Ein Anflug von Lächeln huschte über Mr. Brushs Züge, während er das erzählte, machte aber sofort wieder der unergründlichen Ruhe Platz, als er die Salontür aufriß und »Mr. Osbern« meldete.

»Wie geht es dir, Sedley?« begann der junge Spaßvogel, als er sein Opfer eine Weile gemustert hatte. »Die Knochen noch alle ganz? Unten ist ein Droschkenkutscher mit einem blauen Auge und verbundenem Kopf, der dir mit dem Gericht droht.«

»Was soll das bedeuten – Gericht?« fragte Sedley matt.

»Weil du ihn vergangene Nacht verdroschen hast – nicht wahr, Dobbin? Du hast ja zugehauen wie Molyneux. Der Nachtwächter sagt, er habe noch nie im Leben einen Mann so schnell zu Boden gehen sehen. Frag Dobbin.«

»Ja, Sie haben tatsächlich eine Runde mit dem Kutscher [86] ausgetragen«, sagte Hauptmann Dobbin, »und sind dabei sehr kampflustig gewesen.«

»Und der Kerl mit dem weißen Rock in Vauxhall! Wie Joe auf ihn losging! Wie die Frauen kreischten! Beim Zeus, es tat mir im Innersten wohl, dich so zu sehen. Ich dachte, ihr Zivilisten hättet keine Courage; aber ich werde mich hüten, dir in den Weg zu geraten, wenn du bezecht bist, Joe.«

»Ich glaube, ich bin fürchterlich, wenn ich einen sitzen habe«, stieß Joe auf dem Sofa hervor und machte dabei ein so trauriges und lächerliches Gesicht, daß den Hauptmann die Höflichkeit verließ und er und Osborne in ein wieherndes Gelächter ausbrachen.

Osborne setzte ihm unbarmherzig zu. Er hielt Joe für eine Memme. Er hatte die Heiratspläne zwischen Joe und Rebekka sorgfältig erwogen und empfand keine übermäßige Freude darüber, daß ein Mitglied der Familie, in die er, George Osborne vom ...ten Regiment, heiraten wollte, drauf und dran war, eine Mesalliance mit einer kleinen Null, einer kleinen ehrgeizigen Gouvernante, einzugehen. »Du und schlagen, du armer, alter Trottel?« sagte Osborne. »Du und fürchterlich? Ach, Mann, du konntest dich nicht einmal aufrecht halten, ganz Vauxhall hat über dich gelacht, und du selbst hast geheult. Du warst so weinselig, Joe. Kannst du dich nicht entsinnen, daß du ein Lied gesungen hast?«

»Ein was?« fragte Joe.

»Ein rührendes Lied, und Rosa oder Rebekka oder wie sie nun heißt, Amelias kleine Freundin, hast du dein Lirum-larum-liebchen genannt.« Bei diesen Worten ergriff der unbarmherzige junge Bursche Dobbins Hand und spielte die ganze Szene zum größten Entsetzen des ursprünglichen Darstellers noch einmal, trotz Dobbins gutmütiger Bitten, doch Mitleid mit ihm zu haben.

»Warum sollte ich ihn denn schonen?« antwortete Osborne auf die Einwendungen seines Freundes, als sie den Leidenden in den Händen von Doktor Gollop zurückgelassen hatten. [87] »Zum Henker, was für ein Recht hat er, sich stets so gönnerhaft aufzuspielen und uns in Vauxhall lächerlich zu machen? Wer ist das kleine Schulmädchen, das ihm schöne Augen macht? Zum Henker! Die Familie ist schon armselig genug ohne sie. Eine Gouvernante ist ja ganz schön, aber ich möchte doch lieber eine Dame zur Schwägerin haben. Ich bin zwar großzügig, habe aber doch meinen Stolz und weiß, wo ich hingehöre; und sie sollte sich ihre Stellung auch überlegen. Ich werde den großsprecherischen Nabob schon noch unterkriegen und verhindern, daß er sich zu einem größeren Narren macht, als er bereits ist. Deshalb habe ich ihm gesagt, er solle auf der Hut sein, sonst würde sie ihn noch wegen Heiratsschwindelei verklagen.«

»Wahrscheinlich weißt du es am besten«, meinte Dobbin, wenn auch etwas zweifelnd. »Du bist immer Tory gewesen, und ihr seid eine der ältesten englischen Familien; aber ...«

»Komm mit zu den Mädchen und mach Miss Sharp selbst den Hof«, unterbrach der Leutnant seinen Freund; aber Hauptmann Dobbin lehnte es ab, Osborne zu seinem täglichen Besuch bei den jungen Damen am Russell Square zu begleiten.

Als George von Holborn die Southampton Row hinabging, sah er im Sedleyschen Haus, in zwei verschiedenen Stockwerken, zwei Köpfe auf der Lauer liegen.

Miss Amelia schaute nämlich vom Balkon des Salons angestrengt nach dem Leutnant aus, der auf der anderen Seite des Russell Square wohnte; Miss Sharp dagegen war in ihrem kleinen Schlafzimmer im zweiten Stockwerk auf Wachposten, um Mr. Josephs mächtige Gestalt auftauchen zu sehen.

»Schwester Anne 20 sitzt auf dem Wachtturm, aber niemand kommt«, rief er Amelia lachend zu und freute sich königlich über den Spaß, als er Miss Sedley mit den komischsten Ausdrücken den trübseligen Zustand ihres Bruders beschrieb.

»Es ist doch aber sehr grausam von Ihnen, zu lachen, George«, sagte sie und sah recht unglücklich aus; allein [88] George lachte nur um so mehr über ihren kläglichen und verwirrten Gesichtsausdruck und blieb dabei, daß der Spaß doch höchst gelungen sei. Als Miss Sharp die Treppe herabkam, neckte er sie munter wegen der Wirkung ihrer Reize auf den dicken Zivilisten.

»Oh, Miss Sharp! Könnten Sie ihn heute morgen in seinem geblümten Schlafrock sehen«, sagte er, »wie er stöhnt und sich auf seinem Sofa windet. Hätten Sie nur sehen können, wie er Gollop, dem Arzt, seine Zunge zeigte.«

»Wenn ich wen sehen könnte?« fragte Miss Sharp.

»Wen? Ach, wen? Hauptmann Dobbin natürlich, dem wir alle, beiläufig gesagt, gestern abend so viel Aufmerksamkeit gewidmet haben.«

»Wir waren sehr unfreundlich zu ihm«, sagte Emmy und errötete. »Ich – ich hatte ihn ganz vergessen.«

»Das ist ganz natürlich«, rief Osborne, immer noch lachend. »Man kann doch nicht immer an Dobbin denken, nicht wahr, Amelia. Oder doch, Miss Sharp?«

»Abgesehen von dem Weinglas, das er bei Tisch umstieß«, sagte Miss Sharp hochmütig und warf den Kopf zurück, »habe ich keinen Augenblick einen Gedanken an Hauptmann Dobbins Existenz verschwendet.«

»Sehr gut, Miss Sharp, ich will es ihm sagen«, sagte Osborne, und während er sprach, beschlich Miss Sharp ein Gefühl von Mißtrauen und Haß gegen diesen jungen Offizier, dessen er sich ganz und gar nicht bewußt war. Er will sich über mich lustig machen, ganz bestimmt, dachte Rebekka. Hat er mich bei Joseph lächerlich gemacht? Hat er ihn abgeschreckt? Vielleicht kommt er gar nicht.

Ein Schleier legte sich über ihre Augen, und ihr Herz schlug zum Zerspringen.

»Sie sind immer zu Späßen aufgelegt«, sagte sie und lächelte, so unschuldig sie konnte. »Scherzen Sie nur weiter, Mr. George, mich verteidigt ja keiner.«

[89] Als George Osborne ging und Amelia ihn mißbilligend ansah, empfand er als Mann doch eine gewisse Zerknirschung, daß er sich gegen das schutzlose Geschöpf unnötigerweise so unfreundlich benommen hatte. »Meine liebste Amelia«, sagte er, »Sie sind zu gut – zu freundlich. Sie kennen die Welt nicht. Ich kenne sie aber. Und Ihre kleine Freundin, Miss Sharp, sollte sich überlegen, wo sie hingehört.«

»Glauben Sie nicht, daß Joe ...«

»Ehrenwort, meine Liebe, ich weiß es nicht. Vielleicht, vielleicht auch nicht; ich habe ihm nichts vorzuschreiben. Ich weiß nur, daß er schrecklich dumm und eitel ist und daß er mein kleines liebes Mädchen gestern abend in eine sehr peinliche und schiefe Lage gebracht hat. Mein Lirum-larum-liebchen!«

Und abermals lachend, verschwand er, und weil es so drollig geschah, mußte auch Emmy lachen.

Den ganzen Tag ließ sich Joe nicht blicken. Amelia aber machte sich deshalb keine Gedanken, denn die kleine Ränkeschmiedin hatte doch tatsächlich den Pagen, Mr. Sambos Adjutanten, in Mr. Josephs Wohnung geschickt, um ihn um ein versprochenes Buch zu bitten und sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Die Antwort von Joes Diener, Mr. Brush, lautete, sein Herr liege krank im Bett und der Doktor sei soeben bei ihm gewesen. Morgen wird er bestimmt kommen, dachte sie, hatte aber nicht den Mut, mit ihrer Freundin darüber zu sprechen; auch Rebekka erwähnte die Sache während des ganzen Abends nach der Vauxhall-Partie mit keinem Wort.

Am nächsten Tage jedoch, als die beiden jungen Damen auf dem Sofa saßen und so taten, als arbeiteten sie oder schrieben Briefe oder läsen Romane, kam Sambo mit seinem üblichen gewinnenden Grinsen ins Zimmer, mit einem Paket unter dem Arm und einem Billett auf dem Präsentierbrett.

»Ein Billett von Mr. Joe, Miss«, verkündete Sambo.

[90] Wie Amelia zitterte, als sie es öffnete!

Es lautete wie folgt:


Liebe Amelia!

Anbei schicke ich Dir die »Waise vom Walde«. Ich war gestern zu krank, um Euch zu besuchen. Heute fahre ich nach Cheltenham. Wenn möglich, entschuldige mich bei der liebenswürdigen Miss Sharp wegen meines Benehmens in Vauxhall und bitte sie doch, jede Äußerung, die ich während dieses unglückseligen Soupers in der Erregung gemacht habe, zu verzeihen und zu vergessen. Sobald ich mich wieder erholt habe, denn meine Gesundheit ist einigermaßen erschüttert, werde ich auf einige Monate nach Schottland gehen. Unterdessen verbleibe ich

Dein Joe Sedley.


Das war das Todesurteil. Alles war vorüber. Amelia wagte es nicht, in Rebekkas blasses Gesicht und ihre brennenden Augen zu blicken; sie ließ den Brief in den Schoß der Freundin fallen, stand auf, ging in ihr Zimmer und weinte sich das kleine Herz aus dem Leibe.

Mrs. Blenkinsop, die Haushälterin, suchte sie dort bald auf, um sie zu trösten; an ihrer Schulter weinte sich Amelia vertrauensvoll aus und fand Erleichterung. »Nehmen Sie sich die Sache doch nicht so zu Herzen, Miss. Ich wollte es Ihnen nur nicht sagen; aber keiner von uns im Haus hat sie gern gehabt, höchstens am Anfang. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie sie Briefe von Ihrer Mama gelesen hat. Die Pinner hat erzählt, daß sie andauernd an Ihrem Schmuckkästchen und an Ihrer Kommode war, und auch an anderen Kommoden, und sie glaubt fest, daß sie sich Ihr weißes Band in den Koffer getan hat.«

»Das habe ich ihr doch geschenkt, ganz bestimmt«, versicherte Amelia.

Allein das konnte Mrs. Blenkinsops Meinung über Miss [91] Sharp nicht ändern. »Ich für mein Teil traue den Gouvernanten nicht über den Weg, Pinner«, bemerkte sie gegenüber dem Kammermädchen. »Sie tun, als wären sie Damen, und dabei ist ihr Lohn nicht höher als meiner oder Ihrer.«

Allen im Hause, außer der armen Amelia, wurde klar, daß Rebekka nicht länger bleiben dürfe, und hoch und niedrig (immer mit der einen Ausnahme) war man sich einig, daß die Abreise sehr bald erfolgen müsse. Das gute Kind durchstöberte all ihre Kommoden, Schränke, Handarbeitsbeutel und andere Behältnisse, in denen sie ihren Kleinkram verwahrte, musterte all ihre Kleider, Halstücher, Spitzenbesätze, Bänder, Seidenstrümpfe und dergleichen Firlefanz und suchte das eine oder das andere heraus, um Rebekka ein Häufchen zurechtzulegen. Dann ging sie zu ihrem Vater, der, großmütiger britischer Kaufmann, der er war, ihr versprochen hatte, ihr so viele Guineen zu geben, wie sie Jahre zählte, und bat den alten Herrn, das Geld lieber der guten Rebekka zukommen zu lassen, die es sicher brauchen könnte, während es ihr selbst doch an nichts fehlte.

Sie bewegte sogar George Osborne, dazu beizusteuern, und bereitwillig (denn so freigebig wie er war kaum ein zweiter in der Armee) begab er sich in die Bond Street und kaufte den schönsten Hut und die hübscheste Jacke, die für Geld zu haben war.

»Das schenkt dir George, teure Rebekka«, sagte Amelia, ganz stolz auf die Schachtel mit diesen Gaben. »Was er für einen guten Geschmack hat! Keiner kommt ihm doch gleich.«

»Nein, niemand«, antwortete Rebekka. »Wie dankbar bin ich ihm!« In ihrem Herzen aber dachte sie, George Osborne war es, der meine Heirat verhindert hat.

Und dementsprechend waren auch ihre Gefühle für Osborne.

In aller Seelenruhe traf sie ihre Anstalten für die Abreise und nahm alle Geschenke der freundlichen kleinen Amelia nach schicklichem Weigern und Zögern entgegen. [92] Natürlich gelobte sie Mrs. Sedley ewige Dankbarkeit, drängte sich jedoch der guten Dame, die etwas in Verlegenheit war und ihr offenbar ausweichen wollte, nicht auf. Sie küßte Mr. Sedley die Hand, als er ihr die Geldbörse schenkte, und bat ihn um Erlaubnis, ihn von nun an als ihren guten, guten Freund und Beschützer betrachten zu dürfen. Ihr Benehmen hatte etwas so Rührendes, daß er ihr beinahe einen Scheck für noch zwanzig Pfund ausgestellt hätte, allein er zügelte seine Gefühle. Die Kutsche, die ihn zum Essen fahren sollte, wartete; so eilte er davon mit einem: »Gott schütze Sie, meine Liebe. Besuchen Sie uns ruhig, wenn Sie in der Stadt sind. – Zum Mansion House 21, James!«

Schließlich war der Augenblick des Abschieds gekommen, ein Bild, über das ich lieber einen Schleier werfen will. Aber nach einer Szene, bei der es der einen ernst war und die andere sich als vollendete Schauspielerin erwies – nachdem die zärtlichsten Liebkosungen, die rührendsten Tränen, das Riechfläschchen und die edelsten Gefühle des Herzens aufgeboten worden waren, trennten sich Rebekka und Amelia, wobei die Abreisende hundertmal schwor, daß sie ihre Freundin immer und ewig lieben werde.

Fußnoten

1 Platz im vornehmen Westen Londons.

2 (franz.) kleiner Bedienter.

3 (franz.) Kammerjungfer.

4 (franz.) mutwillig.

5 römischer Liebesgott.

6 (franz.) Sie haben ja einen recht hübschen Namen.

7 (franz.) Potz Blitz und Donner!

8 (franz.) Qual des Augenblicks.

9 (franz.) Wildfang.

10 altes englisches Adelsgeschlecht.

11 im 12. Jh. errichtetes Gefängnis in London.

12 ehemals ärmste Gegend Londons, Verbrecherviertel.

13 Gemeint ist der als Rechtsanwaltssohn auf Korsika geborene spätere Kaiser der Franzosen, Napoleon I. – Im Juni 1812 fiel Napoleon I. ohne Kriegserklärung mit der 600000 Mann umfassenden Großen Armee in Rußland ein. Unter hinhaltenden Rückzugsgefechten, die die Franzosen zermürben sollten, wichen die russischen Truppen ins Innere des Landes zurück. Bei dem Dorf Borodino vor Moskau kam es zu einer blutigen Schlacht, in der Napoleon unter sehr großen Verlusten den Sieg errang. Als er in Moskau einzog, ging die Stadt in Flammen auf und brannte fast völlig nieder. Der Basis für weitere Operationen beraubt, mußte sich Napoleon zurückziehen. Ständig verfolgt, konnte er mit nur 30000 Mann aus Rußland entkommen. Seine Niederlage wurde vor allem durch die erbitterten Kämpfe des russischen Heeres und des ganzen russischen Volkes bewirkt. Der Untergang der Großen Armee gab das Signal zum allgemeinen Aufstand gegen die Napoleonische Fremdherrschaft in Europa.

14 (franz.) überflüssig.

15 Gemahlin des lombardischen Königs Alboin. Sie ließ 572 ihren Gemahl ermorden und heiratete seinen Mörder. Nachdem sie diesen der Untreue überführt hatte, wollte sie ihn ebenfalls töten. Er zwang sie, den für ihn bestimmten Giftbecher mit ihm zu leeren.

16 Alexander der Große (356-323 v.u.Z.) soll von einem mazedonischen Feldherrn vergiftet worden sein.

17 John Lemprière (1765-1824), englischer Gelehrter; verfaßte Nachschlagewerke über das klassische Altertum.

18 (1770-1809); galt zu seiner Zeit als der dickste Mann Englands.

19 Sitz des Erzbischofs von Canterbury in London.

20 Schwester der zum Tode verurteilten siebenten Gemahlin Blaubarts aus dem Märchen »Blaubart« des französischen Schriftstellers Charles Perrault (1628-1703). Schwester Anne hält auf dem Wachtturm Ausschau nach den rettenden Brüdern.

21 Amtssitz des Lord Mayor, des Oberbürgermeisters von London.

7. Kapitel
Crawley von Queen's Crawley

Einer der geachtetsten unter den Namen mit C im Adelskalender für das Jahr 18.. war Crawley, Sir Pitt, Baronet, Great Gaunt Street und Queen's Crawley, Hampshire. Dieser ehrenwerte Name war beständig zusammen mit denen einer Anzahl anderer würdiger Herren, die den Wahlbezirk jeweils vertraten, auf der Liste der Parlamentsmitglieder verzeichnet.

[93] Über den Wahlflecken Queen's Crawley erzählt man sich, Königin Elisabeth 1 sei einst auf einer Reise in Crawley zum Frühstück abgestiegen und sei von dem außerordentlich guten Hampshire-Bier so entzückt gewesen, welches ihr der damalige Crawley, ein schöner Mann mit gestutztem Bart und hübschem Gang, gereicht hatte, daß sie Crawley sofort zum Wahlflecken gemacht habe, der zwei Abgeordnete ins Parlament schicken durfte. Vom Tage dieses erlauchten Besuches an nannte der Ort sich Queen's Crawley und heißt auch heute noch so. Obgleich im Laufe der Zeit durch die Wandlungen, die die Jahrhunderte in Staaten, Städten und Ortschaften vollbringen, Queen's Crawley nicht mehr so bevölkert war wie zu Zeiten der Königin Bess 2, ja sogar in den Zustand herabgesunken war, den man allgemein als »abgewirtschaftet« zu bezeichnen pflegte 3, so konnte doch Sir Pitt Crawley mit vollem Recht in seiner vornehmen Ausdrucksweise sagen: »Abgewirtschaftet? Zum Henker! Mir bringt es gute fünfzehnhundert im Jahr.«

Sir Pitt Crawley (so genannt nach dem großen Unterhausmitglied) war der Sohn von Walpole Crawley, dem ersten Baronet, der unter der Regierung Georgs II. 4 im Schnur- und Siegellackamt 5 war, wo er wegen Unterschlagung unter Anklage gestellt wurde, wie viele andere ehrliche Männer jener Zeit, und Walpole Crawley war, wie kaum erwähnt zu werden braucht, ein Sohn von John Churchill Crawley, so genannt nach dem berühmten Feldherrn unter der Regierung der Königin Anna 6. Ferner erwähnt der Familienstammbaum, der in Queen's Crawley hängt, einen Charles Stuart, später Barebone 7 Crawley genannt, ein Sohn des Crawley aus der Zeit Jakobs I., und schließlich, im Vordergrund des Bildes, mit gegabeltem Bart, in voller Rüstung, steht der Crawley der Königin Elisabeth. Aus seiner Weste wächst, wie gewöhnlich, ein Baum hervor, auf dessen Hauptästen die erwähnten glänzenden Namen prangen. Dicht neben dem Namen von Sir Pitt Crawley, Baronet, dem Gegenstand dieser [94] Abhandlung, liest man den seines Bruders, des Ehrwürden Bute Crawley (das berühmte Unterhausmitglied war bereits in Ungnade gefallen, als Seine Ehrwürden geboren wurde), Pfarrherrn von Crawley-cum-Snailby, und verschiedene andere männliche und weibliche Mitglieder der Familie Crawley.

Sir Pitt war zuerst verheiratet mit Grizzel, der sechsten Tochter von Mungo Binkie, Lord Binkie, und folglich Vetter von Mr. Dundas. Sie gebar ihm zwei Söhne: Pitt, der weniger nach seinem Vater so genannt wurde als nach dem göttlichen Minister 8, und Rawdon Crawley, nach dem Freund des Prinzen von Wales 9, den Seine Majestät Georg IV 10. so vollständig vergessen hatte. Viele Jahre nach dem Ableben der Lady führte Sir Pitt Rose, eine Tochter von Mr. John Thomas Dawson aus Mudbury zum Altar, die ihm zwei Töchter schenkte. Für diese nun war Miss Rebekka Sharp als Erzieherin eingestellt worden. Man wird sehen, daß die junge Dame in eine Familie mit den vornehmsten Beziehungen geriet und alle Aussichten hatte, sich in einem weitaus erleseneren Kreise zu bewegen als in dem bescheidenen von Russell Square, den sie soeben verlassen hatte.

Der Auftrag, zu ihren Zöglingen zu reisen, war auf ein altes Briefkuvert geschrieben worden und lautete folgendermaßen:

»Sir Pitt Crawley bittet Miss Sharp samt Gepäck am Diensttag hier zu sein da ich morgen gans früh nach Queen's Crawley abreiße. – Great Gaunt Street.«

Rebekka hatte, soweit sie wußte, noch nie einen Baronet gesehen, und sobald der Abschied von Amelia hinter ihr lag, die Guineen gezählt waren, welche der gutmütige Mr. Sedley ihr in einer Börse geschenkt hatte, und die Tränen mit dem Taschentuch getrocknet waren (das hatte sie schon erledigt, als die Kutsche um die Ecke bog), begann sie, sich im Geiste einen Baronet auszumalen. Ich möchte gern wissen, ob er einen Ordensstern trägt, dachte sie; oder tragen nur Lords [95] Sterne? Aber er wird sehr gut angezogen sein, im Staatskleid mit Spitzenjabot und leicht gepudertem Haar, wie Wroughton 11 im Convent-Garden-Theater. Vermutlich ist er furchtbar stolz und wird mich höchst verächtlich behandeln. Trotzdem muß ich mein hartes Los ertragen, so gut es geht; auf jeden Fall lebe ich aber bei Adligen und nicht bei gewöhnlichen Handelsleuten. Und nun dachte sie an ihre Freunde am Russell Square mit derselben philosophischen Bitterkeit, mit der in einer gewissen Fabel der Fuchs von den Trauben spricht 12.

Der Wagen war über den Gaunt Square in die Great Gaunt Street eingefahren und hielt endlich vor einem großen, düsteren Haus zwischen zwei anderen großen, düsteren Häusern, von denen jedes am mittleren Salonfenster ein Totenschild aufwies, wie es in den Häusern der düsteren Great Gaunt Street üblich ist, wo der Tod auf ewig zu herrschen scheint. Die Fensterläden im ersten Stockwerk von Sir Pitts Hause waren geschlossen, die des Speisezimmers teilweise offen und die Rouleaus säuberlich mit alten Zeitungen bedeckt.

John, der Stallbursche, der die Kutsche allein gelenkt hatte, verspürte keine Lust, abzusteigen und zu klingeln; er ersuchte daher einen vorbeigehenden Milchjungen, es für ihn zu tun. Als die Glocke ertönte, tauchte ein Kopf zwischen den Fensterläden im Speisezimmer auf, und ein Mann in mausgrauen Hosen und Gamaschen, einem schmutzigen alten Rock, einem schmierigen alten Tuch um den borstigen Hals, mit einem glänzenden Kahlkopf, einem schlauen roten Gesicht, einem Paar funkelnder grauer Augen und einem ewig grinsenden Mund öffnete.

»Ist das hier richtig bei Sir Pitt Crawley?« fragte John vom Bock herab.

»Ja«, erwiderte der Mann an der Tür und nickte.

»Lang mal diesen Koffer da herunter«, sagte John.

»Mach es doch selber«, antwortete der Pförtner.

[96] »Siehst du nicht, daß ich meine Pferde nicht allein lassen kann? Komm, faß an, mein Guter, das Fräulein wird dir ein Bier spendieren«, rief John mit wieherndem Gelächter, denn er hatte keinen Respekt mehr vor Miss Sharp, jetzt, da ihre Verbindung mit der Familie abgebrochen war und sie beim Abschied den Dienstboten nichts gegeben hatte.

Der kahlköpfige Mann folgte der Aufforderung, nahm nun die Hände aus den Hosentaschen, trat näher, warf Miss Sharps Koffer auf die Schulter und trug ihn ins Haus.

»Nehmen Sie bitte diesen Korb und diesen Schal und machen Sie die Tür auf«, kommandierte Miss Sharp und stieg entrüstet aus der Kutsche. »Ich werde Mr. Sedley schreiben und ihm Ihr Betragen melden«, sagte sie zu dem Stallburschen.

»Lassen Sie's lieber bleiben«, erwiderte der Mann. »Haben Sie auch nichts vergessen? Miss Melias Kleider, die eigentlich die Kammerjungfer bekommen sollte? Hoffentlich passen sie Ihnen. Mach die Tür zu, Jim, von der hier kommt doch nichts«, fuhr John fort und deutete mit dem Daumen auf Miss Sharp, »ein böses Weibstück, sage ich bloß, ein böses Weibstück«, und mit diesen Worten fuhr Mr. Sedleys Stallbursche davon. In Wahrheit hatte er mit der fraglichen Kammerjungfer ein Verhältnis und war ganz empört, sie ihrer Nebeneinkünfte beraubt zu sehen. Als Rebekka nach Aufforderung des Menschen in Gamaschen das Speisezimmer betrat, fand sie es genauso ungemütlich, wie solche Räume gewöhnlich sind, deren vornehme Bewohner sich nicht darin aufhalten, sondern außerhalb der Stadt leben. Die treuen Gemächer scheinen gleichsam die Abwesenheit ihrer Herren zu betrauern. Der Perserteppich hat sich aufgerollt und verdrießlich unter das Büfett zurückgezogen; die Gemälde haben ihre Gesichter hinter alten Packpapierbogen verborgen; der Kronleuchter ist in einen trübseligen grauen Sack gehüllt; die Fenstervorhänge sind unter allerlei schäbigen Hüllen verschwunden; Sir Walpole Crawleys Marmorbüste schaut aus [97] ihrem finstern Winkel auf die leeren Regale, die eingeölten Kamingeräte und die leeren Visitenkartenständer auf dem Kaminsims; der Flaschenständer hat sich hinter dem Teppich versteckt; die Stühle sind mit den Beinen nach oben an den Wänden aufgestellt, und in dem dunklen Winkel gegenüber der Büste steht ein altmodischer, zerkratzter Besteckkasten verschlossen auf einem Drehtischchen.

Zwei Küchenstühle, ein runder Tisch, ein altersschwaches Schüreisen und eine Feuerzange hatten sich indes um den Kamin versammelt, und über einem schwach sprühenden Feuer brodelte ein Topf. Auf dem Tisch waren ein paar Käse- und Brotstückchen, ein Zinnleuchter und ein Krug mit Porter.

»Vermutlich schon gegessen? Ist es Ihnen zu warm hier? Wollen Sie vielleicht einen Schluck Bier?«

»Wo ist Sir Pitt Crawley?« fragte Miss Sharp majestätisch.

»Haha! Sir Pitt Crawley bin ich. Vergessen Sie nicht, daß Sie mir noch ein Bier fürs Gepäcktragen schuldig sind. Haha! Fragen Sie nur die Tinker, ob es stimmt. Mrs. Tinker, Miss Sharp; Fräulein Gouvernante, Frau Scheuerfrau. Hoho!«

Die mit Mrs. Tinker angesprochene Dame erschien in diesem Augenblick mit einer Pfeife und einem Paket Tabak, wonach sie eine Minute vor Miss Sharps Ankunft ausgeschickt worden war. Sie übergab beides Sir Pitt, der sich inzwischen ans Feuer gesetzt hatte.

»Wo ist der Farthing 13?« fragte er. »Ich habe Ihnen doch drei Halfpence gegeben. Wo ist das Wechselgeld, alte Tinker?«

»Da!« erwiderte Mrs. Tinker und warf die Münze hin. »Nur Baronets kümmern sich um Farthings.«

»Ein Farthing pro Tag macht sieben Shilling im Jahr«, erwiderte das Parlamentsmitglied; »sieben Shilling pro Jahr sind die Zinsen von sieben Guineen. Nehmen Sie Ihre Farthings in acht, alte Tinker, dann werden die Guineen bei Ihnen von ganz alleine kommen.«

»Sie können sich drauf verlassen, daß es Sir Pitt Crawley ist, junges Fräulein«, gab Mrs. Tinker mürrisch von sich; [98] »nämlich weil er so hinter den Farthings her ist. Sie werden ihn schon noch gründlich kennenlernen.«

»Und mich darum nicht weniger gern haben, Miss Sharp«, ergänzte der alte Herr geradezu höflich. »Ehe ich freigebig bin, muß ich genau sein.«

»In seinem ganzen Leben hat er noch keinen Farthing verschenkt«, brummte Mrs. Tinker.

»Niemals, und auch in Zukunft nicht; das ist gegen meine Grundsätze. Holen Sie sich noch einen Stuhl aus der Küche, Tinker, wenn Sie sitzen wollen; und dann wollen wir ein bißchen Abendbrot essen.«

Darauf stach der Baronet mit einer Gabel in den Topf über dem Feuer und angelte ein Stück Kaldaunen sowie eine Zwiebel heraus. Beides schnitt er in einigermaßen gleiche Teile und teilte es mit Mrs. Tinker. »Wissen Sie, Miss Sharp, wenn ich nicht hier bin, bekommt die Tinker Kostgeld, wenn ich aber in der Stadt bin, so speist sie mit der Familie. Haha! Ein Glück, daß Miss Sharp keinen Hunger hat, nicht wahr, Tink?«

Und nun fielen sie über ihr kärgliches Abendbrot her.

Nach dem Essen rauchte Sir Pitt Crawley seine Pfeife, und als es ganz dunkel geworden war, zündete er die Funzel im Zinnleuchter an. Sodann kramte er aus einer unergründlichen Tasche eine erstaunliche Masse von Papieren hervor und fing an, sie zu lesen und zu ordnen.

»Ich bin wegen einiger Gerichtsangelegenheiten hier, meine Liebe, und so kommt es, daß ich morgen das Vergnügen habe, in einer so netten Begleitung zu reisen.«

»Er hat andauernd mit dem Gericht zu tun«, sagte Mrs. Tinker und griff nach dem Bierkrug.

»Trinken Sie, und geben Sie es weiter«, sagte der Baronet. »Ja, meine Liebe, die Tinker hat ganz recht: ich habe mehr Prozesse verloren und gewonnen als irgendeiner in England. Sehen Sie her: Crawley, Baronet, gegen Snaffle. Den Mann schaffe ich, oder ich will nicht Pitt Crawley heißen. Oder [99] hier: Podder und noch jemand gegen Crawley, Baronet. Die Gemeindevorsteher vom Flecken Snailby gegen Crawley, Baronet. Sie können nicht beweisen, daß es Gemeindeland ist; ich werde ihrer schon Herr werden, es ist mein Land und gehört dem Kirchspiel ebensowenig wie Ihnen oder der Tinker da. Ich werde sie schlagen, und sollte es mich auch tausend Guineen kosten. Sehen Sie sich die Akten an; tun sie es ruhig, meine Liebe. Haben Sie eine schöne Handschrift? Ich werde Sie schon ausnutzen, wenn wir in Queen's Crawley sind, darauf können Sie sich verlassen, Miss Sharp. Jetzt, wo die Alte tot ist, brauche ich jemand anders.«

»Die war um kein Haar besser als er«, sagte die Tinker. »Alle ihre Kaufleute belangte sie gerichtlich, und in vier Jahren hat sie nicht weniger als achtundvierzig Diener entlassen.«

»Sie war sparsam – sehr sparsam«, sagte der Baronet einfach, »allein sie war mir viel wert und ersparte mir einen Verwalter.«

In dieser vertraulichen Weise wurde das Gespräch zur großen Belustigung der Neuangekommenen eine ganze Weile fortgesetzt. Welche Eigenschaften, ob gute oder schlechte, Sir Pitt Crawley auch haben mochte, er machte kein Hehl daraus. Er sprach beständig von sich, bisweilen im rohesten und gemeinsten Hampshire-Dialekt, nahm aber hin und wieder auch den Ton eines Weltmannes an. Und so wünschte er Miss Sharp eine gute Nacht, nachdem er ihr eingeschärft hatte, am nächsten Morgen um fünf Uhr bereit zu sein. »Heute nacht werden Sie zusammen mit der Tinker schlafen«, sagte er, »es ist ein großes Bett, und zwei Personen haben gut Platz. Lady Crawley starb darin. Gute Nacht!«

Mit diesem Segenswunsch entfernte sich Sir Pitt, und auch die feierliche Tinker ging mit dem Nachtlicht in der Hand voran, die große, öde Steintreppe hinauf, an den hohen, düsteren Salontüren vorüber, deren Klinken papierumwunden waren – bis sie endlich in das große, vordere Schlafzimmer [100] gelangten, wo Lady Crawley ihren letzten Schlaf geschlafen hatte. Das Bett und das Zimmer waren so grabesdüster, daß man sich nicht allein gut vorstellen konnte, daß Lady Crawley da gestorben war, sondern auch, daß ihr Geist es noch bewohnte. Rebekka hüpfte indessen lebhaft im Zimmer herum, schaute in die ungeheuren Kleider- und Wandschränke, versuchte die verschlossenen Schubfächer zu öffnen und musterte die düsteren Gemälde und Toilettengegenstände, während die alte Aufwärterin ihr Gebet verrichtete. »Ich möchte in diesem Bett da nicht gern ohne ein gutes Gewissen schlafen, Miss«, sagte das alte Weib.

»Es gibt darin Platz genug für uns und ein halbes Dutzend Gespenster«, meinte Rebekka. »Erzählen Sie mir alles, was Sie über Lady Crawley und Sir Pitt Crawley und alle anderen wissen, meine liebe Mrs. Tinker.«

Aber die alte Tinker ließ sich von der kleinen Fragerin nicht ausholen; sie bedeutete ihr, daß das Bett ein Ort zum Schlafen und nicht zum Schwatzen sei, und ließ bald in ihrer Bettecke ein solches Schnarchen vernehmen, wie es nur die Nase der Unschuld hervorbringen kann. Rebekka lag lange, lange wach und dachte an den nächsten Tag, an die neue Welt, die sie nun betrat, und an die Glücksaussichten, die ihrer dort harrten. Das Nachtlicht flackerte. Der Kaminsims warf einen großen, schwarzen Schatten halb über eine alte vermoderte Handarbeitsprobe, die ihre Entstehung ohne Zweifel den Händen der seligen Lady verdankte, sowie über zwei kleine Familiengemälde, die zwei junge Burschen darstellten: einen in Universitätsrobe und den anderen mit einer roten Jacke wie ein Soldat gekleidet. Als Rebekka einschlief, wählte sie sich den zweiten für ihre Träume.

An diesem rosigen Sommermorgen, der selbst die Great Gaunt Street vergnügt machte, weckte die treue Mrs. Tinker ihre Bettgenossin, veranlaßte sie, sich zur Abreise fertigzumachen, riegelte und schloß die große Haustür auf (deren Knarren und Zuschlagen die schlafenden Echos in der Straße [101] erschreckte) und begab sich zur Oxford Street, um von dem dortigen Droschkenstand eine Kutsche zu holen. Es erübrigt sich, die Nummer des Gefährtes anzugeben oder auszuführen, daß der Kutscher sich so früh in der Nachbarschaft von der Swallow Street eingefunden hatte, weil er hoffte, daß irgendein junger Geck auf dem schwankenden Weg vom Wirtshaus nach Hause seine Hilfe in Anspruch nehmen und ihn mit der Freigebigkeit der Trunkenheit bezahlen würde.

Es erübrigt sich ebenfalls, festzustellen, daß der Kutscher, sollte er je Hoffnungen dieser Art gehegt haben, sich gewaltig getäuscht fand und daß der würdige Baronet, den er in die City fuhr, ihm auch nicht einen Penny mehr gab, als er zu zahlen hatte. Vergebens drängte und wütete Jehu; vergebens warf er Miss Sharps Hutschachtel in den Rinnstein bei den Necks, und vergebens schwor er, daß er sein Fahrgeld gerichtlich eintreiben werde.

»Laß das lieber bleiben«, riet einer der Stallknechte, »es ist Sir Pitt Crawley.«

»Ganz recht, Joe!« rief der Baronet beifällig. »Und ich möchte den Mann sehen, der mich unterkriegen kann.«

»Ich auch«, sagte Joe mürrisch grinsend und lud das Gepäck des Baronets auf das Droschkendach.

»Reservier den Sitz auf dem Bock für mich, Fahrer«, rief das Parlamentsmitglied dem Kutscher zu, der an seinen Hut faßte und, im Innersten wütend, »Ja, Sir Pitt« antwortete, denn er hatte den Bock einem jungen Herrn aus Cambridge versprochen, der ihm gewiß eine Krone gegeben hätte. Miss Sharp wurde ein Rücksitz in der Kutsche angewiesen, die sie nun sozusagen in die weite Welt führte.

Es braucht hier nicht erzählt zu werden, wie der junge Mann von Cambridge verdrießlich seine fünf Überröcke draußen auf dem Vordersitz unterbrachte, sich aber mit seinem Schicksal wieder aussöhnte, als die kleine Miss Sharp aussteigen und zu ihm klettern mußte, worauf er sie in einen seiner Überröcke hüllte und wieder guter Dinge wurde; wie [102] der asthmatische Herr, die affektierte Dame, die auf großes Ehrenwort versicherte, noch nie in einer öffentlichen Droschke gereist zu sein (stets befindet sich solch eine Dame in einer Droschke, ach nein, befand sich, denn wo sind die Droschken geblieben?), und die dicke Witwe mit der Branntweinflasche in der Kutsche Platz nahmen; wie der Gepäckträger von ihnen allen Geld verlangte und von dem Herrn sechs Pence und von der dicken Witwe fünf schmierige Halfpence erhielt; und wie der Wagen endlich abfuhr, sich zuerst durch die dunklen Gassen von Aldersgate wand, nun an der blauen Kuppel der Sankt-Pauls-Kathedrale vorbeirasselte, dann rasch am Fremdeneingang von Fleet Market vorüberdonnerte, der, zusammen mit dem alten Zoo, jetzt zum Schattenreich gehört; wie sie am »Weißen Bären« in Piccadilly vorüberfuhren und den Tau von den Gärtnereien in Knightsbridge emporsteigen sahen, und wie Turnham Green, Brentford, Bagshot ihrem Auge entschwanden. Aber der Schreiber dieser Zeilen, der in früheren Tagen bei ebenso schönem Wetter dieselbe denkwürdige Reise gemacht hat, denkt mit zartem, wehmütigem Bedauern daran zurück. Wo ist die Straße mit ihrem lustigen Leben und Treiben geblieben? Gibt es kein Chelsea oder Greenwich mehr für den alten, ehrlichen, pickelnasigen Kutscher? Ich möchte wohl wissen, was aus diesen wackeren Gesellen geworden ist. Lebt der alte Weller 14 noch, oder ist er schon tot? Und die Kellner, ach, und die Wirtshäuser, in denen sie bedienten, und der große, kalte Rinderbraten, den es dort gab, und der verkrüppelte, blaunasige Hausknecht mit seinem klappernden Eimer – wo ist er, und wo ist seine Generation? Für die großen Genies, die jetzt noch im kurzen Röckchen umherspringen, aber später einmal für die Kinder des geschätzten Lesers Romane schreiben sollen, werden diese Menschen und Dinge ebenso Legende oder Geschichte sein wie Ninive 15, Richard Löwenherz 16 oder Jack Sheppard 17. Für sie werden Postkutschen nur in Dichtungen existieren, ein Gespann mit vier Braunen wird [103] zur Fabel geworden sein wie der Bukephalos 18 oder wie die schwarze Bessie 19. Ach, wie glänzte deren Fell, wenn die Stallknechte ihnen die Decke abnahmen, wie flogen sie dahin – ach, wie wippten ihre Schweife, wenn sie mit heftig dampfenden Weichen am Ende der Fahrt gemessenen Schrittes den Hof des Gasthauses betraten. Ach, wir werden nicht mehr um Mitternacht den Klang des Posthorns hören und keine Schlagbäume mehr auffliegen sehen.

Wohin führt uns aber der leichte Viersitzer nun? Ohne weitere Umschweife wollen wir in Queen's Crawley absteigen und sehen, wie es Miss Rebekka Sharp dort ergeht.

Fußnoten

1 Elisabeth I. (1533-1603), Königin von England von 1558 bis 1603.

2 Kurzform von Elisabeth.

3 Abgewirtschaftete Wahlflecken (rotten boroughs) nannte man die ländlichen Bezirke, die trotz der durch Mißwirtschaft stark gesunkenen Bevölkerungszahl weiterhin eine unverminderte Anzahl von Vertretern ins Parlament entsenden durften.

4 (1683-1760), König von England von 1727 bis 1760.

5 ironische Bezeichnung für den pedantischen Beamtenapparat.

6 Anna Stuart (1665-1714), Königin von England von 1702 bis 1714.

7 Den Beinamen Barebone erhielten die Mitglieder des 1653 von Oliver Cromwell (1599-1658) gegründeten, nach dem damals populären Mitglied Praise-God Barbon genannten Barebone-Parlaments.

8 Gemeint ist William Pitt der Ältere, Graf von Chatham (1708-1778), englischer Staatsmann, Anhänger der Whigs (s. Anm. zu S. 489); förderte Englands Kolonialkriege gegen Frankreich.

9 Gemeint ist Francis Rawdon-Hastings, Marquis of Hastings, Earl of Moira (1754-1826), englischer General und Staatsmann, Vertrauter des Prinzen von Wales, des späteren Königs Georg IV.; bekleidete zuletzt den unbedeutenden Posten eines Gouverneurs von Malta und starb verarmt.

10 (1762-1830), König von England von 1820 bis 1830.

11 Richard Wroughton (1748-1822), englischer Schauspieler.

12 In der Fabel »Der Fuchs und die Trauben« des französischen Dichters Jean de La Fontaine (1621-1695) behauptet der Fuchs, dem die Trauben zu hoch hängen, sie seien sauer.

13 kleinste englische Münze.

14 Tony Weller, ein alter Kutscher aus dem Roman »Die Pickwickier« von Charles Dickens (1812-1870).

15 Hauptstadt des neuassyrischen Reiches; wurde 612 v.u.Z. von den Medern zerstört.

16 Richard I. (1157-1199), König von England von 1189 bis 1199; erwarb sich während des dritten Kreuzzuges (1190-1192) den Ruf eines besonders unerschrockenen Ritters; wurde der Held vieler Dichtwerke.

17 eigentlich John Sheppard (1702-1724), Dieb und Straßenräuber; wurde 1724 gehängt. Sein Leben wurde in vielen Balladen, Dramen und in einem Roman dargestellt.

18 Pferd Alexanders des Großen.

19 Pferd des Straßenräubers Richard Turpin (1706-1739).

8. Kapitel
Persönlich und vertraulich

Miss Rebekka Sharp
an Miss Amelia Sedley, Russell Square, London
(Portofrei 1 – Pitt Crawley)

Meine teuerste, liebste Amelia!

Mit welcher Mischung von Freude und Kummer ergreife ich die Feder, um an meine teuerste Freundin zu schreiben! Oh, welcher Unterschied zwischen heute und gestern! Jetzt bin ich freundlos und allein, gestern noch war ich daheim, in der süßen Gesellschaft einer Schwester, die ich immer, immer lieben werde!

Ich will Dir nicht erzählen, wie ich die verhängnisvolle Nacht unserer Trennung unter Tränen und mit unendlicher Traurigkeit zubrachte. Du gingst am Dienstag Freude und Glück entgegen, Deine Mutter und Deinen ergebenen, jungen Soldaten an der Seite, und ich dachte die ganze Nacht an Dich und sah Dich bei Perkins tanzen, gewiß die hübscheste von all den jungen Damen auf dem Ball. Ich wurde von dem Stallknecht in der alten Kutsche zu Sir Pitt Crawleys[104] Stadtwohnung gefahren, wo ich, nachdem John, der Stallknecht, sich mir gegenüber sehr roh und unverschämt betragen hatte (o ja, es ist ganz ungefährlich für ihn, Armut und Unglück zu beschimpfen!), Sir Pitts Obhut übergeben wurde und die Nacht in einem düsteren alten Bett und noch dazu an der Seite einer schrecklichen, unfreundlichen, alten Scheuerfrau, die das Haus hütet, zubringen mußte. Die ganze Nacht tat ich kein Auge zu.

Sir Pitt ist nicht das, was wir törichten Mädchen uns unter einem Baronet vorstellten, als wir in Chiswick die »Cecilia« 2 lasen. Man kann sich wohl kaum etwas denken, was mit Lord Orville 3 weniger Ähnlichkeit hätte. Vergegenwärtige Dir einen untersetzten, ordinären und schmutzigen Alten in abgetragenen Kleidern und schäbigen, alten Gamaschen, der eine abscheuliche Pfeife raucht und sich selbst sein abscheuliches Abendessen in einem Schmortopf kocht. Er spricht wie einer vom Lande und fluchte gewaltig über die alte Scheuerfrau und auf den Kutscher, der uns nach dem Gasthause brachte, von wo die Kutsche abfuhr; ich mußte den größten Teil der Reise außen sitzen.

Bei Tagesanbruch wurde ich von der Scheuerfrau geweckt, und als wir am Gasthause angekommen waren, bekam ich einen Platz in der Kutsche. Als wir aber an einen Ort namens Leakington kamen und es anfing, in Strömen zu regnen, mußte ich – kannst Du es glauben? – mich draußen setzen, denn Sir Pitt ist Miteigentümer der Kutsche. Als in Mudbury ein Passagier zustieg, der einen Platz in der Kutsche haben wollte, mußte ich mich in den Regen setzen, wo mich indessen ein junger Herr von der Universität in Cambridge recht freundlich in einen seiner vielen Überröcke hüllte.

Dieser Herr und der Schirrmeister schienen Sir Pitt gut zu kennen und machten sich über ihn lustig. Beide waren sich darüber einig, daß er ein alter Knicker sei – womit sie einen sehr geizigen, knauserigen Menschen meinen. Wie sie erzählten, gibt er nie jemandem Geld, und so eine Knauserigkeit [105] hasse ich. Der junge Herr machte mich auch darauf aufmerksam, daß wir den letzten Teil des Weges sehr langsam fuhren, weil Sir Pitt auf dem Bock saß und die Pferde auf dieser Strecke ihm gehören. »Wenn ich erst die Zügel in der Hand habe, werde ich sie nach Squashmore jagen«, sagte der Student. »Immer geben Sie's ihnen, Master Jack«, meinte der Schirrmeister. Als ich den Sinn dieses Satzes erfaßte und begriff, daß Master Jack die Absicht hatte, den restlichen Weg selbst zu kutschieren und sich an Sir Pitts Pferden zu rächen, mußte ich natürlich auch lachen.

In Mudbury jedoch, vier Meilen von Queen's Crawley entfernt, erwartete uns ein wappengeschmückter Vierspänner mit prächtigen Pferden, und so fuhren wir mit Pomp in den Park des Baronets. Eine schöne Allee von einer Meile Länge führt zum Hause, und die Frau am Parktor (auf dessen Pfeilern eine Schlange und eine Taube, die Schildhalter im Crawleyschen Wappen, angebracht sind) machte uns unendlich viele Knickse, als sie die alten eisernen verschnörkelten Tore aufstieß, die denen im verhaßten Chiswick ähneln.

»Das ist eine Allee«, sagte Sir Pitt, »eine Meile lang. In diesen Bäumen da steckt Holz im Werte von sechstausend Pfund. Ist das etwa nichts?« Allee spricht er Ollee aus, und nichts – nischt; es klingt so drollig; ein Mr. Hodson, sein Knecht aus Mudbury, saß mit im Wagen, und sie sprachen von Pfänden, Versteigern und Trockenlegen und Pflügen und eine Menge über Pächter und andere landwirtschaftliche Dinge – vieles, was ich gar nicht verstand. Sam Miles war beim Wildern ertappt worden, und Peter Bailey hatte man endlich ins Armenhaus gesteckt. »Geschieht ihm ganz recht«, sagte Sir Pitt, »dem seine Familie und er haben mich in den letzten hundertundfünfzig Jahren auf dem Gut genug betrogen.« Vermutlich ein alter Pächter, der seine Pacht nicht bezahlen konnte. Eigentlich hätte Sir Pitt sagen müssen »dessen Familie«, aber reiche Baronets brauchen nicht so auf die Grammatik zu achten wie arme Gouvernanten.

[106] Im Vorüberfahren bemerkte ich einen prächtigen Kirchturm, der einige alte Ulmen im Park überragte, und davor, mitten auf einer Wiese, umgeben von einigen Nebengebäuden, ein altes, rotes, efeubewachsenes Haus mit hohen Schornsteinen und in der Sonne blitzenden Fenstern.

»Ist das Ihre Kirche, Sir?« fragte ich.

»Ja, der Henker soll sie holen«, antwortete Sir Pitt (nur, meine Liebe, brauchte er einen viel schlimmeren Ausdruck), »wie geht es Buty, Hodson? Buty ist mein Bruder Bute, meine Liebe – mein Bruder, der Pfarrer. Ich nenne ihn Buty oder Biest, haha!«

Hodson lachte ebenfalls, dann aber wurde er ernster und sagte kopfnickend: »Ich fürchte, es geht ihm besser, Sir Pitt. Gestern war er auf seinem Pony draußen und besichtigte unsere Kornfelder.«

»Da hat er wohl nach seinem Zehnten gesehen, der Henker soll ihn holen!« Hier benutzte er wieder den gleichen schlechten Ausdruck. »Wird ihm denn der Branntwein nie den Garaus machen? Er ist so zäh wie der alte Dingsda, der alte Methusalem.«

Mr. Hodson lachte wieder. »Die jungen Leute haben Universitätsferien und sind nach Hause gekommen. Sie haben John Scroggings so verdroschen, daß er beinah ins Gras biß.«

»Was? Meinen zweiten Wildhüter verdroschen!« brüllte Sir Pitt.

»Er war auf dem Land des Pfarrers, Sir«, erwiderte Mr. Hodson; und Sir Pitt schwor wutschnaubend, daß er sie bei Gott deportieren lassen würde, wenn er sie einmal auf seinem Grund beim Wildern ertappte. Er verkündete: »Ich habe mein Präsentationsrecht 4 verkauft, Hodson, keiner von der Brut soll die Pfarre bekommen«, worauf Mr. Hodson sagte, er habe vollkommen recht. Aus all diesem ist mir klargeworden, daß die zwei Brüder in Uneinigkeit leben – wie das bei Brüdern und auch bei Schwestern so oft vorkommt. [107] Erinnerst Du Dich nicht an die beiden Miss Scratchley in Chiswick, die sich andauernd in den Haaren lagen – und an Mary Box, die Louisa immer stieß?

Kurz darauf sprang Mr. Hodson auf Sir Pitts Befehl aus der Kutsche und stürzte sich mit seiner Peitsche auf zwei kleine Knaben, die im Wald Holz sammelten. »Hau sie, Hodson«, brüllte der Baronet, »peitsch ihnen die Seele aus dem Leibe und bring sie ins Haus hinauf, die Vagabunden; ich werde sie einsperren lassen, so wahr ich Sir Pitt heiße.« Und gleich darauf hörten wir Mr. Hodsons Peitsche auf die Schultern der armen kleinen schluchzenden Wichte klatschen. Als Sir Pitt die Übeltäter in Gewahrsam wußte, fuhr er weiter zum Schloß.

Die ganze Dienerschaft stand zu unserer Begrüßung bereit, und . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hier, meine Liebe, wurde ich gestern nacht durch ein entsetzliches Getrommel gegen meine Tür unter brochen; und wer, glaubst Du, war es? Sir Pitt Crawley in Schlafrock und Nachtmütze: was für eine komische Figur! Als ich vor solchem Besuche entsetzt zurückfuhr, trat er näher und griff nach meiner Kerze. »Keine Kerze nach elf Uhr, Miss Becky«, sagte er, »gehen Sie im Dunkeln ins Bett, Sie kleines hübsches Weibstück« (so nannte er mich), »und wenn Sie nicht wollen, daß ich jeden Abend wegen der Kerze komme, so denken Sie daran, um elf Uhr im Bett zu sein.« Und mit diesen Worten gingen er und Horrocks, der Butler, lachend davon. Du kannst glauben, daß ich keinen zweiten Anlaß mehr zu ihrem Besuch geben werde. Nachts machen sie zwei ungeheure Bluthunde los, die gestern nacht die ganze Zeit bellten und den Mond anheulten. »Ich nenne den Rüden Packan«, erklärte Sir Pitt, »er hat tatsächlich schon einen Menschen zerrissen und nimmt es mit einem Stier auf; seine Mutter hieß früher Flora, jetzt aber nenne ich sie Blaffer, denn zum Beißen ist sie nun zu alt, haha!«

Die große Haustür von Queen's Crawley, das ein abscheuliches, [108] altmodisches, rotes Backsteingebäude mit hohen Schornsteinen und Giebeln im Stile der Königin Elisabeth ist, führt auf eine von der Familientaube und -schlange flankierte Terrasse. Weißt Du, meine Liebe, die Eingangshalle ist bestimmt ebenso groß und düster wie die in dem guten alten Schloß Udolpho 5. Sie hat einen ungeheuren Kamin, wo man Miss Pinkertons halbe Schule unterbringen könnte; der Feuerrost ist groß genug, um mindestens einen Ochsen darauf zu braten. Rundherum an den Wänden hängen wer weiß wie viele Generationen von Crawleys, einige mit Bärten und Halskrausen, andere mit riesigen Perücken und auswärts gedrehten Füßen, einige in langen, geraden Schnürleibern und Röcken, so steif wie Türme, wiederum andere mit langen Ringellocken und, ach, du lieber Gott, kaum Korsetts. An dem einen Ende der Halle befindet sich die große Treppe, ganz aus schwarzem Eichenholz, so unheimlich wie nur möglich; zu beiden Seiten führen mit Hirschgeweihen geschmückte hohe Türen ins Billardzimmer, in die Bibliothek, in den großen gelben Salon und in die Frühstückszimmer. Ich glaube, im ersten Stock gibt es wenigstens zwanzig Schlafzimmer; in einem steht das Bett, in dem Königin Elisabeth geschlafen hat. Meine neuen Schülerinnen haben mich heute morgen durch diese anheimelnden Räume geführt. Du kannst glauben, daß sie nicht freundlicher werden, wenn die Fensterläden stets zu sind; fast in jedem erwartete ich, beim ersten Lichtschein ein Gespenst zu erblicken. Wir haben ein Schulzimmer im zweiten Stock, in das mein Schlafzimmer und das der jungen Mädchen mündet. Dann folgen die Räume von Mr. Pitt – er wird Mr. Crawley genannt und ist der älteste Sohn – und die von Mr. Rawdon Crawley – er ist Offizier, wie ein gewisser Jemand, und befindet sich bei seinem Regiment. Raummangel gibt es hier nicht, das kann ich Dir versichern. Ich glaube, man könnte alle Leute von Russell Square im Hause unterbringen, und es bliebe immer noch Platz übrig.

[109] Eine halbe Stunde nach unserer Ankunft läutete die große Tischglocke zum Essen, und ich ging mit meinen beiden Schülerinnen hinab (es sind sehr magere, nichtssagende Dingerchen von zehn und acht Jahren); ich trug Dein hübsches Musselinkleid (weswegen die abscheuliche Mrs. Pinner so frech wurde, als Du es mir schenktest), denn ich soll als Familienmitglied behandelt werden, nur wenn Gesellschaften gegeben werden, müssen die jungen Mädchen und ich oben speisen.

Die große Tischglocke rief also zum Essen, und wir alle versammelten uns in dem kleinen Salon, wo Lady Crawley sich aufhält. Sie ist die zweite Lady Crawley und Mutter der jungen Mädchen. Sie war die Tochter eines Eisenhändlers, und ihre Heirat galt als glänzende Partie. Sie scheint früher hübsch gewesen zu sein, und ihre Augen weinen ständig um die verlorene Schönheit. Sie ist blaß, mager und hochschulterig und hat offenbar nichts zu sagen. Ihr Stiefsohn, Mr. Crawley, befand sich ebenfalls im Zimmer. Er war in vollem Staate, feierlich wie ein Beerdigungsunternehmer. Er ist blaß, mager, häßlich und schweigsam, hat dünne Beine, eine eingefallene Brust, einen heufarbenen Bart und strohgelbe Haare. Er ist das leibhaftige Ebenbild seiner seligen Mutter über dem Kaminsims – Griselda, aus dem edlen Hause Binkie.

»Dies ist die neue Gouvernante, Mr. Crawley«, sagte Lady Crawley, trat auf mich zu und ergriff meine Hand, »Miss Sharp.«

»Oh!« ließ Mr. Crawley sich vernehmen, streckte den Kopf kurz vor und wandte sich wieder einer umfangreichen Broschüre zu, die er gerade las.

»Ich hoffe, Sie werden nett zu meinen Mädchen sein«, sagte Lady Crawley, ihre roten Augen wie stets tränengefüllt.

»Ach Gott, Ma, natürlich wird sie das«, sagte die ältere; und mit einem Blick sah ich, daß ich mich vordieser Frau nicht zu fürchten brauchte.

[110] Der Butler, ganz in Schwarz, mit einem ungeheuren weißen Jabot, das aussah, als sei es eine abgemalte Spitzenkrause der Königin Elisabeth in der Halle, meldete: »Gnädige Frau, es ist aufgetragen.« Lady Crawley nahm Mr. Crawleys Arm und ging in den Speisesaal voraus, wohin ich ihr, an jeder Hand eine meiner kleinen Schülerinnen, folgte.

Sir Pitt war bereits, mit einer silbernen Kanne beschäftigt, im Zimmer. Er war soeben aus dem Keller gekommen und gleichfalls in vollem Staat, das heißt, er hatte seine Gamaschen abgelegt und zeigte seine kurzen, dicken Beine in schwarzen Wollstrümpfen. Das Büfett war beladen mit funkelndem altem Geschirr – goldenen und silbernen Bechern, Serviertellern und Menagen –, ganz wie in Rundell Bridges Geschäft. Auch alles auf dem Tisch war von Silber, und zwei Bediente mit rotem Haar und kanariengelben Livreen standen neben dem Büfett.

Mr. Crawley sprach ein langes Tischgebet, und Sir Pitt sagte amen, worauf die großen silbernen Deckel von den Gerichten abgenommen wurden.

»Was gibt es denn zu essen, Betsy?« fragte der Baronet.

»Ich glaube Hammelbrühe, Sir Pitt«, antwortete Lady Crawley.

»Moutons aux navets« 6, setzte der Butler gravitätisch hinzu (ausgesprochen, bitte sehr, wie: Mudongonaveez), »und die Suppe ist potage de mouton à l'Ecossaise 7. Die Beigerichte bestehen aus pommes de terre au naturel 8 und chou-fleur à l'eau 9

»Hammelfleisch bleibt Hammelfleisch«, sagte der Baronet, »ist was verteufelt Gutes. Was für ein Schaf war es, Horrocks, und wann habt ihr geschlachtet?«

»Eins von den schottischen Schwarzgesichtern, Sir Pitt, wir haben es am Donnerstag geschlachtet.«

»Wer hat was davon abbekommen?«

»Steel aus Mudbury hat zwei Keulen und den Rücken genommen, [111] Sir Pitt; allein er sagt, das letzte sei zu jung und bloß verdammt wollig gewesen, Sir Pitt.«

»Möchten Sie etwas potage, Miss Sharp?« fragte Mr. Crawley.

»Vorzügliche schottische Hammelbrühe, meine Liebe«, sagte Sir Pitt, »obwohl man es französisch benamst.«

»Ich glaube, in anständiger Gesellschaft ist es so üblich, das Gericht so zu nennen, wie ich es getan habe, Sir«, erwiderte Mr. Crawley hochmütig, und nun wurde uns das Besprochene samt dem mouton aux navets von den Bedienten in der kanariengelben Livree auf silbernen Tellern serviert. Danach gab es Ale und Wasser für uns junge Damen, in Weingläsern serviert. Ich bin keine Ale-Kennerin, aber ich kann mit gutem Gewissen sagen, daß ich mir Wasser vorziehe.

Während wir uns an dem Mahl erfreuten, fragte Sir Pitt, was aus den Hammelschultern geworden sei.

»Ich glaube, sie wurden in der Gesindestube verzehrt«, sagte die Lady demütig.

»Das stimmt, gnädige Frau«, bestätigte Horrocks, »was anderes bekommen wir ja auch nicht.«

Sir Pitt brach in ein heiseres Lachen aus und setzte seine Unterhaltung mit Mr. Horrocks fort. »Das kleine schwarze Ferkel von der Kenter Sau muß doch jetzt ganz schön fett sein.«

»Es wird noch nicht gleich platzen, Sir Pitt«, versetzte der Butler ernsthaft, worüber Sir Pitt und die jungen Damen gewaltig lachen mußten.

»Miss Crawley, Miss Rose Crawley«, sagte Mr. Crawley, »euer Lachen scheint mir ganz und gar fehl am Platze.«

»Mach dir nichts draus«, sagte der Baronet, »wir werden das Ferkel am Sonnabend probieren. Schlachte es Sonnabend früh, John Horrocks. Miss Sharp ißt Schweinefleisch für ihr Leben gern, nicht wahr, Miss Sharp?«

Dies war, glaube ich, das ganze Tischgespräch. Als das Mahl beendet war, wurde eine Kanne heißes Wasser vor Sir [112] Pitt gestellt, zusammen mit einer Korbflasche, die, glaube ich, Rum enthielt. Mr. Horrocks schenkte mir und meinen Schülerinnen ein Gläschen Wein ein, Lady Crawley erhielt einen Humpen. Als wir uns zurückzogen, holte sie aus ihrem Handarbeitskasten ein riesiges, nicht enden wollendes Strickzeug; die jungen Mädchen fingen an, mit einem schmutzigen Kartenspiel Cribbage zu spielen. Es brannte nur eine Kerze, aber sie stand in einem prächtigen, alten, silbernen Leuchter. Nach einigen Fragen, die die Lady an mich richtete, stand ich vor der Wahl, mich entweder an einem Band Predigten oder an der Broschüre über die Kornzölle, in der Mr. Crawley vor dem Essen gelesen hatte, zu ergötzen.

So saßen wir wohl eine Stunde, bis Schritte zu hören waren.

»Packt die Karten weg, Mädchen«, rief die Lady in großer Angst; »legen Sie Mr. Crawleys Bücher hin, Miss Sharp!« Kaum waren wir diesen Befehlen nachgekommen, als Mr. Crawley eintrat.

»Meine jungen Damen, wir wollen unsere gestrige Abhandlung fortsetzen«, sagte er, »und jede von euch soll abwechselnd eine Seite lesen, so daß Miss Sharp Gelegenheit erhält, euch zu hören.« Und nun begannen die armen Mädchen eine endlose, langweilige Predigt über die Bekehrung der Chikasaw-Indianer zu buchstabieren, die in der Bethesda-Kapelle in Liverpool gehalten worden war. War das nicht ein entzückender Abend?

Um zehn mußten die Dienstboten Sir Pitt und den ganzen Haushalt zur Abendandacht zusammentrommeln. Sir Pitt trat zuerst ein, ganz rot im Gesicht und etwas unsicher auf den Beinen; nach ihm erschienen der Butler, die Kanarienvögel, Mr. Crawleys Diener, drei andere Männer, die aufdringlich nach Stall rochen, und vier Frauenzimmer. Eine von denen war sehr aufgedonnert und warf mir einen verächtlichen Blick zu, als sie sich auf die Knie fallen ließ.

Nachdem Mr. Crawley seine Ansprache und seine Erläuterungen [113] beendet hatte, erhielten wir unsere Kerzen und gingen zu Bett. Dann wurde ich beim Schreiben gestört, wie ich meiner lieben, süßen Amelia bereits geschildert habe.

Gute Nacht! Tausend, tausend, tausend Küsse!


Sonnabend. – Heute morgen um fünf Uhr hörte ich das schwarze Ferkel quieken. Rose und Violet haben mich ihm gestern vorgestellt, auch den Ställen und dem Hundezwinger und dem Gärtner, der Obst für den Markt abnahm. Sie bettelten und flehten um eine Weintraube aus dem Gewächshaus; er meinte aber, Sir Pitt habe jede Beere gezählt, und er würde um seine Stelle kommen, wenn er sich breitschlagen ließe, eine wegzuschenken. Die lieben Mädchen fingen ein Füllen in der Koppel. Sie fragten mich, ob ich reiten wolle, und begannen dann selbst zu reiten, als der Stallknecht unter abscheulichen Flüchen herbeikam und sie fortjagte.

Lady Crawley ist stets und ständig mit ihrem Strickzeug beschäftigt. Sir Pitt ist regelmäßig jeden Abend betrunken. Er trinkt, glaube ich, mit Horrocks, dem Butler. Mr. Crawley liest abends immer Predigten, und morgens schließt er sich in sein Studierzimmer ein oder reitet in Grafschaftsangelegenheiten nach Mudbury oder nach Squashmore, wo er mittwochs und freitags vor den Pächtern predigt.

Herzliche Grüße und hunderttausendmal danke an Deinen lieben Papa und Deine liebe Mama. Hat sich Dein armer Bruder von seinem Arrakpunsch wieder erholt? Gott, o Gott! Männer sollten sich vor dem bösen Punsch hüten!

Immer und ewig die Deine.

Rebekka


Alles in Betracht gezogen, ist es, glaube ich, ganz günstig für unsere liebe Amelia Sedley vom Russell Square, daß Miss Sharp und sie nicht mehr zusammen sind. Rebekka ist gewiß ein drolliges, komisches Geschöpf, und die Beschreibung der armen Lady, die um ihre verlorene Schönheit weint, [114] sowie die des Herrn »mit heufarbenem Backenbart und strohgelben Haaren« ist zweifellos sehr scharf und verrät eine große Weltkenntnis. Daß sie, als sie auf den Knien lag, an etwas Besseres hätte denken können als an Miss Horrocks Bänder, hat uns wahrscheinlich beide in Bestürzung versetzt. Aber der geneigte Leser wird sich erinnern, daß diese Geschichte den Titel »Jahrmarkt der Eitelkeit« trägt und daß der Jahrmarkt der Eitelkeit ein eitler, verderbter, närrischer Ort ist, voll von Lug und Trug und Dünkel; und wenn auch der Moralist weder Talar noch Beffchen trägt, sondern ganz einfach dieselbe langohrige Narrenkappe, in der seine Gemeinde steckt, so ist er dennoch verpflichtet und verbunden, die Wahrheit zu sagen, soweit er sie kennt, mag er nun eine Schellenkappe oder einen Pfarrershut tragen; und im Laufe eines solchen Unternehmens kommt nun eben eine Masse Unangenehmes zur Sprache.

Ich habe in Neapel einen Kollegen gehört, einen Mann aus dem Geschichtenerzähler-Gewerbe, wie er einem Rudel ehrlicher, fauler Nichtsnutze am Meeresufer predigte und sich dabei in eine solche Wut und Leidenschaft über einige der Bösewichter steigerte, deren verruchte Taten er beschrieb oder erfand, daß er seine Zuhörerschaft mitriß; sie brachen mit dem Dichter in ein Gebrüll von Flüchen und Verwünschungen gegen das erdichtete Scheusal der Erzählung aus, so daß inmitten eines Sturmes von Mitgefühl der Hut herumging und die Bajocchi 10 hineinfielen.

In den kleinen Pariser Theatern hört man andererseits nicht nur die Leute »Ah, gredin! Ah, monstre!« 11 brüllen und den Tyrannen des Stückes von den Logen herab verwünschen, sondern die Schauspieler selbst weigern sich entschieden, die Schurkenrollen, wie zum Beispiel infâmes Anglais 12, brutale Kosaken, und was es sonst noch davon gibt, zu übernehmen, und ziehen es vor, bei kleinerer Gage in ihrem wirklichen Charakter als ehrenwerte Franzosen aufzutreten. Ich stelle die beiden Geschichten einander gegenüber, damit man [115] sehen kann, daß der Puppenspieler dieses Stückes seine Schurken nicht aus rein eigennützigen Gründen zeigt und durchprügelt, sondern weil er ihnen gegenüber einen aufrichtigen Haß hegt, den er nicht zu unterdrücken vermag und der sich in Schimpfreden und mit bösen Worten Luft machen muß.

Ich bereite daher meine gütigen Freunde darauf vor, daß ich eine Geschichte erzählen werde, in der viele abscheuliche Schurkereien und verwickelte – aber hoffentlich interessante – Verbrechen vorkommen werden. Meine Schurken sind ganze Kerle, das verspreche ich euch. Wenn wir an die passenden Stellen kommen, wollen wir es an schönen Worten nicht fehlen lassen, nein, bestimmt nicht! Wenn wir aber durch die stille Landschaft wandeln, müssen wir notgedrungen ruhig sein. Ein Sturm im Wasserglas ist abgeschmackt. Das sparen wir lieber für den gewaltigen Ozean oder die einsame Mitternacht. Dieses Kapitel hier ist noch sehr sanft. Andere – doch wir wollen nicht vorgreifen.

Auch möchte ich, während unsere Darsteller ihren Weg gehen, mir als Mensch und Bruder die Erlaubnis erbitten, sie nicht allein vorzustellen, sondern auch gelegentlich von der Bühne herabzusteigen und über sie zu sprechen. Sind sie gut und freundlich, will ich sie lieben und ihnen die Hand schütteln, sind sie dumm, mir mit dem Leser ganz insgeheim ins Fäustchen lachen, sind sie aber böse und herzlos, will ich sie so energisch ausschelten, wie es die Höflichkeit erlaubt.

Sonst würde der freundliche Leser am Ende noch meinen, ich verhöhnte die Abendandacht, die Miss Sharp so lächerlich findet; oder ich lachte über den schwankenden alten Silen 13 von einem Baronet, während doch das Gelächter von einer Person herrührt, die nichts hochachtet als ihr Wohlergehen und kein Auge für etwas anderes als ihren Erfolg hat. Solche Leute leben in der Welt und kommen vorwärts – ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Hoffnung. Diese, meine[116] Freunde, wollen wir uns mit aller Kraft vornehmen. Es gibt auch Leute darunter, die Erfolg haben und bloß Pfuscher und Narren sind, und um diese zu bekämpfen und bloßzustellen, wurde zweifellos das Lachen geschaffen.

Fußnoten

1 Von 1660 bis 1840 hatten in England gewisse Stände, wie z.B. die Parlamentsabgeordneten, das Vorrecht, portofreie Briefe zu schicken.

2 Roman der englischen Schriftstellerin Frances Burney (1752-1840).

3 Held in Frances Burneys Roman »Evelina«, den Thackeray offensichtlich mit »Cecilia« (s. vorhergehende Anm.) verwechselte.

4 Recht eines Gutsherrn, die in seinem Gebiet liegende Pfarre zu besetzen.

5 Schloß in dem Roman »The Mysteries of Udolpho« (Die Geheimnisse von Udolpho) der englischen Schriftstellerin Ann Radcliffe (1764-1823).

6 (franz.) Hammelfleisch mit Kohlrüben.

7 (franz.) Hammelfleischsuppe auf schottische Art.

8 (franz.) Pellkartoffeln.

9 (franz.) Blumenkohl, in Wasser gekocht.

10 kleine italienische Münze.

11 (franz.) Oh, du Schurke! Du Ungeheuer!

12 (franz.) niederträchtige Engländer.

13 in der griechischen Mythologie Begleiter des Weingottes Dionysos; dargestellt mit Glatze, Stumpfnase und Pferdeohren, trunken auf einem Esel reitend.

9. Kapitel
Familienporträts

Sir Pitt Crawley war ein Philosoph, mit einem Hang zum Ordinären. Seine erste Ehe mit der Tochter des edlen Binkie war unter der Beihilfe seiner Eltern zustande gekommen. Da er Lady Crawley zu ihren Lebzeiten oft wiederholt hatte, sie sei eine verdammt zänkische, vornehme Hexe und er lasse sich lieber hängen, als nach ihrem Tode wieder eine ihres Schlages zu nehmen, so hielt er nach dem Hinscheiden der Lady sein Wort und nahm als zweite Frau Miss Rose Dawson, Tochter von Mr. John Thomas Dawson, Eisenhändler in Mudbury. Welch ein Glück für Rose, Lady Crawley zu werden!

Wir wollen nun die Posten ihres Glückes aufzählen. Erstens gab sie den jungen Peter Butt auf, mit dem sie eine Liebschaft hatte und der sich nun infolge seiner unglücklichen Liebe auf Schmuggeln, Wildern und tausend andere schlimme Dinge verlegte. Zweitens brach sie pflichtschuldigst mit allen Freunden und Vertrauten ihrer Jugend, die sie als Lady von Queen's Crawley natürlich nicht empfangen konnte – fand aber in ihrem neuen Rang und ihrem neuen Wohnsitz niemanden, der sie willkommen hieß. Wer wäre aber auch in Frage gekommen? Sir Huddleston Fuddleston hatte drei Töchter, die alle gehofft hatten, Lady Crawley zu werden. Sir Giles Wapshots Familie fühlte sich beleidigt, daß keins der Wapshotschen Mädchen bei der Heirat berücksichtigt worden war, und die übrigen Baronets der Grafschaft [117] waren empört über die Mißheirat ihres Standesgenossen. Die Bürgerlichen ziehen wir gar nicht in Betracht, die mögen anonym grollen.

Sir Pitt kümmerte sich, wie er sagte, keinen Pfifferling um jemanden dabei. Er hatte seine hübsche Rose, und was braucht ein Mann mehr, als zu tun, was ihm gefällt? Er betrank sich daher jeden Abend, prügelte ab und zu seine hübsche Rose und ließ sie mutterseelenallein zurück, wenn er nach London zu den Parlamentssitzungen fuhr. Selbst Mrs. Bute Crawley, die Pfarrersfrau, weigerte sich, sie zu besuchen, da sie, wie sie sagte, niemals einer Krämerstochter den Vortritt lassen würde.

Die einzigen Gaben, mit denen die Natur Lady Crawley ausgestattet hatte, waren rosige Wangen und eine weiße Haut, und da sie keinen Charakter und keine Talente, keine Meinung, keine Beschäftigung und keinen Zeitvertreib hatte und ihr jene Seelenstärke und jenes wilde Temperament fehlten, die oftmals sonst ganz törichten Frauen eigen sind, so gelang es ihr nicht, Sir Pitt sonderlich zu fesseln. Die Rosen verschwanden von ihren Wangen, und ihre Gestalt verlor die hübsche Frische nach der Geburt einiger Kinder; sie wurde zu einer bloßen Maschine im Hause ihres Mannes, ebenso unnütz wie das große Klavier der verstorbenen Lady Crawley. Da sie einen hellen Teint hatte, so trug sie helle Kleider, wie die meisten Blondinen, und erschien vornehmlich in einem schmutzigen Meergrün oder schlampigen Himmelblau. Tag und Nacht war sie mit diesem Strickzeug oder einem ähnlichen beschäftigt. Im Laufe weniger Jahre hatte sie Bettdecken für ganz Queen's Crawley gestrickt. Ihr gehörte ein Blumengärtchen, das sie ganz gern hatte; sonst aber empfand sie weder Zuneigung noch Abneigung für etwas. War ihr Mann grob gegen sie, so war sie apathisch; schlug er sie, so weinte sie. Sie hatte nicht Charakter genug, um sich dem Trunke zu ergeben, und schlurfte seufzend den ganzen Tag mit Lockenwickeln umher. [118] Oh, Jahrmarkt der Eitelkeit – Jahrmarkt der Eitelkeit! Ohne dich hätte sie ein frohes junges Mädchen sein können: Peter Butt und Rose, ein glückliches Ehepaar auf einem hübschen kleinen Bauernhof inmitten einer gesunden Kinderschar und einem ehrlichen Paket Freuden, Sorgen, Hoffnungen und Kämpfen. Aber ein Titel und ein Vierspänner sind auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit kostbarer als Glück, und wenn Heinrich VIII. oder Blaubart 1 noch lebte und die zehnte Frau suchte – glaubt ihr nicht, er könnte das hübscheste Mädchen der Saison bekommen?

Das schlaffe, mißmutige Wesen ihrer Mama erweckte natürlich bei den kleinen Töchtern keine große Zuneigung. Die Kinder waren jedoch glücklich in der Gesindestube und in den Ställen; und da der schottische Gärtner glücklicherweise eine nette Frau und nette Kinder besaß, so fanden sie gute Gesellschaft und ein wenig Unterweisung in seinem Häuschen – und dies war die einzige Erziehung, die ihnen zuteil wurde, bis Miss Sharp kam.

Sie war einzig und allein auf die Vorstellungen von Mr. Pitt Crawley eingestellt worden; er war der einzige Freund oder Beschützer, den Lady Crawley je besessen hatte, und der einzige Mensch außer ihren Kindern, zu dem sie eine schwache Zuneigung empfand. Mr. Pitt schlug den edlen Binkies nach, von denen er abstammte, und war ein sehr höflicher und anständiger Herr. Als er vom Christchurch College zurückgekehrt war und ins Mannesalter kam, begann er, die gelockerte Disziplin im Hause wiederherzustellen, ohne auf seinen Vater, der ihn fürchtete, Rücksicht zu nehmen. Er war ein Mann von so strenger Förmlichkeit, daß er lieber verhungert wäre, als ohne weiße Halsbinde zum Essen zu gehen; einmal, als er gerade von der Universität zurück war, überbrachte ihm Horrocks, der Butler, einen Brief ohne Präsentierbrett und empfing dafür einen so schneidenden Blick und einen so scharfen Verweis, daß der Diener sein Leben lang vor ihm zitterte. Das ganze Haus beugte [119] sich vor ihm: Lady Crawleys Lockenwickel wurden schneller beseitigt, wenn er zu Hause war, Sir Pitts schmutzige Gamaschen verschwanden, und wenn auch der unverbesserliche alte Mann noch an anderen alten Gewohnheiten hing, in Gegenwart seines Sohnes betrank er sich nie und war zurückhaltend und höflich gegenüber der Dienerschaft. Die Dienstboten bemerkten auch, daß Sir Pitt nie auf Lady Crawley fluchte, wenn sein Sohn im Zimmer war.

Er war es, der den Butler anwies, »Gnädige Frau, es ist aufgetragen« zu sagen und der darauf bestand, die Lady zu Tisch zu führen. Er sprach zwar selten mit ihr, aber wenn er es tat, geschah es mit der tiefsten Ehrerbietung, und nie ließ er sie das Zimmer verlassen, ohne sich zu erheben und ihr mit einer zierlichen Verbeugung die Tür zu öffnen.

In Eton nannte man ihn Miss Crawley, und, wie ich leider berichten muß, pflegte ihn sein jüngerer Bruder Rawdon fürchterlich durchzuprügeln. Seinen Mangel an Talent und glänzenden Geistesgaben machte er durch rühmlichen Fleiß wett, und er soll während seiner acht Schuljahre jene Strafe nicht erhalten haben, der – wie man gewöhnlich glaubt – nur ein Cherub entgehen kann.

Seine Universitätslaufbahn war natürlich höchst ehrenvoll gewesen. Hier bereitete er sich für das öffentliche Leben vor, in das ihn sein Großvater, Lord Binkie, einführen sollte. Er studierte mit großem Fleiße die antiken und modernen Redner und sprach unaufhörlich in den Debattierklubs. Aber obwohl seine Worte nur so flossen und er sein schwaches Stimmchen zum eigenen Vergnügen sehr wichtigtuerisch hören ließ und er nur Gedanken oder Meinungen vorbrachte, die völlig alt und abgedroschen waren und noch durch ein lateinisches Zitat untermauert werden konnten, schlugen seine hochfliegenden Pläne fehl, trotz seiner Mittelmäßigkeit, die doch eigentlich jedem Menschen Erfolg verspricht. Er gewann nicht einmal den Gedichtpreis, der ihm doch, nach Meinung aller seiner Freunde, zukam.

[120] Als er die Universität verließ, wurde er Privatsekretär von Lord Binkie und dann zum Attaché bei der Gesandtschaft in Pumpernickel ernannt. Diesen Posten bekleidete er in durchaus ehrenvoller Weise, indem er dem damaligen Außenminister Depeschen in der Form von Straßburger Pasteten überbrachte. Nachdem er zehn Jahre Attaché gewesen war (mehrere Jahre noch nach dem Hinscheiden des vielbetrauerten Lord Binkie) und da er fand, daß die Beförderung etwas auf sich warten ließ, gab er endlich leicht angewidert die diplomatische Karriere auf und fing an, ein Landedelmann zu werden.

Nach England zurückgekehrt, schrieb er eine Broschüre über Malz (denn er war ehrgeizig und liebte es, im Mittelpunkt der Öffentlichkeit zu stehen) und nahm heftig Partei in der Frage der Negerbefreiung. Dann wurde er ein Freund von Mr. Wilberforce, dessen Politik er bewunderte, und führte jenen berühmten Briefwechsel mit Ehrwürden Silas Hornblower über die Bekehrung der Ashantis 2. Wenn auch vielleicht nicht während der Parlamentssitzungen, so doch im Mai, während der religiösen Treffen, war er in London. Auf dem Lande war er Friedensrichter sowie auch ein eifriger Fürsprecher und Besucher derjenigen, die der religiösen Unterweisung bedurften. Es hieß, er mache Lady Jane Sheepshanks, Lord Southdowns dritter Tochter, den Hof, deren Schwester, Lady Emily, die rührenden Erbauungsschriften »Der wahre Kompaß des Seemannes« und »Die Apfelfrau von Finchley« schrieb.

Miss Sharps Bericht von seiner Tätigkeit in Queen's Crawley war durchaus keine Karikatur. Die Dienerschaft dort mußte sich tatsächlich den erwähnten Andachtsübungen unterwerfen, und er brachte sogar, was ja ein großer Vorteil war, seinen Vater dazu, sich daran zu beteiligen. Eine Independentenkapelle 3 im Kirchspiele stand unter seinem Schutz, zur tiefen Entrüstung seines Onkels, des Pfarrherrn, und mithin zum großen Vergnügen Sir Pitts, der sich bewegen ließ, [121] ein- oder zweimal selbst hinzugehen. Das verursachte einige heftige Predigten in der Pfarrkirche von Crawley, direkt gegen den alten gotischen Kirchenstuhl geschleudert, den der Baronet dort hatte.

Aber der ehrliche Sir Pitt fühlte die Kraft dieser Reden nicht, da er während der Predigt stets sein Schläfchen machte.

Mr. Crawley war zum Besten der Nation und der ganzen Christenheit sehr darauf bedacht, daß der alte Herr ihm seinen Parlamentssitz überließe; der Vater aber weigerte sich beharrlich, das zu tun. Beide waren natürlich zu klug, um die fünfzehnhundert Pfund pro Jahr aufzugeben, die der zweite Sitz einbrachte (um jene Zeit hatte ihn Mr. Quadroon inne, mit carte blanche 4 betreffs der Sklavenfrage). Tatsächlich war das Familiengut sehr verschuldet, und das Einkommen aus dem Wahlflecken war für den Haushalt von Queen's Crawley von großem Nutzen.

Die Familie hatte sich nie mehr von der harten Geldstrafe erholt, die Walpole Crawley, dem ersten Baronet, wegen Veruntreuungen im Schnur- und Siegellackamt auferlegt worden war. Sir Walpole war ein lustiger Bursche gewesen, der erpicht war, Geld zu haben und es auszugeben (»alieni appetens, sui profusus« 5, wie Mr. Crawley stets seufzend bemerkte). Er war zu seiner Zeit in der ganzen Grafschaft beliebt wegen der Trunkenheit und der Gastfreundschaft, die beständig in Queen's Crawley herrschte. Damals waren die Keller mit Burgunder gefüllt, die Zwinger mit Jagdhunden und die Ställe mit prachtvollen Jagdpferden; jetzt mußten die Pferde von Queen's Crawley vor dem Pflug gehen oder die Trafalgarkutsche ziehen. Ein Gespann dieser Pferde hatte eines Tages, als es nicht woanders benötigt wurde, Miss Sharp ins Schloß gebracht; denn obgleich Sir Pitt durch und durch ein ungeschlachter Bauer war, so hielt er doch große Stücke auf sein Ansehen, solange er zu Hause war; selten fuhr er mit weniger als vier Pferden aus, und [122] obgleich nur gekochtes Hammelfleisch auf den Tisch kam, mußten es doch stets drei Diener servieren.

Wenn bloßer Geiz einen Mann reich machen könnte – Sir Pitt Crawley wäre sehr reich geworden. Wäre er Rechtsanwalt in einer Provinzstadt geworden ohne anderes Kapital als seinen Kopf, so hätte er wahrscheinlich Nutzen daraus geschlagen und sich einen bedeutenden Einfluß und ein gutes Auskommen verschafft. Statt dessen hatte er unglücklicherweise einen wohlklingenden Namen und einen großen, aber belasteten Besitz, was ihm eher Schaden als Nutzen brachte. Er hatte eine Schwäche fürs Prozessieren, und das kostete ihn jährlich viele Tausende. Da er, wie er sagte, viel zu gescheit war, um von einem einzigen Verwalter ausgeraubt zu werden, ließ er ein ganzes Dutzend in seinen Geschäften mißwirtschaften, denen er allen gleichermaßen mißtraute. Er war ein so strenger Gutsherr, daß er fast nur bankrotte Pächter finden konnte, und ein so geiziger Landwirt, daß er dem Boden die Saat mißgönnte, worauf ihm die rächende Natur die Ernte vorenthielt, die sie freigebigeren Bauern spendete. Er spekulierte, wo er nur konnte, besaß Bergwerke, kaufte Kanalaktien, lieferte Pferde für Postkutschen, übernahm Regierungsaufträge und war der geschäftigste Mann und Friedensrichter der ganzen Grafschaft. Da er in seinem Granitbruch keinen ehrlichen Verwalter bezahlen wollte, so konnte er mit Genugtuung feststellen, daß ihm vier Aufseher nach Amerika durchgingen und ein Vermögen mitnahmen. Da er die nötigen Vorsichtsmaßregeln nicht beachtete, füllten sich seine Bergwerke mit Wasser; die Regierung nahm ihm die Lieferung verdorbenen Rindfleisches nicht ab; und was seine Postpferde betrifft, so wußte jeder Posthalter im Königreich, daß er mehr Pferde verlor als jeder andere, weil er zu billig kaufte und nicht genug fütterte. Von Natur aus war er gesellig und weit entfernt, hochmütig zu sein, er zog die Gesellschaft eines Bauern oder eines Pferdehändlers der eines Gentleman, wie seines Sohnes, [123] vor; er trank und fluchte gern und liebte es, mit den Bauerntöchtern zu scherzen. Man konnte sich nicht entsinnen, daß er je einen Shilling verschenkt oder eine gute Tat vollbracht hätte, aber er war immer guter Laune, hinterlistig und lachlustig. Er konnte mit seinem Pächter ein Gläschen trinken und Witze reißen und ihn tags darauf pfänden lassen; er konnte mit dem Wilddieb spaßen, den er in ebenso guter Laune deportieren ließ. Seine Höflichkeit gegenüber dem schönen Geschlecht hat Miss Rebekka Sharp bereits angedeutet – mit einem Wort: England besaß unter allen seinen Baronets, Peers und einfachen Leuten keinen listigeren, knauserigeren, selbstsüchtigeren, törichteren, verrufeneren alten Mann. Sir Pitt Crawleys adlige Hand war in jedermanns Tasche, nur nicht in seiner eigenen; und zu unserem großen Kummer und Schmerz sehen wir als Bewunderer der britischen Aristokratie uns gezwungen, so viele schlimme Eigenschaften bei einer Person zugeben zu müssen, deren Name im »Debrett« 6 aufgeführt ist.

Eine Hauptursache der Zuneigung von Sir Pitt zu seinem Sohn lag in Geldangelegenheiten. Der Baronet schuldete seinem Sohn aus der Mitgift seiner Mutter eine Summe Geldes, die zu bezahlen ihm nicht einfiel. In der Tat hatte er einen fast unbesiegbaren Widerwillen gegen das Zahlen überhaupt, und nur mit Gewalt konnte er dazu gebracht werden, seinen pekuniären Verpflichtungen nachzukommen. Miss Sharp rechnete aus (denn sie wurde, wie wir bald hören werden, in die meisten Familiengeheimnisse eingeweiht), daß der ehrenwerte Baronet jährlich mehrere hundert Pfund nur an seine Gläubiger zu zahlen hatte; es bereitete ihm jedoch ein Vergnügen, das er sich nicht versagen konnte. Er hatte eine wilde Freude daran, die armen Teufel warten zu lassen und die Zahlung von einem Gericht zum anderen, von einem Termin zum anderen zu verschieben. »Was hat es sonst für sich, im Parlament zu sitzen, wenn man seine Schulden bezahlen muß?« fragte er. Und seine [124] Stellung als Abgeordneter brachte ihm so wirklichen Nutzen.

Oh, Jahrmarkt der Eitelkeit – Jahrmarkt der Eitelkeit! Hier ist ein Mann, der nicht richtig schreiben kann und der sich nichts aus dem Lesen macht, ein Mann mit Bauerngewohnheiten und Bauernschläue, dessen einziger Lebenszweck es ist, die Leute übers Ohr zu hauen, dessen Geschmack, Rücksicht und Vergnügen nur auf das Gemeine und Schmutzige gerichtet waren; und doch ist es ein Mann von Rang und Ehre und Macht, ein Würdenträger des Landes und eine Stütze des Staates. Er ist Obersheriff und fährt in einer goldenen Kutsche. Große Minister und Staatsmänner suchen seine Gunst, und auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit nimmt er eine höhere Stellung ein als das glänzendste Genie oder die unbefleckteste Tugend.


Sir Pitt hatte eine unverheiratete Halbschwester, die das große Vermögen ihrer Mutter geerbt hatte, und obgleich der Baronet vorgeschlagen hatte, ihm dieses Geld als Hypothek zu überlassen, lehnte Miss Crawley das Angebot ab und zog die sichereren Staatspapiere vor. Sie hatte jedoch zu verstehen gegeben, daß sie ihr Vermögen Sir Pitts zweitem Sohne und der Familie im Pfarrhaus vermachen wolle, und hatte bereits ein- oder zweimal die Schulden Rawdon Crawleys auf der Universität und bei der Armee bezahlt. Miss Crawley war daher der Gegenstand größter Hochachtung, wenn sie nach Queen's Crawley kam, denn sie hatte ein Guthaben auf der Bank, das ihr überall Liebe erworben hätte.

Welche Würde verleiht doch ein Bankkonto einer alten Dame! Wie nachsichtig blicken wir auf ihre Fehler, wenn sie eine Verwandte ist (möge jeder Leser ein paar Dutzend davon haben!), wie freundlich und gütig finden wir das Geschöpf! Lächelnd führt der jüngere Teilhaber von Hobbs und Dobbs sie zu ihrer wappengeschmückten Kutsche mit dem dicken keuchenden Kutscher! Gewöhnlich finden wir bei ihrem[125] Besuch Gelegenheit, unsere Freunde wissen zu lassen, welche vornehme Stellung sie einnimmt! Wir sagen (und das ist nicht gelogen), »ich wünschte, ich hätte Miss MacWhirters Unterschrift auf einem Scheck über fünftausend Pfund«. – »Sie würde es nicht vermissen«, sagt Ihre Frau. »Es ist meine Tante«, sagen Sie beiläufig, wenn Ihr Freund Sie fragt, ob Sie mit Miss MacWhirter verwandt seien. Ihre Frau sendet ihr ständig kleine Liebesbeweise; Ihre kleinen Mädchen arbeiten ewig Körbchen, Kissen und Fußstützen für sie. Was für ein schönes Feuer brennt in ihrem Zimmer, wenn sie zu Besuch kommt, obgleich Ihre Frau sich ihr Korsett im Kalten schnüren muß! Während ihres Aufenthaltes ist das Haus festlich, hübsch, warm, behaglich und freundlich, wie zu anderen Zeiten niemals. Sie selbst, verehrter Herr, vergessen das gewohnte Nachmittagsschläfchen und sind ganz plötzlich (obgleich Sie stets verlieren) leidenschaftlicher Whistspieler. Was für ein Essen gibt es – jeden Tag Wildpret, Madeira und Haufen guter Fische aus London. Selbst die Dienstboten in der Küche haben teil an dem allgemeinen Glück: irgendwie ist das Bier, während der dicke Kutscher von Miss MacWhirter da ist, viel stärker geworden, und es wird gar nicht darauf geachtet, wieviel Tee und Zucker im Kinderzimmer (wo ihre Kammerjungfer speist) verbraucht wird. Stimmt es oder stimmt es nicht? Ich wende mich an den Mittelstand. Oh, ihr himmlischen Mächte! Ich wollte, ihr schicktet mir eine alte Tante – eine unverheiratete Tante – eine Tante mit einem Wappen an der Kutsche und einem milchkaffeebraunen Toupet. Meine Kinder müßten Handarbeitsbeutel für sie anfertigen, und meine Julia und ich würden es ihr bequem machen! Süße, süße Vision! Törichter, törichter Traum!

Fußnoten

1 Heinrich VIII. (1491-1547), König von England von 1509 bis 1547. Er heiratete sechsmal und ließ seine Frauen jeweils hinrichten oder ins Kloster sperren. Sein Leben wird oft mit dem des Blaubart aus einem alten orientalischen Märchen verglichen, das auch Charles Perrault als Quelle benutzte. (Siehe auch Anm. zu S. 88.)

2 Negerstamm an der Küste Westafrikas.

3 Anhänger einer religiösen Sekte, die außerhalb der englischen Staatskirche stand.

4 (franz.) unumschränkte Vollmacht.

5 (lat.) nach Fremdem trachtend, das Eigene verschwendend.

6 jährlich erscheinender englischer Adelskalender für England, Schottland und Irland; gegründet 1802 von John Debrett (gest. 1822).

[126] 10. Kapitel
Miss Sharp beginnt Freundschaften zu schließen

Nachdem Rebekka in diese liebenswürdige Familie aufgenommen war, deren Porträt wir auf den vorhergehenden Seiten skizziert haben, machte sie es sich natürlich zur Pflicht, sich, wie sie es ausdrückte, ihren Wohltätern angenehm zu machen und nach bester Kraft deren Vertrauen zu gewinnen. Muß man nicht unbedingt dieses Dankbarkeitsgefühl bei einer armen Waise bewundern; und muß man nicht zugeben, daß ihre Berechnungen eventuell etwas selbstsüchtig waren, ihre Klugheit aber durchaus gerechtfertigt war? Ich stehe allein in der Welt, sagte sich das freundlose Mädchen. Ich werde nie etwas anderes besitzen, als was ich durch meiner eigenen Hände Arbeit verdiene. Während das junge Ding mit den roten Wangen, diese Amelia, nur die Hälfte von meinem Verstand hat und ihr trotzdem zehntausend Pfund und glänzende Aussichten sicher sind, muß sich die arme Rebekka (und meine Figur ist viel besser als ihre) auf sich selbst und ihren Verstand verlassen. Nun, wir wollen abwarten, ob mein Verstand mir nicht einen anständigen Unterhalt verschaffen kann und ob ich nicht eines Tages Miss Amelia meine wahre Überlegenheit zeigen kann. Nicht daß ich etwas gegen die arme Amelia hätte: wer könnte etwas gegen ein harmloses, gutmütiges Geschöpf wie sie haben? Aber es wird doch ein schöner Tag sein, wenn ich meine Stellung über ihr in der Gesellschaft einnehmen kann, und warum sollte ich das auch nicht?

In solchen Zukunftsträumen wiegte sich unsere kleine romantische Freundin, und wir dürfen keinen Anstoß daran nehmen, daß in allen ihren Luftschlössern ein Mann der Hauptbewohner war. Woran sollten junge Damen sonst denken als an Männer? Woran sonst denken ihre lieben Mütter? Ich muß meine eigene Mutter sein, meinte Rebekka, [127] nicht ohne ein stechendes Gefühl der Niederlage, wenn sie an ihr kleines mißliches Abenteuer mit Joe Sedley dachte.

Sie beschloß daher weise, ihre Stellung bei der Familie in Queen's Crawley angenehm und sicher zu gestalten, und nahm sich zu diesem Zwecke vor, alle um sie her, die irgendwie zu ihrem Glück beitragen konnten, zu Freunden zu machen.

Da Lady Crawley nicht zu diesem Personenkreis gehörte und da sie außerdem eine gleichgültige und charakterlose Frau war, die in ihrem eigenen Hause nicht das mindeste zu sagen hatte, so entdeckte Rebekka bald, daß es durchaus nicht notwendig sei, sich um ihre Zuneigung zu bemühen – ja daß es überhaupt unmöglich sei, sie zu gewinnen. Mit ihren Schülerinnen pflegte sie von der »armen Mama« zu sprechen; und obwohl sie diese Dame mit allen Anzeichen kühlen Respekts behandelte, richtete sie doch ihr Hauptaugenmerk wohlweislich auf die übrigen Familienmitglieder.

Gegenüber den Kindern, deren Beifall sie völlig gewann, benutzte sie eine ganz einfache Methode. Sie stopfte die jungen Köpfe nicht mit allzuviel Gelehrsamkeit voll, sondern ließ ihnen lieber viel Freiheit, sich selbst zu erziehen; denn welche Erziehung ist wirksamer als die Selbsterziehung? Die ältere hatte eine Vorliebe für Bücher, und da die alte Bibliothek in Queen's Crawley eine beträchtliche Menge französischer und englischer Unterhaltungsliteratur aus dem vergangenen Jahrhundert beherbergte (die Bücher hatte der Sekretär des Schnur- und Siegellackamtes erworben, als er in Ungnade gefallen war) und da sich keiner außer Rebekka um die Bücherregale kümmerte, so konnte sie Miss Rose Crawley auf angenehme Weise und sozusagen spielend eine Menge Kenntnisse beibringen.

So lasen sie und Miss Rose viele reizende französische und englische Schriftsteller zusammen, von denen wir nur einige erwähnen wollen: den gelehrten Doktor Smollett 1, den geistreichen Mr. Henry Fielding 2, den anmutigen und phantastischen [128] Monsieur Crébillon 3 den Jüngeren, den unser unsterblicher Dichter Gray so sehr bewunderte, sowie den universellen Monsieur de Voltaire 4. Einmal, als Mr. Crawley fragte, was die Mädchen lasen, antwortete die Gouvernante: »Smollett.« – »Oh, Smollett«, rief Mr. Crawley völlig befriedigt. »Seine Geschichte ist zwar langweiliger, aber keineswegs so gefährlich wie die von Mr. Hume 5. Sie lesen also Geschichte?« – »Ja«, antwortete Miss Rose, ohne jedoch hinzuzufügen, daß es die »Geschichte von Mr. Humphry Clinker« sei. Bei anderer Gelegenheit nahm er Anstoß daran, in der Hand seiner Schwester einen Band französischer Schauspiele zu finden; als aber die Gouvernante erklärte, sie lasse das ihre Schülerin lesen, um ihr die französische Konversation beizubringen, so mußte er sich wohl oder übel zufriedengeben.

Als Diplomat war Mr. Crawley nicht wenig stolz auf seine Fertigkeit im Französischen (denn noch gehörte er dieser Welt an), und er fühlte sich durch die Komplimente, die ihm die Gouvernante deswegen beständig machte, sehr geschmeichelt.

Miss Violets Neigungen dagegen waren rauher und geräuschvoller als die ihrer Schwester. Sie kannte die abgelegenen Orte, wo die Hennen die Eier legen. Sie konnte auf einen Baum klettern, um in den Nestern der gefiederten Sänger gefleckte Beute zu machen. Ihr größtes Vergnügen war es, auf den jungen Füllen zu reiten und wie Camilla 6 die Ebene zu durchstreifen. Sie war der Liebling ihres Vaters und der Stallknechte. Sie war auch der Günstling und gleichzeitig der Schrecken der Köchin, denn sie entdeckte die Marmeladentöpfe im dunkelsten Versteck und machte sich darüber her, sobald sie in ihre Reichweite kamen. Sie lag sich mit ihrer Schwester ständig in den Haaren. Entdeckte Miss Sharp solch eine Schandtat, so erzählte sie Lady Crawley nichts davon, die sie sonst dem Vater oder, noch schlimmer, Mr. Crawley mitgeteilt hätte, sondern versprach, nichts zu [129] verraten, wenn Miss Violet ein artiges Mädchen sein und ihre Gouvernante liebhaben wollte.

Mr. Crawley gegenüber zeigte sich Miss Sharp respektvoll und unterwürfig. Sie zog ihn zu Rate, wenn sie französische Stellen nicht verstand, obgleich ihre Mutter eine Französin gewesen war; er konnte sie stets zu ihrer Zufriedenheit auslegen. Neben dieser Hilfe bei der weltlichen Literatur war er auch so gütig, Bücher ernsteren Charakters für sie auszuwählen. Er richtete oft das Wort an sie, und sie bewunderte über die Maßen seine Rede vor der Gesellschaft zur Unterstützung der Quashimabu 7, interessierte sich für seine Malz-Broschüre, war oft bis zu Tränen gerührt von seinen Abendandachten und versicherte dann: »Ach, ich danke Ihnen, Sir.« Dabei seufzte sie und schickte einen Blick zum Himmel, der ihn bisweilen bewog, ihr die Hand zu drücken. »Schließlich ist das Blut doch alles«, pflegte der aristokratische Frömmler zu sagen. »Wie ist Miss Sharp doch von meinen Worten gepackt, während niemand von den Leuten hier ergriffen wird. Ich bin zu fein für sie – zu zart. Ich muß meinen Stil populärer machen – sie aber versteht mich. Ihre Mutter war eine Montmorency.«

In der Tat stammte Miss Sharp mütterlicherseits offenbar von dieser berühmten Familie ab. Natürlich erzählte sie nicht, daß ihre Mutter auf der Bühne gestanden hatte; es hätte nur Mr. Crawleys religiöse Skrupel geweckt. Wie viele adlige Emigranten hatte die abscheuliche Revolution ins Elend gestürzt! Noch ehe sie ein paar Monate im Hause war, hatte sie schon verschiedene Geschichten über ihre Ahnen parat; einige davon fand Mr. Crawley zufällig in d'Hoziers Lexikon, das in der Bibliothek stand, und so sah er sich in seinem Glauben an deren Echtheit und an die vornehme Geburt Rebekkas bestärkt. Sollen wir oder unsere Heldin aus dieser Neugierde und den Nachforschungen im Lexikon schließen, daß Mr. Crawley sich für sie interessierte? Nein, seine Teilnahme war rein freundschaftlicher Natur. [130] Haben wir nicht bereits gesagt, daß Lady Jane Sheepshanks seine Angebetete war?

Ein paarmal machte er Rebekka Vorstellungen, wie wenig schicklich es sei, daß sie mit Sir Pitt Puff 8 spiele; er nannte dieses Spiel einen gottlosen Zeitvertreib und setzte hinzu, daß sie weit besser daran täte, »Thrumps Vermächtnis« oder »Die blinde Waschfrau von Moorfields« oder irgendein Werk ernsteren Charakters zu lesen; allein Miss Sharp bemerkte, ihre liebe Mutter habe dieses Spiel oft mit dem alten Comte de Trictrac und dem ehrwürdigen Abbé du Cornet gespielt, und fand so eine Entschuldigung für diese und andere weltliche Belustigungen.

Aber die kleine Gouvernante machte sich bei dem Baronet nicht bloß durch das Puffspiel angenehm. Sie fand mancherlei Mittel, um ihm nützlich zu sein. Sie las mit unermüdlicher Geduld die Prozeßakten durch, mit denen er vor ihrer Ankunft in Queen's Crawley versprochen hatte, sie zu unterhalten. Sie erbot sich, viele seiner Briefe abzuschreiben, und änderte dabei geschickt die Orthographie, um sie mit dem gegenwärtigen Stand in Einklang zu bringen. Sie interessierte sich für alles, was mit dem Besitz zusammenhing, den Ackerbau, den Park, den Garten und die Stallungen; und sie wußte sich zu einer so angenehmen Gesellschafterin zu machen, daß der Baronet seinen gewöhnlichen Morgenspaziergang selten ohne sie (und natürlich auch die Kinder) machte. Sie erteilte dann gute Ratschläge betreffs der Bäume, die gekappt, der Beete, die umgegraben, des Getreides, das geschnitten, der Pferde, die für den Wagen oder den Pflug bestimmt werden sollten. Sie war noch kein Jahr in Queen's Crawley und hatte das Vertrauen des Baronets bereits in vollstem Maße gewonnen, und das Tischgespräch, das früher zwischen ihm und Mr. Horrocks, dem Butler, geführt wurde, fand jetzt fast ausschließlich zwischen Sir Pitt und Miss Sharp statt. Sie war beinahe Herrin im Hause, wenn Mr. Crawley abwesend war; dabei benahm sie sich aber in ihrer neuen, [131] hohen Stellung mit so viel Umsicht und Bescheidenheit, daß sie die Autoritäten in Küche und Stall, denen gegenüber sie sich auch äußerst bescheiden und freundlich gab, nicht beleidigte. Sie war ganz verschieden von dem hochmütigen, scheuen, unzufriedenen kleinen Mädchen, das wir früher kennengelernt haben; und diese Wesensänderung bewies große Klugheit, den aufrichtigen Wunsch, sich zu bessern, oder jedenfalls doch viel moralischen Mut. Ob dieses neue System der Gefälligkeit und Demut, das unsere Rebekka anwandte, vom Herzen diktiert wurde, wird ihre spätere Geschichte beweisen. Ein System der Heuchelei wird selten jahrelang von einer Einundzwanzigjährigen befriedigend praktiziert. Unsere Leser werden sich jedoch erinnern, daß unsere Heldin, obwohl jung an Jahren, doch alt an Lebenserfahrung war. Unsere Geschichte hat ihren Zweck verfehlt, wenn Sie nicht bereits entdeckt haben, daß Becky ein sehr gescheites Mädchen war.

Der ältere und der jüngere Sohn des Crawleyschen Hauses waren, wie der Mann und die Frau im Wetterhäuschen, nie gemeinsam zu Hause – sie haßten einander von ganzem Herzen. Rawdon Crawley, der Dragoner, hegte eine gewaltige Verachtung gegen das ganze Haus und kam fast nur dahin, wenn seine Tante ihren jährlichen Besuch abstattete.

Die großartige Eigenschaft dieser alten Dame ist bereits erwähnt worden. Sie besaß siebzigtausend Pfund und hatte Rawdon so gut wie adoptiert. Ihr älterer Neffe war ihr außerordentlich zuwider, und sie verachtete ihn als einen Milchreisjüngling. Dieser wiederum zögerte nicht, ihre Seele für unrettbar verloren zu erklären und auch seinem Bruder in jener Welt keine Chance zu geben. »Sie ist eine gottlose weltliche Frau«, pflegte Mr. Crawley zu sagen, »sie verkehrt mit Atheisten und Franzosen. Meine Seele schaudert, wenn ich an ihr furchtbar schreckliches Los denke und wenn ich erwäge, daß sie, bereits am Rande des Grabes, noch so der Eitelkeit, gottlosen Ausschweifungen und der Torheit frönt.« [132] In der Tat lehnte die alte Dame durchaus ab, seiner Abendandacht zu lauschen, und wenn sie allein nach Queen's Crawley kam, mußte er seine gewohnten frommen Übungen einstellen.

»Behalt deine Predigten für dich, Pitt, wenn Miss Crawley herkommt«, sagte sein Vater, »sie hat geschrieben, daß sie das Salbadern nicht vertragen kann.«

»Oh, Sir! Denken Sie doch an die Dienstboten!«

»Zum Henker mit den Dienstboten!« sagte Sir Pitt, und sein Sohn dachte, daß ihnen noch weit Schlimmeres als das Hängen widerfahren würde, wenn man sie der Gnade seiner Unterweisungen beraubte.

»Zum Henker, Pitt!« antwortete der Vater auf seine Vorstellungen. »Hoffentlich bist du nicht so blödsinnig und willst der Familie jährlich dreitausend Pfund durch die Lappen gehen lassen?«

»Was ist alles Geld verglichen mit unserem Seelenheil?« fuhr Crawley fort.

»Du meinst vielleicht, daß die Alte dir das Geld sowieso nicht hinterläßt?« – Und wer weiß, ob das nicht wirklich Mr. Crawleys Meinung war?

Die alte Miss Crawley gehörte bestimmt zu den Verdammten. Sie hatte ein hübsches Häuschen in der Park Lane, und da sie während der Saison in London viel zuviel aß und trank, so ging sie während des Sommers nach Harrowgate oder Cheltenham 9. Sie war gewiß die gastfreundlichste und jovialste aller alten Vestalinnen 10 und war, wie sie sagte, in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen. (Wir wissen gut, daß alle einmal Schönheiten gewesen sind.) Sie war ein bel esprit 11 und für jene Zeit schrecklich radikal. Sie war in Frankreich gewesen (wo Saint-Just 12 in ihr eine unglückliche Leidenschaft erweckt haben soll) und liebte seither französische Romane, französische Küche und französische Weine. Sie las Voltaire und kannte Rousseau 13 auswendig, sprach sehr leichtfertig über Ehescheidungen und sehr energisch über Frauenrechte. [133] In jedem Zimmer ihres Hauses hingen Bilder von Mr. Fox 14. Ich bin nicht sicher, ob sie nicht mit diesem Staatsmann in Verbindung stand, als er in der Opposition war; und als er ins Ministerium kam, tat sie sich nicht wenig darauf zugute, daß sie Sir Pitt und seinen Kollegen von Queen's Crawley auf seine Seite gebracht hatte, obwohl Sir Pitt von sich aus auch ohne Bemühungen der ehrlichen Dame zu ihm übergegangen wäre. Ich brauche hier wohl kaum zu bemerken, daß Sir Pitt sich veranlaßt sah, nach dem Tode des großen Whig-Ministers seine Ansicht wieder zu ändern.

Diese würdige alte Dame faßte eine Vorliebe für Rawdon Crawley, als derselbe noch ein Knabe war, schickte ihn nach Cambridge (in Opposition zu seinem Bruder, der in Oxford war) und kaufte ihm, als die Behörden der erstgenannten Universität dem jungen Mann nach zwei Jahren nahegelegt hatten, das Studium aufzugeben, ein Offizierspatent für die Grüne Leibgarde.

Der junge Offizier wurde als stadtbekannter Stutzer gefeiert. Boxen, Jagen, Fünferball und Vierspännigfahren waren damals bei unserer britischen Aristokratie hoch im Schwange, und in allen diesen edlen Wissenschaften war er Meister. Obgleich er zu den Gardetruppen gehörte, die sich um den Prinzregenten scharen mußten und deshalb ihre Tapferkeit noch nicht vor dem Feind bewiesen hatten, so war doch Rawdon Crawley wegen des Glücksspiels, das er über alles liebte, schon in drei blutige Duelle verwickelt gewesen, in denen er seine Todesverachtung bewiesen hatte.

»Und auch für das, was nach dem Tode kommt«, pflegte Mr. Crawley zu bemerken und heftete seine stachelbeerfarbenen Augen auf die Zimmerdecke. Er dachte beständig an die Seele seines Bruders oder an die Seelen derer, die anderer Ansicht waren als er; dies ist oft eine Art Trost für die Frommen.

Die törichte, romantische Miss Crawley war weit entfernt, über den Mut ihres Lieblings entsetzt zu sein, und bezahlte [134] jedesmal nach dem Duell seine Schulden. Sie wollte auch nicht ein Wort von dem hören, was man über seinen schlechten Lebenswandel munkelte. »Er wird sich schon noch die Hörner ablaufen«, pflegte sie zu sagen, »aber er ist jedenfalls tausendmal mehr wert als sein winselnder Heuchler von Bruder.«

Fußnoten

1 Tobias George Smollett (1721-1771), englischer Schriftsteller und Arzt; schrieb u.a. den Roman »The Expedition of Humphry Clinker« (Die Reise des Humphry Clinker) und eine umfangreiche »History of England« (Geschichte Englands).

2 (1707-1754), englischer Schriftsteller. Sein Hauptwerk ist »Tom Jones«.

3 Claude-Prosper Jolyot de Crébillon der Jüngere (1707-1777), französischer Schriftsteller; schildert in seinen schlüpfrigen Erzählungen die moralische Verkommenheit der feudalen Gesellschaft.

4 (1694-1778), Schriftstellername des französischen Geschichtsschreibers, Philosophen, Kritikers und Dichters der französischen Aufklärung François-Marie Arouet.

5 David Hume (1711-1776), englischer Philosoph und Geschichtsschreiber, Hauptvertreter der englischen Aufklärung; schrieb neben vielen philosophischen Werken eine »History of Great Britain« (Geschichte Großbritanniens).

6 Heldin des gleichnamigen Romans der englischen Schriftstellerin Frances Burney.

7 Bezeichnung für die Negerbevölkerung auf den Westindischen Inseln.

8 Brettspiel.

9 englische Badeorte.

10 keusche Priesterin der altitalischen Göttin des Herdes und des Herdfeuers Vesta.

11 (franz.) Schöngeist.

12 Antoine de Saint-Just (1767-1794), französischer Revolutionär, führender Jakobiner.

13 Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), französischer Schriftsteller und Philosoph.

14 Charles James Fox (1749-1806), englischer Staatsmann, Gründer und Führer der Whigs (s. Anm. zu S. 489), Anhänger der Französischen Revolution; war mehrmals Minister; bekämpfte die Übergriffe der Ostindischen Kompanie (s. Anm. zu S. 34) und vertrat die Unabhängigkeit der nordamerikanischen Kolonien.

11. Kapitel
Arkadische Einfachheit

Neben diesen ehrlichen Schloßbewohnern, deren Einfachheit und holde ländliche Unschuld gewiß die Vorteile des Landlebens gegenüber dem Stadtleben beweisen, müssen wir den Leser mit ihren Verwandten und Nachbarn im Pfarrhause, mit Bute Crawley und Frau, bekannt machen.

Ehrwürden Bute Crawley, ein großer, stattlicher, lustiger Mann mit einem breitkrempigen Pfarrershut, war in seiner Grafschaft weitaus beliebter als sein Bruder, der Baronet. Während seiner Universitätsjahre hatte er im Christchurch-Boot als Schlagmann gerudert und die besten Boxer der Stadt besiegt. Er nahm seine Freude am Boxen und an der Athletik mit ins Privatleben, und es gab auf zwanzig Meilen in der Runde keinen Boxkampf, kein Rennen, keine Hetzjagd, keine Regatta, keinen Ball, keine Wahl, keinen Empfang oder ein gutes Gastmahl überhaupt in der ganzen Grafschaft, dem beizuwohnen er nicht Mittel und Wege fand. Wo auch immer eine Gesellschaft gegeben wurde – in Fuddleston oder Roxby oder in Schloß Wapshot oder bei den hohen Lords der Grafschaft, mit denen er samt und sonders auf vertrautem Fuße stand – überall im Umkreis von ein paar Dutzend Meilen konnte man seinen Braunen und seine Giglaternen erblicken. Er hatte eine schöne Stimme, sang »Ein Südwind und der Wolkenhimmel« und gab das »Hollahe« im Refrain zu jedermanns Beifall wieder. Bei Hetzjagden [135] erschien er in einem Pfeffer-und-Salz-Rock. Er war auch einer der geschicktesten Angler der Grafschaft.

Mrs. Crawley, die Pfarrersfrau, war eine lebhafte kleine Person, die dem würdigen Geistlichen die Predigten schrieb. Da sie einen häuslichen Sinn hatte und mit ihren Töchtern das Haus fast ganz allein führte, so herrschte sie unumschränkt im Pfarrhause, ließ aber ihrem Manne draußen volle Freiheit. Er konnte kommen und gehen und auswärts speisen, wann immer es ihm beliebte, denn Mrs. Crawley war eine sparsame Frau und kannte den Preis des Portweins sehr genau. Von dem Tage an, als Mrs. Bute den jungen Pfarrer von Queen's Crawley heimführte (sie war aus guter Familie, die Tochter des verstorbenen Oberstleutnants Hector MacTavish, und sie und ihre Mutter hatten sich in Harrowgate um Bute die Hacken abgelaufen und ihn bekommen), war sie ihm stets eine umsichtige und sorgliche Ehefrau gewesen. Trotz all ihrer Fürsorge aber steckte er stets in Schulden. Es kostete ihn mindestens zehn Jahre, um die noch zu Lebzeiten seines Vaters auf der Universität gemachten Schulden zu bezahlen. Im Jahre 179 ..., als er eben damit fertig geworden war, wettete er zweitausend gegen zwanzig, daß Känguruh verlieren würde, aber das Pferd gewann das Derby. Der Pfarrer sah sich gezwungen, das Geld zu Wucherzinsen aufzunehmen, und hatte seit jener Zeit stets mit Schulden zu kämpfen gehabt. Dann und wann half ihm seine Schwester mit einem Hunderter aus; seine große Hoffnung aber ruhte natürlich in ihrem Tode – wenn, »zum Henker« (so pflegte er zu sagen), »Matilda mir ihr halbes Vermögen hinterlassen muß«.

Der Baronet und sein Bruder hatten somit alle Gründe, die zwei Brüder nur haben können, um sich ständig in den Haaren zu liegen. In unzähligen Familienangelegenheiten hatte Bute gegenüber Sir Pitt das Nachsehen gehabt. Der junge Pitt ging nicht nur nicht auf die Jagd, sondern gründete auch noch ein Bethaus vor der Nase seines Onkels. Rawdon [136] sollte bekanntlich den Löwenanteil von Miss Crawleys Vermögen erben. Solche Geldangelegenheiten, Spekulationen über Tod und Leben, stille Kämpfe um Erbbeute verursachen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit heiße Liebe unter Brüdern. Ich selbst bin Zeuge gewesen, wie eine Fünfpfundnote zwischen zwei Brüdern einer fünfzigjährigen Liebe den Garaus machte; ich muß nur staunen, wenn ich bedenke, wie schön und dauerhaft doch die Liebe unter den Menschen ist.


Es stand zu erwarten, daß die Ankunft einer Person wie Rebekka in Queen's Crawley und ihr allmähliches Einschleichen in die Gunst sämtlicher Schloßbewohner Mrs. Bute Crawleys Aufmerksamkeit nicht entging. Mrs. Bute, die wußte, wie lange ein Lendenbraten im Schlosse reichte, was bei der großen Wäsche alles gewaschen wurde, wie viele Pfirsiche an der Südwand hingen, wieviel Arznei die Lady einnahm, wenn sie krank war – solche Dinge sind für gewisse Personen auf dem Lande Gegenstand von tiefschürfendem Interesse –, Mrs. Bute also konnte nicht an der Gouvernante im Schloß vorbeigehen, ohne gründliche Nachforschungen über ihre Vergangenheit und ihren Charakter anzustellen. Zwischen den Dienstboten vom Pfarrhaus und denen vom Schloß herrschte stets bestes Einvernehmen. In der Pfarrküche gab es stets ein gutes Glas Ale für die Leute vom Schloß, deren gewöhnliches Bier sehr dünn war – und tatsächlich wußte die Pfarrersfrau aufs Haar genau, wieviel Malz auf jedes Faß Bier im Schloß kam. Es bestanden auch zwischen den Dienstboten des Schlosses wie zwischen den Herrschaften verwandtschaftliche Bande, und durch diese Kanäle war jede Familie genau mit dem Leben und Treiben der anderen unterrichtet. Man kann hier beiläufig eine allgemeine Beobachtung festhalten: Stehst du mit deinem Bruder auf gutem Fuße, so interessiert dich das, was er tut, nicht; hast du dich dagegen mit ihm verzankt, so weißt du alle seine Schritte, als ob du sein Spion wärst.

[137] Sehr bald nach ihrer Ankunft fing Rebekka an, in Mrs. Crawleys Bulletin vom Schloß einen ständigen Platz einzunehmen. So ein Bulletin hatte folgenden Inhalt: »Das schwarze Schwein ist geschlachtet – wog soundso viel Kilo – die Seiten eingesalzen – Wurst und Schweinskeule zum Mittagessen. Mr. Cramp aus Mudbury bei Sir Pitt, wegen John Blackmores Gefängnisstrafe – Mr. Pitt im Bethaus (nebst den Namen aller Anwesenden) – Lady Crawley wie gewöhnlich – die jungen Damen bei der Gouvernante.«

Dann kam wieder ein Bericht, etwa folgenden Inhalts: »Die neue Gouvernante eine ganz Gerissene – Sir Pitt sehr nett zu ihr – auch Mr. Crawley – liest ihr Traktate vor.« – »Was für eine lockere Spitzbübin!« rief die böse, geschäftige, brünette kleine Mrs. Bute Crawley aus.

Schließlich lauteten die Berichte, die Gouvernante habe jedermann »eingewickelt«, schreibe für Sir Pitt Briefe, erledige seine Arbeiten, führe seine Rechnungen, beherrsche das ganze Haus, die Lady, Mr. Crawley, die Mädchen, überhaupt alles – worauf Mrs. Crawley erklärte, die Gouvernante sei ein verschlagenes Weibstück und habe fürchterliche Absichten. So gaben die Vorgänge im Schloß den Gesprächen im Pfarrhaus immer neue Nahrung, und Mrs. Butes helle Augen spionierten alles aus, was im feindlichen Lager geschah – alles, und noch manches andere.

Mrs. Bute Crawley
an Miss Pinkerton,
The Mall, Chiswick

Pfarrhaus, Queen's Crawley, ...ten Dezember


Meine sehr verehrte Dame. – Obgleich viele Jahre verflossen, seit ich Ihren köstlichen und unschätzbaren Unterricht genoß, habe ich doch nie aufgehört, für Miss Pinkerton und das teure Chiswick die innigste Liebe und Hochachtung zu empfinden. Hoffentlich geht es Ihnen gesundheitlich gut. [138] Die Welt und die Sache der Erziehung können Miss Pinkerton noch auf Jahre hinaus nicht entbehren. Als meine Freundin, Lady Fuddleston, mir gegenüber erwähnte, daß ihre lieben Töchter eine Erzieherin brauchten (ich bin zu arm, um für die meinigen eine Gouvernante einzustellen; aber bin ich nicht in Chiswick erzogen worden?), rief ich sogleich: »Bei wem können wir besseren Rat einholen als bei der vortrefflichen, der unvergleichlichen Miss Pinkerton?« Mit einem Wort, teure Madame, haben Sie auf Ihrer Liste Damen, deren Dienste meine liebe Freundin und Nachbarin in Anspruch nehmen könnte? Ich versichere Ihnen, daß sie nur eine Gouvernante Ihrer Wahl nehmen wird.

Mein lieber Mann sagt immer, daß er an allem, was aus Miss Pinkertons Schule kommt, Gefallen finde. Ach, wie gern möchte ich ihm und meinen lieben Mädchen die Freundin meiner Jugend und die bewunderte Freundin des großen Lexikographen unseres Landes vorstellen! Mr. Crawley bittet mich, zu schreiben, daß er hofft, wenn Sie einmal nach Hampshire kommen sollten, daß unser ländliches Pfarrhaus dann mit Ihrer Gegenwart geziert werden wird. Es ist das bescheidene, aber glückliche Heim

Ihrer liebevoll ergebenen

Martha Crawley.


PS: Mr. Crawleys Bruder, der Baronet, mit dem wir leider nicht ganz so einig sind, wie es Brüdern geziemt, hat für seine kleinen Mädchen eine Gouvernante, die, wie ich erfuhr, das große Glück hat, in Chiswick erzogen worden zu sein. Man erzählt verschiedenerlei über sie, und da ich das zärtlichste Interesse für meine kleinen Nichten fühle und sie, ungeachtet aller Familienstreitigkeiten, gern meinen eigenen Kindern zuführen möchte – und da ich das sehnlichste Verlangen habe, mich gegen jede Ihrer Schülerinnen aufmerksam zu erweisen –, so bitte ich Sie, meine teure Miss Pinkerton, mir die Geschichte dieser jungen Dame mitzuteilen, der [139] ich um Ihretwillen von ganzem Herzen Freundschaft erzeigen möchte. – M.C.

Miss Pinkerton an Mrs. Bute Crawley

Johnson-Haus, Chiswick, im Dezember 18..


Sehr geehrte Dame. Ich habe die Ehre, den Empfang Ihres freundlichen Schreibens zu bestätigen, und beeile mich, dasselbe zu beantworten. Es ist höchst erfreulich für eine Person in meiner mühevollen Position, festzustellen, daß meine mütterliche Sorgfalt eine entsprechende Liebe erweckt hat, und in der liebenswürdigen Mrs. Bute Crawley meine vortreffliche Schülerin aus früherer Zeit, die lebhafte und talentvolle Miss Martha MacTavish, wiederzuerkennen. Ich schätze mich glücklich, die Töchter vieler Ihrer ehemaligen Mitschülerinnen in meiner Anstalt jetzt unter meiner Obhut zu haben. Welches Vergnügen würde es mir bereiten, wenn auch Ihre lieben jungen Damen meiner Aufsicht und Belehrung bedürften.

Ich spreche Lady Fuddleston meine respektvollsten Komplimente aus und habe die Ehre, der gnädigen Frau brieflich meine beiden Freundinnen, Miss Tuffin und Miss Hawky, vorzustellen.

Jede der beiden jungen Damen ist bestens befähigt, im Griechischen, Lateinischen und in den Anfangsgründen des Hebräischen, in Mathematik und Geschichte, im Spanischen, Französischen, Italienischen und in Geographie, in der Vokal- und Instrumentalmusik, ohne Unterstützung eines Tanzmeisters im Tanzen sowie in den Grundlagen der Naturwissenschaften zu unterrichten. Beide sind im Gebrauch des Globus wohlbewandert. Außerdem kann Miss Tuffin, die die Tochter des verstorbenen Ehrwürden Thomas Tuffin (Professor im Corpus College, Cambridge) ist, in der syrischen Sprache sowie in den Grundlagen des konstitutionellen Rechts unterrichten. Da sie aber erst achtzehn Jahre alt ist und ein besonders hübsches Äußeres hat, so dürfte [140] diese junge Dame vielleicht für Sir Huddleston Fuddlestons Familie nicht ganz geeignet erscheinen.

Miss Letitia Hawky dagegen glänzt nicht durch persönliche Reize. Sie ist 29 Jahre alt, und ihr Gesicht hat ziemlich viele Pockennarben. Sie hinkt etwas, hat rote Haare und schielt ein wenig. Beide Damen sind mit allen moralischen und religiösen Tugenden ausgestattet. Ihre Gehaltsansprüche stehen natürlich im Verhältnis zu ihren vielen Talenten. Mit den dankbarsten Empfehlungen an Ehrwürden Bute Crawley habe ich die Ehre, zu zeichnen, sehr geehrte Dame,

Ihre ergebenste und gehorsamste Dienerin

Barbara Pinkterton.


PS: Miss Sharp, die Sie als Gouvernante bei Sir Pitt Crawley, Baronet und Parlamentsmitglied, erwähnten, war eine Schülerin von mir, und ich habe nichts Nachteiliges über sie zu berichten. Ihr Äußeres ist zwar unangenehm, aber wir können doch das Walten der Natur nicht hindern; und obgleich ihre Eltern einen schlechten Ruf hatten (der Vater war Maler und machte mehrere Male Bankrott, und ihre Mutter war, wie ich später zu meinem Entsetzen erfuhr, Ballettänzerin), besitzt sie doch beachtenswerte Talente, und ich brauche es nicht zu bereuen, sie aus Barmherzigkeit in mein Haus aufgenommen zu haben. Ich befürchte nur, die Grundsätze der Mutter – wie man mir schilderte, eine französische Gräfin, die durch die Schrecken der Revolution zum Auswandern gezwungen wurde, in Wirklichkeit aber, wie ich inzwischen entdeckte, eine ganz ordinäre und sittenlose Person – könnten sich auf das unglückliche junge Mädchen, das ich als Vagabund auflas, vererbt haben. Bis jetzt aber sind ihre Grundsätze (wie ich glaube) untadelhaft gewesen, und ich bin überzeugt, daß in den vornehmen und gebildeten Kreisen des hervorragenden Sir Pitt Crawley nichts sie verderben wird!


[141] Miss Rebekka Sharp an Miss Amelia Sedley


Viele Wochen habe ich meiner geliebten Amelia nicht geschrieben; denn was konnte ich Dir schon von dem Leben und Treiben aus Schloß Einerlei, wie ich es getauft habe, berichten? Und was würde es Dich auch interessieren, ob die Rübenernte gut oder schlecht war, ob das Mastschwein fünfundsiebzig oder fünfundachtzig Kilo wog und ob das Rindvieh bei Rüben gedeiht? Seit ich Dir das letztemal schrieb, ist ein Tag wie der andere vergangen. Vor dem Frühstück ein Spaziergang mit Sir Pitt und seinen Sprößlingen, nach dem Frühstück Unterricht (was man eben so nennt) im Schulzimmer; nach dem Unterricht Lesen und Schreibereien für Sir Pitt (dessen Sekretärin ich geworden bin) wegen Advokaten, Pachtkontrakten, Bergwerken und Kanälen; nach dem Abendessen Mr. Crawleys Predigten oder Puff mit dem Baronet – beiden Belustigungen sieht die Lady mit der gleichen Ruhe zu. Sie ist in der letzten Zeit durch ihre Unpäßlichkeit etwas interessanter geworden, denn das hat in der Person eines jungen Doktors einen neuen Besucher ins Schloß geführt. Weißt Du, meine Liebe, junge Mädchen brauchen niemals zu verzweifeln. Der junge Doktor gab einer gewissen Freundin von Dir zu verstehen, daß sie, wenn sie Mrs. Glauber werden wolle, sehr gern die Zierde seiner Praxis werden könne! Ich antwortete auf seine Unverschämtheit, daß vergoldete Mörser und Stößel wohl Zierde genug seien – als ob ich zur Frau eines Landarztes geboren wäre! Mr. Glauber ging nach diesem Korb ernstlich mitgenommen nach Hause, trank dort etwas Kühlendes und ist jetzt wieder vollkommen hergestellt. Sir Pitt billigte meinen Entschluß entschieden; ich glaube, er würde seine kleine Sekretärin nur ungern verlieren, und ich bin der Ansicht, der alte Schuft hat mich so gern, wie er nur überhaupt jemanden gern haben kann. Heiraten, mein Gott! Und noch dazu einen Landarzt, nachdem ... Nein, nein, man kann alte Verbindungen nicht [142] so schnell vergessen, aber davon will ich nicht mehr sprechen. Kehren wir nach Schloß Einerlei zurück!

Seit einiger Zeit ist es nicht mehr Schloß Einerlei. Stell Dir vor, meine Liebe, Miss Crawley ist angekommen mit ihren dicken Pferden, ihren dicken Bedienten und ihrem dicken Schoßhund – die bedeutende, reiche Miss Crawley, mit siebzigtausend Pfund in fünfprozentigen Papieren, die – nicht Miss Crawley, sondern eher das Geld – ihre zwei Brüder anbeten. Sie sieht sehr apoplektisch aus, die gute Seele; kein Wunder also, daß ihre Brüder ängstlich um sie besorgt sind. Du solltest nur sehen, wie sehr sie miteinander wetteifern, wenn es gilt, ihr die Kissen zurechtzurücken oder den Kaffee zu reichen! »Wenn ich aufs Land fahre«, sagte sie (denn sie hat Sinn für Humor), »lasse ich meine Speichelleckerin, Miss Briggs, zu Hause. Hier sind meine Brüder meine Speichellecker, und wahrhaftig, ein hübsches Paar!«

Wenn sie zu uns aufs Land kommt, so hat unser Schloß offene Türen, und mindestens einen Monat lang könnte man sich einbilden, der alte Sir Walpole sei wieder lebendig geworden. Wir geben Gesellschaften, fahren vierspännig aus, die Diener tragen das neueste Kanariengelb, wir trinken Rotwein und Champagner, als ob wir nie etwas anderes bekämen. Im Unterrichtszimmer haben wir Wachskerzen und Feuer, um uns aufzuwärmen. Lady Crawley muß das schönste Erbsengrüne anziehen, das ihre Garderobe aufzuweisen hat, und meine Schülerinnen legen ihre dicken Schuhe und engen alten Schottenkittel ab und tragen seidene Strümpfe und Musselinröcke, wie es sich für Baronetstöchter von Welt schickt. Rose kam gestern übel zugerichtet heim – die Wiltshire-Sau, ihr erklärter Liebling, hatte sie umgerannt und war auf ihrem hübschen, lilageblümten Seidenkleid herumgetrampelt. Wäre dies vor einer Woche geschehen, so hätte Sir Pitt greulich geflucht, das arme Ding tüchtig geohrfeigt und sie einen Monat lang auf Wasser und Brot gesetzt. Alles, was er jetzt sagte, war: »Warte nur, bis deine Tante fort [143] ist«, und dabei lachte er über den Vorfall, als sei es etwas ganz Unbedeutendes. Wir wollen hoffen, daß sein Zorn verflogen ist, wenn Miss Crawley abreist. Ich hoffe es sehr um Miss Roses willen. Was für ein bezaubernder Versöhner und Friedensstifter doch das Geld ist!

Eine weitere wunderbare Wirkung Miss Crawleys und ihrer siebzigtausend Pfund zeigt sich in dem Betragen der beiden Brüder Crawley. Ich meine den Baronet und den Pfarrer, nicht unsere Brüder. Die beiden, die sich das ganze Jahr über hassen, werden zu Weihnachten ganz liebevoll gegeneinander. Ich habe Dir im vergangenen Jahre geschrieben, wie der abscheuliche Pferderenn-Pfarrer uns in der Kirche andauernd mit plumpen Predigten auf den Leib rückt und wie Sir Pitt mit Schnarchen antwortet. Sobald aber Miss Crawley kommt, hört man nichts mehr von Zank und Streit, das Schloß besucht das Pfarrhaus und umgekehrt, der Pfarrer und der Baronet unterhalten sich freundschaftlich ohne jeglichen Zank beim Wein über Schweine und Wilddiebe und Grafschaftsgeschäfte. Miss Crawley will tatsächlich nichts von ihren Streitereien wissen und schwört, sie werde ihr Geld den Shropshire Crawleys hinterlassen, wenn man sie ärgere. Wenn diese Shropshire Crawleys nur ein bißchen schlau wären, so könnten sie wahrscheinlich alles bekommen; der Shropshire Crawley ist jedoch Geistlicher wie sein Hampshire-Vetter und hat Miss Crawley durch seine engstirnigen Moralauffassungen tödlich beleidigt, als sie einmal in einem Wutanfall gegen ihre widerspenstigen Brüder zu ihm geflohen war. Er wollte, glaube ich, zu Hause das Beten einführen.

Unsere Predigtbücher werden zugeklappt, wenn Miss Crawley kommt, und Mr. Pitt, den sie verabscheut, findet es besser, nach London zu fahren. Statt seiner erscheint dann der junge Geck – Stutzer nennt man so einen wohl – Hauptmann Crawley, und wahrscheinlich willst Du wissen, was für ein Mensch er ist.

[144] Nun, er ist ein langer, junger Geck, sechs Fuß groß und spricht sehr laut; er flucht viel und kommandiert die Dienstboten herum, die ihn aber trotzdem anbeten, denn er ist nicht knauserig mit seinem Geld, so daß sie alles für ihn tun. Vergangene Woche haben die Wildhüter beinahe einen Gerichtsdiener und seinen Gehilfen umgebracht, die von London gekommen waren, um den Hauptmann zu verhaften. Sie wurden ertappt, als sie an der Parkmauer entlangschlichen – die Wildhüter verprügelten sie, tauchten sie und hätten sie als Wilddiebe erschossen, wenn sich der Baronet nicht ins Mittel gelegt hätte.

Der Hauptmann zeigt gegenüber seinem Vater eine abgrundtiefe Verachtung, nennt ihn einen alten Tropf, einen alten Blödian, einen Bauerntölpel und belegt ihn mit zahllosen anderen hübschen Namen. Er hat ein schreckliches Ansehen bei den Damen. Er bringt seine Renner mit nach Hause, verkehrt mit den Squires der Grafschaft, ladet zum Essen ein, wen er will, und Sir Pitt wagt keinen Mucks, aus Angst, Miss Crawley zu beleidigen und um seinen Anteil zu kommen, wenn sie am Schlaganfall stirbt. Soll ich Dir ein Kompliment erzählen, das mir der Hauptmann ge macht hat? Ich muß, es ist zu hübsch. Eines Abends war doch tatsächlich Tanz bei uns; es waren Sir Huddleston Fuddleston mit Familie, Sir Giles Wapshot mit seinen Töchtern, und ich weiß nicht, wer noch alles, anwesend. Ich hörte ihn sagen: »Beim Zeus, das ist aber ein hübsches, kleines Füllen!«, womit er Deine ergebene Dienerin gemeint hat; er tat mir auch die Ehre an, zwei Contretänze mit mir zu tanzen. Er kommt mit den jungen Squires gut aus, trinkt mit ihnen, reitet und unterhält sich vom Jagen und Schießen; die Landmädchen aber findet er langweilig, und ich glaube wirklich, damit hat er nicht ganz unrecht. Du solltest nur sehen, mit welcher Verachtung sie auf mich armes Wesen herabblicken. Wenn sie tanzen, sitze ich ganz bescheiden am Klavier und spiele; als er aber neulich abend ziemlich erhitzt aus dem Speisesaal [145] hereinkam und mich so beschäftigt fand, beteuerte er laut, daß ich die beste Tänzerin des Abends sei, und schwor bei seiner Ehre, daß er Musikanten aus Mudbury kommen lassen würde.

»Ich will einen Contretanz spielen«, erbot sich Mrs. Bute Crawley bereitwillig (sie ist eine kleine brünette Alte mit funkelnden Augen, geht ziemlich krumm und trägt einen Turban), und als der Hauptmann und Deine arme kleine Rebekka miteinander getanzt hatten, tat sie mir doch wirklich die unglaubliche Ehre an, mir über mein Tanzen Komplimente zu machen! So etwas war noch nicht dagewesen. Die stolze Mrs. Bute Crawley, älteste Cousine des Grafen von Tiptoff, die sich nur dann herabläßt, Lady Crawley zu besuchen, wenn ihre Schwägerin auf dem Lande ist. Die arme Lady Crawley! Während dieser Vergnügen hockt sie meistens oben und schluckt Pillen.

Mrs. Bute hat plötzlich eine große Vorliebe für mich entwickelt. »Meine liebe Miss Sharp«, sagte sie, »warum kommen Sie nicht einmal mit Ihren Schülerinnen ins Pfarrhaus? Die kleinen Cousinen würden sich so freuen, sie zu sehen.« Ich weiß schon, was sie damit bezweckt. Signor Clementi hat uns nicht umsonst Klavierspielen gelehrt: Mrs. Bute aber möchte für ihre Kinder eine Lehrerin umsonst. Ich durchschaue ihre Pläne, als ob sie sie mir verraten hätte, aber ich werde hingehen, weil ich mich angenehm machen will. Ist das nicht die Pflicht einer armen Gouvernante, die in der ganzen weiten Welt auch nicht einen Freund oder Beschützer hat? Die Pfarrersfrau machte mir auch Dutzende Komplimente über die Fortschritte meiner Schülerinnen und dachte zweifellos, das könnte mein Herz rühren – das arme, einfältige Landei! Als ob mich meine Schülerinnen auch nur einen Pfifferling scherten!

Dein indisches Musselinkleid sowie Dein Rosaseidenes, liebste Amelia, sollen mir sehr gut stehen. Sie sind schon recht abgetragen; aber Du weißt, wir armen Mädchen können [146] uns des fraiches toilettes 1 nicht leisten. Ach, wie glücklich, wie unendlich glücklich bist Du! Du brauchst nur zur St. James' Street 2 zu fahren, und eine gute Mutter schenkt Dir alles, worum Du bittest. Lebe wohl, teuerstes Mädchen.

Deine Dich liebende

Rebekka


PS: Schade, daß Du nicht die Gesichter der beiden Miss Blackbrook (Admiral Blackbrooks Töchter, vornehme junge Damen, mit Kleidern aus London) sehen konntest, als Hauptmann Rawdon mich armes Ding zum Tanzen aufforderte.


Als Mrs. Bute Crawley (der unsere scharfsichtige Rebekka so schnell auf die Schliche gekommen war) von Miss Sharp das Versprechen eines Besuches erlangt hatte, bewog sie die allmächtige Miss Crawley, Sir Pitt um die nötige Erlaubnis dafür anzugehen; und die gutmütige alte Dame, die selbst gern lustig war und stets alles um sich her froh und glücklich sehen wollte, war ganz entzückt und gleich bereit, zwischen ihren beiden Brüdern eine Versöhnung herbeizuführen und sie wieder zu Freunden zu machen. Es wurde daher vereinbart, daß die jungen Leute beider Familien sich in Zukunft häufig besuchen sollten. Die Freundschaft währte natürlich nur so lange, wie die joviale alte Vermittlerin da war, um den Frieden aufrechtzuerhalten.

»Warum hast du bloß diesen Halunken, den Rawdon Crawley, zum Essen eingeladen?« fragte der Pfarrer seine Eheliebste, als sie durch den Park nach Hause gingen. »Ich will den Kerl nicht. Er sieht auf uns Leute vom Lande herab, als wären wir Mohren. Er gibt sich nie zufrieden, bis er meinen Gelbsiegelwein bekommt, der mich zehn Shilling pro Flasche kostet; zum Henker mit ihm! Außerdem hat er einen teuflischen Charakter – er spielt, säuft und ist durch und durch ein Bruder Liederlich. Er hat einen Menschen im Duell getötet, steckt bis über die Ohren in Schulden und hat mich und [147] die Meinen um den größten Teil von Miss Crawleys Vermögen gebracht. Waxy sagt, sie habe ihn« – hier schüttelte der Pfarrer die Faust zum Mond empor und stieß etwas aus, was einem Fluche nicht unähnlich klang; dann fügte er melancholisch hinzu – »in ihrem Testament mit fünfzigtausend bedacht, so daß nicht mehr als dreißigtausend zum Teilen übrigbleiben.«

»Ich glaube, sie macht nicht mehr lange«, meinte die Pfarrersfrau. »Sie war schrecklich rot im Gesicht, als wir vom Essen aufstanden. Ich mußte sie aufschnüren.«

»Sie hat sieben Gläser Champagner getrunken«, sagte der ehrwürdige Herr leise, »und dabei ist es entsetzlicher Champagner, mit dem uns mein Bruder vergiftet – aber ihr Weiber habt ja keine Ahnung.«

»So muß es wohl sein«, erwiderte Mrs. Bute Crawley.

»Nach dem Essen hat sie Kirschbranntwein getrunken«, fuhr Seine Ehrwürden fort, »und dann zum Kaffee Curaçao. Ich würde nicht für fünf Pfund ein Glas trinken, das Sodbrennen würde mich umbringen. Das kann sie nicht mehr lange aushalten, Mrs. Crawley, sie wird bald das Zeitliche segnen, Fleisch und Blut können das nicht überleben. Ich wette fünf gegen zwei – noch ein Jahr, und Matilda liegt im Grabe.«

In diese ernsthaften Erwägungen vertieft, schritt der Pfarrer mit seiner Frau eine Weile dahin und dachte an seine Schulden, an seinen Sohn James auf der Universität, an Frank in Woolwich 3 und an die vier so wenig hübschen Mädchen, die armen Dinger, die außer dem, was ihre Tante ihnen hinterlassen würde, keinen Pfennig zu erwarten hatten.

»Pitt kann doch kein so teuflischer Schurke sein und die Anwartschaft auf die Pfründe verkaufen. Und der methodistische Weichling von einem ältesten Sohne möchte gern ins Parlament«, fuhr Mr. Crawley nach einer Pause fort.

»Sir Pitt Crawley kann man alles zutrauen«, sagte die Pfarrersfrau. »Wir müssen in Miss Crawley drin gen, daß sie ihn dazu bringt, die Pfründe James zu versprechen.«

[148] »Pitt wird alles versprechen«, erwiderte der Bruder. »Er versprach mir, meine Universitätsschulden zu bezahlen, als unser Vater starb; er versprach, den neuen Flügel an das Pfarrhaus zu bauen; er versprach mir, daß er mir Jibbs Feld sowie die sechs Morgen Wiesenland überlassen wollte – aber wie hat er seine Versprechungen gehalten! Und dem Sohn dieses Mannes, diesem Spitzbuben, Spieler, Schwindler, Mörder Rawdon Crawley, hinterläßt Matilda den Löwenanteil ihres Vermögens. Ich sage, es ist unchristlich. Beim Zeus, das ist es. Der infame Hund hat alle Laster, außer der Heuchelei, und die besitzt sein Bruder.«

»Still, Liebster! Wir sind auf Sir Pitts Grund und Boden«, fiel ihm seine Frau ins Wort.

»Ich sage, er hat jedes Laster, Mrs. Crawley. Bitte, Madame, überschrei mich nicht. Hat er nicht Hauptmann Firebrace erschossen? Hat er nicht den jungen Lord Dovedale im ›Kakaobaum‹ ausgeraubt? Hat er nicht den Kampf zwischen Bill Soames und dem Cheshire As hintertrieben, wodurch ich vierzig Pfund verlor? Das weißt du alles ganz genau. Und was die Weiber betrifft, nun, so hast du das ja in meiner eigenen Gerichtsstube gehört ...«

»Um Himmels willen, Mr. Crawley«, rief die Dame, »erspare mir Einzelheiten!«

»Und diesen Schuft lädst du dir ins Haus!« fuhr der empörte Pfarrer fort. »Du, die Mutter von kleinen Kindern, die Frau eines Geistlichen der Kirche von England. Beim Zeus!«

»Bute Crawley, du bist ein Narr«, sagte die Pfarrersfrau verächtlich.

»Schön, Madame, Narr oder nicht – und ich behaupte ja auch nicht, Martha, daß ich so klug bin wie du, und habe es nie behauptet. Aber Rawdon Crawley will ich nicht sehen, damit du Bescheid weißt. Ich will zu Huddleston hinüber, ja, ganz bestimmt, und mir seinen schwarzen Windhund ansehen, Mrs. Crawley; und ich wette um fünfzig Pfund, daß Lancelot besser läuft oder jeder andere Hund in England. [149] Beim Zeus, das will ich. Aber das Biest Rawdon Crawley will ich nicht sehen.«

»Mr. Crawley, du bist wieder einmal betrunken«, erwiderte seine Frau.

Und als am nächsten Morgen der Pfarrer aufwachte und Dünnbier verlangte, erinnerte sie ihn an sein Versprechen, am Sonnabend Sir Huddleston Fuddleston zu besuchen, und da er wußte, daß es ein feuchter Abend werden würde, so beschloß man, daß er erst am Sonntagmorgen zurückgaloppieren sollte, um noch rechtzeitig zum Gottesdienst zu kommen. So kann man sehen, daß die Pfarrkinder von Crawley sich gleichermaßen zu ihrem Gutsherrn wie zu ihrem Pfarrer Glück wünschen konnten.


Miss Crawley hatte sich noch nicht lange im Schlosse aufgehalten, da hatten Rebekkas Reize schon das Herz der gutmütigen Londoner Müßiggängerin erobert wie früher das der unschuldigen Landleute, von denen wir sprachen. Als sie eines Tages ihre gewohnte Spazierfahrt machen wollte, hielt sie es für angemessen, zu befehlen, daß »die kleine Gouvernante« sie nach Mudbury begleiten solle. Noch ehe sie zurück waren, hatte Rebekka sie erobert, da sie die alte Dame viermal zum Lachen gebracht und während der ganzen kleinen Reise amüsiert hatte.

»Miss Sharp nicht mit an der Tafel teilnehmen lassen?« entrüstete sie sich gegenüber Sir Pitt, der einen offiziellen Empfang arrangiert und alle benachbarten Baronets dazu eingeladen hatte. »Glaubst du denn, du holdes Wesen, ich könne mich mit Lady Fuddleston über Kinderstubentratsch unterhalten oder mit dem alten Dummkopf, Sir Giles Wapshot, Friedensrichterprobleme diskutieren? Ich bestehe darauf, daß Miss Sharp dabei ist! Lady Crawley kann ja oben bleiben, wenn kein Platz mehr da ist. Aber die kleine Miss Sharp! Ja, die ist die einzige in der ganzen Grafschaft, mit der man ein vernünftiges Wort reden kann!«

[150] Auf einen so entschiedenen Befehl hin wurde Miss Sharp, die Gouvernante, natürlich aufgefordert, mit der vornehmen Gesellschaft unten zu speisen. Und als Sir Huddleston mit großem Gepränge und vielen Zeremonien Miss Crawley zur Tafel geführt hatte und sich eben anschickte, neben ihr Platz zu nehmen, rief die alte Dame mit schriller Stimme: »Becky Sharp! Miss Sharp! Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich und amüsieren Sie mich. Sir Huddleston kann sich ja neben Lady Wapshot setzen.«

Wenn die Gesellschaften vorbei und die Wagen davongerollt waren, sagte die unersättliche Miss Crawley stets: »Kommen Sie mit mir in mein Ankleidezimmer, Becky, wir wollen die Leute von heute abend ein bißchen durchhecheln«, und das gelang diesem Frauenzimmer prächtig. Der alte Sir Huddleston keuchte entsetzlich beim Essen, Sir Giles Wapshot hatte eine besonders geräuschvolle Art, seine Suppe zu schlürfen, und seine Lady zwinkerte ein wenig mit dem linken Auge, und all das karikierte Becky bewundernswürdig. Ebenso wie die Einzelheiten der Abendunterhaltung, Politik, Krieg, die vierteljährlichen Sitzungen der Friedensrichter, das berühmte Rennen und all die schwerwiegenden und ermüdenden Themen, worüber Landedelleute sprechen. An den Toiletten der beiden Miss Wapshot und dem berühmten gelben Hut von Lady Fuddleston ließ Miss Sharp keinen guten Faden, zur unendlichen Belustigung ihrer Zuhörerin.

»Meine Liebe, Sie sind ja eine wahre trouvaille 4«, pflegte Miss Crawley zu sagen. »Ich wollte, Sie könnten zu mir nach London kommen. Aber ich könnte Sie nicht wie die arme Briggs zur Zielscheibe meines Spottes machen, nein, nein, Sie gerissenes kleines Geschöpf, Sie sind zu schlau dazu. – Nicht wahr, Firkin?«

Mrs. Firkin (die gerade damit beschäftigt war, die wenigen Haarreste auf Miss Crawleys Schädel zu frisieren) warf den Kopf in den Nacken und sagte mit mörderischem Sarkasmus: »Ich glaube, Miss ist wirklich sehr schlau.« Mrs. Firkin [151] besaß jene natürliche Eifersucht, die eine Haupteigenschaft jeder ehrlichen Frau ist.

Nachdem Miss Crawley sich Sir Huddleston Fuddlestons entledigt hatte, befahl sie, daß Rawdon Crawley sie jeden Tag zu Tisch führen und daß Becky ihr mit dem Kissen folgen sollte, oder aber sie nahm Beckys Arm und ließ Rawdon mit dem Kissen folgen. »Wir müssen zusammen sitzen«, erklärte sie. »Wir sind die drei einzigen Christen in der Grafschaft, meine Liebe«; wenn das der Fall war, durfte es allerdings zugegebenermaßen in der Grafschaft Hampshire mit der Religion nicht eben zum besten stehen.

Miss Crawley war aber nicht nur eine fromme Christin, sie war auch, wie bereits erwähnt, von ultraliberaler Einstellung und ergriff jede Gelegenheit, ihre Ansichten offen zu verkünden.

»Was ist schon Geburt, meine Teure?« pflegte sie zu Rebekka zu sagen. »Sehen Sie sich meinen Bruder Pitt an, sehen Sie sich die Huddlestons an, die schon seit Heinrich II. 5 hier wohnen, sehen Sie sich den armen Bute im Pfarrhause an – kann es einer von denen mit Ihnen in bezug auf Verstand und Erziehung aufnehmen? Es mit Ihnen aufnehmen? Ach du großer Gott, die können es nicht einmal mit der armen lieben Briggs, meiner Gesellschaftsdame, oder Bowls, meinem Butler, aufnehmen. Sie, meine Liebe, sind wirklich ein Musterexemplar, ein kleiner Edelstein. Sie haben mehr Verstand als die halbe Grafschaft. Würde Vortrefflichkeit belohnt, so müßten Sie eine Herzogin sein – nein, es sollte überhaupt gar keine Herzoginnen geben, aber Sie dürften niemanden über sich haben, und ich betrachte Sie, meine Liebe, in jeder Hinsicht als mir ebenbürtig; und ... würden Sie bitte ein paar Kohlen nachlegen, und würden Sie bitte dieses Kleid nehmen und es ändern, wo Sie es doch so gut können?«

So ließ diese alte Philanthropin die, die sie als Gleichgestellte betrachtete, ihre Aufträge ausführen, betraute sie [152] mit ihren Näharbeiten und ließ sich von ihr jeden Abend mit französischen Romanen in den Schlaf lesen.

Wie ältere Leser sich vielleicht noch erinnern werden, war damals die vornehme Welt in beträchtliche Aufregung versetzt worden durch zwei Vorfälle, die geeignet waren, wie die Zeitungen sich ausdrücken, den Herren in den langen Roben Beschäftigung zu verschaffen. Fähnrich Shafton war mit Lady Barbara Fitzurse, Tochter und Erbin des Grafen von Bruin, entlaufen; und der arme Vere Vane, ein Herr, der bis in sein vierzigstes Lebensjahr in bestem Rufe stand und zahlreiche Kinder großgezogen hatte, verließ mit einemmal schändlicherweise sein Haus wegen Mrs. Rougemont, der fünfundsechzigjährigen Schauspielerin.

»Das war der schönste Zug an Lord Nelsons teurem Charakter«, sagte Miss Crawley, »daß er für eine Frau zum Teufel ging 6. In einem Mann, der das tut,muß Gutes stecken. Ich liebe alle unklugen Heiraten. Am schönsten finde ich, wenn ein Adliger eine Müllerstochter heiratet, wie Lord Flowerdale es getan hat. Das macht alle Frauen so wütend. Ich wollte, ein Mann liefe mit Ihnen davon, meine Liebe, hübsch genug sind Sie.«

»Zwei Postillione! Ach, das wäre entzückend!« gestand Rebekka.

»Und am zweitbesten gefällt mir, wenn ein armer Kerl mit einem reichen Mädchen durchbrennt; es wäre herrlich, wenn Rawdon irgendeine entführte.«

»Eine Reiche oder eine Arme?«

»Ei, ei, Sie Gänschen! Rawdon hat keinen Shilling, außer dem, was ich ihm gebe. Er ist criblé de dettes 7 – er muß sein Glück reparieren und Erfolg in der Welt haben.«

»Ist er sehr klug?« fragte Rebekka.

»Klug, meine Liebe? Ei, er hat keine Ahnung von etwas anderem als von Pferden, seinem Regiment, seiner Jagd und seinem Spiel; aber er muß Erfolg haben – er ist so entzückend lasterhaft. Wissen Sie nicht, daß er einen Mann getötet [153] und einem beschimpften Vater nur durch den Hut geschossen hat? Bei seinem Regiment beten sie ihn an, und alle jungen Leute bei ›Wattier‹ und im ›Kakaobaum‹ schwören auf ihn.«

Als Miss Rebekka Sharp ihrer geliebten Freundin den kleinen Ball in Queen's Crawley beschrieb und schilderte, wie Hauptmann Crawley sie zum ersten Male ausgezeichnet hatte, war ihr Bericht seltsamerweise nicht in allen Stücken genau. Der Hauptmann hatte sie schon oft zuvor ausgezeichnet. Der Hauptmann war ihr ein dutzendmal auf Spaziergängen begegnet. Der Hauptmann hatte sie fünfzigmal in Korridoren und Gängen getroffen. Der Hauptmann hatte sich abends wohl zwanzigmal über das Klavier gelehnt, wenn sie sang (die Lady war krank und hielt sich oben auf, und niemand kümmerte sich um sie). Der Hauptmann hatte Rebekka Briefchen geschrieben (die schönsten, die der große, ungeschickte Dragoner ersinnen und aufs Papier bringen konnte, aber mit Dummheit kommt man bei den Frauen ebenso weit wie mit allen anderen Eigenschaften). Als er aber sein erstes Briefchen in die Noten des Liedes gesteckt hatte, das sie gerade sang, erhob sich die kleine Gouvernante, sah ihm fest ins Gesicht, ergriff das dreieckige Briefchen, schwenkte es hin und her, als ob es ein Dreispitz wäre. Dann schritt sie auf den Feind zu und warf das Briefchen ins Feuer, und nach einem tiefen Knicks ging sie an ihren Platz zurück und sang lustiger als je weiter.

»Was ist los?« fragte Miss Crawley, die durch das plötzliche Aufhören der Musik in ihrem Nachmittagsschläfchen gestört wurde.

»Es war eine falsche Note«, lachte Miss Sharp; Rawdon Crawley dagegen platzte vor Wut und Ärger.

Wie gut war es doch von Mrs. Bute Crawley, nicht eifersüchtig zu werden, als sie Miss Crawleys offensichtliche Vorliebe für die neue Gouvernante entdeckte, sondern die junge Dame ins Pfarrhaus einzuladen, und mit ihr zusammen auch Rawdon Crawley, ihres Gatten Rivalen in den fünfprozentigen [154] Papieren der alten Jungfer. Sie fanden viel Gefallen aneinander, Mrs. Crawley und ihr Neffe. Er gab das Jagen auf, folgte nicht mehr den Einladungen nach Fuddleston und speiste nicht mehr in der Offiziersmesse im Hauptquartier des Regiments in Mudbury; sein größtes Vergnügen war, nach dem Pfarrhause von Crawley hinüberzuschlendern, wohin sich auch Miss Crawley begab, und warum nicht auch Miss Sharp mit den Kindern, da doch deren Mutter krank war? So kamen denn auch die Kinder (die herzigen Kleinen!) mit Miss Sharp, und abends gingen gewöhnlich einige aus der Gesellschaft zu Fuß zurück. Nicht Miss Crawley – sie zog ihre Kutsche vor; aber für zwei Liebhaber des Malerischen wie den Hauptmann und Miss Rebekka war der Spaziergang im Mondschein über die Felder des Pfarrers und durch das Parkpförtchen zu den dunklen Bäumen und durch die Allee nach Queen's Crawley hinauf bezaubernd schön.

»Oh, die Sterne, die Sterne!« rief Miss Rebekka jedesmal aus und schlug ihre grünen funkelnden Augen auf. »Ich fühle mich fast wie ein Geist, wenn ich sie anschaue.«

»Oh – ah – Gott – ja, ich genauso, Miss Sharp«, antwortete der andere Enthusiast. »Meine Zigarre stört Sie doch hoffentlich nicht, Miss Sharp?« Miss Sharp liebte Zigarrenduft im Freien über alles – und sehr zierlich probierte sie selbst mal eine, paffte ein wenig, stieß einen kleinen Schrei aus, kicherte ein wenig und gab die Köstlichkeit dem Hauptmann zurück; der zwirbelte seinen Schnurrbart, paffte so heftig, daß rote Glut zwischen den dunklen Bäumen aufleuchtete, und schwor: »Beim Zeus – ah – Gott – ah – das ist die beste Zigarre, die ich je geraucht habe – ah«, denn seine Unterhaltung war ebenso brillant wie sein Verstand und einem schwerfälligen jungen Dragoner angemessen.

Der alte Sir Pitt, der pfeiferauchend, sein Bier vor sich, mit John Horrocks über ein Schaf sprach, das geschlachtet werden sollte, erspähte vom Fenster seines Arbeitszimmers aus das solcherart beschäftigte Paar und schwor unter entsetzlichen [155] Flüchen, daß er, wenn Miss Crawley nicht da wäre, Rawdon ergreifen und hinausschmeißen würde, wie es einem Spitzbuben seines Schlages gebühre.

»Er ist schon schlimm«, bemerkte Mr. Horrocks; »sein Diener Flethers aber ist noch schlimmer. Er hat im Zimmer der Haushälterin einen solchen Skandal wegen Essen und Bier aufgeführt, wie kein Lord es tun würde. Aber ich glaube, Miss Sharp ist ihm gewachsen, Sir Pitt«, setzte er nach einer Pause hinzu.

Und das war sie auch – dem Vater mitsamt dem Sohn.

Fußnoten

1 (franz.) neue Garderobe.

2 vornehme Geschäftsstraße in London.

3 Stadtteil von London mit Militärakademie.

4 (franz.) glücklicher Fund.

5 (1133-1189), König von England von 1154 bis 1189.

6 Lord Horatio Nelson (1758-1805), englischer Admiral. In Neapel lernte er Lady Hamilton (1765-1815), die Frau des britischen Gesandten, kennen. Sie veranlaßte ihn im Auftrag der Königin von Neapel zu verschiedenen politischen Unklugheiten, wodurch er sich große Unannehmlichkeiten zuzog.

7 (franz.) bis über die Ohren verschuldet.

12. Kapitel
Ein ganz sentimentales Kapitel

Wir müssen uns nun von Arkadien und den liebenswürdigen Leuten, die dort die ländlichen Tugenden pflegen, verabschieden und nach London zurückkehren, um zu erforschen, was aus Miss Amelia geworden ist.

»Wir machen uns keinen Pfifferling aus ihr«, schreibt eine unbekannte Leserin mit kleiner, hübscher Handschrift in einem rosa versiegelten Briefchen. »Sie ist fad und abgeschmackt.« Und fügt dann noch ein paar ähnliche freundschaftliche Bemerkungen hinzu, die ich überhaupt nicht wiederholt hätte, wären sie nicht in Wahrheit ungemein schmeichelhaft für die junge Dame, die sie betreffen.

Hat der geneigte Leser mit ausreichender Welterfahrung nie ähnliche Bemerkungen gutmütiger Freundinnen gehört, die sich stets wundern, was man bloß Bezauberndes an Miss Smith finden könne oder was Major Jones nur veranlaßt habe, um die einfältige, uninteressante, gezierte Miss Thompson zu werben, die doch nichts aufzuweisen hat als ihr Wachspuppengesicht. Was sind denn schon ein paar rosige Wangen und blaue Augen? fragen die guten Moralistinnen und geben [156] klug zu verstehen, daß Geistesgaben und Bildung, die Beherrschung von Mangnalls Fragen 1, daß Kenntnisse in Botanik und Geologie – soweit man es von Damen verlangen könne –, daß das Talent, Verse zu machen, Sonaten in Herzscher Art 2 herunterzurattern und so weiter für eine Frau von weit höherem Werte sei als jene flüchtigen Reize, die unvermeidlich in wenigen Jahren vergehen werden. Es ist erbaulich, zu lauschen, wenn Frauen über den Wert und die Dauer der Schönheit Betrachtungen anstellen.

Aber obgleich Tugend eine weit bessere Eigenschaft ist und jene Ärmsten, die das Unglück haben, gut auszusehen, beständig an ihr künftiges Schicksal erinnert werden sollten und obgleich der heroische weibliche Charakter, den die Damen so bewundern, höchstwahrscheinlich ein weit herrlicheres und schöneres Gesprächsthema ist als die freundliche, frische, lächelnde, harmlose, zärtliche kleine Hausgöttin, die die Männer verehren, so muß doch diese untergeordnete Gruppe von Frauen den Trost haben, daß die Männer sie trotzdem bewundern. Und deshalb beharren wir, allen Warnungen und Protesten unserer netten Freundinnen zum Trotz, auf unserem verzweifelten Irrtum und unserer Torheit, werden bis zum Schluß des Kapitels darauf beharren. Obgleich mir Personen, für die ich große Achtung hege, erklärten, Miss Brown sei ein unbedeutendes Lärvchen, Mrs. White habe nichts als ihr petit minois chiffonné 3 und Mrs. Black wisse gar nichts zu sagen, so kann ich nur versichern, daß ich für mein Teil mit Mrs. Black die angeregtesten Unterhaltungen geführt habe (natürlich sind diese Gespräche, meine teure Dame, ein unverletzliches Geheimnis), ich sehe alle Männer sich um den Stuhl von Mrs. White sammeln, und alle jungen Burschen reißen sich um einen Tanz mit Miss Brown. Daher fühle ich mich versucht, zu glauben, daß es kein geringes Kompliment für eine Frau ist, wenn ihre eigenen Geschlechtsgenossinnen sie verachten.

Die jungen Damen in Amelias Gesellschaft taten das hinlänglich [157] mit ihr. Es gab zum Beispiel kaum einen Punkt, worin sich die beiden Miss Osborne – Georges Schwestern – und die beiden Mademoiselle Dobbin so sehr einig waren wie in der Beurteilung der geringen Verdienste Amelias sowie in der Verwunderung, was für Reize ihre Brüder ihr abgewinnen konnten. »Wir sind freundlich gegen sie«, verkündeten die beiden Miss Osborne, zwei hübsche Brünetten, die die besten Gouvernanten, Lehrer und Putzmacherinnen gehabt hatten, und sie behandelten sie mit Gönnermiene so außerordentlich freundlich und herablassend, daß das arme kleine Ding in ihrer Gesellschaft tatsächlich stumm und allem Anscheine nach so dumm war, wie sie es von ihr glaubten. Amelia bemühte sich, sie pflichtschuldigst als Schwestern ihres zukünftigen Gatten zu lieben. Sie verbrachte lange Morgen bei ihnen – die langweiligsten und ernstesten, die sie je erlebt hatte. Sie fuhr mit ihnen und mit ihrer Gouvernante, Miss Wirt, einer grobknochigen Vestalin, feierlich in der Familienkutsche aus. Um ihr einen besonderen Hochgenuß zu bereiten, schleppten sie die Schwestern zu Kirchenkonzerten, zu Oratorien und in die Sankt-Pauls-Kathedrale zu den Waisenkindern, wo sie aus lauter Angst vor ihren Freunden kaum wagte, sich durch die Hymne der Kinder rühren zu lassen. Das Osbornesche Haus war gemütlich, des Vaters Tisch reich und glänzend, ihre Gesellschaft feierlich und vornehm, ihre Selbstachtung gewaltig; sie hatten den ersten Platz im Findelhaus; alle ihre Gewohnheiten waren pompös und regelmäßig und alle ihre Vergnügungen unerträglich langweilig, aber züchtig. Jedesmal nach Amelias Besuch (und ach, wie froh war sie stets, wenn er vorüber war!) fragten Miss Osborne und Miss Maria Osborne und Miss Wirt, die vestalische Gouvernante, mit steigender Verwunderung: »Was kann George doch bloß an dem Geschöpf finden?«

Wie kommt das? ruft hier ein kritischer Leser aus. Wie kommt es, daß Amelia, die doch in der Schule so viele Freundinnen hatte und dort so beliebt war, bei ihrem Eintritt in [158] die Welt von ihrem scharfsinnigen Geschlecht verachtet wird? Mein sehr verehrter Herr, es gab außer dem alten Tanzmeister in Miss Pinkertons Schule keine Männer; und seinetwegen hätten doch die Mädchen einander nicht in die Haare zu geraten brauchen! Wenn George, der hübsche Bruder, sofort nach dem Frühstück davonlief und wöchentlich sechsmal nicht zu Hause speiste, so ist es kein Wunder, daß die vernachlässigten Schwestern sich etwas ärgerten. Kann man wohl erwarten, daß Miss Maria hätte erfreut sein sollen, als der junge Bullock (von der Bank Hulker, Bullock und Co., Lombard Street), der ihr während der letzten beiden Saisons den Hof gemacht hatte, Amelia doch wahrhaftig zu einem Cottillon aufforderte? Und doch erklärte sie, sie sei es – das harmlose, verzeihende Geschöpf. »Ich freue mich so, daß die liebe Amelia Ihnen gefällt«, beteuerte sie Mr. Bullock ganz eifrig nach dem Tanz. »Sie ist mit meinem Bruder George verlobt; es ist zwar nichts Besonderes an ihr, aber sie ist doch ein sehr gutmütiges und natürliches junges Ding. Zu Hause haben wir sie alle so gern.« Das gute Mädchen! Wer vermag die innige Liebe abzuschätzen, die in diesem enthusiastischen so liegt?

Miss Wirt und diese beiden liebevollen jungen Damen führten George Osborne so oft und eindringlich vor Augen, welches ungeheure Opfer er bringe und mit welch romantischem Großmut er sich so an Amelia wegwerfe, daß ich nicht ganz sicher bin, ob er sich nicht wirklich als einen der verdienstvollsten Männer in der britischen Armee betrachtete und sich mit leichter Resignation lieben ließ.

Obwohl George Osborne, wie wir berichteten, jeden Morgen von zu Hause wegstürzte und sechsmal wöchentlich auswärts speiste, so daß seine Schwestern glaubten, der betörte Jüngling hänge an Miss Sedleys Schürzenbändern, war er nicht immer bei Amelia, wenn die Welt ihn zu ihren Füßen glaubte. Mehr als einmal, wenn Hauptmann Dobbin seinen Freund besuchen wollte, deutete Miss Osborne (die dem [159] Hauptmann ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte und sehr erpicht auf seine Soldatengeschichten und seine Berichte von der Gesundheit seiner lieben Mama war) lachend über den Russell Square und sagte: »Oh, nach George müssen Sie sich bei den Sedleys erkundigen; wir bekommen ihn ja vom Morgen bis zum Abend nicht zu sehen.« Nach solchen Worten lachte dann der Hauptmann etwas eigenartig und gezwungen und lenkte als vollendeter Weltmann das Gespräch auf einen Gegenstand allgemeinen Interesses, wie zum Beispiel die Oper, den letzten Ball beim Kronprinzen im Carlton-Haus 4 oder das Wetter – diesen Wohltäter der Gesellschaft.

»Was für ein unschuldiger Mensch ist doch dein Liebling«, pflegte dann Miss Maria zu Miss Jane zu sagen, nachdem der Hauptmann gegangen war. »Hast du gesehen, wie er errötete, als ich erwähnte, daß der arme George Dienst tue?«

»Es ist jammerschade, daß Frederick Bullock nicht etwas von seiner Bescheidenheit besitzt, Maria«, erwiderte dann die ältere Schwester und warf den Kopf zurück.

»Bescheidenheit! Du meinst wohl, Unbehilflichkeit, Jane. Ich möchte nicht, daß Frederick mir ein Loch ins Musselinkleid tritt wie Hauptmann Dobbin dir, als wir bei Mrs. Perkin waren.«

»In dein Kleid, haha! Wie konnte er denn das? Hat er nicht mit Amelia getanzt?«

Die Sache verhielt sich aber so: Als Hauptmann Dobbin errötete und so verlegen aussah, erinnerte er sich eines Umstandes, den er den jungen Damen lieber verschweigen wollte, nämlich daß er bereits in Mr. Sedleys Haus gewesen war, natürlich unter dem Vorwand, George zu sehen. George aber war nicht dort, sondern bloß die arme kleine Amelia, die ziemlich traurig und gedankenvoll am Salonfenster saß und nach einigen belanglosen, einfältigen Worten zu fragen wagte, ob etwas Wahres an dem Gerücht sei, daß das Regiment ins Ausland gehen würde, und ob Hauptmann Dobbin Mr. Osborne an dem Tage schon gesehen habe?

[160] Das Regiment hatte bis jetzt noch nicht den Befehl erhalten, und Hauptmann Dobbin hatte George nicht gesehen. »Höchstwahrscheinlich ist er bei seiner Schwester«, meinte der Hauptmann. »Soll ich den Säumigen holen gehen?« Darauf reichte sie ihm freundlich und dankbar die Hand, und er ging über den Platz. Sie wartete und wartete, aber George kam nicht.

Armes, zartes Herzchen! Und so schlägt es weiter in Hoffen, Sehnen, Vertrauen. Man sieht, es wird hier kein besonderes Leben beschrieben, kein ereignisreiches Leben, den lieben langen Tag nur ein Gefühl – wann kommt er? Nur ein Gedanke im Wachen und im Schlafen. Ich glaube, George spielte mit Hauptmann Cannon in der Swallow Street Billard, als Amelia Hauptmann Dobbin nach ihm fragte; denn er war ein lustiger, geselliger Bursche und Meister in allen Geschicklichkeitsspielen.

Als er einmal drei Tage lang nicht bei ihr gewesen war, setzte sich Miss Amelia den Hut auf und drang wirklich in das Osbornesche Haus ein.

»Wie! Sie lassen unsern Bruder allein und kommen zu uns?« fragten die jungen Damen. »Haben Sie Streit mit ihm gehabt, Amelia? Erzählen Sie doch!«

Nein, sie hatten sich nicht gezankt. »Wer könnte sich schon mit ihm streiten!« sagte sie. Sie sei bloß herübergekommen, um ihre teuren Freundinnen zu besuchen; sie hätten sich schon so lange nicht mehr gesehen. Und diesmal benahm sie sich so einfältig und unbeholfen, daß die beiden Miss Osborne und ihre Gouvernante, die ihr nachstarrten, als sie sich traurig entfernte, sich mehr denn je wunderten, was doch George an der armen kleinen Amelia finden könne.

Es war ganz natürlich, daß sie sich wunderten. Aber wie konnte Amelia auch nur jemals diesen jungen Damen mit den kalten schwarzen Augen ihr kleines, schüchternes Herz öffnen. Das beste war wohl, sie hielt es zurück und verbarg es. Ich weiß, daß die beiden Miss Osborne einen Kaschmirschal [161] oder ein rosa Atlasunterkleid vortrefflich zu beurteilen verstanden; und wenn Miss Turner ihren rot färbte und sich einen Spenzer daraus machen ließ, oder wenn Miss Pickford ihren Hermelinkragen in einen Muff und Besatzstücke umarbeiten ließ, so garantiere ich, daß derartige Veränderungen den beiden intelligenten jungen Mädchen nicht entgingen. Aber sehen Sie, es gibt Dinge von feinerer Beschaffenheit als Pelzwerk und Atlas, alle Herrlichkeiten Salomos 5 und die ganze Garderobe der Königin von Saba 6 – Dinge, deren Schönheit manchem Kennerauge entgeht. Und es gibt süße, bescheidene Seelchen, die man duftend und lieblich blühend an ruhigen, schattigen Stellen trifft; und es gibt prächtige Gartenblumen, so groß wie Messingwärmflaschen, welche durch ihre Blicke selbst die Sonne in Verlegenheit bringen können. Miss Sedley gehörte nicht zu dieser Art Sonnenblumen; und ich kann nur sagen, es verstößt gegen alle Regeln der Proportion, ein Veilchen so groß wie eine gefüllte Dahlie zu malen.

Nein, wirklich, im Leben eines braven jungen Mädchens, das sich noch im väterlichen Nest befindet, kann es nicht viele jener spannenden Ereignisse geben, auf die eine Romanheldin gewöhnlich Anspruch erhebt. Die alten Vögel, die draußen umherfliegen und Futter suchen, können Opfer von Schlingen oder Kugeln werden, oder es können Habichte draußen sein, denen sie entkommen oder zur Beute fallen. Aber die Nestjungen führen in Stroh und Daunen ein ganz bequemes, unromantisches Leben, bis auch sie flügge werden. Während Becky Sharp schon selbständig auf dem Lande herumflog und auf allen möglichen Zweigen und zwischen einer Menge Fallen herumhüpfte und ganz harmlos, aber erfolgreich ihr Futter aufpickte, lag Amelia behaglich in ihrem warmen Nest am Russell Square; begab sie sich in die Welt hinaus, so geschah es unter der Führung ihrer Eltern, und weder sie noch das reiche, freundliche und bequeme Haus, in dem sie so liebevoll beschützt wurde, schien ein Unglück treffen zu können. [162] Die Mama hatte ihre Vormittagspflichten, ihre täglichen Ausfahrten und jene entzückende Besuchs- und Einkaufsrunde, die das Vergnügen, wie man es auch nennen kann, den Beruf der reichen Londonerin aus macht. Der Papa führte seine geheimnisvollen Geschäfte in der City – ein lebhafter Ort in jenen Tagen, als der Krieg in ganz Europa wütete und Weltreiche auf dem Spiele standen; als eine Zeitung wie der »Courier« ihre Abonnenten nach Zehntausenden zählte, als ein Tag die Schlacht von Vitoria 7, ein anderer den Brand von Moskau 8 brachte; oder als zur Essenszeit ein Zeitungsverkäufer am Russell Square durch sein Horn verkündete: »Schlacht bei Leipzig 9 – sechshunderttausend Mann beteiligt – totale Niederlage der Franzosen – zweihunderttausend Tote.« Ein paarmal kam der alte Sedley mit sehr ernstem Gesicht nach Hause; kein Wunder, wenn solche Nachrichten alle Herzen und Börsen Europas in Bewegung setzten.

Unterdessen ging das Leben am Russell Square, Bloomsbury, weiter, als ob die Dinge in Europa nicht im geringsten in Auflösung begriffen wären. Der Rückzug von Leipzig brachte keine Veränderung in der Anzahl der Mahlzeiten mit sich, die Mr. Sambo in der Bedientenstube einnahm; die Alliierten überfluteten Frankreich, und die Tischglocke läutete um fünf Uhr wie üblich. Ich glaube nicht, daß sich die arme Amelia um Brienne 10 und Montmirail 11 kümmerte oder sonstwie am Krieg interessiert war – bis der Kaiser abdankte. Da klatschte sie in die Hände und sprach voller Inbrunst Dankgebete und warf sich stürmisch in George Osbornes Arme, zum Erstaunen aller, die Zeuge dieser Gefühlsaufwallung waren. Friede war nämlich geschlossen, Europa sollte wieder zur Ruhe kommen; der Korse war gestürzt, und Leutnant Osbornes Regiment brauchte nicht zum Kriegsdienst auszurücken. Das waren Amelias Gedankengänge. Für sie war Leutnant George Osborne das Schicksal Europas. Da er außer Gefahr war, sang sie ein Tedeum 12. Für sie war er [163] Europa, Kaiser, alliierten Monarchen und der hohe Prinzregent. Er war ihre Sonne und ihr Mond; und ich glaube sogar, in ihren Augen waren die große Illumination und der Ball, der für die Herrscher im Mansion House gegeben wurde, nur zu Ehren George Osbornes arrangiert.

Wir haben von den traurigen Lehrmeistern Betrug, Eigennutz und Armut gesprochen, denen die arme Miss Becky Sharp ihre Erziehung verdankte. Die letzte Lehrerin von Miss Amelia Sedley dagegen war die Liebe gewesen, und es ist erstaunlich, welche Fortschritte unsere junge Dame unter dieser beliebten Lehrmeisterin machte. Im Laufe von fünfzehn bis achtzehn Monaten täglichen Unterrichts bei dieser ausgezeichneten Erzieherin lernte Amelia eine ganze Reihe von Geschehnissen kennen, von denen Miss Wirt und die schwarzäugigen Damen drüben, ja sogar die alte Miss Pinkerton in Chiswick keine Ahnung hatten! Woher sollten diese steifen und anständigen Jungfrauen auch etwas davon erfahren? Bei Miss P. und auch Miss W. kann von der süßen Leidenschaft keine Rede sein; ich würde es nicht wagen, eine solche Idee auch nur anzudeuten. Miss Maria Osborne »verkehrte« zwar mit Mr. Frederick Augustus Bullock von der Firma Hulker, Bullock und Bullock; aber dieser »Verkehr« war durchaus ehrbar, und ebensogut hätte sie Bullock senior nehmen können, da sie sich nun einmal, wie jedes wohlerzogene junge Mädchen eigentlich sollte, auf ein Haus in der Park Lane, ein Landhaus in Wimbledon, eine schöne Kutsche mit zwei prächtigen Pferden und Lakaien sowie auf ein Viertel des Jahresgewinnes der ausgezeichneten Firma Hulker und Bullock versteift hatte – alles Vorteile, die in der Person des Frederick Augustus vereinigt waren. Wären damals schon die Orangenblüten erfunden gewesen, jene rührenden Symbole weiblicher Reinheit, die aus Frankreich zu uns kamen, wo die Leute ihre Töchter allgemein für die Ehe verkaufen, so hätte sich Miss Maria wohl den reinen Kranz aufs Haupt gesetzt, wäre an der Seite des alten gichtbrüchigen, kahlköpfigen, [164] rotnasigen Bullock senior in den Reisewagen geklettert, hätte ihre schöne Erscheinung mit vollkommener Bescheidenheit seinem Glücke geopfert – wenn der alte Herr nicht leider bereits verheiratet gewesen wäre. So schenkte sie ihre Neigung dem jüngeren Teilhaber. Süße Orangenblüten! Neulich sah ich Miss Trotter (die ehemalige) mit ihnen geschmückt vor der Sankt-Georgs-Kirche am Hanover Square in den Reisewagen klettern, und Lord Methusalem hinkte hinter ihr her. Mit welch bezaubernder Schamhaftigkeit ließ sie die Vorhänge in der Kutsche herab – die liebe Unschuld! Die Hälfte aller Kutschen vom Jahrmarkt der Eitelkeit hatte sich zur Trauung eingefunden.

Diese Art Liebe war es nicht, die Amelias Erziehung vollendete und im Laufe eines Jahres ein artiges junges Mädchen zu einem schönen jungen Weib wandelte, das eine gute Ehefrau werden würde, sobald die glückliche Zeit kam. Dieses junge Wesen liebte von ganzem Herzen den jungen Offizier im Dienste Seiner Majestät, dessen Bekanntschaft wir bereits flüchtig gemacht haben (vielleicht war es nicht sehr klug von ihren Eltern, sie in solchen närrischen, romantischen Ideen noch zu ermuntern und zu bestärken). Der Gedanke an ihn war der erste beim Aufwachen, und sein Name war der letzte, den sie im Gebet erwähnte. Niemals hatte sie einen so schönen und klugen Mann gesehen, noch nie eine solche Gestalt zu Pferde erblickt, noch nie einen solchen Tänzer, überhaupt einen solchen Helden zu Gesicht bekommen. Man schweige von des Prinzregenten Verbeugung! Was war sie schon gegen Georges? Sie hatte Mr. Brummel gesehen, von dem jedermann schwärmte. Wie konnte man einen Menschen wie diesen mit ihrem George vergleichen? Unter allen Beaus in der Oper (und es gab damals etliche Beaus 13, mit richtigen Klapphüten) war keiner, der ihm das Wasser reichen konnte. Er war gut genug, ein Märchenprinz zu sein, und ach! wie großmütig war es doch von ihm, sich zu einem so geringen Aschenbrödel herabzulassen! Miss Pinkerton [165] hätte wahrscheinlich versucht, dieser blinden Ergebenheit Schranken zu setzen, wäre sie Amelias Vertraute gewesen; aber gewiß nicht mit viel Erfolg, darauf kann man sich verlassen. Das liegt nun einmal in der Natur mancher Frauen. Einige sind zum Ränkeschmieden geboren, andere zum Lieben; und ich wünschte, jeder anständige Junggeselle, der dies liest, möge die Sorte wählen, die ihm entspricht.

Unter diesem überwältigenden Eindruck vernachlässigte Amelia ihre zwölf lieben Freundinnen in Chiswick aufs grausamste, wie es selbstsüchtige Menschen immer tun. Sie dachte natürlich stets nur an diesen einen Gegenstand, und Miss Saltire war für eine Vertraute viel zu kühl. Auch Miss Swartz, der wollköpfigen jungen Erbin von Saint Kitts, konnte sie ihre Gefühle nicht mitteilen. Während der Ferien war die kleine Laura Martin bei ihr zu Besuch, und ich glaube, sie machte sie zu ihrer Vertrauten und versprach, daß Laura bei ihr wohnen sollte, wenn sie erst verheiratet wäre. Sie erzählte Laura eine Menge Dinge über Liebesleidenschaft, die für dieses kleine Mädchen besonders nützlich und neu gewesen sein müssen. Oje! Ich fürchte fast, es stand mit ihrem Kopfe nicht eben zum besten.

Warum aber hinderten ihre Eltern dieses kleine Herz nicht daran, so schnell zu schlagen? Der alte Sedley schien von diesen Dingen nicht viel zu bemerken. Er war in der letzten Zeit ernster geworden, und seine Geschäfte in der City nahmen ihn ganz und gar in Anspruch. Mrs. Sedley war so ruhig und so wenig neugierig, daß sie nicht einmal eifersüchtig war. Mr. Joe war fort und wurde in Cheltenham von einer irischen Witwe belagert. Amelia hatte das Haus ganz für sich allein – ach! bisweilen zu sehr für sich allein; nicht daß sie je von Zweifeln geplagt worden wäre, denn sicherlich war George im Kriegsministerium; und er konnte auch nicht ständig Urlaub von Chatham bekommen; er mußte seine Freunde und Schwestern besuchen und, wenn er in der Stadt war, in der Gesellschaft auftauchen (er, die Zierde jeder Gesellschaft!);[166] und wenn er beim Regiment war, so war er zu müde, um lange Briefe zu schreiben. Ich weiß, wo sie das Bündel aufbewahrte, das sie bekommen hatte, und ich kann mich in ihr Zimmer stehlen und wieder unbemerkt verschwinden, wie Jachimo. Wie Jachimo 14? Nein, das wäre eine schlechte Rolle. Ich will nur den Mondschein spielen und arglos in das Bett lugen, wo Treue, Schönheit und Unschuld träumen.

Osbornes Briefe waren kurz und soldatisch, müßten wir allerdings Miss Sedleys Briefe an Mr. Osborne veröffentlichen, hätten wir diesen Roman zu einer solchen Menge von Bänden zu erweitern, daß auch der sentimentalste Leser es nicht aushalten könnte. Sie füllte nicht nur große Bogen voll, sondern beschrieb sie auch in ihrer Durchgedrehtheit kreuz und quer; sie kopierte ohne Gnade und Barmherzigkeit ganze Seiten aus Gedichtsammlungen, unterstrich Wörter und Sätze mit wahrhaft wahnsinnigem Nachdruck und ließ, mit einem Wort, die üblichen Zeichen ihres Zustandes merken. Sie war keine Heldin, ihre Briefe waren voller Wiederholungen. Bisweilen war die Grammatik recht zweifelhaft, und in ihren Versen erlaubte sie sich alle Arten von Freiheiten mit dem Metrum. Aber, o meine Damen, wenn es Ihnen nicht erlaubt sein soll, manchmal aller Syntax zum Trotz das Herz zu rühren, und wenn Sie erst geliebt werden sollen, wenn Sie den Unterschied zwischen Trimeter 15 und Tetrameter 16 kennen, so mag alle Poesie zum Teufel fahren und jeder Schulmeister eines elenden Todes sterben!

Fußnoten

1 Die englische Schullehrerin Richmal Mangnall (1769-1820) verfaßte das didaktische Werk »Historical and Miscellaneous Questions for the Use of Young People« (Historische und andere Fragen für die Jugend).

2 Der Österreicher Henri Herz (1806 bis 1888) war einer der gefeiertsten Pianisten seiner Zeit und Komponist heute zu Recht vergessener Musikwerke.

3 (franz.) unregelmäßiges, aber niedliches Gesichtchen.

4 Palais in der Pall Mall, einer Prachtstraße Londons.

5 (etwa 960-927 v.u.Z.) König des israelischen Reiches; ging als Idealbild eines weisen und mächtigen Herrschers in die Mythologie des Orients ein.

6 sagenhafte Königin des Altertums.

7 Stadt in Nordspanien. In der Schlacht von Vitoria besiegten 1813 die vereinigten englischen und spanischen Truppen unter Wellington die Franzosen.

8 Siehe Anm. zu S. 81.

9 In der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) fügten die vereinigten Armeen der Österreicher, Russen, Preußen, Schweden und Engländer den Franzosen eine entscheidende Niederlage zu.

10 Stadt in Nordfrankreich. In der Schlacht bei Brienne (1814) konnten sich die Franzosen gegenüber der Armee der Verbündeten behaupten.

11 Stadt an der Marne. In der Schlacht bei Montmirail (1814) siegte Napoleon über die Preußen und die Russen.

12 ein mit den Worten »Te deum laudamus« – (lat.) Dich, Gott, loben wir – beginnender Hymnus der katholischen Kirche.

13 (franz.) Stutzer.

14 Gestalt aus Shakespeares Komödie »Cymbeline«. Jachimo wettet, daß er Imogen, die Gemahlin des Posthumus, verführen kann. Er versteckt sich in ihrem Schlafzimmer und raubt ihr, während sie schläft, ein Armband, das ihre Untreue bezeugen soll.

15 in der griechischen Metrik Vers mit drei Versfüßen.

16 in der griechischen Metrik Vers mit vier Versfüßen.

13. Kapitel
Sentimentales und anderes

Ich fürchte, der Herr, an den Miss Amelias Briefe gerichtet waren, war ein ziemlich verstockter Kritiker. Leutnant Osborne folgte überall eine solche Menge von Briefchen, daß [167] er sich beinahe der Späße seiner Kameraden darüber schämte und seinem Diener befahl, sie nur in seiner Privatwohnung abzugeben. Es wurde beobachtet, wie er sogar einmal seine Zigarre mit einem solchen Brief anzündete, zum Entsetzen Hauptmann Dobbins, der, wie ich glaube, das Dokument gern mit einer Banknote aufgewogen hätte.

Einige Zeit suchte George die Verbindung geheimzuhalten. Er gab zu, daß eine Frau im Spiel sei. »Bestimmt nicht die erste«, sagte Fähnrich Spooney zu Fähnrich Stubble. »Der Osborne ist ein Teufelskerl. In Demerara wurde eine Richterstochter seinetwegen fast verrückt; dann kam in Sankt Vincent das prachtvolle Quarteronmädchen 1, Miss Pye, Sie wissen; und seitdem er nach England zurückgekommen ist, soll er ein wahrer Don Juan sein, beim Zeus!«

Stubble und Spooney dachten, daß, »beim Zeus, ein wahrer Don Juan« zu sein, eine der besten Eigenschaften eines Mannes sei, und Osborne erfreute sich bei den jungen Leuten des Regiments eines ungeheuren Ansehens. Er war ausgezeichnet in allen möglichen Sportarten, er war ein ausgezeichneter Sänger, er war ausgezeichnet bei der Parade und freigebig mit dem Gelde, womit ihn sein Vater reichlich versah. Seine Röcke waren besser gearbeitet als die aller anderen im Regiment, und er hatte mehr davon als alle anderen. Die Soldaten beteten ihn an. Er konnte mehr trinken als alle anderen in der Offiziersmesse, einschließlich des alten Obersten Heavytop. Im Boxen übertraf er selbst Knuckles, den Gemeinen (der Preiskämpfer gewesen war und ohne seine Trunksucht zum Korporal befördert worden wäre); auch war er weitaus der beste Kricketspieler und Kegler des ganzen Regimentsklubs. Bei den Quebecker Rennen ritt er sein eigenes Pferd, den »Geölten Blitz«, und gewann den Garnisonspokal. Außer Amelia gab es noch andere, die ihn verehrten. Stubble und Spooney hielten ihn für eine Art Apollo, Dobbin für einen »bewundernswerten Chrichton 2«, und die Majorin O'Dowd bekannte, daß er ein eleganter junger [168] Bursche sei und sie an Fitzjurld Fogarty, Lord Castlefogartys zweiten Sohn, erinnere.

Stubble und Spooney und alle anderen ergingen sich also in höchst romantischen Vermutungen, wer Osborne wohl Briefe schreibe. Sie meinten bald, es sei eine Londoner Herzogin, die sich in ihn verliebt habe, bald, es sei eine Generalstochter, die mit einem anderen verlobt sei, ihn aber rasend liebe, bald, es sei die Frau eines Parlamentsabgeordneten, die ihm eine Entführung im Vierspänner vorschlage, bald, es sei ein anderes Opfer einer für alle Teile reizvollen, aufregenden, romantischen und schmachvollen Leidenschaft. Auf alle diese Vermutungen wollte Osborne nicht das geringste Licht werfen und ließ seine jungen Bewunderer und Freunde ihre ganze Geschichte nach Belieben erfinden und ausspinnen.

Der wirkliche Sachverhalt wäre nie im Regiment bekannt geworden, hätte nicht Hauptmann Dobbin Indiskretion geübt. Eines Tages saß der Hauptmann beim Frühstück in der Offiziersmesse, als der Unterarzt Cackle und die beiden obenerwähnten Ehrenmänner Vermutungen über Osbornes Liebeshandel anstellten. Stubble behauptete, die Dame sei eine Herzogin am Hofe der Königin Charlotte, und Cackle schwor, es sei eine berüchtigte Opernsängerin. Diese Worte erregten Dobbin dermaßen, daß er, den Mund voller Ei und Butterbrot, herausplatzte, obwohl er gar nichts hätte sagen dürfen: »Cackle, Sie sind ein Gummkopf. Immer haben Sie Unsinn und Skandalgeschichten auf Lager. Osborne hat nicht vor, eine Herzogin zu entführen oder eine Putzmacherin unglücklich zu machen. Miss Sedley ist eines der bezauberndsten jungen Mädchen, die es je gegeben hat. Er ist mit ihr schon seit langem verlobt, und wer sie beschimpft, sollte es nicht in meiner Gegenwart tun.«

Hier schwieg Dobbin, puterrot geworden, und erstickte beinahe an einer Tasse Tee. In einer halben Stunde wußte das ganze Regiment die Geschichte, und noch am gleichen [169] Abend schrieb die Majorin O'Dowd an ihre Schwägerin Glorvina in O'Dowdstown, sie brauche sich nicht zu beeilen, von Dublin anzureisen, der junge Osborne sei bereits, und leider zu früh, verlobt.

Am Abend beglückwünschte sie den Leutnant in einer angemessenen Rede bei einem Glase Whisky-Toddy, und George ging wütend nach Hause, um mit Dobbin zu streiten, weil er sein Geheimnis verraten hatte. (Dobbin hatte die Einladung der Majorin O'Dowd ausgeschlagen und saß in seinem Zimmer, wo er Flöte spielte und, wie ich glaube, höchst melancholische Verse machte.)

»Wer, beim Satan, hat dich gebeten, von meinen Angelegenheiten zu sprechen?« schrie Osborne zornig. »Warum, zum Teufel, muß das ganze Regiment wissen, daß ich bald heiraten will? Warum muß die geschwätzige alte Vettel, Peggy O'Dowd, an ihrer verdammten Adelstafel meinen Namen im Munde führen und meine Verlobung in allen drei Königreichen austrompeten? Und was für ein Recht hast du überhaupt, zu erzählen, ich sei verlobt, oder dich in meine Angelegenheiten zu mischen, Dobbin?«

»Es scheint mir ...«, fing Hauptmann Dobbin an.

»Zum Henker mit dem, was dir scheint, Dobbin«, unterbrach ihn der Jüngere. »Ich bin dir zu Dank verpflichtet, das weiß ich, und zwar leider nur zu gut; aber ich will mir nicht ewig deine Predigten anhören, weil du fünf Jahre älter bist. Ich will verdammt sein, wenn ich mir deine überlegene Miene, dein höllisches Mitleid und dein Beschützergehabe länger gefallen lasse. Mitleid und Schutz! Ich möchte wohl wissen, in welchem Stück du mir über bist!«

»Bist du verlobt?« unterbrach Hauptmann Dobbin.

»Was, zum Teufel, geht es dich oder einen anderen Menschen hier an, ob ich es bin?«

»Schämst du dich deshalb?« fuhr Dobbin fort.

»Welches Recht hast du, mir diese Frage zu stellen? Das möchte ich gern wissen«, rief George.

[170] »Großer Gott, du willst doch damit nicht sagen, daß du mit ihr brechen willst?« fuhr Dobbin auf.

»Mit anderen Worten, du fragst mich, ob ich ein Ehrenmann bin«, erwiderte Osborne grimmig; »willst du das damit sagen? Seit einiger Zeit hast du gegen mich einen solchen Ton angeschlagen, daß ich verdammt sein will, wenn ich es mir noch länger gefallen lasse.«

»Was habe ich denn getan? Ich habe dir bloß gesagt, daß du ein süßes Mädchen vernachlässigst, George. Ich habe dir bloß gesagt, du sollst zu ihr gehen, wenn du in die Stadt fährst, und nicht in die Spielhäuser um Sankt James.«

»Ich nehme an, du willst dein Geld zurückhaben«, sagte George höhnisch.

»Natürlich will ich das – habe es immer gewollt, nicht wahr?« rief Dobbin. »Du redest wie ein besonders Großmütiger.«

»Nein, zum Henker, William, verzeih mir bitte«, fiel ihm George in einem Anflug von Reue ins Wort. »Weiß der Himmel, du hast deine Freundschaft hundertfach bewiesen. Du hast mich schon oft aus heiklen Situationen errettet. Ich weiß, als Crawley von der Leibgarde diese Geldsumme von mir gewann, wäre es ohne dich um mich geschehen gewesen. Aber du solltest nicht so streng gegen mich sein. Du darfst mich nicht immer so schulmeistern. Ich liebe Amelia, ich bete sie an und so weiter. Guck nicht so böse. Ich weiß, sie ist fehlerlos. Aber siehst du, es macht keinen Spaß, etwas zu gewinnen, um das man nicht gespielt hat. Zum Henker! Das Regiment ist ja eben erst aus Westindien zurück, ich muß mich ein bißchen austoben. Wenn ich erst einmal verheiratet bin, will ich mich bestimmt bessern, Ehrenwort. Und – weißt du – Dob – sei mir nicht böse; nächsten Monat bekommst du hundert Pfund von mir, wenn mein Vater mir eine hübsche Summe gibt. Ich will Heavytop um Urlaub bitten und morgen in die Stadt fahren und Amelia besuchen – so, bist du nun zufrieden?«

[171] »Man kann dir niemals lange zürnen, George«, sagte der gutmütige Hauptmann, »und was das Geld betrifft, alter Knabe, so würdest du wohl den letzten Shilling mit mir teilen, wenn ich welches brauchte.«

»Beim Zeus, das würde ich, Dobbin«, erklärte George höchst großmütig, obgleich er, nebenbei gesagt, nie Geld hatte, um etwas abzugeben.

»Ich wünschte nur, du hättest dir die Hörner schon abgelaufen, George. Hättest du das Gesicht der armen kleinen Emmy gesehen, als sie mich neulich nach dir fragte, so hättest du die Billardkugeln zum Teufel geschickt. Geh und tröste sie, du Schurke. Schreib ihr einen langen Brief. Tu etwas, um sie glücklich zu machen, eine Kleinigkeit tut's schon.«

»Ich glaube, sie hat mich verdammt gern«, stellte der Leutnant mit selbstzufriedener Miene fest und entfernte sich, um den Abend mit einigen lustigen Kameraden im Speisesaal zu beschließen.

Amelia am Russell Square blickte unterdessen zum Mond, der auf diesen friedlichen Fleck herabschien und ebenso auf die Chatham-Kaserne, wo Leutnant Osborne einquartiert war, und sie überlegte sich, was ihr Held wohl jetzt gerade tue. Vielleicht visitiert er jetzt die Wachen, dachte sie, vielleicht liegt er im Biwak, vielleicht sitzt er am Lager eines verwundeten Kameraden oder studiert die Kriegskunst droben in seinem einsamen Zimmer. Und ihre freundlichen Gedanken eilten dahin, als seien sie Engel mit Flügeln. Sie flogen am Fluß entlang nach Chatham und Rochester und versuchten in die Kaserne zu dringen, in der George war.

Alles in allem war es, glaube ich, ganz gut, daß die Tore geschlossen waren und die Schildwache niemanden einließ, so daß der arme, kleine Engel im weißen Gewande die Lieder nicht hören konnte, die die jungen Burschen dort beim Whiskypunsch grölten.

Am Tag nach der kleinen Meinungsverschiedenheit in der Chatham-Kaserne traf der junge Osborne Anstalten, zur [172] Stadt zu fahren, um zu beweisen, daß er wirklich zu seinem Wort stehe, und Hauptmann Dobbins Beifall blieb nicht aus.

»Ich hätte ihr gern ein kleines Geschenk gemacht«, vertraute Osborne seinem Freunde an, »ich habe bloß kein Geld mehr, bis mein Vater mit dem Taschengeld herausrückt.«

Dobbin aber wollte nicht, daß Osbornes Gutmütigkeit und Großmut gehemmt werden sollten, und gab ihm daher ein paar Pfundnoten, die er, nach einigem anfänglichen Weigern, auch annahm.

Ich vermute, er hätte für Amelia bestimmt etwas recht Hübsches gekauft, hätte er nicht beim Aussteigen in der Fleet Street in einem Juweliergeschäft eine schöne Busennadel erblickt, deren Anziehungskraft er nicht zu widerstehen vermochte; und als er sie bezahlt hatte, hatte er nur noch wenig Geld übrig, um seiner Großmut freien Lauf zu lassen. Doch es machte nichts, denn wir können uns darauf verlassen, daß es nicht Geschenke waren, die Amelia von ihm erwartete. Als er zum Russell Square kam, leuchtete ihr Gesicht auf, als ob er der Sonnenschein gewesen wäre. Die kleinen Sorgen, Ängste, Tränen, schüchternen Befürchtungen, ruhelosen Einbildungen wer weiß wie vieler Tage und Nächte waren unter dem Einfluß jenes bekannten, unwiderstehlichen Lächelns im Nu vergessen. Er strahlte sie an, als er in der Salontür stand – ein Gott in seiner Pracht und mit seinem ambrosiaduftenden Backenbart. In Sambos Gesicht strahlte ein teilnehmendes Grinsen, als er Hauptmann Osborne meldete (er hatte den jungen Offizier um eine Stufe befördert). Der Diener sah das kleine Mädchen zusammenfahren und errötend von ihrem Beobachtungsposten am Fenster aufspringen und zog sich zurück. Sobald die Tür geschlossen war, flog sie Leutnant George Osborne ans Herz, als ob dieses das einzige richtige Nest für sie wäre. Ach, du armes, unruhiges Seelchen! Der schönste Baum des Waldes mit dem geradesten Stamme, den stärksten Ästen und dem dichtesten Laub, wo du dein Nest bauen und girren willst, [173] kann gezeichnet sein – wofür, weißt du – und bald zu Boden krachen. Was für ein altes, altes Gleichnis ist das zwischen Mensch und Baum!

George küßte sie indessen recht freundlich auf die Stirn und die glänzenden Augen und war recht gnädig und gut, und sie hielt seine diamantene Busennadel (die sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte) für den schönsten Schmuck der Welt.

Der aufmerksame Leser, dem das frühere Benehmen unseres jungen Leutnants nicht entgangen ist und der unsere Berichte von dem kleinen Wortwechsel zwischen ihm und Hauptmann Dobbin noch im Gedächtnis hat, ist wohl zu gewissen Schlüssen hinsichtlich des Charakters von Mr. Osborne gekommen. Ein zynischer Franzose hat einmal gesagt, daß zu einem Liebeshandel zwei gehörten: einer, der liebt, und einer, der sich herabläßt, geliebt zu werden. Gelegentlich ist die Liebe wohl auf seiten des Mannes, andere Male auf seiten der Frau. Vielleicht hat auch schon vorher manch Verliebter Gefühlskälte für Bescheidenheit, Dummheit für jungfräuliche Zurückhaltung, bloße Leere für Schüchternheit und, kurz gesagt, eine Gans für einen Schwan gehalten. Vielleicht hat auch schon die eine oder die andere meiner verehrten Leserinnen einen Esel mit dem Glanze und der Glorie ihrer Phantasie umgeben, seine Stumpfheit als männliche Einfachheit bewundert, seine Selbstsucht als männliche Überlegenheit und ihn so behandelt wie die glänzende Fee Titania einen gewissen Weber aus Athen 3. Ich glaube solche Komödien der Irrungen in der Welt schon beobachtet zu haben. Sicher ist jedenfalls, daß Amelia ihren Liebhaber für einen der tapfersten und glänzendsten Männer im ganzen englischen Reich hielt; und es ist wohl möglich, daß Leutnant Osborne das gleiche dachte.

Er war etwas wild, aber wie viele andere junge Männer sind es auch! Und lieben die Mädchen einen Schurken nicht mehr als einen Milchbart? Er hatte sich die Hörner noch [174] nicht abgelaufen, aber das mußte doch wohl bald geschehen; auch würde er wohl seinen Abschied nehmen, da jetzt der Friede verkündet war, das korsische Ungeheuer auf Elba festsaß. Mit der Beförderung war es natürlich nun auch vorbei, da sich ihm nun keine Gelegenheit mehr bot, seine unzweifelhaften militärischen Talente und seine Tapferkeit an den Tag zu legen. Sein Geld, zusammen mit Amelias Mitgift, konnten ausreichen, sich auf dem Lande, in der Nähe einer guten Jagd, bequem niederzulassen; da konnte George ein wenig jagen und ein wenig Landwirtschaft betreiben, und sie würden beide sehr glücklich sein. Denn als verheirateter Mann konnte er unmöglich in der Armee bleiben. Man stelle sich einmal Mrs. George Osborne vor, in einem Landstädtchen einquartiert oder, was noch schlimmer wäre, in Ost- oder Westindien, in der Gesellschaft von Offizieren und unter dem Schutz der Majorin O'Dowd. Amelia lachte sich halbtot über die Geschichten, die Osborne von der Majorin O'Dowd erzählte. Er liebte Amelia viel zu sehr, um sie jenem abscheulichen Weib mit ihren Gemeinheiten und dem rauhen Leben einer Soldatenfrau auszusetzen. An sich selbst dachte er nicht, nein. Aber sein liebes kleines Mädchen sollte die Stellung in der Gesellschaft einnehmen, die ihr als seiner Frau zukam. Und wie zu erwarten, stimmte sie diesen Vorschlägen zu, wie sie überhaupt allen Vorschlägen, die von ihm kamen, zustimmen würde.

Bei solcher Unterhaltung brachte das junge Paar einige Stunden sehr angenehm zu und baute Luftschlösser. Amelia schmückte sie mit allerlei Blumengärten, ländlichen Spaziergängen, Dorfkirchen, Sonntagsschulen und dergleichen mehr, während George sein geistiges Auge auf die Stallungen, den Hundezwinger und den Keller gerichtet hatte. Da dem Leutnant nur ein Tag in der Stadt zur Verfügung stand und er noch ungeheuer viele und wichtige Geschäfte zu erledigen hatte, so schlug er vor, daß Miss Emmy bei ihren zukünftigen Schwägerinnen speisen sollte. Die Einladung wurde freudig [175] angenommen. Er begleitete sie zu seinen Schwestern hinüber, wo er sie so gesprächig und plauderlustig zurückließ, daß die Damen ganz erstaunt dachten, George würde vielleicht doch noch etwas aus ihr machen. Dann ging er fort, um seine Geschäfte zu erledigen.

Um es kurz zu machen: Er ging Eis essen in einer Konditorei am Charing Cross, probierte einen neuen Rock in der Pall Mall, sprach im Old Slaughter vor und ließ Hauptmann Cannon rufen, spielte elf Partien Billard mit dem Hauptmann, wovon er acht gewann, und kehrte eine halbe Stunde zu spät fürs Abendessen, aber in vortrefflicher Laune zum Russell Square zurück.


Nicht ganz so verhielt es sich mit dem alten Osborne. Als dieser Herr aus der City nach Hause kam und im Salon von seinen Töchtern und der eleganten Miss Wirt empfangen wurde, sahen diese an seinem Gesicht – das auch in den besten Zeiten aufgeblasen, feierlich und gelb war – sowie an seinem düsteren Blick und dem Zucken seiner schwarzen Augenbrauen, daß ihm das Herz unter der großen weißen Weste unruhig und beklommen schlug. Als Amelia auf ihn zuging, um ihn, wie stets, mit Zittern und Zagen zu begrüßen, gab er als Zeichen des Erkennens ein grämliches Grunzen von sich und ließ die kleine Hand seiner großen, zottigen Pfote entsinken, ohne einen Versuch zu machen, sie festzuhalten.

Er sah sich düster nach seiner ältesten Tochter um, sie erfaßte die Bedeutung seines Blickes, der unverkennbar fragte: Was, zum Teufel, will die denn hier?, und sagte schnell:

»George ist in der Stadt, Papa, er ist ins Kriegsministerium gegangen und wird zum Essen wieder hiersein.«

»Ei, ei, tatsächlich? Ich will nicht, daß man mit dem Essen auf ihn wartet, Jane«, und damit sank der würdige Mann in seinen Stuhl, und nun wurde die vollkommene Stille in [176] dem vornehmen, gut eingerichteten Salon nur noch durch das aufgeregte Ticken der großen französischen Uhr unterbrochen.

Als dieses Chronometer, auf dem sich eine heitere Bronzedarstellung der Opferung Iphigenies befand, mit tiefer Kirchenglockenstimme fünf geschlagen hatte, riß Mr. Osborne aus Leibeskräften am Klingelzug zu seiner Rechten, und der Butler stürzte herein.

»Essen!« brüllte Mr. Osborne.

»Mr. George ist noch nicht da, Sir«, entgegnete der Butler.

»Zum Teufel mit Mr. George, Herr! Bin ich hier Herr im Hause? Essen!!« donnerte Mr. Osborne, und sein Blick war dabei ungemein düster. Amelia zitterte. Die drei anderen Damen telegraphierten einander mit den Augen. Die gehorsame Glocke in den unteren Regionen begann das Zeichen zum Essen zu geben. Als das Läuten vorbei war, schob das Familienoberhaupt die Hände in die großen Taschen seines großen blauen Rockes mit den Messingknöpfen und schritt, ohne auf eine weitere Einladung zu warten, allein die Treppe hinab, wobei er die vier Frauen scheel über die Schulter ansah.

»Was ist nun wieder los, meine Teure?« fragten sie einander, als sie aufstanden und behutsam hinter dem Hausherrn hertrippelten.

»Vermutlich fallen die Aktien«, flüsterte Miss Wirt, und so folgte die weibliche Gesellschaft zitternd und schweigend ihrem finsteren Führer, und schweigend nahmen sie ihre Plätze ein. Er knurrte einen Segen, der barsch klang wie ein Fluch. Dann wurden die großen silbernen Deckel abgenommen. Amelia zitterte auf ihrem Platz, denn sie saß dem furchtbaren Osborne am nächsten, ganz allein an ihrer Tischseite – die Lücke war durch Georges Abwesenheit entstanden.

»Suppe?« fragte Mr. Osborne mit Grabesstimme, den Schöpflöffel in der Hand, und heftete die Augen auf sie. [177] Nachdem er sie und die übrigen bedient hatte, redete er eine Weile kein Wort.

»Nimm Miss Sedleys Teller weg«, befahl er schließlich. »Sie kann die Suppe nicht essen – und ich auch nicht. Sie ist ganz scheußlich. Nimm die Suppe weg, Hicks, und du, Jane, kannst morgen die Köchin wegschicken.«

Nachdem Mr. Osborne das Thema Suppe beendigt hatte, machte er ein paar kurze, gleichfalls bösartige und satirische Bemerkungen über den Fisch und verwünschte Billingsgate mit einem Nachdruck, der ganz dem Ort entsprach. Dann verfiel er in Schweigen und stürzte mehrere Gläser Wein hinunter, wobei sein Blick ständig furchterregender wurde, bis ein lebhaftes Klopfen an der Haustür Georges Ankunft meldete und alle sich wieder faßten.

Er habe nicht früher kommen können. General Daguilet im Kriegsministerium habe ihn warten lassen. Suppe oder Fisch brauche er nicht unbedingt. Man solle ihm irgend etwas geben – ganz egal was. Prächtiges Hammelfleisch, alles prächtig. Seine gute Laune stand im Gegensatz zu seines Vaters Ernst, und er schwatzte während des Essens unaufhörlich, zur Freude aller und besonders einer, die nicht genannt zu werden braucht.

Sobald die jungen Damen die Orange und das Glas Wein genossen hatten, was gewöhnlich den Abschluß der traurigen Bankette in Mr. Osbornes Haus bildete, wurde das Zeichen zum Absegeln in den Salon gegeben. Alle erhoben sich und gingen davon. Amelia hoffte, George würde sich bald zu ihnen gesellen. Sie begann auf dem großen, lederverkleideten Flügel mit den geschnitzten Beinen droben im Salon einige seiner Lieblingswalzer (die damals ganz neu waren) zu spielen. Aber dieser kleine Kunstgriff brachte ihn nicht hinauf. Er war taub für die Walzer; sie klangen leiser und leiser, und bald verließ die entmutigte Spielerin das riesige Instrument. Obgleich nun ihre drei Freundinnen ein paar sehr laute und brillante neue Stücke aus ihrem Repertoire [178] spielten, so hörte sie doch keine einzige Note, sondern war nachdenklich, Unheil schwante ihr. Der alte Osborne war zwar immer finster und schrecklich, aber noch nie hatte er so tödliche Blicke gegen sie geschleudert. Seine Augen verfolgten sie bis zur Tür, als ob sie etwas verbrochen hätte. Als man ihr den Kaffee reichte, fuhr sie zurück, als ob Mr. Hicks, der Butler, ihr einen Giftbecher anbieten wollte. Welches Geheimnis verbarg sich wohl dahinter? Oh, diese Frauen! Sie hegen und pflegen ihre Ahnungen und hätscheln ihre garstigen Gedanken, wie sie ihre verunstalteten Kinder hätscheln.

Die Düsterkeit im väterlichen Gesicht hatte auch George Osborne ängstlich gemacht. Wie sollte George bei solchen finsteren Augenbrauen und einem so ausgesprochen galligen Blick das Geld aus dem Familienoberhaupt herauslocken, das er so nötig brauchte? Er fing an, seines Vaters Wein zu loben. Das war gewöhnlich ein erfolgreiches Mittel, dem alten Herrn zu schmeicheln.

»Wir haben in Westindien nie so guten Madeira bekommen wie deinen. Oberst Heavytop trank neulich drei Flaschen von dem, den du mir geschickt hast.«

»Wirklich?« fragte der alte Herr. »Die Flasche kostet mich acht Shilling.«

»Willst du sechs Guineen für ein Dutzend Flaschen haben?« fragte George lachend. »Einer der größten Männer des Königreiches möchte gern welchen davon.«

»Wirklich?« brummte der Alte. »Hoffentlich bekommt er welchen.«

»Als General Daguilet in Chatham war, gab ihm Heavytop ein Frühstück und bat mich um einige Flaschen von dem Wein. Dem General schmeckte er ebenso gut; er wollte sogar ein Faß für den Oberbefehlshaber haben. Er ist die rechte Hand Seiner Königlichen Hoheit.«

»Es ist wirklich verteufelt guter Wein«, sagten die Augenbrauen und sahen schon etwas besser gelaunt aus. George wollte gerade aus dem Wohlbehagen seines Vaters Nutzen [179] ziehen und die Geldfrage aufs Tapet bringen, als der Alte ihn in seinem vorherigen feierlichen Ton, wenn auch nicht ohne Herzlichkeit, bat, zu läuten und Rotwein kommen zu lassen.

»Und wir wollen sehen, George, ob der so gut ist wie der Madeira, von dem ich Seiner Königlichen Hoheit sicher etwas abgeben werde. Während wir ihn dann trinken, will ich mit dir eine Sache von Wichtigkeit besprechen.«

Amelia hörte oben nervös die Rotweinglocke läuten. Dieser Klang schien ihr irgendwie mysteriös und ahnungsvoll zu sein. Manche Leute haben stets Ahnungen, und einige davon müssen sich schließlich auch einmal erfüllen.

»Was ich wissen wollte, George«, sagte der alte Herr, nachdem er sein erstes Glas geleert hatte, »was ich wissen wollte, wie stehst du mit dem – hm – dem kleinen Ding da oben?«

»Ich denke, Sir, das ist nicht schwer zu sehen«, sagte George mit selbstzufriedenem Grinsen. »Ziemlich klar, Sir – was für ein prächtiger Wein!«

»Was meinst du mit ziemlich klar?«

»Hach, zum Henker, dring doch nicht so in mich. Ich bin ein bescheidener Mensch. Ich – nun ja – ich will mich nicht gerade als Herzensbrecher aufspielen, aber ich muß doch zugeben, daß sie so höllisch verliebt in mich ist wie nur möglich. Das sieht doch ein Blinder.«

»Und du selbst?«

»Wieso, hast du mir nicht befohlen, sie zu heiraten, und bin ich nicht ein gehorsamer Sohn? Haben nicht unsere Papas die Sache schon vor ewigen Zeiten abgemacht?«

»Ja, ja, ein schöner Sohn. Habe ich nicht von deinen Machenschaften mit Lord Tarquin, Hauptmann Crawley von der Leibgarde, dem ehrenwerten Mr. Deuceace und Leuten solches Schlages gehört? Nimm dich in acht, Junge, nimm dich in acht!«

Der alte Herr ließ diese aristokratischen Namen auf der Zunge zerfließen. Sooft er einem großen Namen begegnete, [180] kroch er vor ihm und schmeichelte ihm, wie nur ein frei geborener Brite es fertigbringt. Er ging nach Hause und schlug im Adelskalender nach, um Näheres über ihn zu erfahren; ständig führte er seinen Namen im Munde, prahlte mit Seiner Lordschaft seinen Töchtern gegenüber. Er lag vor ihm auf den Knien und wärmte sich an seinem Anblick wie ein neapolitanischer Bettler an der Sonne. George wurde unruhig, als er die Namen hörte. Er fürchtete, sein Vater könnte von gewissen Spielgeschichten unterrichtet worden sein. Allein der alte Moralist beruhigte ihn, als er heiter sagte:

»Nun ja, junge Leute sind eben junge Leute. Es tröstet mich, George, daß du in der besten Gesellschaft Englands verkehrst, wie ich hoffe und glaube und wie meine Mittel es dir gestatten.«

»Ich danke dir, Vater«, sagte George und benutzte den günstigen Augenblick, »aber man kann mit so hohen Personen nicht umsonst verkehren; sieh dir meinen Geldbeutel an.« Bei diesen Worten hielt er seine Börse, ein selbstgearbeitetes Geschenk von Amelia, in die Höhe, die die letzte Pfundnote von Dobbin enthielt.

»Es soll dir an nichts fehlen, mein Junge, dem Sohn des britischen Kaufmannes soll es an nichts fehlen. Meine Guineen sind so gut wie ihre, George, mein Junge, und ich gebe sie dir gern. Geh morgen, wenn du in die City kommst, bei Mr. Chopper vorbei; er wird was für dich haben. Ich bin nicht kleinlich mit dem Geld, wenn ich weiß, du bist in guter Gesellschaft, weil ich weiß, in guter Gesellschaft kann es nie schiefgehen. Ich bin nicht stolz. Ich bin von niedriger Abstammung, aber du hast in diesem Punkt bedeutende Vorteile. Mache einen guten Gebrauch davon. Misch dich unter den jungen Adel. Es gibt darunter viele, die deiner Guinee keinen Dollar entgegensetzen können, mein Junge. Und was die Weiberhüte betrifft« – hier drang ein schlaues, unangenehmes Blinzeln unter den starken Augenbrauen hervor –, »so sind Burschen nun einmal Burschen. Aber eins mußt du meiden, [181] das sage ich dir, und wenn du das nicht tust, so erhältst du, beim Zeus, von mir keinen Shilling mehr: Ich meine das Spielen.«

»Oh, natürlich, Sir«, sagte George.

»Um aber auf die andere Angelegenheit, auf Amelia, zurückzukommen: Warum solltest du nicht etwas Besseres als eine Börsenmaklerstochter heiraten, George? Das möchte ich wissen.«

»Das ist doch Familiengeschäft, Sir«, sagte George, während er Haselnüsse knackte. »Du und Mr. Sedley, ihr habt doch die Sache schon vor hundert Jahren abgesprochen.«

»Das leugne ich nicht, aber die Stellung der Menschen kann sich ändern, mein Lieber. Ich leugne es nicht, daß Sedley mein Glück gemacht hat oder, richtiger, daß er mich in die Lage gesetzt hat, dank meiner eigenen Talente und Anlagen die stolze Position zu gewinnen, die ich, ich kann es wohl sagen, im Talghandel und in der City von London einnehme. Ich habe Sedley meine Dankbarkeit bewiesen, und er hat sie in der letzten Zeit sehr in Anspruch genommen, wie man aus meinem Scheckbuch ersehen kann. George, ich sage dir im Vertrauen, Mr. Sedleys Geschäfte gefallen mir nicht. Auch meinem Hauptbuchhalter, Mr. Chopper, wollen sie nicht recht gefallen, und der ist ein alter Fuchs und kennt die Börse wie keiner in London. Hulker und Bullock sind auch mißtrauisch. Ich befürchte, er hat sich auf eigene Gefahr in dumme Sachen eingelassen. Man sagt, die ›Jeune Amélie‹, die von der ›Molasses‹ der Yankees gekapert worden ist, habe ihm gehört. Eins ist klar: Solange ich nicht Amelias zehntausend Pfund gesehen habe, heiratest du sie mir nicht. Ich will nicht in meiner Familie die Tochter eines verkrachten Spekulanten haben. Reich mir mal den Wein, Junge, oder klingle lieber nach dem Kaffee.«

Mit diesen Worten entfaltete Mr. Osborne die Abendzeitung, und George erkannte an diesem Zeichen, daß die Unterredung [182] nun zu Ende sei und daß der Papa ein Schläfchen machen wolle.

In bester Laune rannte er die Treppe hinauf zu Amelia. Wieso war er an jenem Abend so aufmerksam gegen sie wie schon lange nicht, so eifrig, sie zu unterhalten, so zärtlich, so glänzend im Gespräch? Schlug sein großmütiges Herz in der Voraussicht auf kommendes Unglück wärmer für sie? Oder schätzte er seine kleine, liebe Beute höher bei dem Gedanken, sie verlieren zu können?

Viele Tage noch zehrte Amelia von den Erinnerungen an jenen glücklichen Abend, sie entsann sich seiner Worte, seiner Blicke, des Liedes, das er gesungen hatte, seiner Haltung, als er sich über sie beugte oder sie aus der Ferne ansah. Ihr schien noch nie ein Abend in Mr. Osbornes Haus so rasch verstrichen zu sein, und diesmal war das junge Mädchen fast versucht, ärgerlich zu werden, als Mr. Sambo allzufrüh mit ihrem Schal auftauchte.

Am nächsten Morgen kam George und nahm zärtlich von ihr Abschied; dann eilte er in die City, wo er bei Mr. Chopper, dem Hauptbuchhalter seines Vaters, vorsprach. Von diesem Herrn erhielt er ein Dokument, das er bei Hulker und Bullock gegen eine ganze Tasche voll Geld tauschte. Als George das Haus betrat, kam der alte John Sedley gerade mit unglücklicher Miene aus dem Besuchszimmer des Bankiers. Sein Patensohn aber war viel zu froher Stimmung, um die Niedergeschlagenheit des würdigen Börsenmaklers oder die trostlosen Blicke, die der gute alte Herr ihm zuwarf, zu bemerken.

Der junge Bullock war dieses Mal auch nicht, wie in früheren Jahren, lächelnd mit ihm aus dem Besuchszimmer gekommen.

Und als die Tür von Hulker, Bullock und Co. sich hinter Mr. Sedley schloß, winkte Mr. Quill, der Kassierer, dessen angenehme Aufgabe es war, knisternde Banknoten aus einer Schublade zu ziehen und mit einer Kupferschaufel Sovereigns [183] auszuteilen, Mr. Driver, dem Kontoristen am rechten Pulte, zu. Mr. Driver winkte zurück.

»Geht nicht«, flüsterte Mr. Driver.

»Nein, auf keinen Fall«, sagte Mr. Quill. »Mr. George Osborne, wie hätten Sie es gern?«

Und George stopfte sich eifrig eine Anzahl Banknoten in die Tasche und bezahlte Dobbin noch am gleichen Abend fünfzig Pfund in der Offiziersmesse.

Am gleichen Abend schrieb ihm Amelia den zärtlichsten aller langen Briefe. Ihr Herz strömte über vor Zärtlichkeit, aber dennoch ahnte es Böses. Warum sah Mr. Osborne so finster aus? fragte sie. Hatte es zwischen ihm und ihrem Papa Streit gegeben? Ihr armer Papa kam so melancholisch aus der City zurück, daß daheim alle ängstlich wurden – kurz, es waren vier Seiten voller Liebe, Befürchtungen, Hoffnungen und Ahnungen.

»Die arme kleine Emmy – die gute kleine Emmy! Wie liebt sie mich doch«, sagte George, als er den Brief las. »Ach, mein Gott, was für Kopfschmerzen hat mir doch der gemixte Punsch gebracht!«

Wirklich, arme kleine Emmy!

Fußnoten

1 Mischling von einem Mulattennachkommen und einem Weißen.

2 James Crichton (1560-1585), schottischer Gelehrter; wurde der »bewundernswerte Crichton« genannt, weil er angeblich mit siebzehn Jahren zwölf Sprachen beherrschte.

3 In Shakespeares Komödie »Ein Sommernachtstraum« wird die Fee Titania von ihrem Gemahl Oberon zur Strafe für ihren Ungehorsam dazu verdammt, sich in das erste lebende Wesen, das sie nach dem Erwachen erblickt, zu verlieben. Dieses Wesen ist der in einen Esel verwandelte Weber Zettel aus Athen.

14. Kapitel
Miss Crawley daheim

Etwa um dieselbe Zeit fuhr ein wappengeschmückter Reisewagen an einem ungemein hübschen und gut eingerichteten Haus in der Park Lane vor; auf dem Bedientensitz befand sich ein unzufriedenes weibliches Wesen mit grünem Schleier und gebrannten Locken, auf dem Bock saß ein dicker, vertrauenerweckender Mann. Es war die Equipage unserer Freundin Miss Crawley, die aus Hampshire zurückkam. Die Wagenfenster waren geschlossen, das fette Hündchen, dessen Kopf [184] und Zunge sonst aus einem Fenster heraushing, ruhte auf dem Schoß des unzufriedenen weiblichen Wesens. Als der Wagen hielt, wurde ein großes rundes Bündel von Schals mit Hilfe verschiedener Diener und einer jungen Dame herausgehoben, die dieses Paket von Bekleidungsstücken begleitete. Das Bündel enthielt Miss Crawley, die sofort die Treppe hinaufgeführt und in ein Zimmer und Bett gebracht wurde, die wie zur Aufnahme einer Kranken gehörig gewärmt worden waren. Boten wurden geschickt, um ihre beiden Ärzte herbeizuholen. Diese kamen, berieten sich, verschrieben etwas und verschwanden wieder. Die junge Begleiterin von Miss Crawley kam am Ende der Besprechung herein, um Verhaltungsmaßregeln zu empfangen, und gab ihr dann die antiphlogistischen Arzneien 1 ein, die die ausgezeichneten Männer verordnet hatten.

Hauptmann Crawley von der Leibgarde kam am nächsten Tage von der Kaserne in Knightsbridge angeritten; sein stattlicher Rappe scharrte im Stroh vor der Tür seiner kranken Tante. Er erkundigte sich sehr liebevoll nach dem Befinden seiner guten Verwandten. Es schien viele Gründe zur Besorgnis zu geben. Er fand Miss Crawleys Kammermädchen (das unzufriedene weibliche Wesen) außerordentlich mürrisch und niedergeschlagen; er fand Miss Briggs, ihre dame de compagnie 2, in Tränen und allein im Salon. Sie war nach Hause geeilt bei der ersten Nachricht von der Krankheit ihrer geliebten Freundin. Sie wollte an ihr Lager fliegen, an das Lager, dessen Kissen sie, Briggs, in Stunden der Krankheit oft glattgestrichen hatte. Allein der Zutritt zu Miss Crawleys Zimmer wurde ihr verwehrt. Eine Fremde gab ihr die Arznei ein ... eine Fremde vom Lande ... eine abscheuliche Miss ... Tränen erstickten die Worte der dame de compagnie, und so begrub sie denn ihre grausam zurückgewiesene Liebe und ihre arme, alte, rote Nase im Taschentuch.

Rawdon Crawley ließ sich durch die mürrische femme de chambre oben melden, und Miss Crawleys neue Gesellschaftsdame [185] kam aus dem Krankenzimmer herangetrippelt, legte ihre kleine Hand in die seine, als er eifrig auf sie zuging, um sie zu begrüßen, und warf der völlig verwirrten Briggs einen höhnischen Blick zu.

Dann winkte sie den jungen Leibgardisten aus dem Salon, führte ihn die Treppe hinab in das nun verlassene Speisezimmer, wo so manches gute Mahl eingenommen worden war.

Hier sprachen die beiden etwa zehn Minuten miteinander und erörterten zweifellos die Krankheit der alten Patientin droben. Nach Ablauf dieser Zeit wurde energisch die Speisezimmerklingel gezogen, und augenblicklich erschien Mr. Bowls, der dicke vertrauenerweckende Butler (der sich zufällig während des größten Teils der Unterredung am Schlüsselloche aufgehalten hatte). Der Hauptmann trat, seinen Schnurrbart zwirbelnd, heraus und bestieg den im Stroh scharrenden Rappen, zur großen Bewunderung der kleinen Gassenjungen, die sich in der Straße versammelt hatten. Er blickte zum Speisezimmerfenster und ließ sein Pferd tänzeln und eine prächtige Kapriole schlagen – einen Augenblick konnte man das junge Mädchen am Fenster sehen, dann verschwand ihre Gestalt, und ohne Zweifel stieg sie wieder die Treppe hinauf, um die zarten Pflichten der Wohltätigkeit wieder auf sich zu nehmen.

Wer mochte wohl dieses junge Mädchen sein? An jenem Abend war im Speisezimmer für zwei Personen gedeckt. Mrs. Firkin, die Kammerjungfer, machte sich, während die neue Krankenwärterin und Miss Briggs sich zu dem kleinen Mahl niederließen, ungestüm im Zimmer ihrer Herrin zu schaffen.

Die Briggs war so mitgenommen, daß sie kaum ein Bröckchen Fleisch essen konnte. Das junge Mädchen zerlegte ein Huhn mit der größten Sorgfalt und bat so bestimmt um die Eiersoße, daß die arme Briggs, vor der diese würzige Köstlichkeit stand, zusammenfuhr, ein gewaltiges Klapperkonzert [186] mit dem Soßenlöffel vollführte und wieder in ihre rührselige Hysterie verfiel.

»Wäre es nicht besser, wenn Sie Miss Briggs ein Glas Wein gäben?« sagte die Junge zu Mr. Bowls, dem dicken, vertrauenswürdigen Mann. Er tat es. Die Briggs griff mechanisch danach, stürzte es krampfhaft hinunter, stöhnte ein wenig und fing an, mit dem Hühnchen auf ihrem Teller zu spielen.

»Ich glaube, wir können uns selbst bedienen«, sagte die Junge mit größter Höflichkeit; »wir können daher auf die freundliche Hilfe von Mr. Bowls verzichten. Mr. Bowls, wir werden klingeln, wenn wir Sie benötigen.«

Der Butler ging hinunter ins Bedientenzimmer, wo er, beiläufig gesagt, den unschuldigen Lakaien, seinen Untergebenen, mit den fürchterlichsten Flüchen überhäufte.

»Wie können Sie sich die Sache so zu Herzen nehmen, Miss Briggs«, meinte die junge Dame mit kühler, etwas sarkastischer Miene.

»Meine liebe, liebe Freundin ist so krank und wi...i...i...i...i...ill mich nicht sehen«, gurgelte die Briggs in einem neuen Schmerzensausbruch hervor.

»Sie ist nicht mehr sehr krank. Trösten Sie sich, teure Miss Briggs. Sie hat nur zuviel gegessen – das ist alles. Es geht ihr schon bedeutend besser. Bald wird sie wiederhergestellt sein. Sie ist noch schwach vom Schröpfen und von der ärztlichen Behandlung, wird sich aber bald erholen. Beruhigen Sie sich doch bitte und trinken Sie noch ein bißchen Wein.«

»Aber warum, warum will sie mich nicht sehen?« plärrte Miss Briggs. »Oh, Matilda, Matilda, ist das nach dreiundzwanzig Jahren zärtlicher Liebe der Dank für deine arme, arme Arabella?«

»Weinen Sie doch nicht, arme Arabella«, sagte die andere mit einem kaum merklichen Lächeln, »sie will Sie nur deshalb nicht sehen, weil sie sagt, ich pflegte sie besser als Sie. Es ist für mich kein Vergnügen, die ganze Nacht aufzubleiben. Ich wünschte, Sie könnten es an meiner Stelle tun.«

[187] »Habe ich nicht viele Jahre lang das teure Lager bewacht?« fragte Arabella. »Und jetzt ...«

»Jetzt zieht sie eben jemanden anders vor. Kranke haben nun einmal ihre Grillen, und man muß ihnen ihren Willen lassen. Wenn sie wieder gesund ist, werde ich gehen.«

»Nie, niemals«, rief Arabella und roch wie wahnsinnig an ihrem Riechfläschchen.

»Nie wieder gesund sein oder nie gehen, Miss Briggs?« fragte die andere mit derselben herausfordernden Gutmütigkeit. »Pah – in vierzehn Tagen ist sie wieder auf den Beinen, und dann gehe ich zu meinen kleinen Schülerinnen nach Queen's Crawley und zu deren Mutter zurück, die weit kränker ist als unsere Freundin. Sie brauchen nicht eifersüchtig auf mich zu sein, meine liebe Miss Briggs. Ich bin ein armes kleines Mädchen ohne Freunde und tue keinem was zuleide. Ich will Sie gar nicht aus Miss Crawleys Gunst verdrängen. Wenn ich eine Woche fort bin, wird sie mich vergessen haben. Ihre Freundschaft dagegen ist das Werk von vielen Jahren. Bitte, geben Sie mir ein bißchen Wein, meine liebe Miss Briggs, wir wollen Freundinnen sein. Ich brauche Freunde so sehr.«

Die versöhnliche und weichherzige Miss Briggs reichte ihr auf diese Bitte hin wortlos die Hand, aber trotzdem traf sie die Abtrünnigkeit tief, und sie beklagte heftig die Unbeständigkeit ihrer Matilda. Als nach einer halben Stunde das Essen vorüber war, verfügte sich Miss Rebekka Sharp (denn so heißt sie merkwürdigerweise, die bisher sinnreich als »das junge Mädchen« beschrieben worden ist) wieder in die Zimmer ihrer Patientin und komplimentierte mit ausgesuchter Höflichkeit die arme Firkin wieder hinaus.

»Ich danke Ihnen, Mrs. Firkin, das genügt vollkommen; wie nett Sie das machen! Ich werde klingeln, wenn etwas benötigt wird. Ich danke Ihnen.«

Und die Firkin kam herab in einem Sturm der Eifersucht, [188] der um so gefährlicher war, als sie ihn im Busen verbergen mußte.

War es wohl dieser Sturm, der die Salontür aufblies, als sie am Treppenabsatz des ersten Stockes vorüberging? Nein, sie wurde verstohlen von der Hand der Briggs geöffnet. Die Briggs hatte auf der Lauer gelegen. Nur zu gut hatte die Briggs die zähneknirschende Firkin die Treppe herabkommen und den Löffel in der Haferbreischüssel, die die vernachlässigte Frau trug, klappern hören.

»Nun, Firkin?« sagte sie, als die andere ins Zimmer trat. »Nun, Jane?«

»Schlimmer und schlimmer, Miss Briggs«, sagte die Firkin kopfschüttelnd.

»Es geht ihr also nicht besser?«

»Sie hat nur ein einziges Mal gesprochen. Ich habe sie gefragt, ob sie sich etwas wohler fühle, und sie hat mir geantwortet, ich solle meinen dummen Mund halten. Oh, Miss B., daß ich diesen Tag noch erleben mußte!«

Und die Wasserspiele setzten erneut ein.

»Was für ein Mensch ist diese Miss Sharp eigentlich, Firkin? Ich habe es mir nicht träumen lassen, als ich das Weihnachtsfest in dem vornehmen Hause meiner treuen Freunde, Ehrwürden Lionel Delameres und seiner liebenswürdigen Gattin, zubrachte, zu entdecken, daß eine Fremde meinen Platz im Herzen meiner teuersten, immer noch teuersten Matilda eingenommen hat!«

Wie man aus der Sprache der Miss Briggs ersehen kann, war sie eine literarisch gebildete und sentimentale Dame. Sie hatte schon einmal einen Band Gedichte mit dem Titel »Das Schluchzen der Nachtigall« auf Subskription herausgegeben.

»Alle sind wie vernarrt in dieses junge Frauenzimmer, Miss B.«, erwiderte die Firkin. »Sir Pitt hätte sie gar nicht gehen lassen, aber er wagte nicht, Miss Crawley etwas abzuschlagen. Mrs. Bute im Pfarrhause ist genauso schlimm – sie ist nicht glücklich, wenn sie sie nicht sieht. Der Hauptmann ist [189] ganz verrückt nach ihr, Mr. Crawley kannibalisch eifersüchtig. Seit Miss Crawley krank ist, will sie niemanden um sich haben als Miss Sharp; ich kann überhaupt nicht sagen, wie oder warum; ich stell mir nur vor, irgend was hat alle verhext.«

Rebekka verbrachte jene Nacht wachend bei Miss Crawley. In der nächsten Nacht schlief die alte Dame so ruhig, daß Rebekka einige Stunden auf dem Sofa am Fußende ihrer Gönnerin schlafen konnte; und sehr bald war Miss Crawley wieder so wohlauf, daß sie aufsitzen konnte und über die vollendete Nachahmung von Miss Briggs und ihrem Kummer, die Rebekka ihr vorführte, herzlich lachte. Miss Briggs' tränenreiches Geschnüffel und ihre Art, das Taschentuch zu gebrauchen, waren so täuschend wiedergegeben, daß Miss Crawley ganz lustig wurde, zur großen Verwunderung der Ärzte, denn gewöhnlich fanden sie bei ihren Besuchen diese würdige Dame von Welt bei der geringsten Krankheit total niedergeschlagen und von Todesfurcht erfüllt.

Hauptmann Crawley kam täglich und ließ sich von Rebekka über das Befinden seiner Tante Bericht erstatten. Ihre Gesundheit verbesserte sich so schnell, daß die arme Briggs ihre Gönnerin besuchen durfte. Weichherzige Leser können sich die unterdrückte Rührung dieses sentimentalen Wesens und das liebevolle Gespräch vorstellen.

Bald wollte Miss Crawley die Briggs wieder häufiger um sich haben. Rebekka pflegte sie vor ihren eigenen Augen mit dem bewundernswertesten Ernst nachzuahmen und machte dadurch die Sache für ihre würdige Gönnerin doppelt pikant.


Die Ursachen, die zu Miss Crawleys beklagenswerter Krankheit und zu ihrer Abreise aus dem Haus ihres Bruders auf dem Lande geführt hatten, waren so unromantisch, daß sie sich kaum eignen, in diesem vornehmen, sentimentalen Roman erklärt zu werden. Denn wie kann man auch nur andeuten, [190] daß eine feine Dame aus guter Gesellschaft zuviel gegessen und getrunken habe und daß der allzu reichliche Genuß von warmen Hummern bei einem Abendbrot im Pfarrhaus die Ursache eines Unwohlseins gewesen sei, das Miss Crawley selbst einzig und allein dem feuchten Wetter zuschrieb? Der Anfall war so heftig, daß Matilda – wie Seine Ehrwürden sich auszudrücken beliebte – nahe daran war, »ins Gras zu beißen«. Die ganze Familie war in fieberhafter Erwartung wegen des Testamentes, und Rawdon Crawley sah sich noch vor Beginn der Saison in London im Besitz von mindestens vierzigtausend Pfund. Mr. Crawley schickte ein Paket auserlesener Traktätchen, zur Vorbereitung des Augenblicks, wo sie den Jahrmarkt der Eitelkeit und die Park Lane mit einer anderen Welt vertauschen würde. Aber ein tüchtiger Arzt, der noch zur rechten Zeit von Southampton herbeigerufen worden war, bezwang den verhängnisvollen Hummer und brachte sie wieder so weit zu Kräften, daß sie nach London zurückkehren konnte. Der Baronet verhehlte nicht seinen heftigen Ärger über diese Wendung der Dinge.

Während alle Welt Miss Crawley mit Aufmerksamkeiten überhäufte und Boten vom Pfarrhause stündlich der liebevollen Familie dort Nachrichten über ihr Befinden holten, lag in einem anderen Teil des Hauses eine schwerkranke Dame, um die sich jedoch keine Seele kümmerte; und dies war die Herrin von Crawley. Der gute Doktor schüttelte den Kopf, als er sie sah. Sir Pitt hatte den Besuch erlaubt, da der Arzt nicht extra dafür bezahlt werden mußte. Aber man ließ sie in ihrem einsamen Zimmer langsam dahinsiechen und kümmerte sich um sie sowenig wie um ein Unkraut im Park.

Auch die jungen Damen versäumten viel von dem unschätzbaren Segen des Unterrichts bei ihrer Gouvernante. Miss Sharp war eine so liebevolle Krankenwärterin, daß Miss Crawley nur von ihr die Medizin nehmen wollte. Die Firkin war schon lange vor der Abreise ihrer Herrin vom Lande ihres Dienstes enthoben worden. Bei ihrer Rückkehr nach [191] London fand diese treue Dienerin einen traurigen Trost darin, zu sehen, daß Miss Briggs die gleichen Eifersuchtsqualen litt und derselben treulosen Behandlung ausgesetzt war wie sie selbst.

Hauptmann Rawdon ließ sich wegen der Krankheit seiner Tante seinen Urlaub verlängern und blieb pflichtschuldig zu Hause. Er hielt sich stets in ihrem Vorzimmer auf (sie lag im prächtigsten Schlafzimmer, das man durch den kleinen blauen Salon betreten konnte). Stets begegnete ihm dort sein Vater; und kam er auch noch so leise den Korridor herab, so öffnete sich doch stets die Tür seines Vaters, und das Hyänengesicht des alten Herrn starrte heraus. Warum bewachten sie sich gegenseitig so scharf? Ohne Zweifel war es nur edler Wettstreit, der teuren Kranken im Schlafzimmer die größte Aufmerksamkeit zu beweisen! Rebekka kam gewöhnlich heraus und tröstete beide – oder vielmehr den einen nach dem anderen. Jedem der würdigen Herren lag außerordentlich viel daran, durch die vertraute kleine Botin der Patientin Neues über sie zu erfahren.

Zum Essen kam Rebekka eine halbe Stunde herunter und stiftete immer wieder Frieden zwischen ihnen. Danach verschwand sie für die Nacht. Rawdon ritt ins Hauptquartier des 150. Regiments nach Mudbury und ließ seinen Papa bei Mr. Horrocks und seinem Grog zurück. Rebekka verbrachte zwei über alle Maßen ermüdende Wochen in Miss Crawleys Krankenzimmer; allein sie schien stählerne Nerven zu besitzen, und die beschwerlichen Pflichten und die Langeweile des Krankenzimmers erschütterten sie nicht im geringsten.

Erst viel später erzählte sie, wie mühsam ihr dieser Dienst war, was für eine launische Patientin die joviale alte Dame war, wie zornig in ihrer Schlaflosigkeit, welche Todesfurcht sie hatte, wie viele lange Nächte sie stöhnend im Bett lag, in wahnsinnigen Fieberträumen von der zukünftigen Welt, die sie als Gesunde völlig ignorierte. – Oh, hübsche junge Leserin, stell dir ein weltliches, selbstsüchtiges, gnadenloses, undankbares, [192] gottloses altes Weib vor, das sich vor Schmerz und Angst windet, und dabei noch ohne Perücke. Stell sie dir vor, und lerne lieben und beten, ehe du alt wirst!

Die Sharp wachte an diesem gnadenlosen Bette mit unermüdlicher Geduld. Nichts entging ihr; wie eine kluge Haushälterin wußte sie alles zu gebrauchen. In späteren Jahren erzählte sie manche nette Geschichte von Miss Crawleys Krankheit – Geschichten, über die die Damen unter ihrem künstlichen Rot erröteten. Während der Krankheit war sie nie schlechter Laune und stets munter und flink; sie schlief schnell ein, da sie ein reines Gewissen hatte, und konnte auch in kürzesten Zeitspannen einen erquickenden Schlaf finden. So konnte man in ihrem Äußeren kaum Spuren der Ermüdung finden. Ihr Gesicht mochte ein klein wenig blasser, die Augenringe etwas dunkler als gewöhnlich sein; sooft sie aber aus dem Krankenzimmer trat, lächelte sie und sah in ihrem Morgenröckchen und dem Häubchen so nett und frisch aus wie im schönsten Abendkleid.

Dieser Ansicht war wenigstens der Hauptmann, der sie in sonderbarer Erregung umschwärmte. Der Liebespfeil war in sein dickes Fell eingedrungen. Sechs Wochen Nähe und Gelegenheit hatten ihn völlig besiegt. Ausgerechnet seine Tante im Pfarrhaus zog er ins Vertrauen. Sie verspottete ihn deshalb, sie hatte seine Torheit schon bemerkt; sie warnte ihn, aber sie endete damit, daß sie zugab, die kleine Sharp sei das gescheiteste, drolligste, komischste, gutmütigste, einfachste, freundlichste Geschöpf in ganz England. Rawdon dürfe aber mit ihren Gefühlen nicht spielen, die liebe Miss Crawley würde ihm das nie vergeben; denn auch sie sei von der kleinen Gouvernante ganz hingerissen und liebe die Sharp wie eine Tochter. Rawdon solle fort – zurück zu seinem Regiment, in das leichtfertige London – und dürfe nicht mit den Gefühlen eines armen, harmlosen Mädchens spielen.

Oft und oft gab diese gutmütige Dame dem armen Leibgardisten aus purem Mitleid mit seinem Zustand Gelegenheit, [193] Miss Sharp im Pfarrhause zu sehen und mit ihr nach Hause zu gehen, wie wir bereits gesehen haben. Wenn eine gewisse Sorte Männer verliebt sind, meine Damen, so müssen sie, ob sie wollen oder nicht, den Köder verschlucken, auch wenn sie den Haken und die Schnur und das ganze Instrument, womit sie gefangen werden sollen, sehen; und einen Augenblick später werden sie schnappend an Land gezogen. Rawdon erkannte, daß Mrs. Bute es offenbar darauf anlegte, ihn für Rebekka einzunehmen. Er gehörte nicht zu den Gescheitesten, war aber doch Weltmann genug und hatte verschiedene Saisons mitgemacht. Ein Licht dämmerte in seiner trüben Seele auf, als er über einen Ausspruch von Mrs. Bute nachdachte.

»Gib acht auf meine Worte, Rawdon«, sagte sie. »Eines Tages wird Miss Sharp noch deine Verwandte werden.«

»Was für eine Verwandte? – Etwa meine Cousine, he, Mrs. Bute? Ist Francis hinter ihr her?« fragte der mutwillige Offizier.

»Mehr als das«, erwiderte Mrs. Bute, und ihre schwarzen Augen blitzten.

»Doch nicht etwa Pitt? Der soll sie nicht kriegen. Der Kriecher verdient sie nicht. Der ist für Lady Jane Sheepshanks bestimmt.«

»Ihr Männer habt doch keine Augen im Kopf. Du dummer, blinder Kerl – wenn Lady Crawley etwas zustößt, dann wird Miss Sharp deine Stiefmutter; und so wird's kommen.«

Rawdon Crawley stieß einen ungeheuren Pfiff aus, zum Zeichen des Erstaunens, das diese Nachricht bei ihm auslöste. Er konnte es nicht leugnen. Die offensichtliche Zuneigung seines Vaters für Miss Sharp war ihm nicht entgangen. Er kannte den Charakter des alten Herrn sehr gut, und ein skrupelloser alter ... Er beendete den Satz nicht, sondern ging unter heftigem Schnurrbartzwirbeln nach Hause. Er war überzeugt, daß er den Schlüssel zu Mrs. Butes Geheimnis gefunden hatte.

[194] Beim Zeus, das ist zu schlimm, dachte Rawdon, zu schlimm, beim Zeus! Ich glaube wirklich, das Weib möchte, daß das arme Mädchen zugrunde gerichtet wird, damit sie nicht als Lady Crawley in die Familie kommt.

Als er Rebekka allein traf, zog er sie in seiner anmutigen Art mit seines Vaters Zuneigung auf. Sie warf ihren Kopf verächtlich in den Nacken, sah ihm voll ins Gesicht und sagte:

»Nun, nehmen wir einmal an, er hat mich gern. Ich weiß, daß er das tut, und andere tun es auch. Sie glauben doch wohl nicht, daß ich vor ihm Angst habe, Hauptmann Crawley? Sie nehmen doch wohl nicht an, daß ich außerstande bin, meine Ehre zu verteidigen?« Diese Worte sprach das junge Mädchen mit der Miene einer Königin.

»Oh – ach – na – will Sie bloß warnen – müssen sich in acht nehmen, wissen Sie, weiter nichts«, stammelte der Schnurrbartzwirbler.

»Spielen Sie etwa auf etwas Unehrenhaftes an?« fuhr Rebekka hoch.

»Oh – Gott – wirklich – Miss Rebekka«, warf der schwerfällige Dragoner ein.

»Glauben Sie etwa, ich hätte keine Selbstachtung, weil ich arm und allein bin und weil reiche Leute keine haben? Denken Sie etwa, weil ich Gouvernante bin, habe ich nicht so viel Verstand und Gefühl und Bildung wie ihr Adligen in Hampshire? Ich bin eine Montmorency. Glauben Sie etwa, eine Montmorency ist nicht ebenso gut wie eine Crawley?«

Wenn Miss Sharp aufgeregt war und auf ihre Verwandten mütterlicherseits anspielte, sprach sie immer mit einem kaum merklichen Akzent, was ihrer klaren, tönenden Stimme einen besonderen Reiz verlieh. »Nein«, fuhr sie in ihrem Gespräch mit dem Hauptmann fort und wurde immer hitziger, »Armut kann ich ertragen, aber keine Schande; Hintansetzung, aber keine Beleidigung; und dann gerade Beleidigungen von – von Ihnen.«

[195] Hier übermannten sie ihre Gefühle, und sie brach in Tränen aus.

»Zum Henker, Miss Sharp – Rebekka – beim Zeus – bei meiner Seele, das wollte ich nicht für tausend Pfund. Halt, Rebekka!«

Aber schon war sie fort. An diesem Tage fuhr sie mit Miss Crawley aus. Es war vor der Krankheit der Dame. Beim Mittagessen war sie ungemein strahlend und witzig; aber weder von den Anspielungen noch von dem Nicken., noch von den plumpen Vorstellungen des gedemütigten, betörten Leibgardisten wollte sie Notiz nehmen. Solche Scharmützel fanden während des kleinen Feldzuges ständig statt. Es wäre zu ermüdend, von allen zu erzählen, zumal sie alle zu ähnlichen Resultaten führten. Die Crawleysche schwere Kavallerie wurde durch die Niederlagen fast rasend, aber täglich wieder in die Flucht geschlagen.

Hätte der Baronet von Queen's Crawley nicht befürchtet, das Vermächtnis seiner Schwester vor der Nase zu verlieren, so hätte er seinen lieben Mädchen niemals die segensreiche Erziehung durch ihre unschätzbare Gouvernante vorenthalten. Das alte Haus schien eine Einöde ohne Rebekka, so nützlich und angenehm hatte sie sich dort gemacht. Keiner schrieb Sir Pitts Briefe und korrigierte sie, keiner führte seine Bücher. Seine häuslichen Geschäfte sowie seine vielfältigen Pläne blieben unerledigt, seitdem seine kleine Sekretärin fort war, und am Ton und der Orthographie der vielen Briefe, die er ihr schrieb und in denen er sie bat und aufforderte zurückzukommen, konnte man leicht erkennen, wie nötig ihm ein solcher Amanuensis 3 war. Fast jeder Tag brachte einen portofreien Brief vom Baronet, mit den dringendsten Bitten an Becky, doch zurückzukommen, und für Miss Crawley die pathetischsten Darstellungen von den Folgen der vernachlässigten Erziehung seiner Töchter. Von diesen Dokumenten nahm Miss Crawley jedoch kaum Notiz.

Miss Briggs war zwar nicht förmlich entlassen worden, [196] aber ihre Stelle als Gesellschafterin war eine Sinekure und ein wahrer Hohn; ihre Gesellschaft war der fette Schoßhund im Salon oder gelegentlich die mißvergnügte Firkin im Zimmer der Haushälterin. Doch obgleich die alte Dame auf keinen Fall etwas von Rebekkas Abreise hören mochte, war auch das Mädchen in der Park Lane in ihrem neuen Amt nicht regulär eingestellt worden. Wie viele reiche Leute, so hatte auch Miss Crawley die Gewohnheit, ihren Untergebenen so viele Dienste wie möglich abzufordern und sie dann gutmütig wieder abzuschieben, wenn sie sie nicht länger benötigte. Bei gewissen reichen Leuten ist Dankbarkeit nicht selbstverständlich oder etwas, woran man denken muß. Sie betrachteten die Dienste der Ärmeren als eine Pflichterfüllung. Du armer Schmarotzer und demütiger Schmeichler hast keinen Grund, dich zu beklagen! Deine Freundschaft mit dem Reichen ist in der Regel ebenso echt wie der Lohn, den du gewöhnlich dafür empfängst. Du liebst das Geld und nicht den Menschen; und müßte Krösus die Stellung mit seinem Diener vertauschen – du armer Schelm wüßtest wohl, wem du Treue beweisen würdest.

Ich bin nicht sicher, ob die schlaue alte Londonerin, an die diese Schätze der Freundschaft verschwendet wurden, trotz Rebekkas Einfachheit, Behendigkeit, Sanftmut und unermüdlicher guter Laune, nicht doch die ganze Zeit über ein geheimes Mißtrauen gegen ihre liebevolle Wärterin und Freundin hegte. Miss Crawley mußte doch sicher oft der Gedanke gekommen sein, daß niemand etwas umsonst tut. Wenn sie ihre eigenen Gefühle gegenüber der Welt maß, so mußte sie wohl auch in der Lage sein, die Gefühle der Welt ihr gegenüber gehörig abschätzen zu können. Vielleicht überlegte sie auch, daß es gewöhnlich das Los der Menschen sei, keine Freunde zu haben, wenn sie sich selbst um niemanden kümmern.

Unterdessen aber war ihr Becky eine große Stütze und Annehmlichkeit, und sie schenkte ihr dafür ein paar neue Kleider sowie eine alte Halskette und einen ebenso alten Schal [197] und bewies ihr ihre Freundschaft, indem sie alle ihre früheren Freundinnen gegenüber ihrer neuen Vertrauten beschimpfte. (Einen rührenderen Freundschaftsbeweis kann es wohl kaum geben!) Sie dachte auch beiläufig daran, ihr künftig noch irgendeine große Wohltat zu erweisen, sie zum Beispiel an Clump, den Apotheker, zu verheiraten oder sie sonst irgendwie vorteilhaft zu versorgen. Auf alle Fälle wollte sie sie nach Queen's Crawley zurückschicken, wenn sie ihre Dienste nicht mehr benötigte und die Saison in London erst richtig begonnen hätte.

Als Miss Crawley einigermaßen wiederhergestellt war und in den Salon hinabging, sang Rebekka ihr vor oder unterhielt sie anderweitig. Als sie wieder ausfahren konnte, mußte Becky sie begleiten. Und welches andere Ziel wählte Miss Crawleys bewundernswürdige Gutmütigkeit und Freundschaft bei einer dieser Ausfahrten als das Haus von John Sedley am Russell Square in Bloomsbury?

Vor diesem Ereignis waren selbstverständlich zwischen den beiden guten Freundinnen viele Briefe gewechselt worden. Während der Monate, die Rebekka in Hampshire verbrachte, hatte die ewige Freundschaft natürlich bedeutend Einbuße erlitten und war so hinfällig und altersschwach geworden, daß sie ganz zu sterben drohte. Das kam, weil beide den Kopf mit ihren eigenen Angelegenheiten voll hatten: Rebekka mit ihrem Fortkommen bei ihren Arbeitgebern, Amelia mit dem Thema, das sie völlig in Anspruch nahm. Als unsere beiden sich wiedersahen und einander mit dem Ungestüm junger Mädchen in die Arme flogen, spielte Rebekka ihre Rolle bei der Umarmung mit vollendeter Lebhaftigkeit und Energie. Die arme kleine Amelia errötete, als sie die Freundin küßte, und dachte, sie habe sich doch einer gewissen Kälte gegen sie schuldig gemacht.

Ihre erste Unterhaltung dauerte nur einige Augenblicke. Amelia war gerade im Begriff, spazierenzugehen. Miss Crawley wartete unten in ihrer Kutsche, und ihre Leute wunderten [198] sich über den Ort, zu dem sie gefahren waren, und starrten den ehrlichen Sambo, den schwarzen Diener von Bloomsbury, als einen der komischen Eingeborenen dieses Ortes an. Dann kam Amelia freundlich lächelnd herab. Rebekka mußte sie ihrer Freundin vorstellen, Miss Crawley war so erpicht darauf, sie zu sehen, war aber noch zu krank, den Wagen zu verlassen. Als Amelia erschien, wunderte sich die Livreearistokratie von der Park Lane noch mehr, daß Bloomsbury so etwas hervorbringen könne, und Miss Crawley war ganz hingerissen von dem süßen, errötenden Gesicht der jungen Dame, die so schüchtern und anmutig auf sie zutrat, um der Beschützerin ihrer Freundin ihre Aufwartung zu machen.

»Was für ein Teint, meine Liebe! Was für eine liebliche Stimme!« sagte Miss Crawley, als sie nach der kurzen Unterhaltung wieder gen Westen fuhren. »Meine teure Sharp, Ihre junge Freundin ist ja bezaubernd. Bitten Sie sie doch, einmal nach der Park Lane zu kommen, hören Sie?«

Miss Crawley hatte einen guten Geschmack. Sie liebte natürliches Benehmen – etwas Schüchternheit hob es nur noch hervor. Sie hatte gern hübsche Gesichter um sich, ebenso wie sie schöne Gemälde und hübsches Porzellan gern hatte. An dem Tage sprach sie noch ein halbes dutzendmal mit Entzücken von Amelia. Sie erwähnte sie gegenüber Rawdon Crawley, der pflichtschuldigst kam, um am Hühnchen seiner Tante teilzuhaben.

Daraufhin gab Rebekka natürlich sofort zu verstehen, daß Amelia mit einem gewissen Leutnant Osborne verlobt sei, eine alte Liebe.

»Dient er in einem Linienregiment?« fragte Hauptmann Crawley, dem nun nach einiger Mühe – typisch Leibgardist – auch die Nummer des Regiments einfiel.

Rebekka meinte, es sei dies wahrscheinlich das Regiment. »Der Hauptmann heißt Dobbin«, erklärte sie.

»Ein langer, linkischer Bursche, der über jedermann stolpert«, meinte Crawley. »Den kenne ich, und Osborne, ist das [199] ein gutaussehender Kerl mit großem, schwarzem Backenbart?«

»Ungeheuer groß und ungeheuer stolz darauf, das können Sie mir glauben«, versicherte Miss Rebekka Sharp.

Als Antwort brach Hauptmann Rawdon Crawley in ein heiseres Gelächter aus. Die Damen forderten ihn dringend auf, eine Erklärung abzugeben; als daher der Heiterkeitsausbruch vorüber war, sagte er:

»Er bildet sich ein, ein guter Billardspieler zu sein. Zweihundert habe ich ihm im ›Kakaobaum‹ abgewonnen. Der und spielen, dieser Grünschnabel! Er hätte an dem Tag alles aufs Spiel gesetzt, aber sein Freund, Hauptmann Dobbin, holte ihn weg. Zum Henker mit ihm!«

»Rawdon, Rawdon, führ nicht so lose Reden«, warf Miss Crawley vergnügt ein.

»Na, unter allen jungen Burschen von der Linie ist der da wohl der grünste. Tarquin und Deuceace nehmen ihn ganz schön aus. Er würde zum Teufel gehen, bloß um mit einem Lord gesehen zu werden. Er bezahlt ihre Essenrechnungen in Greenwich, und sie laden die Gesellschaft ein.«

»Wahrscheinlich eine nette Gesellschaft?«

»Ganz richtig, Miss Sharp. Richtig, wie gewöhnlich, Miss Sharp. Eine ungewöhnlich nette Gesellschaft, haha!« Und der Hauptmann, der glaubte, er hätte einen guten Witz gemacht, lachte immer lauter.

»Rawdon, sei nicht unartig!« rief seine Tante.

»Sein Vater ist Citykaufmann, ungeheuer reich, heißt es. Zum Henker mit diesen Cityleuten; sie müssen geschröpft werden, und ich bin mit ihm auch noch nicht fertig, das kann ich euch bloß versichern. Haha!«

»Pfui, Hauptmann Crawley, ich werde Amelia warnen. Ein Ehemann, der spielt!«

»Abscheulich, nicht wahr?« versetzte der Hauptmann feierlich und fügte dann, als ihm plötzlich ein Gedanke kam, hinzu: »Bei Gott, Tante, wir werden ihn hierher einladen.«

[200] »Ist er denn gesellschaftsfähig?« fragte die Tante.

»Gesellschaftsfähig? Ei freilich. Du merkst bestimmt keinen Unterschied«, antwortete Hauptmann Crawley. »Können wir ihn nicht einladen, wenn du wieder ein paar Leute empfängst, und seine Dingsda – seine Amorosa 4 – nicht, Miss Sharp, nennt man das nicht so ähnlich? – kann auch kommen. Bei Gott, ich will ihn in einem Briefchen einladen, und dann werden wir mal sehen, ob er ebenso gut Pikett 5 spielen kann wie Billard. Wo wohnt er denn, Miss Sharp?«

Miss Sharp gab Crawley die Londoner Adresse des Leutnants, und einige Tage nach diesem Gespräch erhielt Leutnant Osborne einen Brief in Hauptmann Rawdon Crawleys Schülerhandschrift, dem eine Einladung von Miss Crawley beigelegt war.

Auch Rebekka schickte eine Einladung an ihre teuerste Amelia – die diese, wie man sich vorstellen kann, nicht ungern annahm, als sie hörte, daß George mit von der Partie sei. Es wurde verabredet, daß Amelia den Vormittag bei den Damen in der Park Lane zubringen solle, wo alle sehr freundlich gegen sie waren. Rebekka begönnerte sie mit ruhiger Überlegenheit; sie war ihr an Verstand so weit überlegen, und ihre Freundin war so sanft und bescheiden, daß sie stets nachgab, wenn es jemand einfiel, zu kommandieren, und deshalb ließ sie sich auch Rebekkas Befehle sanftmütig und gutwillig gefallen. Miss Crawleys Huld war ebenfalls bemerkenswert. Sie setzte ihre Begeisterungsergüsse über die kleine Amelia fort und sprach in ihrer Gegenwart von ihr, als ob sie eine Puppe, ein Dienstmädchen oder ein Gemälde wäre, und bewunderte sie wohlwollend. Ich bewundere die Bewunderung, die die vornehme Welt bisweilen den einfachen Menschen zollt. Es gibt im Leben nichts Angenehmeres, als die Mayfair 6-Welt sich herablassen zu sehen. Miss Crawleys übertriebenes Wohlwollen ermüdete die arme kleine Amelia doch sehr, und ich glaube sicher, daß ihr von den drei Damen in der Park Lane die ehrliche Miss Briggs noch am liebsten war. [201] Sie sympathisierte mit Miss Briggs wie mit allen vernachlässigten, sanften Personen; sie war nicht das, was man gemeinhin als Frau mit Geist bezeichnet.

George kam zum Diner, einem Essen en garçon 7 bei Hauptmann Crawley.

Die große Osbornesche Familienkutsche brachte ihn vom Russell Square zur Park Lane. Die jungen Damen, die selbst nicht eingeladen waren und diese Nichtachtung scheinbar mit größter Gleichgültigkeit betrachteten, schlugen trotzdem Sir Pitt Crawleys Namen im Adelskalender nach und erfuhren darin alles, was dieses Werk über die Familie Crawley und deren Stammbaum und die Binkies, ihre Verwandten und so weiter und so fort zu berichten wußte. Rawdon Crawley empfing George Osborne mit großer Freimütigkeit und war äußerst freundlich, lobte sein Billardspiel, fragte ihn, wann er Revanche haben wollte, legte viel Interesse für Osbornes Regiment an den Tag und hätte ihm wohl noch am gleichen Abend ein Pikettspiel vorgeschlagen, hätte Miss Crawley nicht das Spielen in ihrem Haus energisch verboten, so daß für diesmal wenigstens die Börse des jungen Leutnants von seinem großmütigen Gönner nicht erleichtert wurde. Sie verabredeten sich jedoch für den folgenden Tag, um ein Pferd zu besichtigen und im Park auszuprobieren, das Crawley zu verkaufen hatte; dann wollten sie zusammen speisen und den Abend in Gesellschaft einiger lustiger Kameraden verbringen. »Das heißt, wenn Sie bei der hübschen Miss Sedley nicht Dienst haben«, sagte Crawley mit schlauem Blinzeln. »Ein schrecklich nettes Mädchen, bei meiner Ehre, Osborne«, war er so gnädig hinzuzusetzen. »Vermute, eine Masse Moneten, he?«

Osborne hatte keinen Dienst; mit Vergnügen wolle er mit Crawley zusammenkommen. Als sie sich dann tags darauf trafen, lobte Crawley die Reitkunst seines neuen Freundes – was er auch ehrlich tun konnte – und machte ihn mit drei oder vier jüngeren Männern von Rang und Namen bekannt, [202] auf deren Bekanntschaft der einfache junge Offizier außerordentlich stolz war.

»Übrigens, wie geht es der kleinen Miss Sharp?« fragte Osborne beim Wein seinen Freund mit der Miene eines Stutzers. »Ein gutherziges kleines Mädchen das. Wie macht sie sich in Queen's Crawley? Miss Sedley war sehr befreundet mit ihr im vorigen Jahr.«

Hauptmann Crawley sah den Leutnant aus seinen kleinen blauen Augen wütend an und beobachtete ihn, als er hinaufging, um seine Bekanntschaft mit der blonden Gouvernante zu erneuern. Ihr Benehmen muß Rawdon aber wieder beruhigt haben, wenn es in der Brust des Leibgardisten die Eifersucht überhaupt gab.

Als der junge Osborne hinaufgegangen und Miss Crawley vorgestellt worden war, stolzierte er großartig und gönnerhaft auf Rebekka zu. Er wollte ihr gegenüber recht freundlich sein und sie beschützen. Ja, er wollte ihr, als einer Freundin von Amelia, sogar die Hand geben; und so hielt er ihr denn mit den Worten: »Ah, guten Tag, Miss Sharp!« die linke Hand hin, in der Erwartung, daß die Ehre sie gänzlich verwirren werde.

Miss Sharp streckte den rechten Zeigefinger hin und nickte ihm leicht zu; ein so kühles und herablassendes Nicken, daß Rawdon Crawley, der den Vorgang vom Nebenzimmer aus beobachtete, sich kaum das Lachen verbeißen konnte, als er die völlige Schlappe des Leutnants bemerkte, sein plötzliches Zurückweichen, die Pause und die Ungeschicklichkeit, mit der er sich zuletzt herabließ, den angebotenen Finger zu ergreifen. »Sie würde noch den Teufel unterkriegen, beim Zeus!« jubelte der Hauptmann.

Der Leutnant fragte Rebekka liebenswürdig, um die Unterhaltung in Gang zu bringen, wie ihr ihre neue Stellung gefalle.

»Meine Stellung?« erwiderte Miss Sharp kühl. »Wie freundlich von Ihnen, mich daran zu erinnern! Es ist eine erträgliche [203] Stellung, das Gehalt ist nicht schlecht, aber wohl nicht so hoch wie das von Miss Wirt bei Ihren Schwestern am Russell Square. Wie geht es den jungen Damen – wenn ich überhaupt fragen darf?«

»Warum denn nicht?« fragte Mr. Osborne erstaunt.

»Nun, sie haben sich doch nie herabgelassen, mit mir zu sprechen oder mich einzuladen, als ich bei Amelia war; aber wissen Sie, wir armen Gouvernanten sind dergleichen Hintansetzungen ja gewohnt.«

»Meine liebe Miss Sharp!« rief Osborne.

»Wenigstens in einigen Familien«, fuhr Rebekka fort. »Sie können sich aber kaum vorstellen, was es da für Unterschiede gibt. Wir in Hampshire sind nicht so reich wie ihr glücklichen Leute von der City. Dafür lebe ich aber in der Familie eines Edelmannes – gutes, altes, englisches Blut. Vermutlich wissen Sie, daß Sir Pitts Vater die Peerswürde 8 ausgeschlagen hat. Dabei sehen Sie ja, wie man mich behandelt. Ich fühle mich recht wohl. Wirklich, es ist eine gute Stellung. Aber wie außerordentlich nett von Ihnen, sich zu erkundigen.«

Osborne war wütend. Die kleine Gouvernante begönnerte und verhöhnte ihn, daß es diesem jungen britischen Löwen sehr peinlich wurde. Er hatte aber nicht so viel Geistesgegenwart, sich von diesem ergötzlichen Gespräch unter irgendeinem Vorwand zurückzuziehen.

»Ich hatte doch den Eindruck, die Cityfamilien hätten Ihnen zugesagt«, sagte er hochmütig.

»Sie meinen voriges Jahr, als ich gerade aus dieser scheußlichen, gemeinen Schule kam? Natürlich, damals. Fährt nicht jedes Mädchen während der Ferien gern nach Hause? Und woher hätte ich es besser wissen sollen? Aber ach, Mr. Osborne, eine achtzehnmonatige Erfahrung macht doch einen unheimlichen Unterschied! Achtzehn Monate, die man – entschuldigen Sie, daß ich es so ausdrücke – mit Gentlemen verbracht hat. Die liebe Amelia, das gebe ich zu, ist eine Perle und würde überall bezaubern. – Na, bitte sehr, wie ich sehe, [204] wird Ihre Laune allmählich besser; aber nein! Diese komischen Leute! Und Mr. Joe – wie geht es dem wunderbaren Mr. Joseph?«

»Mir scheint, daß Sie den wunderbaren Mr. Joseph voriges Jahr nicht so ungern sahen«, sagte Osborne liebenswürdig.

»Wie streng Sie doch sind! Nun, entre nous 9, seinetwegen ist mir das Herz nicht gebrochen; aber wenn er mich um das gebeten hätte, was Ihre Blicke wohl andeuten wollen (wie ausdrucksvoll und freundlich Ihre Blicke übrigens sind), so hätte ich sicher nicht nein gesagt.«

Mr. Osborne warf ihr einen Blick zu, der etwa sagen wollte: Wirklich, bin außerordentlich verbunden!

»Welche Ehre, Sie als Schwager zu haben, denken Sie nun, nicht wahr? Schwägerin von George Osborne, Esquire, Sohn von John Osborne, Esquire, Sohn von ... was war doch gleich Ihr Großvater, Mr. Osborne? Nun, nicht gleich ärgerlich werden! Sie können ja nichts für Ihren Stammbaum, und ich gebe Ihnen recht, daß ich Mr. Joe Sedley geheiratet hätte; denn konnte ein armes mittelloses Mädchen etwas Gescheiteres tun? Nun kennen Sie das ganze Geheimnis. Ich bin offen und ehrlich, und wenn ich es recht betrachte, so war es sehr nett von Ihnen, auf die Sache anzuspielen – sehr nett und höflich. Amelia, meine Liebe, Mr. Osborne und ich haben uns gerade über deinen armen Bruder Joseph unterhalten. Wie geht es ihm?«

So wurde George völlig aus der Fassung gebracht. Nicht daß Rebekka recht gehabt hätte, aber sie hatte es zuwege gebracht, ihn ins Unrecht zu setzen. Und nun ergriff er eine schimpfliche Flucht, weil er fühlte, daß er in Gegenwart Amelias zum Narren gemacht worden wäre, hätte er noch eine Minute länger verweilt.

Obgleich er Rebekka gegenüber den kürzeren gezogen hatte, war George doch nicht so gemein, eine Dame zu verleumden oder sich an ihr zu rächen; er konnte aber nicht umhin, tags darauf Hauptmann Crawley einige seiner Ansichten [205] über Miss Rebekka anzuvertrauen – daß sie eine verschlagene, gefährliche Person, eine schreckliche Kokette sei und so weiter. All dem stimmte Hauptmann Crawley lachend bei, und ehe vierundzwanzig Stunden um waren, hatte Miss Rebekka alles erfahren. Ihre ursprüngliche Achtung für Mr. Osborne wurde dadurch noch erhöht. Ihr weiblicher Instinkt hatte ihr verraten, daß es George gewesen war, der den Erfolg ihres ersten Liebesabenteuers vereitelt hatte, und sie schätzte ihn entsprechend.

»Ich will Sie bloß warnen«, sagte er zu Rawdon Crawley mit einem schlauen Blick – er hatte das Pferd gekauft und nach dem Essen ein paar Dutzend Guineen verloren –, »ich will Sie bloß warnen – ich kenne die Frauen und rate Ihnen, auf Ihrer Hut zu sein.«

»Sehr verbunden, mein Junge«, antwortete Crawley mit besonders dankbarem Blick. »Wie ich sehe, sind Sie sehr auf Draht.« Und George entfernte sich mit dem Gedanken, daß Crawley recht habe.

George Osborne berichtete Amelia, was er getan und daß er Rawdon Crawley – einem verteufelt netten, ehrlichen Burschen – geraten habe, sich vor der schlauen, hinterhältigen kleinen Rebekka in acht zu nehmen.

»Vor wem?« rief Amelia.

»Vor Ihrer Freundin, der Gouvernante. Gucken Sie doch nicht so erstaunt!«

»O George, was haben Sie getan?« jammerte Amelia. Denn ihre von der Liebe geschärften Frauenaugen hatten ein Geheimnis entdeckt, das Miss Crawley, der armen, jungfräulichen Briggs und vor allem den einfältigen Augen des jungen bärtigen Stutzers, Leutnant Osbornes, verborgen geblieben war.

Als nämlich Rebekka in einem Zimmer oben Amelia in ihren Schal hüllte und die beiden Freundinnen Gelegenheit gefunden hatten, ein wenig zu tuscheln und Pläne zu schmieden – für Frauen stets ein großes Vergnügen –, wandte sich [206] Amelia ihr zu, nahm ihre beiden kleinen Hände und sagte: »Rebekka, ich begreife alles!«

Rebekka küßte sie.

Keine der beiden Frauen verrieten auch nur eine Silbe von dem süßen Geheimnis. Aber es sollte nicht mehr lange dauern, bis es an die Öffentlichkeit drang.

Kurze Zeit nach diesen Ereignissen – Miss Rebekka Sharp weilte im Hause ihrer Gönnerin in der Park Lane – konnte man in der Great Gaunt Street ein weiteres Totenschild neben den vielen anderen sehen, mit denen diese traurige Gegend gewöhnlich geziert ist. Es befand sich an Sir Pitt Crawleys Haus, zeigte aber nicht das Hinscheiden des würdigen Baronets an. Es war ein weibliches Totenschild und hatte vor wenigen Jahren beim Begräbnis von Sir Pitts alter Mutter, der verwitweten Lady Crawley, gedient. Nachdem es seine Schuldigkeit getan hatte, war es von der Hausfront entfernt worden und hatte in irgendeinem Hintergebäude von Sir Pitts Haus ein zurückgezogenes Dasein geführt. Jetzt erschien es wieder für die arme Rose Dawson. Sir Pitt war abermals Witwer. Das Wappen auf dem Schild neben seinem war zwar nicht das der armen Rose. Sie hatte kein Wappen. Aber die aufgemalten Engel paßten ebensogut für sie wie für Sir Pitts Mutter. Unter dem Wappenschild stand »Resurgam« 10, und zu beiden Seiten sah man die Crawleysche Taube und Schlange. Wappen, Totenschild und »Resurgam« – wahrhaftig eine schöne Gelegenheit zum Moralisieren!

Nur Mr. Crawley hatte sich um die einsame Kranke gekümmert. Lady Crawley ging aus der Welt, gestärkt durch die trostreichen Worte, die er ihr geben konnte. Viele Jahre lang war dies die einzige Freundlichkeit, die ihr widerfahren war, die einzige Freundschaft, die diese schwache, verlassene Seele irgendwie getröstet hatte. Ihr Herz war tot, bevor ihr Körper starb. Sie hatte es verkauft, um Sir Pitt Crawleys Frau zu werden. Tagtäglich schließen Mütter und Töchter auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit den gleichen Handel ab.

[207] Bei ihrem Hinscheiden befand sich ihr Mann in London, mit seinen zahllosen Plänen und seinen unzähligen Advokaten beschäftigt. Trotzdem hatte er Zeit gefunden, öfter in der Park Lane aufzukreuzen und Rebekka Briefe zu schreiben, worin er sie bat, ihr auftrug, zu ihren jungen Schülerinnen aufs Land zurückzukehren, die nun während der Krankheit ihrer Mutter völlig sich selbst überlassen waren. Allein Miss Crawley wollte ganz und gar nichts von ihrer Abreise hören, denn obgleich es in London keine Dame von Welt gab, die ihre Freunde leichteren Herzens aufgab, sobald sie ihrer Gesellschaft überdrüssig war (und keine wurde ihrer schneller überdrüssig), so war sie doch, solange ihr engouement 11 anhielt, sehr anhänglich, und noch klammerte sie sich mit aller Kraft an Rebekka.

Die Nachricht von Lady Crawleys Tod erregte in Miss Crawleys Familienkreis nicht mehr Kummer oder Beachtung, als man hätte erwarten können. »Ich werde wohl die Gesellschaft, die ich am Dritten geben wollte, verschieben müssen«, meinte Miss Crawley und setzte nach einer Pause hinzu: »Hoffentlich besitzt mein Bruder den Anstand, sich nicht wieder zu verheiraten.«

»Pitt wird sich totärgern, wenn er es doch tut«, bemerkte Rawdon mit seiner gewöhnlichen Hochachtung vor dem älteren Bruder. Rebekka sagte nichts. Sie schien die Ernsteste und Ergriffenste von der ganzen Familie zu sein. Sie verließ an diesem Tage das Zimmer, ehe Rawdon ging; aber zufällig trafen sie sich unten, als er sich verabschiedet hatte und gerade aufbrechen wollte. Sie sprachen lange miteinander.

Als Rebekka am nächsten Morgen aus dem Fenster blickte, erschreckte sie Miss Crawley, die ganz friedlich mit einem französischen Roman beschäftigt war, durch den Schreckensruf: »Sir Pitt kommt, Madame!« Das Klopfen des Baronets folgte dieser Ankündigung unmittelbar.

»Meine Liebe, ich kann ihn nicht sehen. Ich will ihn nicht sehen. Sagen Sie Bowls, ich sei nicht zu Hause, oder gehen Sie [208] hinunter und sagen Sie ihm, ich sei zu krank, um jemanden zu empfangen. Meine Nerven könnten meinen Bruder in diesem Augenblick wirklich nicht ertragen«, rief Miss Crawley aus und kehrte zu ihrem Roman zurück.

»Sie ist zu krank, um Sie zu empfangen, Sir«, sagte Rebekka und trippelte Sir Pitt entgegen, der gerade die Treppe erklimmen wollte.

»Um so besser«, antwortete Sir Pitt. »Ich will ja Sie sprechen, Miss Becky. Kommen Sie mit mir in das Empfangszimmer.« Sie betraten gemeinsam das Zimmer.

»Sie müssen unbedingt nach Queen's Crawley zurück, Miss«, sagte der Baronet und heftete seine Augen auf sie, als er die schwarzen Handschuhe und den Hut mit dem breiten Trauerflor ablegte. Sein Blick war so seltsam, so starr auf sie gerichtet, daß Rebekka Sharp fast zu zittern begann.

»Ich hoffe, ich kann bald kommen«, sagte sie leise, »sobald es Miss Crawley besser geht. Dann werde ich zu – zu den lieben Kindern zurückkehren.«

»So reden Sie nun schon drei Monate lang, Becky«, erwiderte Sir Pitt, »und immer noch haben Sie sich nicht von meiner Schwester losmachen können. Die wird Sie wie einen alten Schuh wegwerfen, wenn sie Sie satt hat. Ich sage Ihnen, ich brauche Sie. Ich fahre zur Beerdigung nach Hause. Kommen Sie zurück? Ja oder nein?«

»Ich wage es nicht – ich glaube nicht – daß es sich schicken würde – so ganz allein – mit Ihnen, Sir«, sagte Becky, offensichtlich in großer Erregung.

»Ich sage es noch einmal: Ich brauche Sie«, rief Sir Pitt und hämmerte auf den Tisch. »Ich komme ohne Sie nicht weiter. Als Sie fort waren, habe ich es erst gemerkt. Im Hause geht alles schief. Es ist alles wie verdreht. Meine Rechnungen sind wieder ganz durcheinander. Sie müssen zurückkommen. Ach, kommen Sie doch zurück! Liebe Becky, kommen Sie doch!«

»Kommen – als was, Sir?« keuchte Rebekka.

[209] »Kommen Sie als Lady Crawley, wenn Sie wollen«, sagte der Baronet und griff nach seinem Trauerhut. »So! Sind Sie damit zufrieden? Kommen Sie zurück und werden Sie meine Frau. Sie sind die Richtige. Zum Henker mit der Abstammung! Sie sind so gut eine Lady wie jede andere. Sie haben in Ihrem kleinen Finger mehr Verstand als irgendeine Baronetsfrau in der Grafschaft. Wollen Sie kommen? Ja oder nein?«

»Oh, Sir Pitt!« sagte Rebekka tief bewegt.

»Sagen Sie ja, Becky«, fuhr Sie Pitt fort. »Ich bin ein alter Mann, aber noch ganz gut beisammen. Zwanzig Jahre treibe ich es noch. Ich werde Sie glücklich machen, das werden Sie erleben. Sie können tun, was Sie möchten, können alles so einrichten, wie Sie es wollen. Ich setze Ihnen eine Summe aus. Ich werde alles in Ordnung bringen. Da, sehen Sie!« Und der alte Mann fiel auf die Knie und blinzelte wie ein verliebter Satyr 12.

Rebekka fuhr zurück – ein Bild der Bestürzung. Im Laufe dieser Geschichte haben wir sie noch nie die Geistesgegenwart verlieren sehen; nun tat sie es, und sie weinte einige der echtesten Tränen, die je ihren Augen entfielen.

»Ach, Sir Pitt!« sagte sie. »Ach, Sir – ich – ich bin doch schon verheiratet!«

Fußnoten

1 Mittel zur Behandlung von Entzündungen.

2 (franz.) Gesellschafterin.

3 (lat.) Gehilfe oder Sekretär eines Gelehrten.

4 (ital.) Geliebte.

5 Kartenspiel.

6 vornehmer Stadtteil von London.

7 (franz.) Herrenessen.

8 Peer ist ein erblicher Titel, der dem Träger das Recht gibt, Mitglied des englischen Oberhauses zu werden.

9 (franz.) unter uns.

10 (lat.) Ich werde auferstehen.

11 (franz.) übertriebene Vorliebe.

12 in der griechischen Mythologie ein Naturdämon, später Sinnbild für hemmungslose Triebhaftigkeit.

15. Kapitel
In dem Rebekkas Mann für kurze Zeit erscheint

Jedem sentimentalen Leser (und wir wünschen uns keinen anderen) muß das tableau 1, womit der letzte Akt unseres kleinen Dramas schloß, gefallen haben, denn kann es ein hübscheres Bild geben, als Amor auf den Knien vor der Schönheit?

Als aber Amor das schreckliche Geständnis der Schönheit hörte, daß sie bereits verheiratet sei, sprang er aus seiner [210] demütigen Haltung auf dem Teppich auf und schrie Worte, die die arme kleine Schönheit in größere Angst versetzten, als sie im Augenblick ihres Geständnisses empfunden hatte.

»Verheiratet! Sie machen wohl Witze«, schrie der Baronet nach dem ersten Ausbruche von Wut und Staunen. »Sie halten mich zum Narren, Becky. Wer würde Sie schon heiraten, ohne einen Shilling Vermögen?«

»Verheiratet! Verheiratet!« schluchzte Rebekka, in Tränen aufgelöst, vor Erregung sprachlos, das Taschentuch an die strömenden Augen gedrückt. So stand sie, an den Kamin gelehnt, um nicht in Ohnmacht zu sinken – ein Bild des Schmerzes, das auch das verstockteste Herz hätte rühren müssen. »Ach, Sir Pitt, lieber Sir Pitt, halten Sie mich nicht für undankbar gegenüber all der Güte, die Sie mir erwiesen haben. Nur Ihre Großmut hat mir mein Geheimnis entlockt.«

»Zum Henker mit der Großmut!« brüllte Sir Pitt. »Mit wem sind Sie denn verheiratet? Wo war es denn?«

»Oh, lassen Sie mich mit Ihnen wieder aufs Land gehen, Sir! Lassen Sie mich über Ihnen wachen, so treu wie je! Ach, bitte, trennen Sie mich nicht von dem lieben Queen's Crawley!«

»Der Kerl hat Sie also sitzenlassen, ja?« fragte der Baronet, der glaubte, daß ihm allmählich ein Licht aufginge. »Nun, Becky, kommen Sie zurück, wenn Sie wollen. Man kann einen Kuchen nicht zweimal essen. Auf jeden Fall habe ich Ihnen ein ehrliches Anerbieten gemacht. Kommen Sie zurück als Gouvernante – Sie können alles so einrichten, wie Sie es wollen.«

Sie streckte eine Hand aus und weinte dabei, als ob ihr das Herz brechen sollte; ihre Locken fielen ihr übers Gesicht und über den marmornen Kaminsims, auf dem ihr Kopf ruhte.

»Der Halunke ist also durchgegangen, he?« sagte Sir Pitt in einem schrecklichen Versuch, sie zu trösten. »Es macht nichts, Becky, ich werde für Sie sorgen.«

[211] »Oh, Sir! Es wäre der Stolz meines Lebens, nach Queen's Crawley zurückzukehren und wie früher für die Kinder und für Sie zu sorgen, wo Sie mir doch immer gesagt haben, daß Sie mit den Diensten Ihrer kleinen Rebekka zufrieden wären. Wenn ich mir überlege, was Sie mir eben angeboten haben, so schwillt mir das Herz vor Dankbarkeit, wirklich. Ich kann nicht Ihre Frau werden, Sir; lassen Sie mich – lassen Sie mich Ihre Tochter sein!«

Bei diesen Worten sank nun Rebekka ihrerseits in tragischer Pose auf die Knie, nahm Sir Pitts schwielige schwarze Hand in ihre beiden (die sehr hübsch und weiß und so weich wie Seide waren) und blickte mit einem Ausdrucke tiefster Leidenschaft und unbegrenzten Vertrauens zu ihm auf, als – als die Tür aufging und Miss Crawley hereinsegelte.

Mrs. Firkin und Miss Briggs hatten, bald nachdem der Baronet und Rebekka das Empfangszimmer betreten hatten, zufällig an der Tür gestanden, hatten dann, abermals zufällig, durchs Schlüsselloch hindurch den alten Herrn vor der Gouvernante knien sehen und seinen großmütigen Antrag gehört. Er war ihm kaum von der Zunge, so eilten Mrs. Firkin und Miss Briggs die Treppe hinauf, stürzten in den Salon, in dem Miss Crawley mit ihrem französischen Roman saß, und überbrachten der alten Dame die erstaunliche Nachricht, daß Sir Pitt vor Miss Sharp auf den Knien liege und ihr einen Heiratsantrag mache. Berechnet man nun die Zeit, die der oben wiedergegebene Dialog dauerte, und dann die Zeit, die die Briggs und die Firkin brauchten, um zum Salon zu fliegen, die Zeit, die Miss Crawley benötigte, um in Erstaunen zu geraten, ihren Pigault-Lebrun 2 fallen zu lassen und die Treppe herabzukommen, so wird man feststellen, wie genau diese Geschichte stimmt und daß Miss Crawley gerade in dem Augenblick erscheinen mußte, als Rebekka die demütige Stellung eingenommen hatte.

»Die Dame liegt doch auf den Knien, nicht der Herr«, sagte Miss Crawley mit tiefer Verachtung in Blick und Stimme. [212] »Man hat mir gesagt, du lägest auf den Knien, Sir Pitt; knie doch noch einmal nieder, damit ich das hübsche Paar sehen kann!«

»Ich habe Sir Pitt Crawley gedankt, Madame«, sagte Rebekka und erhob sich. »Ich habe ihm gesagt, daß – daß ich nie Lady Crawley werden kann.«

»Ihn abgewiesen!« rief Miss Crawley, mehr denn je verwirrt. Die Briggs und die Firkin an der Tür rissen vor Staunen Mund und Augen auf.

»Ja – abgewiesen!« fuhr Rebekka mit trauriger, tränenvoller Stimme fort.

»Und darf ich meinen Ohren trauen, daß du ihr wirklich einen Heiratsantrag gemacht hast, Sir Pitt?« fragte die alte Dame.

»Jawoll«, antwortete der Baronet, »das stimmt.«

»Und sie hat dich abgewiesen, wie sie sagt?«

»Jawoll«, sagte Sir Pitt, sein Gesicht zu einem breiten Grinsen verzerrt.

»Jedenfalls scheint es dir nicht das Herz zu brechen«, bemerkte Miss Crawley.

»Nicht ein bißchen«, antwortete Sir Pitt so kühl und gutgelaunt, daß Miss Crawley vor Staunen beinahe verrückt wurde. Daß ein alter Edelmann vor einer Gouvernante, die arm wie eine Kirchenmaus war, auf die Knie sank und sich halbtot lachte, als sie ablehnte, ihn zu heiraten, daß ferner eine arme Gouvernante einen Baronet mit jährlich viertausend Pfund abwies – all das waren Rätsel, die Miss Crawley nicht begreifen konnte. Das übertraf alle noch so verwickelten Intrigen in ihrem geliebten Pigault-Lebrun.

»Es freut mich, daß du es als einen guten Spaß ansiehst, Bruder«, fuhr sie fort und versuchte, sich durch die Wildnis der Verwirrung zu tasten.

»Famos«, sagte Sir Pitt. »Wer hätte das gedacht! Was für ein schlaues Teufelchen! So ein kleiner Fuchs!« murmelte er und kicherte vor Vergnügen.

[213] »Wer hätte was gedacht?« rief Miss Crawley und stampfte mit dem Fuße auf. »Sagen Sie mir doch, Miss Sharp, warten Sie vielleicht auf die Scheidung des Prinzregenten, da Ihnen unsere Familie nicht gut genug ist?«

»Meine Haltung, als Sie hereinkamen«, antwortete Rebekka, »machte gewiß nicht den Eindruck, als verachtete ich den ehrenvollen Antrag, den dieser gute – dieser edle Mann sich herabließ, mir zu machen. Glauben Sie, ich habe kein Herz? Sie haben mich alle geliebt und sind gegen das arme verwaiste – alleinstehende – Mädchen so freundlich gewesen – und ich soll nichts fühlen? Oh, meine Freunde! Oh, meine Wohltäter! Darf ich mit meiner Liebe, meinem Leben, meiner Pflicht nicht das Vertrauen zu vergelten suchen, das Sie mir erwiesen haben? Sprechen Sie mir sogar Dankbarkeit ab, Miss Crawley? Es ist zuviel – mein Herz ist zu voll!«

Sie sank so pathetisch in einen Stuhl, daß die meisten Zuschauer von ihrer Traurigkeit ganz gerührt wurden.

»Ob Sie mich nun heiraten oder nicht, Sie sind ein braves kleines Mädchen, Becky, und ich bin Ihr Freund, merken Sie sich das«, sagte Sir Pitt, setzte seinen florumwundenen Hut auf und ging – sehr zur Erleichterung Rebekkas; denn offensichtlich hatte Miss Crawley von ihrem Geheimnis noch nichts erfahren, und so hatte sie noch eine Galgenfrist.

Rebekka hielt ihr Taschentuch vor die Augen, bedeutete der ehrlichen Briggs, ihr nicht die Treppe hinauf zu folgen, und ging auf ihr Zimmer, während die Briggs und Miss Crawley in großer Aufregung zurückblieben, um das seltsame Ereignis zu besprechen. Die nicht weniger bewegte Firkin tauchte in die Küchenregionen hinab und besprach die Angelegenheit mit der ganzen männlichen und weiblichen Gesellschaft dort. Der Eindruck dieser Nachricht auf Mrs. Firkin war so gewaltig, daß sie es für zweckmäßig erachtete, noch mit der Abendpost ihre »untertänigsten Empfehlungen« zu schreiben »an Mrs. Bute Crawley und die Familie im Pfarrhaus, und Sir Pitt ist dagewesen und hat Miss [214] Sharp einen Heiratsantrag gemacht, den sie zur Verwunderung aller aber abgewiesen hat«.

Die beiden Damen im Speisezimmer (der würdigen Miss Briggs war zu ihrem Entzücken wieder einmal ein vertrauliches Gespräch mit ihrer Herrin vergönnt) wunderten sich nach Herzenslust über Sir Pitts Antrag und Rebekkas Ablehnung. Die Briggs vermutete sehr scharfsinnig, daß ein Hindernis in der Gestalt einer früheren Liebe im Wege sein müsse; sonst würde wohl kein vernünftiges junges Mädchen einen so vorteilhaften Antrag ablehnen.

»Sie hätten den Antrag wohl angenommen, nicht wahr, Briggs?« sagte Miss Crawley freundlich.

»Wäre es nicht ein Vorzug, Miss Crawleys Schwägerin zu sein?« erwiderte die Briggs, bescheiden ausweichend.

»Nun, schließlich hätte Becky doch eine gute Lady Crawley abgegeben«, bemerkte Miss Crawley. Die abschlägige Antwort des Mädchens hatte sie beruhigt, und jetzt, da man kein Opfer von ihr verlangte, war sie ungemein liberal und großmütig. »Sie hat Verstand genug (im kleinen Finger schon mehr als Sie, meine arme liebe Briggs, im ganzen Kopf). Ihre Manieren sind ausgezeichnet, seitdem sie in meinen Händen ist. Sie ist eine Montmorency, Briggs, und Blut bedeutet etwas, obgleich ich für mein Teil keinen Wert darauf lege; und gewiß hätte sie diesen aufgeblasenen, dummen Leuten in Hampshire besser gezeigt, wer sie ist, als die unglückselige Eisenhändlerstochter.«

Wie gewöhnlich stimmte die Briggs zu, und dann stellte man Vermutungen über Vermutungen über die »frühere Liebe« an.

»Ihr armen freundlosen Geschöpfe habt stets so ein törichtes tendre 3«, sagte Miss Crawley. »Sie wissen ja, Sie selbst waren in einen Schreiblehrer verliebt (weinen Sie nicht, Briggs – andauernd weinen Sie, und das macht ihn nicht wieder lebendig), und ich vermute, die unglückliche Becky ist ebenfalls töricht und sentimental gewesen – wahrscheinlich [215] ein Apotheker, ein Hausverwalter, ein Maler, ein junger Pfarrer oder so etwas Ähnliches.«

»Armes Ding, armes Ding!« sagte die Briggs (die sich vierundzwanzig Jahre zurückversetzte und an den schwindsüchtigen jungen Schreiblehrer dachte, dessen strohblonde Haarlocke und in ihrer Unleserlichkeit schöne Briefe sie in ihrem alten Pult liebevoll verborgen hielt). »Armes Ding, armes Ding!« sagte die Briggs. Und noch einmal war sie ein rotwangiges Mädchen von achtzehn, und in der Abendandacht sangen der schwindsüchtige Schreiblehrer und sie aus einem Gesangbuch.

»Nachdem sich Rebekka so verhalten hat«, sagte Miss Crawley enthusiastisch, »sollte unsere Familie etwas für sie tun. Suchen Sie doch ausfindig zu machen, wer das Objekt ist, Briggs. Ich richte ihm einen Laden ein oder bestelle mein Porträt bei ihm, wissen Sie, oder ich spreche mit meinem Vetter, dem Bischof – und Becky gebe ich eine schöne Aussteuer, und dann werden wir eine Hochzeit haben, Briggs, und Sie sollen das Frühstück herrichten und Brautjungfer sein.«

Die Briggs erklärte, es werde entzückend sein, und beteuerte, daß ihre liebe Miss Crawley stets gütig und großmütig sei. Dann ging sie zu Rebekka in deren Schlafzimmer hinauf, um sie zu trösten und mit ihr über den Heiratsantrag und ihre Ablehnung und den Grund dafür zu plaudern, um Miss Crawleys großmütige Absichten anzudeuten und ausfindig zu machen, wer denn der Herr wäre, der Miss Sharps Herz erobert habe.

Rebekka war sehr freundlich, sehr liebevoll und gerührt, erwiderte die zärtlichen Angebote der Briggs mit heißer Dankbarkeit, gestand ein, daß eine geheime Liebe im Spiele sei, ein köstliches Geheimnis. Wie schade, daß Miss Briggs nicht eine halbe Minute länger am Schlüsselloch geblieben war! Vielleicht hätte Rebekka mehr gesagt. Miss Briggs war kaum fünf Minuten in Rebekkas Zimmer, als Miss Crawley – [216] eine unerhörte Ehre – selbst erschien. Ihre Ungeduld hatte sie überwältigt. Sie konnte nicht die langsamen Operationen ihrer Gesandten abwarten; nun kam sie in höchsteigener Person und hieß die Briggs hinausgehen. Nachdem sie Rebekka ihre Befriedigung über ihr Benehmen ausgedrückt hatte, fragte sie nach Einzelheiten der Unterredung und allem Vorangegangenen, was zu dem erstaunlichen Angebot Sir Pitts geführt hatte.

Rebekka sagte, sie habe schon längst die Vorliebe bemerkt, mit der Sir Pitt sie geehrt hatte (denn er habe die Gewohnheit, seine Gefühle durchaus offen und ohne allen Rückhalt an den Tag zu legen); aber – ohne private Gründe anzuführen, womit sie Miss Crawley vorerst verschonen wolle – machten doch Sir Pitts Alter, Stand und Gewohnheiten eine Heirat unmöglich. Und könnte denn ein anständiges Mädchen, das nur ein wenig Selbstachtung besaß, in einem Augenblick einen Heiratsantrag annehmen, wo die dahingeschiedene Frau des Liebhabers noch nicht einmal beerdigt war?

»Unsinn, meine Liebe; Sie hätten ihm nie einen Korb gegeben, wenn nicht noch jemand im Spiele wäre«, sagte Miss Crawley, ohne weiteres auf den Kern zusteuernd. »Teilen Sie mir Ihre privaten Gründe mit, was sind das für private Gründe? Es gibt jemanden! Wer ist es, der Ihr Herz erobert hat?«

Rebekka schlug die Augen nieder und gab zu, daß das stimmte. »Sie haben es erraten, teure Lady«, sagte sie schlicht mit süßer, stockender Stimme. »Sie wundern sich, daß ein armes, freundloses Mädchen lieben kann, nicht wahr? Ich habe nie gehört, daß Armut vor Liebe schützt. Ich wollte, es wäre so.«

»Mein armes, liebes Kind«, rief Miss Crawley, die jederzeit bereit war, sentimental zu werden. »Wird unsere Liebe nicht erwidert? Haben wir geheimen Kummer? Erzählen Sie mir alles, und ich will Sie trösten.«

»Ich wollte, Sie könnten das«, sagte Rebekka immer noch [217] unter Tränen. »Wirklich, ich brauche es.« Dabei lehnte sie ihren Kopf an Miss Crawleys Schulter und weinte so echt, daß die alte Dame, unversehens zum Mitleid verführt, Becky mit fast mütterlicher Freundlichkeit umarmte, ihr unendliche Male ihre Achtung und Zuneigung versicherte, ja beteuerte, sie wie eine Tochter zu lieben und alles in ihren Kräften Stehende tun zu wollen, um ihr zu helfen. »Wer ist es denn nun, meine Teure? Ist es der Bruder dieser hübschen Miss Sedley? Sie sagten etwas über eine Liebesaffäre mit ihm. Ich will ihn hierher einladen, meine Liebe. Und Sie sollen ihn bekommen, ganz bestimmt.«

»Fragen Sie mich jetzt nicht«, sagte Rebekka. »Sie werden bald alles erfahren. Ja, wirklich, liebe, gute Miss Crawley – teure Freundin, darf ich so sagen?«

»Ja, das dürfen Sie gern, mein Kind«, erwiderte die alte Dame und küßte sie.

»Ich kann es Ihnen jetzt nicht sagen«, schluchzte Rebekka; »ich bin sehr unglücklich. Ach, bitte haben Sie mich doch immer lieb! Versprechen Sie mir, daß Sie mich stets liebhaben werden!« Und unter gemeinsamen Tränen – denn die Erregung der Jüngeren hatte die Sympathien der Älteren geweckt – gab Miss Crawley ihr feierlich dieses Versprechen. Dann verließ sie ihren kleinen Schützling und segnete und bewunderte das gute, arglose, weichherzige, liebevolle und unbegreifliche Geschöpf.

Und nun war Becky allein und konnte über die plötzlichen und wunderbaren Ereignisse des Tages, über das, was geschehen war, und das, was hätte geschehen können, nachdenken. Wie, glaubst du, lieber Leser, war es um die innersten Gefühle von Miss, ach nein (ich bitte sie um Verzeihung), von Mrs. Rebekka bestellt? Wenn der Verfasser oben das Vorrecht in Anspruch genommen hat, in Miss Amelia Sedleys Schlafzimmer zu blicken und mit der Allwissenheit des Romanschreibers all die zarten Leidenschaften und Schmerzen zu verstehen, die sich auf dem unschuldigen Kopfkissen wälzten, [218] warum sollte er dann nicht ebenfalls der Vertraute Rebekkas sein, Herr ihrer Geheimnisse und Siegelbewahrer zum Gewissen dieses jungen Mädchens?

Also: vor allem bedauerte Rebekka aufrichtig und rührend, daß ein wunderbares Glück ihr so nahe gewesen war und sie sich gezwungen sah, es von sich zu weisen. So wie sie wird wohl jeder normale Mensch empfinden. Welche gute Mutter würde nicht eine mittellose Jungfrau bemitleiden, die beinahe hätte Lady werden und viertausend Pfund im Jahr bekommen können? Welcher guterzogene junge Mensch auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit fühlt nicht mit einem fleißigen, klugen, verdienstvollen Mädchen, der ein so ehrenvolles, vorteilhaftes, reizvolles Anerbieten gerade in dem Augenblick gemacht wird, da es außer ihrer Macht liegt, es anzunehmen? Die Enttäuschung unserer Freundin Becky verdient das Mitgefühl aller und wird es auch erhalten.

Ich erinnere mich, selbst einmal an einer Abendgesellschaft auf dem Jahrmarkt teilgenommen zu haben. Ich beobachtete, wie die alte Miss Toady die kleine Mrs. Briefless, die Frau des Anwalts, die gewiß von guter Familie, aber, wie allgemein bekannt, arm wie eine Kirchenmaus ist, mit Aufmerksamkeiten und Schmeicheleien überhäufte.

Was, fragte ich mich, mag wohl der Grund für Miss Toadys Unterwürfigkeit sein? Ist Briefless über ein Provinzialgericht gesetzt worden, oder hat seine Frau ein großes Vermögen geerbt? Miss Toady erklärte es bald selbst mit jener Einfachheit, die ihr ganzes Benehmen auszeichnet. »Wissen Sie«, sagte sie, »Mrs. Briefless ist die Enkelin von Sir John Redhand, der in Cheltenham so krank daniederliegt, daß er kaum noch ein halbes Jahr zu leben hat. Der Vater von Mrs. Briefless ist sein Nachfolger; sie wird also, wie Sie sehen, die Tochter eines Baronets sein.«

Und die Toady lud Briefless und Frau für die nächste Woche zum Essen ein.

Kann die bloße Möglichkeit, Tochter eines Baronets zu [219] werden, einer Dame in der Welt solche Ehrerbietung verschaffen, dann müssen wir ganz gewiß auch die Qualen einer jungen Frau achten, der die Gelegenheit entschlüpft ist, Gattin eines Baronets zu werden. Wer hätte es sich auch träumen lassen, daß Lady Crawley so bald sterben würde? Sie war eine jener kränklichen Frauen und hätte noch zehn Jahre leben können – das dachte Rebekka im Innersten unter Qualen der Reue –, und ich hätte Lady werden können! Ich hätte den alten Mann nach meinem eigenen Willen lenken können. Ich hätte Mrs. Bute für ihre Gönnermiene und Mr. Pitt für seine unausstehliche Herablassung danken können. Ich hätte das Haus in der Stadt neu herrichten lassen. Ich hätte die prächtigste Kutsche in London und eine Loge in der Oper gehabt, und in der nächsten Saison wäre ich bei Hofe vorgestellt worden. Alles dies hätte sein können, aber jetzt – jetzt war alles zweifelhaft und dunkel.

Allein Rebekka war eine junge Dame mit zuviel Entschlossenheit und Charakterstärke, um sich nutzlosen und unpassenden Sorgen, um die unwiederbringliche Vergangenheit hinzugeben; daher richtete sie, nachdem sie ihrem Mißgeschick ein gewisses Maß an Bedauern gegönnt hatte, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Zukunft, die jetzt sehr viel wichtiger für sie war. Sie überblickte ihre Lage mit allen Hoffnungen, Zweifeln und Möglichkeiten.

Fürs erste war da die unbestreitbare Tatsache, daß sie verheiratet war. Sie Pitt wußte es. Nicht so sehr die Überraschung, als vielmehr eine schnelle Berechnung hatte ihr das Geständnis entlockt. Einmal mußte es gesagt werden, warum also erst später und nicht gleich jetzt? Derjenige, der sie selbst heiraten wollte, mußte wenigstens über ihre Heirat schweigen. Aber wie Miss Crawley die Kunde aufnehmen würde – das war die große Frage. Rebekka hegte Befürchtungen, allein sie rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was Miss Crawley gesagt hatte, die unverhohlene Verachtung der alten Dame gegenüber der Geburt, ihre kühnen liberalen [220] Ansichten, ihre romantischen Neigungen ganz allgemein, ihre fast kindische Vorliebe für den Neffen und ihre wiederholt ausgesprochene Zuneigung zu Rebekka selbst. Sie liebt ihn so sehr, dachte Rebekka, daß sie ihm alles verzeihen wird. Sie hat sich so an mich gewöhnt, daß sie ohne mich wohl kaum auskommen wird. Wenn es zum éclaircissement 4 kommt, wird es eine Szene geben, hysterische Anfälle, einen großen Krach und dann eine große Versöhnung. Jedenfalls brachte ein Aufschub wohl nichts ein. Die Würfel waren gefallen, und der Ausgang mußte heute oder morgen der gleiche sein. Nachdem sie nun beschlossen hatte, daß Miss Crawley die Sache erfahren sollte, überlegte sie sich, wie man ihr wohl die Neuigkeit am besten beibringen könnte und ob sie dem unausbleiblichen Sturm begegnen oder ihn vermeiden, also fliehen sollte, bis die erste Wut nachgelassen hätte. Während dieser Überlegungen schrieb sie folgenden Brief:


Liebster Freund!

Die große Krise, von der wir oft gesprochen haben, ist nun da. Mein Geheimnis ist zur Hälfte bekannt, und ich habe lange hin und her überlegt, bis ich endlich die feste Überzeugung gewonnen habe, daß es jetzt an der Zeit ist, das ganze Geheimnis zu enthüllen. Sir Pitt kam heute morgen zu mir und machte mir – kannst Du es glauben? – einen Heiratsantrag in aller Form. Denk bloß mal! Ich arme Kleine hätte Lady Crawley werden können. Wie hätte sich Mrs. Bute doch gefreut – und ma tante 5 erst, wenn ich den Vorrang vor ihr gehabt hätte! Ich wäre jemandes Mama geworden, statt ... ach, ich zittere, ich zittere, wenn ich bedenke, wie bald wir alles sagen müssen!

Sir Pitt weiß, daß ich verheiratet bin, und da er bisher nicht weiß, mit wem, ist er nicht sehr ungehalten darüber. Ma tante ist wirklich ärgerlich, weil ich ihm einen Korb gegeben habe. Aber sie ist sehr freundlich und gnädig. Sie ließ sich herab, zu sagen, daß ich ihm eine gute Frau geworden wäre,S [221] und gelobte, Deiner kleinen Rebekka eine Mutter zu sein! Sie wird erschüttert sein, wenn sie die Neuigkeit erfährt. Brauchen wir aber mehr zu fürchten als einen vorübergehenden Ärger? Ich glaube nicht; ja, ich bin überzeugt davon. Sie hat Dich so gern (Dich unartigen Nichtsnutz), daß Sie Dir alles verzeihen würde; und ich glaube wirklich, daß ich in ihrem Herzen gleich nach Dir komme und daß sie ohne mich ganz elend wäre. Liebster! Etwas sagt mir, daß wir siegen werden. Du mußt das abscheuliche Regiment verlassen und das Spielen und die Rennen aufgeben – und ein gehorsamer Junge sein, dann werden wir alle in der Park Lane wohnen, und ma tante muß uns ihr ganzes Geld hinterlassen.

Ich werde versuchen, morgen um drei Uhr am gewohnten Ort einen Spaziergang zu machen. Sollte mich Miss B. begleiten, so mußt Du zum Essen kommen und mir eine Antwort bringen. Leg sie in den dritten Band von »Porteus' Predigten«. Auf jeden Fall aber komm zu Deiner

R.


An Miss Eliza Styles
bei Mr. Barnet, Sattlermeister
Knightsbridge

Ich glaube, keiner meiner Leser besitzt so wenig Scharfsinn, um nicht zu merken, daß Miss Eliza Styles (eine alte Schulkameradin, erklärte Rebekka, mit der sie neuerdings in lebhaftem Briefwechsel stand und die die Briefe von dem Sattler abholte) Messingsporen und einen großen gekräuselten Schnurrbart trug und in Wirklichkeit niemand anders war als Hauptmann Rawdon Crawley.

Fußnoten

1 (franz.) Bild.

2 eigentlich Charles-Antoine-Guillaume Pigault de l'Epiney (1753-1835), französischer Schriftsteller, Verfasser von Unterhaltungsromanen.

3 (franz.) Neigung.

4 (franz.) Aufklärung.

5 (franz.) meine Tante.

[222] 16. Kapitel
Der Brief auf dem Nadelkissen

Wie ihre Heirat vor sich ging, kann jedermann vollkommen gleichgültig sein. Was kann einen volljährigen Hauptmann und eine mündige junge Dame daran hindern, eine Lizenz zu kaufen und sich in einer Londoner Kirche trauen zu lassen? Wem muß erst gesagt werden, daß eine Frau, die einen Willen hat, ganz gewiß auch einen Weg findet? Ich glaube, man hätte eines Tages, als Miss Sharp weggegangen war, um den Vormittag bei ihrer lieben Freundin Amelia Sedley am Russell Square zu verbringen, beobachten können, daß eine Dame, die ihr sehr ähnlich war, in Begleitung eines Herrn mit gefärbtem Schnurrbart eine Kirche in der City betrat und daß dieser Herr sie nach einer Viertelstunde wieder zu der wartenden Mietskutsche brachte. Es war eine stille Hochzeitsgesellschaft.

Und wer in aller Welt kann nach den täglichen Erfahrungen bezweifeln, daß ein Mann irgend jemanden heiratet. Wie viele weise und gelehrte Männer haben nicht ihre Köchin geheiratet? Heiratete nicht Lord Eldon 1, der Vorsichtigste aller Sterblichen, eine Frau, mit der er durchgebrannt war? Hatten sich nicht Achilles 2 und Ajax 3 beide in ihre Mägde verliebt? Können wir dann von einem schwerfälligen Dragoner mit heftigen Begierden und wenig Verstand, der noch nie im Leben seine Leidenschaften bezwungen hatte, erwarten, daß er plötzlich vorsichtig werden und verschmähen würde, jeden Preis für die Befriedigung einer Leidenschaft zu zahlen, die er sich nun einmal in den Kopf gesetzt hatte? Würden die Leute lediglich Vernunftehen schließen – welch ein Hindernis bedeutete das doch für den Bevölkerungszuwachs!

Meiner Meinung nach war Mr. Rawdons Heirat eine der ehrlichsten Taten, die wir aus dem Leben dieses Herrn – soweit es diese Geschichte betrifft – berichten können. Es [223] wird wohl niemand behaupten, es sei unmännlich, sich von einer Frau fangen zu lassen und, wenn schon gefangen, sie dann auch zu heiraten. Die Bewunderung, das Entzücken, die Leidenschaft, das Erstaunen, das unbegrenzte Vertrauen und die wahnsinnige Anbetung, womit der große Kriegsmann die kleine Rebekka nach und nach betrachtete, waren Gefühle, die zumindest die Damen ihm nicht zur Unehre rechnen werden. Wenn sie sang, so durchbebte jeder Ton seine stumpfe Seele und seine riesige Gestalt. Wenn sie sprach, so bot er alle Geisteskraft auf, um zuzuhören und zu staunen. Wenn sie scherzte, so wälzte er ihre Witze im Kopf hin und her und brach eine halbe Stunde später auf der Straße darüber in Gelächter aus, sehr zum Erstaunen des Reitknechts, der neben ihm im Tilbury 4 saß, oder des Kameraden, mit dem er auf der Rotten Row ritt. Ihre Worte waren Orakelsprüche für ihn; ihr kleinsten Handlungen von unfehlbarer Grazie und Weisheit gekennzeichnet. Wie sie singt, wie sie malt! dachte er. Wie sie in Queen's Crawley die widersetzliche Stute ritt! Auch in vertraulichen Augenblicken sagte er ihr: »Beim Zeus, Beck, du könntest Oberbefehlshaber oder Erzbischof von Canterbury werden, beim Zeus!« Ist er eine Ausnahme? Sehen wir nicht alle Tage manch einen ehrlichen Herkules an den Schürzenbändern seiner Omphale 5 oder manch einen großen, bärtigen Simson im Schoße von Delila 6 liegen?

Als daher Becky ihm sagte, daß die große Krise nahe und die Zeit zum Handeln gekommen sei, erklärte Rawdon sich ebenso schnell bereit, sich nach ihren Befehlen zu richten, wie er unter dem Befehl seines Obersten seine Truppe zum Kampf geführt hätte. Er brauchte seinen Brief nicht in den dritten Band von Porteus zu legen. Rebekka fand leicht Mittel und Wege, sich ihrer Begleiterin, der Briggs, zu entledigen, und traf ihren treuen Freund tags darauf »am gewohnten Ort«. Sie hatte sich die Sache während der Nacht noch einmal überlegt und teilte Rawdon ihre Entschlüsse mit. Natürlich stimmte er allem zu. Er war völlig überzeugt, daß alles [224] richtig sei, daß ihr Vorschlag sehr gut sei, daß Miss Crawley sich unfehlbar erweichen lassen würde oder, wie er sich ausdrückte, nach einiger Zeit rumgekriegt werden könnte. Hätte Rebekka vollkommen andere Beschlüsse gefaßt – er wäre ebenso blind gefolgt. »Du hast Köpfchen genug für uns beide, Beck«, sagte er. »Es gelingt dir bestimmt, uns aus der Patsche zu ziehen. So was wie dich habe ich noch nicht gesehen, und ich habe seinerzeit doch auch Prachtweiber getroffen.« Und mit diesem einfachen Glaubensbekenntnis überließ ihr der liebestolle Dragoner auch seinen Anteil an dem Plan, den sie für sie beide ausgeheckt hatte.

Dieser Plan bestand einfach darin, in Brompton oder in der Nähe der Kaserne für Hauptmann Crawley und Frau eine ruhige Wohnung zu mieten. Denn klugerweise, wie wir glauben, hatte Rebekka beschlossen zu fliehen. Rawdon war darüber hochbeglückt. Er hatte ihr schon wochenlang in den Ohren gelegen, dies zu tun. Mit dem Ungestüm der Liebe stürzte er davon, um die Wohnung zu mieten. Er stimmte so bereitwillig zu, zwei Guineen pro Woche zu zahlen, daß die Hauswirtin bedauerte, nicht mehr gefordert zu haben. Er ließ ein Klavier kommen und ein halbes Gewächshaus voll Blumen und einen Haufen anderer schöner Dinge. Schals, Glacéhandschuhe, seidene Stümpfe, goldene Uhren, Armbänder und Parfüms schickte er mit der Verschwendung blinder Liebe und unbegrenzten Kredits. Und als er mit diesem Freigebigkeitserguß sein Gemüt erleichtert hatte, ging er in seinen Klub essen und wartete voller Ungeduld auf den großen Moment seines Lebens.


Die Ereignisse des vergangenen Tages, die bewundernswerte Haltung Rebekkas, da sie doch ein so vorteilhaftes Anerbieten ausgeschlagen hatte, das geheime Unglück, das auf ihr lag, die Sanftmut und die Stille, womit sie ihren Kummer ertrug, hatten Miss Crawley noch zärtlicher gemacht, als sie gewöhnlich war. Ereignisse wie eine Heirat [225] oder eine Ablehnung oder ein Antrag bringen ein ganzes Haus voller Frauen in Aufregung und setzt ihr ganzes hysterisches Mitgefühl in Tätigkeit. Als Beobachter der menschlichen Natur besuche ich während der Heiratssaison der Oberen regelmäßig die Sankt-Georgs-Kirche am Hanover Square. Dabei habe ich nie die Freunde des Bräutigams weinen sehen oder festgestellt, daß der Küster und der Geistliche auf irgendeine Art ergriffen wären. Es ist aber gar nicht ungewöhnlich, daß man dort Frauen findet, die nichts mit dem zu tun haben, was dort geschieht – alte Damen, die schon längst das Heiratsalter überschritten haben, und dicke Frauen mittleren Alters mit vielen Söhnen und Töchtern, ganz abgesehen von hübschen, jungen Geschöpfen in rosa Hüten, die auf ihren großen Tag warten und des halb natürlich Interesse an der Zeremonie finden. Obwohl sie also nichts damit zu tun haben, schluchzen sie, schnüffeln, verbergen ihre Gesichter in kleinen, unnützen Taschentüchern, und alt und jung seufzt vor Erregung. Als mein Freund, der vornehme John Pimlico, die liebliche Lady Belgravia Green Parker heiratete, war die Rührung so allgemein, daß selbst die kleine, alte tabakschnupfende Kirchenstuhlschließerin, die mich an meinen Platz führte, in Tränen schwamm. Und warum? fragte ich meine Seele. Sie war es nicht, die heiraten sollte.

Mit einem Wort, Miss Crawley und Miss Briggs ließen nach der Affäre mit Sir Pitt ihren Gefühlen freien Lauf, und Rebekka wurde für sie zum Gegenstand zärtlichsten Interesses. Während das Mädchen abwesend war, tröstete sich Miss Crawley mit dem sentimentalsten Roman, den ihre Bibliothek aufwies. Die kleine Sharp mit ihrem geheimen Kummer war die Heldin des Tages.

An diesem Abend sang Rebekka lieblicher und erzählte hübscher als je zuvor in der Park Lane. Sie wand sich um Miss Crawleys Herz. Sie lachte geringschätzig über Sir Pitts Antrag und verspottete ihn als den närrischen Einfall eines [226] alten Mannes. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und das Herz der Briggs mit unaussprechlichen Qualen, als sie sagte, sie wünsche sich kein anderes Los, als immer bei ihrer teuren Wohltäterin bleiben zu dürfen.

»Mein liebes Kindchen«, sagte die alte Dame, »ich lasse Sie noch viele Jahre nicht von mir, darauf können Sie bauen. Von einer Rückkehr zu meinem scheußlichen Bruder kann nach alldem, was passiert ist, sowieso keine Rede mehr sein. Sie bleiben hier bei mir und der Briggs. Die Briggs möchte gern oft ihre Verwandten besuchen. Briggs, Sie können gehen, wann es Ihnen beliebt. Aber Sie, meine Liebe, müssen hierbleiben und sich um die alte Frau kümmern.«

Wäre in diesem Augenblick Rawdon Crawley dabeigewesen, anstatt in seinem Klub aufgeregt Rotwein zu trinken, so hätte das Paar vor der alten Jungfer nur auf die Knie zu fallen und alles zu gestehen brauchen, um im Nu volle Verzeihung zu erhalten. Aber dieses Glück war dem jungen Paare versagt, zweifellos, um dem Verfasser Gelegenheit zu geben, diese Geschichte zu schreiben, in der eine große Anzahl ihrer wunderbaren Abenteuer erzählt werden – Abenteuer, die ihnen niemals hätten widerfahren können, wenn Miss Crawleys bequeme, aber uninteressante Verzeihung ihnen Zuflucht und Schutz gewährt hätte.


Unter Mrs. Firkins Kommando in der Park Lane befand sich auch ein junges Mädchen aus Hampshire, deren Aufgabe es unter anderem war, mit einem Krug heißen Wassers an Miss Sharps Tür zu klopfen, weil Mrs. Firkin selbst lieber gestorben wäre, als ihn dem kleinen Eindringling zu bringen. Dieses Mädchen, das auf dem Familiengut aufgewachsen war, hatte einen Bruder, der in Hauptmann Crawleys Truppe diente, und wüßte man die volle Wahrheit, so würde es sich vielleicht herausstellen, daß sie über gewisse Vereinbarungen Bescheid wußte, die einiges mit dieser Geschichte zu tun haben. Sie kaufte sich jedenfalls einen gelben Schal, ein Paar [227] gelbe Stiefel und einen hellblauen Hut mit roter Feder für drei Guineen, die sie von Rebekka erhalten hatte, und da die kleine Sharp mit ihrem Geld nicht immer so großzügig umging, so war Betty Martin ohne Zweifel für bestimmte Dienstleistungen beschenkt worden.

Zwei Tage nach Sir Pitt Crawleys Heiratsantrag ging die Sonne wie gewöhnlich auf, und zur gewöhnlichen Stunde klopfte Betty Martin, das Stubenmädchen, an die Schlafzimmertür der Gouvernante.

Sie erhielt keine Antwort und klopfte daher abermals. Wieder nur Stille. Betty, mit dem heißen Wasser in der Hand, öffnete die Tür und trat in das Zimmer.

Das kleine, weiße Bett lag so glatt und nett da wie tags zuvor, als Betty mit eigener Hand geholfen hatte, es zu machen. Zwei kleine verschnürte Koffer standen in einer Ecke des Zimmers, und auf dem Tisch am Fenster auf dem Nadelkissen, dem großen, dicken Nadelkissen, das mit rosa Seide gefüttert war und gefältelt wie ein Damennachthäubchen war, lag ein Brief. Wahrscheinlich hatte er dort die ganze Nacht gelegen.

Betty ging auf Zehenspitzen darauf zu, als fürchtete sie, ihn aufzuwecken, blickte ihn mit einer Miene großer Verwunderung und Zufriedenheit an, sah sich mit der gleichen Miene im Zimmer um, nahm den Brief und grinste übers ganze Gesicht, als sie ihn um und um drehte, und brachte ihn schließlich in Miss Briggs' Zimmer.

Wie konnte Betty wissen, daß der Brief für Miss Briggs bestimmt war? Betty hatte in ihrem ganzen Leben nie eine andere Schule besucht als Mrs. Bute Crawleys Sonntagsschule und konnte Englisch sowenig lesen wie Hebräisch.

»Ach, Miss Briggs«, rief das Mädchen, »o Miss, es muß etwas passiert sein – in Miss Sharps Zimmer ist niemand, das Bett ist unberührt, und sie ist weggelaufen und hat den Brief hier für Sie dagelassen, Miss!«

»Was!« rief die Briggs und ließ ihren Kamm fallen, so [228] daß die dünne graue Haarsträhne ihr auf die Schulter fiel. »Eine Entführung! Miss Sharp ist geflohen! Was, was heißt das?« Und sie erbrach eifrig das zierliche Siegel und verschlang den Inhalt des an sie gerichteten Briefes.


Meine liebe Miss Briggs (so schrieb die Entflohene), Ihr Herz, das gütigste der Welt, wird mich bemitleiden, mit mir fühlen und mich entschuldigen. Weinend, betend und segnend verlasse ich das Haus, wo man der armen Waise stets freundlich und liebevoll begegnete. Ansprüche, berechtigter noch als die meiner Wohltäterin, beordern mich von dannen. Die Pflicht ruft mich zu meinem Gatten. Ja, ich bin verheiratet, mein Gatte befiehlt mir, in das bescheidene Heim zu kommen, das wir unser eigen nennen. Liebe Miss Briggs, bringen Sie diese Nachricht meiner teuren, innig geliebten Freundin und Wohltäterin so schonend bei, wie Ihr zartes Mitgefühl es Ihnen diktiert. Sagen Sie ihr, daß ich vor meinem Weggang ihr teures Kissen mit Tränen benetzt habe – jenes Kissen, daß ich in Tagen der Krankheit so oft geglättet habe und an dem abermals wachen zu dürfen, ich mich sehne. – Oh, mit welcher Freude werde ich nach der teuren Park Lane zurückkehren! Wie zittere ich um die Antwort, die mein Schicksal besiegeln wird! Als Sir Pitt sich herabließ, mir seine Hand anzubieten – eine Ehre, die ich nach Ansicht meiner vielgeliebten Miss Crawley verdiente (meine heißesten Segenswünsche seien mit ihr, daß sie die arme Waise für würdig erachtete, ihre Schwägerin zu werden!) –, da sagte ich Sir Pitt, daß ich bereits verheiratet sei. Sogar er verzieh mir. Aber es gebrach mir an Mut, ihm alles zu sagen – daß ich nämlich nicht seine Frau werden könnte, da ich seine Tochter sei. Ich bin verheiratet mit dem besten und edelsten aller Männer – Miss Crawleys Rawdon ist mein Rawdon. Auf seinen Befehl tue ich meinen Mund auf und folge ihm in unser bescheidenes Heim, wie ich ihm durch die ganze Welt folgen würde. Oh, meine vortreffliche und [229] gütige Freundin, legen Sie bei meines Rawdons geliebter Tante Fürsprache ein für ihn und das arme Mädchen, dem seine ganze edle Familie solch beispiellose Liebe und Freundschaft erwiesen hat. Bitten Sie Miss Crawley, daß sie ihre Kinder aufnehmen möge. Ich kann nichts mehr sagen, aber um Gottes Segen, um Gottes tausendfachen Segen für alle in dem teuren Hause, das ich verlasse, fleht

Ihre Sie liebende und dankbare

Rebekka Crawley.


Gerade als die Briggs dieses rührende und interessante Dokument, das sie wieder in ihre frühere Stellung als erste Vertraute der Miss Crawley einsetzte, fertiggelesen hatte, trat Mrs. Firkin ins Zimmer. »Mrs. Bute Crawley ist eben mit der Postkutsche aus Hampshire angekommen und möchte gern etwas Tee. Kommen Sie runter und machen das Frühstück zurecht, Miss?«

Zu Firkins großer Überraschung segelte die Briggs mit gerafftem Morgenrock, aufgelöster Haarsträhne, die Stirn von kleinen Lockenwickeln umrahmt und in der Hand den Brief mit der wunderbaren Nachricht, zu Mrs. Bute hinab.

»Oh, Mrs. Firkin«, keuchte Betty, »so eine Geschichte. Miss Sharp ist mit dem Hauptmann auf und davon, und sie sind nach Gretna Green 7

Wir würden Mrs. Firkins Gemütsbewegung ein eigenes Kapitel widmen, beschäftigte nicht unsere vornehmere Muse die Leidenschaften ihrer Gebieterin.


Als Mrs. Bute Crawley, ganz erstarrt von ihrer Nachtreise, sich an dem gerade entfachten prasselnden Kaminfeuer wärmte, erfuhr sie aus Miss Briggs' Mund die Nachricht von der heimlichen Heirat und erklärte es für eine himmlische Vorsehung, daß sie gerade jetzt gekommen sei, um der armen, teuren Miss Crawley den Schlag ertragen zu helfen. Sie setzte hinzu, Rebekka sei ein durchtriebenes Weibstück[230] und ihr stets verdächtig erschienen; auch habe sie nie die törichte Vorliebe von Rawdons Tante für ihn begreifen können, und sie habe ihn schon längst als ein verworfenes, gottvergessenes, ruchloses Subjekt betrachtet. Dieses abscheuliche Benehmen, meinte Mrs. Bute, werde wenigstens das Gute haben, der armen, lieben Miss Crawley über den wirklichen Charakter dieses nichtswürdigen Menschen die Augen zu öffnen.

Dann bekam Mrs. Bute köstlichen heißen Toast, und da jetzt im Hause ein Zimmer frei war, brauchte sie nicht im Restaurant »Gloster«, wo die Portsmouther Postkutsche sie abgesetzt hatte, zu wohnen; deshalb beorderte sie Mr. Bowls' Adjutanten, den Lakaien, ihre Koffer von dort zu holen.

Nun muß man wissen, daß Miss Crawley ihr Zimmer nie vor der Mittagszeit verließ, da sie morgens ihre Schokolade im Bette einnahm, während Becky Sharp ihr die »Morning Post« vorlas, oder sie sich anderweitig die Zeit vertrieb oder faulenzte. Die Verschwörer unten kamen nun überein, die Gefühle der teuren Lady zu schonen, bis sie im Salon auftauchte; inzwischen wurde ihr gemeldet, Mrs. Bute Crawley sei mit der Postkutsche aus Hampshire gekommen, wohne im »Gloster«, lasse Miss Crawley grüßen und wolle gern mit Miss Briggs frühstücken. Mrs. Butes Ankunft, sonst kein besonders freudiges Ereignis, wurde jetzt mit Vergnügen begrüßt. Miss Crawley freute sich, mit ihrer Schwägerin über die verstorbene Lady Crawley, die Vorbereitungen für die Beerdigung und Sir Pitts unerwarteten Heiratsantrag klatschen zu können.

Erst als die alte Dame sich bequem in ihrem gewohnten Lehnsessel im Salon niedergelassen hatte und die einleitenden Umarmungen und Erkundigungen zwischen den Damen beendet waren, hielten die Verschwörerinnen es für richtig, sie der Prozedur zu unterziehen. Wer hat nicht schon die Kunstgriffe und das leise Herantasten bewundern können, womit Frauen ihre Freundinnen auf schlimme Nachrichten[231] »vorbereiten«? Miss Crawleys beide Freundinnen taten so geheimnisvoll, ehe sie mit der Nachricht herausrückten, daß sie die alte Dame in den richtigen Zustand von Zweifel und Unruhe versetzen.

»Und sie schlug Sir Pitt aus, meine liebe, liebe Miss Crawley, machen Sie sich auf etwas gefaßt«, sagte Mrs. Bute, »weil – weil sie nicht anders konnte.«

»Natürlich gab es einen Grund«, antwortete Miss Crawley. »Sie liebte einen anderen. Das habe ich der Briggs schon gestern gesagt.«

»Liebt einen anderen!« keuchte die Briggs. »Oh, meine teure Freundin, sie ist bereits verheiratet.«

»Bereits verheiratet«, stimmte Mrs. Bute ein. Und beide saßen mit gefalteten Händen da und sahen bald sich, bald ihr Opfer an.

»Sie soll zu mir geschickt werden, sobald sie nach Hause kommt. Die kleine schlaue Kröte; wie konnte sie es wagen, mir nichts zu erzählen?« rief Miss Crawley.

»Sie wird nicht so bald wiederkommen. Fassen Sie sich, teure Freundin – sie ist für lange Zeit fortgegangen – sie ist – sie ist – überhaupt fort.«

»Gütiger Himmel! Und wer soll mir meine Schokolade machen? Schicken Sie sogleich zu ihr und holen Sie sie zurück. Ich wünsche, daß sie zurückkommt«, sagte die alte Dame.

»Sie ist letzte Nacht ausgerissen, Madame«, rief Mrs. Bute.

»Sie hat einen Brief für mich hinterlassen«, schrie die Briggs. »Sie ist verheiratet mit ...«

»Bereiten Sie sie doch vor, um Himmels willen. Foltern Sie sie nicht, meine liebe Miss Briggs.«

»Sie ist verheiratet mit wem?« kreischte die alte Jungfer in wütender Aufregung.

»Mit – mit einem Verwandten von ...«

»Sie hat Sir Pitt abgewiesen«, rief das Opfer. »Sprechen Sie doch endlich! Machen Sie mich nicht wahnsinnig.«

[232] »Ach, Madame – bereiten Sie sie vor, Miss Briggs – sie ist verheiratet mit Rawdon Crawley.«

»Rawdon verheiratet – Rebekka – Gouvernante – niem ... Machen Sie, daß Sie aus meinem Hause kommen, Sie Närrin, Sie Idiotin, Sie dumme, alte Briggs – wie können Sie es wagen! Sie stecken mit unter der Decke – Sie haben ihn veranlaßt zu heiraten, weil Sie glaubten, daß ich ihm mein Geld dann nicht hinterlassen würde. Ja, das taten Sie, Martha«, schrie die arme alte Dame hysterisch.

»Ich, Madame, ich hätte ein Glied dieser Familie aufgefordert, die Tochter eines Zeichenlehrers zu heiraten?«

»Ihre Mutter war eine Montmorency«, schrie die alte Dame und riß aus Leibeskräften an der Klingelschnur.

»Ihre Mutter war eine Ballettänzerin, und sie selbst ist auf der Bühne oder bei etwas noch Schlimmerem gewesen«, ließ Mrs. Bute sich vernehmen.

Miss Crawley gab noch einen Schrei von sich und sank ohnmächtig zurück. Man mußte sie in das Zimmer zurückbringen, das sie kaum erst verlassen hatte. Ein hysterischer Anfall folgte dem anderen. Man holte den Doktor. Mrs. Bute nahm den Pflegeposten an ihrem Bett ein. »Es müssen ihre Verwandten um sie sein«, erklärte die liebenswürdige Frau.

Kaum war sie in ihr Zimmer gebracht worden, als ein neuer Besucher erschien, dem natürlich die Nachricht gleichfalls mitgeteilt werden mußte. Es war Sir Pitt.

»Wo ist Becky?« fragte er schon in der Tür? »Wo ist ihr Gepäck? Sie kommt mit mir nach Queen's Crawley.«

»Haben Sie noch nicht die erstaunliche Nachricht von der heimlichen Ehe gehört?« fragte die Briggs.

»Was geht das mich an«, erwiderte Sir Pitt. »Ich weiß, daß sie verheiratet ist. Das macht nichts. Sagen Sie ihr, sie soll schnell runterkommen und mich nicht so lange warten lassen.«

»Wissen Sie denn noch nicht, Sir«, fragte Miss Briggs, »daß sie unser Haus verlassen hat und daß Miss Crawley vor Entsetzen [233] über Hauptmann Rawdons Heirat mit ihr beinahe gestorben ist?«

Als Sir Pitt hörte, daß Rebekka mit seinem Sohn verheiratet sei, benutzte er vor Wut so schreckliche Worte, daß sie hier lieber nicht wiederholt werden sollen. Miss Briggs jedenfalls trieb es schaudernd aus dem Zimmer. Mit ihr wollen nun auch wir die Türe hinter dem tobenden Alten schließen, der wild vor Haß und toll vor vereitelten Wünschen war.

Am Tag nach seiner Ankunft in Queen's Crawley brach er wie ein Wahnsinniger in das Zimmer ein, in dem Rebekka während ihres Aufenthaltes dort gewohnt hatte, stieß mit dem Fuß ihre Koffer und Schachteln auf und schleuderte ihre Papiere, Kleider und andere Dinge, die sie dort zurückgelassen hatte, umher. Miss Horrocks, die Tochter des Butlers, eignete sich einiges davon an. Mit dem übrigen putzten sich die Kinder zum Theaterspielen. Das geschah nur wenige Tage, nachdem die arme Mutter zu Grabe getragen und unbeweint und unbeachtet in eine Gruft zu lauter Fremden gelegt worden war.


»Wenn sich nun aber die Alte doch nicht erweichen läßt«, fragte Rawdon seine kleine Frau, als sie in ihrer hübschen kleinen Wohnung in Brompton beisammensaßen. Rebekka hatte den ganzen Vormittag das neue Klavier ausprobiert. Die neuen Handschuhe paßten ihr wie angegossen, die neuen Schals standen ihr wundervoll, die neuen Ringe glänzten an ihren Händchen, und die neue Uhr tickte an ihrem Gürtel. »Wenn sie sich nun aber doch nicht rumkriegen läßt, hm, Becky?«

»Ich werde dein Glück schon machen«, sagte sie, und Delila tätschelte Simson die Wange.

»Du schaffst alles«, sagte er und küßte die kleine Hand. »Ja, beim Zeus, alles; und nun komm, wir fahren zum ›Stern und Hosenband‹ 8 und essen dort, beim Zeus.«

Fußnoten

1 John Scott Eldon (1751-1838), englischer Staatsmann; entführte seine Verlobte, die Bankierstochter Elizabeth Surtees, deren Eltern nicht die Zustimmung zur Ehe geben wollten, und heiratete sie in Schottland. (Siehe auch Anm. zu S. 230.)

2 Held der griechischen Sage; erschlug den Vater und drei Brüder der Briseis und machte sie zu seiner Sklavin und Geliebten.

3 Held der griechischen Sage; tötete im Zweikampf Telentas, den König von Phrygien, verschleppte dessen Tochter Tekmessa und machte sie zu seiner Sklavin und Geliebten.

4 (engl.) leichter zweirädriger Einspänner.

5 Nach der griechischen Sage mußte Herkules Sklavendienste bei Omphale, der Königin von Lydien, verrichten und unterwarf sich völlig ihrem Willen.

6 Liebespaar aus dem Alten Testament (Richter 16). (Siehe auch Anm. zu S. 159 des 2. Bandes.)

7 schottisches Dorf nahe der englischen Grenze. Dort heirateten viele englische Paare, denen die elterliche Zustimmung zur Heirat fehlte, die in Schottland nicht erforderlich war.

8 ehemaliges bekanntes Gasthaus in London.

[234] 17. Kapitel
Wie Hauptmann Dobbin ein Klavier kaufte

Wenn es auf dem ganzen Jahrmarkt der Eitelkeit ein Schauspiel gibt, das Satire und Gefühl Arm in Arm besuchen können, wo man auf die seltsamsten Kontraste stößt – lächerlich oder traurig, wo man mit demselben Recht sanft und gefühlvoll oder zornig und zynisch sein kann, so ist das eine jener öffentlichen Versammlungen, die täglich in Massen auf der letzten Seite der »Times« angekündigt werden und deren würdiger Vorsitzender der selige Mr. George Robins war. Es gibt wohl nur sehr wenige Londoner, die nicht an diesen Versammlungen teilgenommen haben. Alle, die eine Neigung zum Moralisieren haben, müssen mit einem etwas unruhigen und seltsamen Gefühl an den Tag gedacht haben, wo sie an die Reihe kommen und Mr. Hammerdown im Auftrag von Diogenes' Bevollmächtigten oder dem Testamentsvollstrecker die Bibliothek, die Möbel, das Silber, die Garderobe und den auserlesenen Wein aus dem Keller des verstorbenen Epikur öffentlich versteigert.

Auch der selbstsüchtigste Charakter vom Jahrmarkt der Eitelkeit kann ein gewisses Mitgefühl und Bedauern nicht unterdrücken, wenn er Zeuge dieses schmutzigen Teils der Leichenfeierlichkeiten für einen verstorbenen Freund wird. Die sterbliche Hülle Lord Dives' 1 ruht in der Familiengruft, die Bildhauer hauen eine Inschrift aus, die wahrheitsgetreu die Erinnerung an seine Tugenden und den Kummer seines Erben, der jetzt über sein Vermögen verfügt, wachhält. Welcher von Dives' Tischgästen kann ohne Seufzer an dem vertrauten Hause vorübergehen? An dem vertrauten Haus, dessen Lichter abends so freundlich glänzten, dessen Türen sich so bereitwillig öffneten, dessen gehorsame Diener deinen Namen von Absatz zu Absatz meldeten, während du hinaufstiegst, bis er ins Zimmer des lustigen alten Dives drang, der seine Freunde willkommen hieß! Wie viele Freunde [235] hatte er doch, und wie nobel bewirtete er sie! Wie witzig waren die Leute hier, die draußen sofort wieder mürrisch wurden; wie höflich und freundlich begegneten sich Leute hier, die sich sonst haßten und verleumdeten, wo sie konnten! Er war zwar wichtigtuerisch, aber was konnte man bei einem solchen Gastgeber nicht alles in Kauf nehmen? Vielleicht war er auch ein bißchen dumm, macht denn aber nicht solch ein Wein jede Unterhaltung angenehm? »Wir müssen um jeden Preis etwas von seinem Burgunder bekommen«, rufen die Leidtragenden in seinem Klub. »Diese Dose habe ich bei der Auktion vom alten Dives ersteigert«, sagte Pincher und zeigt sie herum, »eine der Mätressen von Ludwig XV. – hübsches Ding, nicht wahr? Eine süße Miniatur«, und sie unterhalten sich darüber, wie der junge Dives sein Vermögen durchbringt.

Wie ganz anders aber sieht nun das Haus aus! Die Fassade ist mit Plakaten bedeckt, auf denen mit grellen Buchstaben Einzelheiten über das Mobiliar zu erfahren sind. Aus einem der oberen Fenster hängt ein Stück Teppich heraus; ein halbes Dutzend Gepäckträger lungert auf den schmutzigen Treppen herum; in der Vorhalle drängen sich dunkelhäutige Gäste mit orientalischen Gesichtszügen, die dir gedruckte Karten in die Hand drücken und für dich bieten wollen. Im oberen Stockwerk treiben sich alte Frauen und andere Liebhaber herum, befühlen die Bettvorhänge, tauchen die Hand in die Federn, kneten die Matratzen und machen Kommoden auf und zu. Unternehmungslustige junge Hausfrauen messen Spiegel und Vorhänge, um zu prüfen, ob sie für den neuen Haushalt passen (Snob prahlt noch nach Jahren, daß er dieses oder jenes in der Divesschen Auktion erstanden hat), und Mr. Hammerdown sitzt auf dem großen Mahagonitisch im Speisezimmer, schwingt den Elfenbeinhammer und bietet alle Künste der Beredsamkeit, Begeisterung, Vernunft, Verzweiflung und des Bittens auf, schreit seine Leute an, verspottet Mr. Davids wegen seiner Langsamkeit, feuert Mr. [236] Moss an, etwas zu tun, fleht, befiehlt und brüllt, bis endlich der Hammer, gewichtig wie das Schicksal, niedersaust und man zur nächsten Nummer übergeht. O Dives! Wer hätte wohl jemals gedacht, als wir um den breiten, von Silber und fleckenlosem Linnen strahlenden Tisch saßen, daß wir je solch ein Gericht auf der Tafel stehen sehen würden wie diesen schreienden Auktionar!

Die Auktion näherte sich bereits ihrem Ende. Die herrliche Saloneinrichtung, von Meisterhand gefertigt, die seltsamen und berühmten Weine, ehemals vom Kenner ohne Rücksicht auf den Preis erworben, und das reiche und vollständige Familiensilber waren bereits an den Tagen zuvor verkauft worden. Einige der besten Weine (die bei den Liebhabern in der Nachbarschaft alle einen guten Ruf hatten) hatte der Butler unseres Freundes John Osborne vom Russell Square für seinen Herrn, der sie recht gut kannte, ersteigert. Ein kleiner Teil von den nützlichsten Gegenständen des Silbers hatten einige junge Börsenmakler aus der City gekauft. Und jetzt, als das Publikum zum Kauf kleinerer Objekte aufgefordert worden war, geschah es, daß der Redner auf dem Tisch sich über den Wert eines Gemäldes ausließ, das er seinen Zuhörern anzupreisen suchte. Das Publikum war aber keineswegs mehr so erlesen und zahlreich wie an den vorangegangenen Auktionstagen.

»Nummer 369«, brüllte Mr. Hammerdown. »Das Porträt eines Herrn auf einem Elefanten. Wer bietet für den Herrn auf dem Elefanten? Halten Sie das Gemälde hoch, Mr. Blowman, damit die Gesellschaft es beurteilen kann.« Ein langer, blasser Herr von militärischem Aussehen, der ernsthaft an dem Mahagonitisch saß, konnte sich eines Lächelns nicht enthalten, als Mr. Blowman dieses wertvolle Stück zeigte. »Drehen Sie den Elefanten doch zum Hauptmann, Blowman. Wieviel bieten Sie für den Elefanten, Sir?«

Aber der Hauptmann wandte schnell und verlegen errötend den Kopf ab, und der Auktionar wiederholte sein Angebot.

[237] »Sagen wir zwanzig Guineen für das Kunstwerk? Fünfzehn? Fünf? Bestimmen Sie selbst den Preis! Der Herr ist schon ohne den Elefanten fünf Pfund wert.«

»Ich wundere mich nur, daß er nicht unter ihm zusammengebrochen ist«, warf ein Spaßvogel ein, »jedenfalls ist er ganz schön gewichtig.« Da der Reiter auf dem Elefanten tatsächlich als wohlbeleibte Gestalt dargestellt war, entstand ein allgemeines Gelächter im Raum.

»Suchen Sie doch nicht den Wert des Kunstwerks herabzusetzen, Mr. Moss«, sagte Mr. Hammerdown, »die Versammlung soll den Gegenstand als Kunstwerk betrachten – die Haltung des stattlichen Tieres durchaus naturgetreu, der Herr in einer Nankingjacke, die Flinte in der Hand, geht auf die Jagd, im Hintergrund bemerkt man einen heiligen Feigenbaum und eine Pagode – höchstwahrscheinlich die Darstellung eines interessanten Ortes in unseren berühmten ostindischen Besitzungen. Wieviel für diesen Gegenstand? Kommen Sie, meine Herren, halten Sie mich nicht den ganzen Tag damit auf.«

Jemand bot fünf Shilling, worauf der militärisch aussehende Herr in die Richtung blickte, aus der dieses glänzende Angebot gekommen war, und dort sah er einen anderen Offizier mit einer jungen Dame am Arm. Beide waren offenbar von der Szene höchst belustigt und erhielten den Gegenstand schließlich für eine halbe Guinee zugeschlagen. Der Mann am Tisch schien überraschter und verlegener als zuvor, als er dieses Paar erspähte; er verbarg den Kopf in seinem Uniformkragen und kehrte ihnen den Rücken zu, um den beiden auszuweichen.

Es ist nicht unsere Absicht, alle Dinge aufzuzählen, die Mr. Hammerdown die Ehre hatte, an jenem Tage zum Kaufe anzupreisen. Wir wollen nur das kleine Tafelklavier aus den oberen Regionen des Hauses erwähnen (der prächtige Flügel war schon vorher verkauft worden). Die junge Dame probierte darauf mit schneller und geübter Hand [238] (wobei der Offizier abermals errötete und zusammenfuhr), und als das Klavier an die Reihe kam, begann ihr Beauftragter zu bieten.

Allein hier zeigte sich eine Konkurrenz. Der jüdische Adjutant im Dienste des Offiziers am Tisch bot gegen den jüdischen Herrn, den die Elefantenkäufer angestellt hatten, und es entspann sich nun ein lebhafter Kampf um das kleine Klavier, zu dem die Kontrahenten von Mr. Hammerdown noch gehörig angefeuert wurden.

Als der Wettstreit eine Weile gedauert hatte, gaben der Elefantenhauptmann und seine Dame das Rennen schließlich auf. Der Hammer fiel nieder, der Auktionar sagte: »Mr. Lewis, fünfundzwanzig«, und Mr. Lewis' Auftraggeber wurde Eigentümer des kleinen Tafelklaviers. Nachdem der Kauf zustande gekommen war, richtete dieser Herr sich auf, als sei ihm eine Last von den Schultern genommen worden, und in dem Augenblick, da die erfolglosen Konkurrenten ihn erspähten, sagte die Dame zu ihrem Freund: »Sieh mal, Rawdon, es ist ja Hauptmann Dobbin.«

Vielleicht war Becky unzufrieden mit dem neuen Klavier, das ihr Mann für sie gemietet hatte, vielleicht hatte auch der Eigentümer das Instrument wieder weggeholt, weil er nicht weiter Kredit gewähren wollte, vielleicht aber hatte Becky auch eine besondere Vorliebe für das Klavier, das sie hatte kaufen wollen, denn sie erinnerte sich noch der Zeit, als sie im Zimmerchen unserer teuren Amelia Sedley darauf gespielt hatte.


Die Versteigerung fand in dem alten Haus am Russell Square statt, wo wir zu Beginn dieser Geschichte einige Abende miteinander verbracht haben. Der gute alte John Sedley war ruiniert. Er war auf der Börse als zahlungsunfähig erklärt worden, und sein Bankrott sowie seine Geschäftstilgung folgten. Mr. Osbornes Butler kam, um einen Teil des berühmten Portweines zu ersteigern und ihn in den [239] Keller gegenüber zu bringen. Drei junge Börsenmakler (Mr. Dale, Mr. Spigott und Mr. Dale aus der Threadneedle Street) schickten ein Dutzend schön gearbeiteter silberner Löffel und Gabeln sowie ein Dutzend Dessertbestecke, Splitter von dem Wrack, mit besten Grüßen an die gute Mrs. Sedley. Sie hatten mit dem alten Mann geschäftlich zu tun gehabt und von ihm manche Gefälligkeit erfahren in einer Zeit, wo er gegen alle, mit denen er zu tun hatte, gefällig war. Da das Klavier Amelia gehört hatte und sie es bestimmt vermissen würde und jetzt eins brauchen könnte und da Hauptmann Dobbin ebensowenig darauf spielen konnte, wie er Seiltanzen konnte, hatte er das Instrument wahrscheinlich nicht für sich selbst gekauft.

Kurz gesagt, es traf noch am gleichen Abend in einem wunderhübschen Häuschen in einer Querstraße der Fulham Road ein, einer jener Straßen, die die schönsten romantischen Namen tragen (diese hier hieß Sankt-Adelaide-Villen, Anna-Maria Road, West); wo die Häuser wie Puppenhäuser aussehen; wo die Leute, wenn sie aus den Fenstern des ersten Stockwerkes schauen, mit den Füßen offenbar im Erdgeschoß stehen müssen; wo die Sträucher in den Vorgärtchen jahraus, jahrein einen Blütenschmuck von Kinderschürzen, roten Strümpfchen, Mützen und so weiter (polyandria, polygynia 2) tragen; wo man Spinettklimpern und singende Frauenstimmen vernimmt; wo sich am Geländer kleine Bierkrüge sonnen und wohin abends kleine Angestellte aus der City ihre müden Schritte lenken; hier hatte Mr. Clapp, Mr. Sedleys Buchhalter, sein Zuhause, und zu diesem Ort nahm der gute alte Herr mit Frau und Tochter Zuflucht, als der große Krach kam.

Joe Sedley hatte auf die Nachricht von dem Familienunglück hin so gehandelt, wie man es von einem Manne seines Schlages erwarten konnte. Er kam nicht nach London, schrieb aber seiner Mutter, sie könne bei seinem Beauftragten so viel Geld abheben, wie gebraucht werde, so daß [240] seine guten, tiefgebeugten alten Eltern vorläufig keine Armut fürchten mußten. Nachdem er dies getan hatte, lebte Joe in seiner Pension in Cheltenham weiter wie bisher. Er fuhr in seinem Wagen, trank seinen Claret, spielte seine Partie Whist, tischte seine indischen Geschichten auf, und die irische Witwe tröstete ihn und schmeichelte ihm wie bisher. Sein Geldgeschenk, so nützlich es auch war, machte auf seine Eltern nur wenig Eindruck, und ich habe Amelia erzählen hören, daß ihr Vater zum ersten Male nach dem Bankrott das Haupt wieder erhoben habe, als das Paket mit den Bestecken samt den Empfehlungen der jungen Börsenmakler gekommen sei. Er war dabei wie ein Kind in Tränen ausgebrochen und schien noch weit gerührter als seine Frau, für die das Geschenk bestimmt war. Edward Dale, der Junior des Hauses, der die Löffel und Gabeln für die Firma gekauft hatte, war nämlich sehr verliebt in Amelia und machte ihr, trotz alledem, einen Antrag. Er heiratete Miss Louisa Cutts (Tochter von Higham und Cutts, der bedeutenden Kornhandlung) mit einem schönen Vermögen im Jahre 1820 und lebt jetzt herrlich und in Freuden mit seiner zahlreichen Familie in seiner eleganten Villa, Muswell Hill. Aber die Erinnerung an diesen guten Burschen soll uns nicht verleiten, von der Hauptgeschichte abzuschweifen.


Hoffentlich hat der Leser eine viel zu gute Meinung von Hauptmann Crawley und seiner Frau, um anzunehmen, daß sie je auf den Gedanken hätten kommen können, einen so entfernten Stadtteil wie Bloomsbury aufzusuchen, wenn sie gewußt hätten, daß die Familie, die sie mit einem Besuch beehren wollten, nicht nur gesellschaftsunfähig, sondern auch völlig mittellos geworden war und ihnen in keiner Weise mehr nützen konnte. Rebekka war ganz überrascht, als sie das gute alte Haus, wo man sie so freundlich aufgenommen hatte, von Maklern und Trödlern durchwühlt und seine stillen Familienschätze öffentlicher Entweihung und Plünderung [241] ausgesetzt sah. Einen Monat nach ihrer Flucht hatte sie sich an Amelia erinnert, und Rawdon hatte sich mit wieherndem Gelächter bereit erklärt, wieder einmal den jungen George Osborne zu treffen. »Er ist ein angenehmer Bekannter, Beck«, fügte der Spaßvogel hinzu. »Ich würde ihm gern noch ein Pferd verkaufen, Beck. Ich würde gern noch ein paar Partien Billard mit ihm spielen. Er könnte uns gerade jetzt sehr nützlich sein, um es mal so auszudrücken, haha!« Man darf nun aus diesen Reden nicht etwa schließen, daß Rawdon Crawley beabsichtigte Mr. Osborne zu betrügen, er wollte nur den ehrlichen Vorteil aus ihm ziehen, den fast jeder Spieler auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit von seinem Nächsten gewinnen zu dürfen glaubt.

Die alte Tante ließ sich nicht so schnell »herumkriegen«. Ein Monat war verstrichen. Mr. Bowls verweigerte Rawdon den Zutritt, seine Diener durften nicht mehr im Hause in der Park Lane weilen, seine Briefe wurden ungeöffnet zurückgeschickt. Miss Crawley bewegte sich nicht aus dem Haus – sie war unpäßlich –, und Mrs. Bute war noch immer da und wich ihr nicht von der Seite. Sowohl Crawley wie seine Frau mutmaßten Schlimmes aus Mrs. Butes ständiger Anwesenheit.

»Bei Gott, ich fange an zu begreifen, warum sie uns in Queen's Crawley stets zusammenbrachte«, sagte Rawdon.

»So ein gerissenes Weibstück«, rief Rebekka aus.

»Nun, wenn du es nicht tust – ich bereue es nicht«, rief der Hauptmann, noch immer im Liebestaumel für seine Frau, die ihn als Antwort mit einem Kuß belohnte und über das großherzige Vertrauen ihres Mannes sehr erfreut war.

Wenn er nur ein bißchen mehr Verstand hätte, dachte sie bei sich, so könnte ich noch etwas aus ihm machen, aber sie ließ ihn nie merken, welche Meinung sie von ihm hatte, lauschte mit unermüdlicher Geduld seinen Stall- und Offizierstischgeschichten, lachte über alle seine Witze, interessierte sich sehr für Jack Spatterdash, dessen Pferd gestürzt [242] war, und für Bob Martingale, der in einer Spielhalle aufgegriffen worden war, und für Tom Cinqbars, der an der Steeplechase 3 teilnehmen wollte. Kam er nach Hause, so war sie lustig und glücklich, ging er aus, so redete sie ihm noch zu, blieb er zu Hause, so spielte und sang sie ihm vor, bereitete ihm köstliche Getränke, beaufsichtigte sein Essen, wärmte seine Pantoffeln und badete seine Seele in Behaglichkeit. »Die besten Frauen«, so sagte meine Großmutter immer, »sind Heuchlerinnen.« Wir wissen nicht, wieviel sie vor uns verbergen, wie wachsam sie sind, wenn sie ganz harmlos und vertrauensselig scheinen, wie häufig das offene Lächeln, das sie so gern zur Schau tragen, eine Falle ist, um zu schmeicheln, abzulenken oder zu entwaffnen – dabei meine ich nicht einmal die Koketten, sondern unsere häuslichen Vorbilder und Muster weiblicher Tugend. Wer hat nicht schon gesehen, wie eine Frau die Dummheit ihres Mannes geschickt verbarg oder seinen Zorn besänftigte? Wir lassen uns diese angenehme Sklaverei gefallen, loben die Frauen noch dafür und nennen den hübschen Betrug Wahrheit. Eine gute Hausfrau ist stets eine Lüge, und Cornelias Gemahl wurde ebenso getäuscht wie Potiphar 4 – nur in anderer Weise.

Durch diese Aufmerksamkeiten wurde der alte Liederjan Rawdon Crawley allmählich in einen glücklichen und gehorsamen Ehemann umgewandelt. Die Spießgesellen seiner früheren Tage bekamen ihn nicht mehr zu sehen. Sie fragten ein paarmal in seinen Klubs nach ihm, vermißten ihn aber nicht sehr. In jenen Buden auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit vermißt man einander kaum. Seine einsame, aber stets lächelnde und lustige Frau, seine behagliche kleine Wohnung, die netten Mahlzeiten und die gemütlichen Abende zu Hause hatten für ihn den Zauber des Neuen und Heimlichen. Die Heirat war bis jetzt noch nicht bekanntgegeben oder in der »Morning Post« veröffentlicht worden. Seine Gläubiger hätten sich wie ein Mann auf ihn gestürzt, wäre ihnen bekannt geworden, daß er eine Frau ohne Vermögen geheiratet [243] hatte. »Meine Verwandten werden nicht pfui über mich schreien«, sagte Becky mit bitterem Lachen; und sie war ganz zufrieden damit, zu warten, bis die alte Tante sich mit ihnen versöhnt hatte, ehe sie ihren Platz in der Gesellschaft beanspruchen würde. So lebte sie in Brompton und sah niemanden – außer den wenigen Freunden ihres Mannes, die in ihrem kleinen Speisezimmer zugelassen wurden. Die waren alle ganz bezaubert von ihr. Die kleinen Diners, das Lachen und Plaudern und anschließend die Musik entzückten alle, die an diesen Genüssen teilnehmen durften. Major Martingale dachte nie daran, nach der Heiratslizenz zu fragen. Hauptmann Cinqbars war hingerissen von ihrer Geschicklichkeit im Punschbereiten. Und der junge Leutnant Spatterdash (er spielte gern Pikett und wurde von Crawley oft eingeladen) war bald offensichtlich in Mrs. Crawley vernarrt. Aber ihre Umsicht und ihr Anstand verließen sie keinen Augenblick, und Crawleys Ruf als rauflustiger und eifersüchtiger Soldat waren ein weiterer vollkommener Schutz für seine kleine Frau.

Es gibt in London vornehme Herren von guter Familie, die noch nie den Salon einer Dame betreten haben, so daß zwar Rawdon Crawleys Heirat in seiner Grafschaft wahrscheinlich besprochen wurde, da Mrs. Bute die Neuigkeit verbreitet hatte; in London dagegen wurde sie angezweifelt oder nicht beachtet oder überhaupt nicht besprochen. Er lebte behaglich auf Kredit, hatte ein großes Schuldenkapital, das, vernünftig angelegt, einen Mann jahrelang erhalten kann und von dem bestimmte Menschen in London hundertmal besser zu leben verstehen als Leute mit Bargeld. Wer, zu Fuß in den Straßen der Stadt unterwegs, kann nicht ein halbes Dutzend Leute herausfinden, die glanzvoll an ihm vorbeireiten, die von der vornehmen Welt hofiert werden, die von Kaufleuten mit Verbeugungen zu ihren Kutschen geleitet werden, die sich nichts versagen und wer weiß wovon leben? Wir sehen, wie Jack Verschwender im Park paradiert [244] oder in seinem Brougham 5 die Pall Mall hinunterrast; wir speisen bei ihm von seinem wundervollen Silbergeschirr und fragen: »Wie hat das angefangen und wo wird es enden?« – »Mein lieber Junge«, hörte ich Jack einmal sagen, »ich habe in jeder Hauptstadt Europas Schulden.« Einmal muß das Ende kommen, aber inzwischen lebt Jack herrlich und in Freuden, die Leute freuen sich, ihm die Hand schütteln zu dürfen, hören nicht auf die dunklen Geschichtchen, die man sich hin und wieder über ihn zuflüstert, und erklären ihn für einen gutmütigen, lustigen, sorglosen Burschen.

Die Wahrheit zwingt uns, zuzugeben, daß Rebekka einen Mann dieses Schlages geheiratet hat. Im Haus gab es alles in Hülle und Fülle, nur kein Bargeld, und dieser Mangel machte sich in dem jungen Haushalt bald bemerkbar. Als Rawdon eines Morgens die »Gazette« 6 las, stieß er auf die Mitteilung: »Leutnant G. Osborne rückt durch Kauf zum Hauptmann auf, anstelle von Smith, der sich in ein anderes Regiment versetzen läßt.« Da machte er über Amelias Liebhaber jene Bemerkung, die mit dem Besuch am Russell Square endete.

Als Rawdon und seine Frau bei der Auktion mit Hauptmann Dobbin sprechen und Näheres über die Katastrophe wissen wollten, die Rebekkas alte Bekannte betroffen hatte, war der Hauptmann verschwunden. Das bißchen, was sie erfuhren, stammte von den Lastträgern oder den Maklern auf der Auktion.

»Sieh doch mal die Leute dort mit den Hakennasen«, sagte Becky vergnügt, als sie, das Gemälde unter dem Arm, in den Buggy stieg. »Sie sehen aus wie Geier nach einer Schlacht.«

»Weiß ich nicht. War nie in einer Schlacht, meine Liebe. Frag Martingale, der war in Spanien Adjutant von General Blazes.«

»Mr. Sedley war ein sehr freundlicher alter Herr«, sagte Rebekka, »es tut mir wirklich leid, daß ihm das passieren mußte.«

[245] »Ach Gott, Börsenmakler ... bankrott ... sind daran gewöhnt, weißt du«, erwiderte Rawdon und vertrieb mit der Peitsche eine Fliege vom Ohr seines Pferdes.

»Schade, daß wir uns nicht etwas von dem Silbergeschirr leisten konnten, Rawdon«, fuhr seine Frau gefühlvoll fort. »Fünfundzwanzig Guineen für das kleine Klavier ist unheimlich teuer. Wir haben es bei Broadwood für Amelia gekauft, als sie aus der Schule kam. Damals hat es nur fünfunddreißig gekostet.«

»Der Dingsda, dieser – Osborne wird sich jetzt vermutlich von der Kleinen lossagen, wo die Familie doch nun pleite ist. Deine hübsche kleine Freundin wird jetzt ganz schön geklatscht sein, glaubst du, Becky?«

»Ich nehme an, sie wird es überstehen«, sagte Becky lächelnd. Und sie fuhren weiter und sprachen von etwas anderem.

Fußnoten

1 (lat.) der Reiche.

2 (lat.) Vielmännerei, Vielweiberei; vom Autor beabsichtigte falsche Auflösung von pp. (perge, perge!) = (lat.) fahre fort, fahre fort!, d.h. und so weiter.

3 (engl.) Kirchturmrennen. – Pferderennen, bei dem ein hoher, weithin erkennbarer Gegenstand (früher ein Kirchturm) ungeachtet aller Hindernisse in gerader Linie erreicht werden muß.

4 im Alten Testament ein ägyptischer Beamter, an den Joseph verkauft wurde. Seine Frau versuchte vergeblich, den keuschen Joseph zu verführen.

5 (engl.) verdeckter, meist einspänniger Zweisitzer.

6 »London Gazette«, eine Zeitung, in der nur amtliche Mitteilungen über Ernennungen, Bankrotte usw. veröffentlicht wurden.

18. Kapitel
Wer spielt auf dem Klavier, das Hauptmann Dobbin gekauft hat?

Zu ihrem Erstaunen sieht sich nun unsere Geschichte einen Augenblick lang in Verbindung mit sehr berühmten Ereignissen und Personen am Rockzipfel der Weltgeschichte hängen. Die Adler Napoleon Bonapartes, des korsischen Emporkömmlings, flogen nach einem kurzen Aufenthalt auf der Insel Elba und in der Provence weiter von Kirchturm zu Kirchturm, bis sie sich auf den Türmen von Notre Dame in Paris niederließen, und ich möchte eigentlich wissen, ob die kaiserlichen Vögel dabei ein Auge hatten für einen kleinen Winkel der Gemeinde Bloomsbury in London, den man für so still halten möchte, daß selbst das Schwirren und Schlagen dieser gewaltigen Flügel dort unbemerkt vorübergehen würde.

[246] »Napoleon ist in Cannes gelandet.« 1 Solch eine Nachricht konnte wohl in Wien Panik hervorrufen, Rußland veranlassen, seine Karten hinzuwerfen, Preußen in Verlegenheit setzen und Talleyrand 2 und Metternich 3 zum Kopfschütteln veranlassen, während Fürst Hardenberg 4 und sogar der jetzige Marquis von Londonderry 5 ganz verwirrt waren. Wie konnte diese Nachricht aber eine junge Dame am Russell Square berühren, vor deren Tür der Nachtwächter die Stunden ausrief, während sie schlief, die beim Spazierengehen auf dem Platz nicht ohne Schutz war, die auch nur beim kleinsten Gang zur Southampton Row, um dort ein Band zu kaufen, von dem schwarzen Sambo mit einem ungeheuren Stock begleitet wurde, die stets von vielen bezahlten und unbezahlten Schutzengeln umsorgt, gekleidet, zu Bett gebracht und bewacht wurde? Bon Dieu 6, sage ich, ist es nicht schlimm, daß das verhängnisvolle Rasen des Kaiserkampfes nicht vor sich gehen kann, ohne eine arme, harmlose Achtzehnjährige am Russell Square zu berühren, die sich nur mit Schnäbeln, Girren und Musselinkragensticken beschäftigt? Auch du, liebliche, schlichte Blume! Soll der brüllende Kriegssturm dich umwerfen, obgleich du unter dem sicheren Dach von Holborn kauerst? Ja, Napoleon setzt das Letzte aufs Spiel, und das Glück der armen kleinen Emmy Sedley spielt irgendwie eine Rolle dabei.

Zunächst hatte die verhängnisvolle Nachricht das Vermögen ihres Vaters weggefegt. Dem unglücklichen alten Herrn waren in der letzten Zeit alle Spekulationen fehlgeschlagen. Unternehmungen waren mißlungen, Kaufleute hatten Bankrott gemacht, Staatspapiere waren gestiegen, als er aufs Sinken gerechnet hatte. Was brauchen wir noch auf Einzelheiten einzugehen? Wo Erfolge selten und langsam werden, kommt der Ruin schnell und leicht. Der alte Sedley hatte seine traurige Lage verschwiegen. Alles schien in dem ruhigen, reichen Hause seinen gewöhnlichen Gang zu gehen; die gutmütige Hausherrin setzte nichtsahnend ihren geschäftigen [247] Müßiggang fort und erfüllte ihre täglichen leichten Pflichten; die Tochter war noch immer ausschließlich mit dem gleichen selbstsüchtigen, zärtlichen Gedanken beschäftigt und kümmerte sich nicht um ihre Umwelt – bis jener Schlag kam, unter dem die würdige Familie fiel.

Eines Abends schrieb Mrs. Sedley Einladungskarten für eine Gesellschaft; die Osbornes hatten eine gegeben, und sie durfte nicht zurückstehen. John Sedley, der sehr spät aus der City heimgekommen war, saß schweigend am Kamin, während seine Frau ihm etwas vorschwatzte. Emmy war unpäßlich und hatte sich niedergeschlagen auf ihr Zimmer zurückgezogen. »Sie ist nicht glücklich«, fuhr die Mutter in ihrem Gespräch fort. »George Osborne vernachlässigt sie. Ich kann das Gebaren dieser Leute nicht ausstehen. Die Mädchen sind seit drei Wochen nicht mehr hiergewesen, und George war zweimal in der Stadt, ohne uns zu besuchen. Edward Dale hat ihn in der Oper gesehen. Ich glaube bestimmt, Edward würde sie heiraten; und dann ist da noch Hauptmann Dobbin, der auch – nur, ich kann keinen Soldaten leiden. Was für ein Stutzer der George geworden ist! Und dieses militärische Gehabe; nein, wirklich, wir müssen gewissen Leuten zeigen, daß wir so gut sind wie sie. Gib nur Edward einige Hoffnung, und du wirst sehen. Wir müssen eine Gesellschaft geben, Sedley. Warum sprichst du nicht, John? Soll ich sagen, Dienstag in vierzehn Tagen? Aber warum antwortest du nicht? Guter Gott, John, was ist geschehen?«

John Sedley sprang aus seinem Stuhl auf, seiner Frau entgegen, die auf ihn zustürzte. Er nahm sie in die Arme und sagte hastig: »Wir sind ruiniert, Mary. Wir müssen nun wieder von vorn anfangen, meine Liebe. Es ist das beste, du erfährst sofort alles.«

Als er sprach, zitterte er am ganzen Leibe und sank fast zu Boden. Er dachte, die Nachricht würde seine Frau überwältigen, diese Frau, der er nie ein hartes Wort gegeben [248] hatte. Aber nun war er am tiefsten erschüttert, so plötzlich auch der Schlag für sie kam. Als er in seinen Stuhl zurücksank, übernahm seine Frau das Trösteramt. Sie ergriff seine zitternden Hände, küßte sie und legte sie um ihren Hals; sie nannte ihn ihren John ... ihren lieben John ... ihren alten Mann ... ihren guten alten Mann; sie ergoß hundert unzusammenhängende Worte der Liebe und Zärtlichkeit über ihn, ihre treue Stimme und ihre schlichten Liebkosungen entzückten und quälten dieses betrübte Herz zugleich und erleichterten und trösteten seine beladene Seele.

Nur einmal im Laufe der langen Nacht, als sie beieinandersaßen und der arme Sedley in einer Generalbeichte seine verschlossene Seele auftat und die Geschichte seiner Verluste und Verlegenheiten erzählte – den Verrat einiger seiner ältesten Freunde, die mannhafte Freundlichkeit anderer, von denen er es nie erwartet hätte –, nur einmal machte die treue Frau ihren Gefühlen Luft. »Mein Gott, mein Gott! Es wird Emmy das Herz brechen«, sagte sie.

Der Vater hatte das arme Mädchen vergessen. Sie lag unglücklich oben in ihrem Zimmer wach. Umgeben von Freunden und gütigen Eltern, war sie in ihrem eigenen Hause einsam. Wie vielen Menschen kann man alles erzählen? Wer ist offen, wo er keinem Mitgefühl begegnet, oder wer kann schon mit denen sprechen, die doch kein Verständnis haben? So war unsere sanfte Amelia einsam. Sie hatte keine Vertraute mehr, seitdem sie etwas anzuvertrauen hatte. Ihrer alten Mutter konnte sie mit ihren Zweifeln und Sorgen nicht kommen, und ihre sogenannten Schwestern schienen ihr jeden Tag fremder. Sie hatte auch Ahnungen und Befürchtungen, die sie sich selbst nicht einzugestehen wagte, obwohl sie insgeheim dauernd darüber brütete.

Ihr Herz suchte ihr fortwährend zu versichern, daß George Osborne ihrer würdig und ihr treu sei, ob gleich sie es anders wußte. Wie vieles hatte sie gesagt, ohne ein Echo von ihm zu vernehmen. Wie oft mußte sie dem Verdacht der Selbstsucht [249] und der Gleichgültigkeit begegnen und ihn hartnäckig niederkämpfen. Wem konnte die arme kleine Märtyrerin diese tagtäglichen Kämpfe und Qualen anvertrauen? Ihr Held selbst verstand sie nur halb. Sie wagte es nicht, sich zu gestehen, daß der Mann ihrer Liebe ihr unterlegen war; sie wollte nicht fühlen, daß sie ihr Herz zu schnell verschenkt hatte. Da dies nun aber einmal geschehen war, so war das reine, schamhafte Mädchen zu bescheiden, zu zärtlich, zu vertrauensvoll, zu schwach, zu sehr Frau, um es wieder zurückzunehmen. Wir gehen mit der Liebe unserer Frauen wie die Türken um und haben sie zur Anerkennung unserer Lehre gezwungen. Wir lassen ihren Körper frei umhergehen, sie dürfen lächeln und Locken und rosa Hüte tragen, anstatt sich hinter Schleier und Jaschmak 7 zu verbergen. Aber ihre Seele darf nur von einem einzigen Mann gesehen werden, und sie gehorchen nicht ungern und sind einverstanden, als unsere Sklavinnen zu Hause zu bleiben, uns zu bedienen und sich für uns abzuplagen.

So gefangen und gequält war dieses sanfte Herzchen, als im März Anno Domini 1815 Napoleon in Cannes landete, Ludwig XVIII. 8 floh, ganz Europa in Unruhe versetzt wurde, die Aktien fielen und der alte John Sedley ruiniert wurde.

Wir wollen dem würdigen alten Börsenmakler nicht durch die letzten Qualen und Kämpfe des Ruins folgen, bis sein geschäftlicher Tod eintrat. Er wurde auf der Börse als zahlungsunfähig ausgehängt, er blieb von seinem Kontor weg, seine Wechsel wurden protestiert, sein Bankrott wurde in aller Form ausgesprochen. Das Haus und die Einrichtung am Russell Square wurden beschlagnahmt und verkauft und er und seine Familie daraus vertrieben, wie wir gesehen haben. Sollten sie sehen, wo sie nun blieben.

John Sedley brachte es nicht übers Herz, die Dienstboten des Hauses, die dann und wann in unserer Geschichte aufgetreten sind, noch einmal zu sehen, nachdem er sie nun, durch Armut gezwungen, entlassen mußte. Der Lohn wurde [250] diesen guten Leuten mit jener Pünktlichkeit ausgezahlt, die man häufig bei Leuten findet, welche große Summen schulden. Es tat ihnen sehr leid, gute Stellungen aufgeben zu müssen, aber es brach ihnen nicht das Herz, sich von ihren angebeteten Herrschaften zu trennen. Das Kammermädchen unserer Amelia war zwar verschwenderisch mit Beileidsbezeigungen, ging aber ganz gelassen davon, um sich in einem vornehmeren Stadtteil zu verbessern. Der schwarze Sambo beschloß mit der Verblendung seines Standes, ein Wirtshaus zu eröffnen. Nur die ehrliche Mrs. Blenkinsop, die Joes und Amelias Geburt sowie John Sedleys Werben um seine Frau erlebt hatte, wollte auch ohne Lohn bei ihnen bleiben, da sie in ihrem Dienst eine schöne Summe gespart hatte. Sie begleitete die gefallene Familie zu ihrem neuen und bescheidenen Zufluchtsort, wo sie sie eine Zeitlang brummend pflegte.

Unter allen Gegnern Sedleys bei den nun folgenden Verhandlungen mit seinen Gläubigern – Verhandlungen, die die Gefühle des gedemütigten alten Herrn so sehr quälten, daß er in sechs Wochen mehr alterte als während der verflossenen fünfzehn Jahre – schien der entschlossenste und hartnäckigste sein alter Freund und Nachbar John Osborne zu sein, John Osborne, dem er geholfen hatte, auf eigenen Füßen zu stehen, der ihm hundertmal zu Dank verpflichtet war und dessen Sohn Sedleys Tochter heiraten sollte. Schon einer dieser Gründe würde die Bitterkeit von Osbornes Gegnerschaft hinreichend erklären.

Wenn ein Mensch einem anderen, mit dem er später in Streit gerät, sehr verpflichtet ist, so macht ihn ein allgemeines Anstandsgefühl gleichsam zu einem weit schlimmeren Feind, als er einem bloßen Fremden gegenüber sein würde. Um in diesem Fall deine eigene Hartherzigkeit und Undankbarkeit zu erklären und zu rechtfertigen, mußt du das Verbrechen des anderen Teiles beweisen. Nicht du selbst bist selbstsüchtig, brutal und wütend beim Fehlschlagen einer Spekulation – [251] nein, nein, dein Partner hat dich durch niederträchtige Verräterei und in unehrlicher Absicht dazu verleitet. Ein bloßer Sinn für Konsequenz verpflichtet einen Ankläger, zu zeigen, daß der Gefallene ein Schurke ist – sonst ist er, der Ankläger, nämlich selbst ein Schuft.

Es ist eine allgemeine Regel, beruhigend für alle gestrengen Gläubiger, daß nämlich höchstwahrscheinlich kein Mensch, der sich in Verlegenheit befindet, vollkommen ehrlich ist. Er verhehlt immer etwas, übertreibt Glücksumstände, verheimlicht den wahren Stand der Dinge, sagt, bei ihm sei alles in Ordnung, wenn er gerade alle Hoffnung aufgegeben hat, trägt stets ein lächelndes Gesicht zur Schau (wahrhaftig, ein trauriges Lächeln!), während er am Rande des Bankrotts steht, möchte gern jeden Vorwand für einen Aufschub benutzen oder jede Art von Geld aufnehmen, um den unausbleiblichen Ruin noch einige Tage hinauszuschieben. »Nieder mit solcher Unehrlichkeit!« ruft der Gläubiger triumphierend und schmäht seinen sinkenden Feind noch. »Du Narr, warum klammerst du dich an einen Strohhalm?« fragt der kühle gesunde Menschenverstand den Ertrinkenden. »Du Schuft, warum scheust du dich, in der ›Gazette‹ zu erscheinen, wo du doch sowieso einmal hineinmußt?« schreit der Reichtum den armen Teufel an, der sich in diesem schwarzen Strudel abmüht. Wer hat nicht schon bemerkt, mit welchem Eifer sich die intimsten Freunde und die ehrlichsten Menschen verdächtigen und sich gegenseitig des Betruges beschuldigen, wenn sie sich wegen Geldsachen überwerfen. Alle tun es. Alle haben vermutlich recht, und die Welt ist ein Schurke.

Außerdem hatte Osborne noch das unerträgliche Bewußtsein, einst von Sedley Wohltaten empfangen zu haben. Das stachelte und ärgerte ihn, und so etwas vertieft die Feindschaft stets noch. Schließlich mußte er das Verhältnis zwischen Sedleys Tochter und seinem Sohn abbrechen. Und da die Sache schon sehr weit gediehen war und das Glück, ja vielleicht der gute Ruf des armen Mädchens auf dem Spiele [252] standen, so mußten wirklich zwingende Gründe für den Bruch ins Feld geführt werden, und John Osborne hatte zu beweisen, daß John Sedley wirklich ein ganz schlechtes Subjekt sei.

Bei den Gläubigerversammlungen trat John Osborne daher mit einer solchen Wut und Verachtung gegen Sedley auf, daß es dem ruinierten alten Manne fast das Herz brach. Von Stund an verbot er George jeglichen Umgang mit Amelia und bedrohte den jungen Mann mit seinem Fluch, falls er seinem Befehl zuwiderhandelte, und sprach von dem armen, unschuldigen Mädchen geringschätzig als von einem gemeinen und gerissenen Weibstück. Eine Hauptvoraussetzung für Haß und Zorn ist, daß man über den Verhaßten Lügen verbreiten und sie auch glauben muß, um, wie gesagt, konsequent zu sein.

Als der große Krach kam – die Verkündung des Ruins, der Auszug vom Russell Square und die Erklärung, daß zwischen ihr und George, zwischen ihr und der Liebe, dem Glück und dem Glauben an die Welt alles aus sei – ein brutaler Brief von John Osborne teilte ihr in wenigen Zeilen mit, daß das Verhalten ihres Vaters jede Verbindung zwischen den beiden Familien verbiete –, als die letzte Entscheidung kam, war sie nicht so erschüttert, wie ihre Eltern, oder vielmehr ihre Mutter, erwartet hatten, denn John Sedley selbst war völlig zerschmettert in den Trümmern seiner eigenen Angelegenheiten und seiner vernichteten Ehre. Amelia nahm die Nachricht bleich und ruhig auf. Es war ja nur die Bestätigung ihrer düsteren Ahnungen. Es war nur die Urteilsverkündung für das Verbrechen, dessen sie sich längst schuldig gemacht hatte, nämlich zu Unrecht, gegen alle Vernunft, leidenschaftlich zu lieben. Sie verriet jetzt ihre Gedanken ebensowenig wie früher. Jetzt, wo sie überzeugt war, daß alle Hoffnung geschwunden sei, schien sie kaum unglücklicher zu sein als früher, als sie fühlte, aber sich nicht einzugestehen wagte, daß alles vorbei sei.

[253] So zog sie ohne jede Äußerung aus dem großen Haus in das kleine, blieb meistens in ihrem Zimmerchen, härmte sich im stillen ab und welkte dahin. Ich will nicht sagen, alle Frauen seien so. Ich glaube nicht, daß Ihr Herz, meine liebe Miss Bullock, brechen würde! Sie sind ein vernünftiges junges Mädchen mit gesunden Grundsätzen. Ich will auch nicht sagen, daß meines brechen würde, es hat vieles erduldet und ist trotzdem am Leben geblieben. Aber es gibt solche Seelen, die so zart gebaut, so zerbrechlich, fein und empfindlich sind.

Sooft der alte John Sedley an die Angelegenheit zwischen George und Amelia dachte oder darauf anspielte, geschah es mit einer Bitterkeit, die der Mr. Osbornes kaum nachstand. Er verfluchte Osborne und seine Familie als herzlos, schurkisch und undankbar. Er schwor, keine Macht auf Erden könne ihn bewegen, seine Tochter an den Sohn so eines Halunken zu verheiraten, und er befahl Emmy, sich George aus dem Sinn zu schlagen und alle Geschenke und Briefe zurückzugeben, die sie je von ihm empfangen hatte.

Sie versprach, sich in ihr Schicksal zu fügen, und versuchte zu gehorchen. Sie packte die wenigen Schmucksachen zusammen und zog die Briefe aus ihrem Versteck und las sie noch einmal – als ob sie sie nicht schon auswendig gewußt hätte. Aber von ihnen konnte sie sich nicht trennen. Das war zuviel verlangt, sie steckte sie wieder in den Busen – so sieht man manchmal eine Frau ihr totes Kind herzen. Die junge Amelia fühlte, daß sie sterben oder den Verstand verlieren würde, wenn man ihr diesen letzten Trost entrisse. Wie sie jedesmal, wenn einer von diesen Briefen gekommen war, errötete und strahlte, wie schnell sie klopfenden Herzens wegtrippelte, um ihn ungestört lesen zu können! Waren sie kühl gehalten, so las sie diese liebevolle kleine Seele in Wärme um, waren sie kurz und egoistisch, fand sie immer wieder Entschuldigungen für den Schreiber!

Über diesen wenigen wertlosen Papieren brütete und brütete [254] sie nun. Sie lebte in der Vergangenheit – jeder Brief schien ihr ein Ereignis daraus zurückzurufen. Wie gut sie sich an alles erinnerte! Sein Blick und sein Ton, seine Kleidung, was er sagte und wie er es sagte – diese Reliquien und Erinnerungsstücke einer toten Neigung waren alles, was ihr auf der Welt verblieben war. Und ihre Lebensaufgabe war nun, den Leichnam der Liebe zu bewachen.

Dem Tode sah sie mit unaussprechlichem Verlangen entgegen. Dann, dachte sie, werde ich stets bei ihm sein, werde ich ihm stets folgen. – Ich lobe ihr Betragen nicht, und ich will es Miss Bullock keineswegs als nachahmenswertes Beispiel hinstellen. Miss B. versteht besser, ihre Gefühle zu beherrschen, als dieses arme kleine Geschöpf. Miss B. hätte sich nie so kompromittiert wie die unvorsichtige Amelia, hätte nie ihre Liebe verpfändet und ihr Herz offenbart und verschenkt, ohne etwas anderes dafür zu erhalten als ein unsicheres Versprechen, das in einem Augenblick gebrochen und wertlos war. Eine lange Verlobung ist eine Gemeinschaft, bei der ein Partner nach eigenem Willen sein Wort halten oder brechen kann, in der aber das ganze Kapital des anderen steckt.

Seid daher vorsichtig, ihr jungen Damen! Seid wachsam, wie ihr euch bindet! Hütet euch, aufrichtig zu lieben, verratet nie alle eure Gefühle oder (noch besser) fühlt sehr wenig! Beachtet die Folgen der vorschnellen Ehrlichkeit und des Vertrauens! Mißtraut euch selbst und allen anderen! Verheiratet euch am besten wie in Frankreich, wo Advokaten Brautjungfern und Vertraute sind. Auf jeden Fall hütet euch vor Gefühlen, die euch unbequem werden können, und vor Versprechungen, die ihr nicht ständig in der Gewalt habt und zurückziehen könnt. Das ist der Weg, auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit sein Glück zu machen, sich Achtung zu verschaffen und einen tugendhaften Charakter zu erhalten.

Hätte Amelia diese Kommentare hören können, die die Kreise, aus denen der Ruin ihres Vaters sie gerade vertrieben [255] hatte, über sie machten, so hätte sie erfahren, welche Verbrechen sie begangen hatte und wie sehr ihr guter Ruf gefährdet war. Von solch einer verbrecherischen Unklugheit hatte Mrs. Smith noch nie gehört, solche abscheulichen Vertraulichkeiten hatte Mrs. Brown stets verdammt, und das Ende sollte nun ihren Töchtern als warnendes Beispiel dienen. »Hauptmann Osborne kann natürlich die Tochter eines Bankrotteurs nicht heiraten«, sagten die beiden Miss Dobbin. »Es ist schon genug, von dem Vater beschwindelt zu werden. Und die kleine Amelia hat in ihrer Torheit alles überschritten, was ...«

»Alles, was?« brüllte Hauptmann Dobbin. »Waren sie nicht schon von Kindheit an miteinander verlobt? War es nicht so gut wie eine Ehe? Wagt jemand, auch nur ein Wort gegen das lieblichste, reinste, zärtlichste, engelhafteste aller Mädchen zu sagen?«

»Ach Gott, William, sei doch nicht zu rabiat gegen uns. Wir sind doch keine Männer. Wir können uns nicht mit dir schlagen«, sagte Miss Jane. »Wir haben doch nichts gegen Miss Sedley gesagt, bloß daß sie sich eben sehr unvorsichtig benommen hat, um es mal ganz harmlos auszudrücken, und daß ihre Eltern Leute sind, die ihr Unglück verdient haben.«

»Willst du ihr nicht lieber selbst einen Heiratsantrag machen, wo sie doch jetzt frei ist, William?« fragte Miss Ann sarkastisch. »Das wäre doch eine angemessene Familienverbindung. Haha!«

»Ich sie heiraten!« sagte Dobbin schnell, wobei er tief errötete. »Wenn ihr, meine jungen Damen, so schnell dabei seid, eure Meinung andauernd zu ändern, glaubt ihr dann, daß sie es auch ist? Lacht und spottet nur über diesen Engel! Sie kann es ja nicht hören, und sie ist elend und unglücklich und verdient, daß man sie auslacht. Mach nur weiter mit deinem Ulk, Ann. Du bist der Witzbold der Familie, und die anderen hören es gern.«

[256] »Ich muß dir abermals sagen, daß wir hier nicht in der Kaserne sind, William«, bemerkte Miss Ann.

»In der Kaserne, beim Zeus – ich wollte, es würde einer in der Kaserne so reden wie ihr«, brüllte der aufgestörte britische Löwe. »Soll mir bloß einer auch nur ein Wort gegen sie flüstern, beim Zeus. Aber Männer reden nicht so wie du, Ann, nur Weiber stecken die Köpfe zusammen und zischeln und kreischen und schnattern. Ach, macht, daß ihr wegkommt, und fangt nicht an zu heulen. Ich habe doch bloß gesagt, daß ihr ein paar Gänse seid«, sagte Will Dobbin, als er bemerkte, daß Miss Anns gerötete Augen wie üblich feucht wurden. »Ja doch, von mir aus, seid ihr eben keine Gänse, sondern Schwäne – alles, was ihr wollt. Nur laßt bitte, bitte Miss Sedley aus dem Spiel!«

Hatte man schon so etwas wie die Vernarrtheit Williams in das einfältige, kokettierende, himmelnde kleine Ding erlebt? fragten sich die Schwestern und die Mama, und sie zitterten vor Angst, daß Amelia, da die Verlobung mit Osborne ja nun gelöst war, ihren anderen Anbeter und Hauptmann erhören würde. Bei diesen Befürchtungen urteilten die würdigen jungen Damen ohne Zweifel aus eigener Erfahrung oder, richtiger gesprochen (da sie bisher noch keine Gelegenheit zum Heiraten oder Sitzenlassen gehabt hatten), nach ihren eigenen Ansichten über Recht und Unrecht.

»Man muß dem Himmel danken, Mama, daß das Regiment ins Ausland versetzt wird«, sagten die Mädchen. »Dann bleibt wenigstens diese Gefahr unserem Bruder erspart.«

So war es auch. Und daher kommt es, daß der französische Kaiser auftritt und eine Rolle in dieser Familienkomödie vom Jahrmarkt der Eitelkeit spielt, die wir jetzt aufführen und die ohne das Eingreifen dieser hohen stummen Figur nie auf die Bühne gekommen wäre. Er war es, der die Bourbonen und Mr. John Sedley ruinierte. Seine Ankunft in seiner Hauptstadt rief ganz Frankreich zu den Waffen, um ihn dort zu verteidigen, und ganz Europa, um ihn seiner Macht zu [257] entheben. Während die französische Nation und Armee auf dem Champ-de-Mai 9 auf den Adler den Treueid leisteten, setzten sich vier gewaltige europäische Heere zur großen chasse à l'aigle 10 in Bewegung. Eines dieser Heere war die britische Armee, zu der auch zwei unserer Helden, Hauptmann Dobbin und Hauptmann Osborne, gehörten.

Die Nachricht von Napoleons Flucht und Landung wurde von dem tapferen ...ten Regiment mit Jubel und Begeisterung begrüßt, was jeder begreift, der das berühmte Korps kennt. Vom Oberst bis zum kleinsten Regimentstrommler herab war alles voller Hoffnung, Ehrgeiz und patriotischer Wut. Sie waren dem französischen Kaiser dankbar wie für eine persönliche Gunstbezeigung, daß er gekommen war, um den Frieden Europas zu stören. Jetzt war endlich die Zeit gekommen, auf die das ...te Regiment lange sehnlichst gewartet hatte, wo sie ihren Waffenbrüdern zeigen konnten, daß sie zu kämpfen verstanden wie die Veteranen des Spanienkrieges und daß aller Mut und alle Tapferkeit des ...ten Regiments nicht von Westindien und dem gelben Fieber getötet worden war. Stubble und Spooney hofften, ihre Kompanie zu bekommen, ohne das Patent zu kaufen. Noch vor dem Ende des Feldzugs (an dem sie teilzunehmen beschloß) hoffte Majorin O'Dowd sich Frau Oberst O'Dowd schreiben zu können. Unsere beiden Freunde, Dobbin und Osborne, waren ebenso aufgeregt wie alle übrigen, und jeder war auf seine Weise entschlossen – Mr. Dobbin sehr ruhig, Mr. Osborne sehr laut und energisch –, seine Pflicht zu tun und seinen Teil an Ehre und Auszeichnung zu erringen.

Die Erregung, die nach dieser Nachricht die Armee und das ganze Land durchzitterte, war so groß, daß man Privatsachen kaum noch beachtete. Daher machten Ereignisse, die den gerade zum Hauptmann beförderten George Osborne in ruhigeren Zeiten sehr interessiert hätten, keinen großen Eindruck auf ihn, der mit den Vorbereitungen zum sicheren Marsch und Aussichten auf weitere Beförderung beschäftigt [258] war. Er war, wir müssen es bekennen, über das Mißgeschick des guten alten Mr. Sedley nicht sehr betrübt. An dem Tage, an dem die erste Gläubigerversammlung mit dem unglücklichen Herrn stattfand, probierte er gerade seine neue, kleidsame Uniform an. Sein Vater erzählte ihm von der boshaften, schurkischen, schändlichen Haltung des Bankrotteurs, erinnerte ihn an seine Worte über Amelia und wiederholte ihm, daß ihre Verbindung für immer abgebrochen sei. Am Abend gab er ihm eine beträchtliche Geldsumme, um die neuen Kleider und Epauletten zu bezahlen, in denen er so stattlich aussah. Geld konnte der freigebige junge Mann stets gebrauchen, und so nahm er es denn ohne viele Worte an. Die Aushänge waren am Sedleyschen Hause angebracht worden, wo er so viele, viele glückliche Stunden verlebt hatte. Er konnte sie im Mondschein weiß leuchten sehen, als er an jenem Abend von zu Hause zu Slaughter ging, wo er immer wohnte, wenn er in der Stadt war. Das gute, bequeme Haus war also für Amelia und ihre Eltern verschlossen, wo mochten sie wohl Zuflucht gesucht haben? Der Gedanke an ihren Ruin berührte ihn doch etwas. An diesem Abend war er im Kaffeezimmer von Slaughter sehr melancholisch und trank viel, wie seine Kameraden dort feststellten.

Bald kam Dobbin und warnte ihn, zuviel zu trinken, aber George meinte, daß er es nur tue, weil er verdammt trüber Stimmung sei. Als nun sein Freund jedoch begann, ungeschickte Fragen zu stellen, und sich bedeutungsvoll nach Neuigkeiten erkundigte, lehnte Osborne ab, sich mit ihm in ein Gespräch einzulassen, gab aber zu, daß er verteufelt unruhig und unglücklich sei.

Drei Tage darauf fand Dobbin den jungen Hauptmann Osborne in seinem Zimmer in der Kaserne – den Kopf auf dem Tisch, um ihn her eine Menge Papiere verstreut, offenbar in äußerst kleinmütiger Stimmung.

»Sie hat – sie hat mir ein paar Dinge zurückgeschickt, die ich ihr einmal geschenkt habe – ein bißchen verdammten [259] Flitterkram. Hier, siehst du!« Da war ein Päckchen, in wohlbekannter Handschrift an Hauptmann George Osborne adressiert, und einige Gegenstände rundum verstreut – ein Ring, ein silbernes Messer, das er ihr als Knabe auf einem Jahrmarkt gekauft hatte, eine goldene Kette und ein Medaillon mit einer Haarlocke.

»Es ist alles aus«, sagte er mit einem Seufzer bitterer Reue. »Da, sieh, Will, du kannst es lesen, wenn du willst.«

Er deutete auf ein Briefchen, in dessen wenigen Zeilen folgendes stand:


Mein Papa hat mir befohlen, Ihnen diese Geschenke zurückzugeben, die ich in glücklichen Tagen von Ihnen erhalten habe. Dies soll mein letzter Brief an Sie sein. Ich glaube, ja ich weiß, Sie werden den Schlag, der uns getroffen hat, ebenso fühlen wie ich. Ich selbst entbinde Sie von einem Verlöbnis, das in unserem gegenwärtigen Elend nicht aufrechtzuerhalten ist. Ich bin überzeugt, daß Sie weder daran noch an Mr. Osbornes grausamen Verdächtigungen teilhaben, die uns in all unserem Kummer am schwersten bedrücken. Leben Sie wohl. Leben Sie wohl. Ich flehe zu Gott, mir die Kraft zu geben, das und weiteres Elend ertragen zu können, und Sie stets mit seinem Segen zu überhäufen.

A.


Ich werde oft auf dem Klavier – Ihrem Klavier – spielen. Es sah Ihnen so ähnlich, es mir zu schicken.


Dobbin war sehr weichherzig. Beim Anblick leidender Frauen und Kinder schmolz er stets dahin. Der Gedanke, daß Amelia gramverzehrt und einsam sei, zerriß seine gute Seele vor Pein. Er geriet in eine Gefühlsaufwallung, die jeder, der Lust hat, als unmännlich betrachten mag. Er schwor, Amelia sei ein Engel, wozu Osborne von ganzem Herzen zustimmte. Auch er hatte seine und Amelias Lebensgeschichte an sich vorbeiziehen lassen und sie, von ihrer Kindheit [260] bis jetzt, so süß, so unschuldig, so bezaubernd einfach, liebevoll und zärtlich gesehen.

Welch ein Schmerz, dies alles nun verlieren zu müssen, es besessen und nicht gehörig geschätzt zu haben! Tausend liebliche Szenen und Erinnerungen drängten sich ihm auf, und stets sah er sie gut und schön vor sich. Er errötete vor Scham und Reue bei der Erinnerung an seine Selbstsucht und Gleichgültigkeit im Gegensatz zu ihrer vollkommenen Reinheit. Für eine Weile war Ruhm, Krieg und alles andere vergessen, und die beiden Freunde sprachen nur von ihr.

»Wo sind sie?« fragte Osborne nach einem langen Gespräch und einer langen Pause, und er war wirklich beschämt bei dem Gedanken, daß er keinerlei Schritte unternommen hatte, ihr zu folgen. »Wo sind sie? In dem Briefchen steht keine Adresse.«

Dobbin wußte es. Er hatte nicht nur das Klavier geschickt, sondern auch an Mrs. Sedley geschrieben und um Erlaubnis gebeten, sie besuchen zu dürfen, und er hatte sie und Amelia tags zuvor gesehen, ehe er wieder nach Chatham ging. Außerdem hatte er den Abschiedsbrief und das Päckchen überbracht, das sie beide so bewegt hatte.

Mrs. Sedley hatte den gutmütigen Burschen nur zu bereitwillig empfangen. Er fand sie sehr aufgeregt über das Eintreffen des Klaviers, das, wie sie vermutete, nur von George kommen konnte und ein Zeichen seiner Freundschaft war. Hauptmann Dobbin befreite die würdige Dame nicht von ihrem Irrtum und hörte sich mitfühlend ihre ganze Leidensgeschichte an, bedauerte ihre Verluste und Entbehrungen und tadelte, gleich ihr, Mr. Osbornes verwerfliches Verhalten gegenüber seinem ersten Wohltäter. Als sie ihr überströmendes Herz etwas erleichtert und einen großen Teil ihrer Sorgen vor ihm ausgeschüttet hatte, faßte er wirklich Mut, zu fragen, ob er Amelia sehen dürfte, die, wie gewöhnlich, oben in ihrem Zimmerchen war und zitternd von der Mutter herabgeführt wurde.

[261] Sie sah so totenblaß aus und blickte so verzweifelt, daß der ehrliche William Dobbin bei ihrem Anblick erschrak und in dem bleichen, starren Gesicht die schlimmsten Vorzeichen las. Nachdem sie ein paar Minuten mit ihm gesessen hatte, drückte sie ihm das Päckchen in die Hand und bat:

»Bringen Sie das bitte Hauptmann Osborne und – und ich hoffe, es geht ihm gut – und es war sehr freundlich von Ihnen, uns zu besuchen – und unser neues Haus gefällt uns sehr. Und ich – ich glaube, ich werde wieder hinaufgehen, Mama, ich fühle mich etwas schwach.«

Damit ging das arme Kind knicksend und lächelnd davon. Als die Mutter Amelia hinaufführte, warf sie einen ängstlichen Blick auf Dobbin. Einer solchen Aufforderung bedurfte es bei dem guten Burschen nicht. Dafür liebte er sie selbst viel zu zärtlich. Unaussprechlicher Kummer, Mitleid, Schrecken verfolgten ihn, als er, nachdem er sie gesehen hatte, wie ein Verbrecher davonschlich.

Als Osborne hörte, daß sein Freund sie gefunden hatte, erkundigte er sich warm und ängstlich nach dem armen Kind. Wie ging es ihr? Wie sah sie aus? Was sagte sie? Der Kamerad ergriff seine Hand und blickte ihm ins Gesicht.

»George, sie stirbt«, sagte William Dobbin. Er konnte nicht weitersprechen.


In dem Häuschen, wo Familie Sedley Zuflucht gefunden hatte, gab es ein dralles irisches Dienstmädchen, das alle Hausarbeit tat. Dieses Mädchen hatte sich während der vergangenen Tage vergeblich bemüht, Amelia Hilfe oder Trost zu geben. Emmy aber war viel zu traurig, um auf sie zu hören, und bemerkte nicht einmal die Versuche der anderen, sie aufzuheitern.

Vier Stunden nach dem Gespräch zwischen Dobbin und Osborne kam dieses Dienstmädchen in Amelias Zimmer, wo sie wie gewöhnlich über ihren Briefen, ihren kleinen Schätzen, brütete. Das Mädchen lächelte und machte mit schlauer und [262] glücklicher Miene allerlei Versuche, die Aufmerksamkeit der armen Emmy zu erwecken. Aber diese nahm keinerlei Notiz von ihr.

»Miss Emmy!« sagte das Mädchen.

»Ich komme gleich«, sagte Emmy, ohne sich umzusehen.

»Ich habe etwas auszurichten«, fuhr das Dienstmädchen fort. »Da ist etwas – jemand – hier ist ein neuer Brief für Sie – lassen Sie doch die Leserei von den alten sein.« Und sie reichte ihr einen Brief. Emmy nahm ihn und las.

»Ich muß Dich sehen«, sagte der Brief. »Liebste Emmy – mein Liebling – meine liebe, kleine Frau, komm zu mir.«

George und ihre Mutter standen vor der Tür und warteten, bis sie den Brief gelesen hatte.

Fußnoten

1 Als Napoleon I. auf Elba erfuhr, daß unter der Bourbonenherrschaft die Unzufriedenheit des französischen Volkes immer mehr wuchs, verließ er Ende Februar 1815 mit etwa 1000 Soldaten die Insel, ging im Golfe Juan bei Cannes in Südfrankreich an Land und zog am 20. 3. 1815 wieder in Paris ein, während der Wiener Kongreß (s. Anm. Spekulanten, die sich in Wien versammelt hatten zu S. 397) noch tagte.

2 Charles-Maurice Herzog von Talleyrand, Fürst von Benevent (1754-1838), französischer Staatsmann; nahm als Außenminister Frankreichs am Wiener Kongreß teil.

3 Klemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich (1773 bis 1859), reaktionärer österreichischer Staatsmann; nahm als Vertreter Österreichs am Wiener Kongreß teil.

4 Karl August Fürst von Hardenberg (1750 bis 1822), preußischer Staatsmann; nahm als Vertreter Preußens am Wiener Kongreß teil.

5 Charles Stewart-Vane, Marquis von Londonderry (1778-1854), englischer General und Diplomat; nahm als Vertreter Englands am Wiener Kongreß teil.

6 (franz.) Großer Gott.

7 Gesichtsschleier wohlhabender türkischer Frauen.

8 Siehe Anm. König von Frankreich zu S. 439.

9 (franz.) Maifeld. – Versammlungsort in Paris.

10 (franz.) Adlerjagd. – Unter Napoleon I. war der Adler das Heereszeichen Frankreichs.

19. Kapitel
Miss Crawley in Pflege

Wir haben gesehen, daß Mrs. Firkin, die Kammerfrau, sich verpflichtet fühlte, jedesmal, wenn sie ein für die Familie Crawley wichtiges Ereignis erfuhr, es Mrs. Bute Crawley im Pfarrhaus mitzuteilen. Wir haben weiter oben auch erwähnt, wie freundlich und aufmerksam diese gutmütige Dame gegen Miss Crawleys vertrauenswürdigen Butler war, und auch für Miss Briggs, die Gesellschaftsdame, war sie stets eine gütige Freundin gewesen und hatte sich deren Wohlwollen durch eine Unzahl von Aufmerksamkeiten und Versprechungen erworben, die den Spender so wenig kosten und dem Empfänger doch so angenehm und wertvoll sind. Jede sparsame Hausfrau sollte wissen, wie wohlfeil und doch gern gesehen solche Erklärungen sind und welchen Wohlgeschmack sie der einfachsten Speise im Leben verleihen. Wer war bloß der Dummkopf, der das Sprichwort »Schöne Worte machen den Kohl nicht fett« erfand? Ich sage dagegen, die Hälfte allen [263] Kohls der Gesellschaft wird mit keiner anderen Zutat angerichtet und serviert. Wie der unsterbliche Alexis Soyer 1 eine köstlichere Suppe für einen halben Penny zubereiten kann als ein schlechter Koch, der Fleisch und Gemüse pfundweise verbraucht, ebenso kann ein geschickter Künstler mit ein paar einfachen, gefälligen Redensarten mehr ausrichten als ein bloßer Stümper mit einem ganzen Vorrat von wirklichen Wohltaten. Ja, wir wissen sogar, daß wirkliche Wohltaten einige Mägen oft zum Erbrechen reizen, während die meisten jede Menge schöner Worte gut verdauen und immer noch mehr von dieser Kost verlangen. Mrs. Bute hatte der Briggs und der Firkin so oft ihre große Zuneigung beteuert und ihnen erzählt, was sie alles für so vortreffliche und ergebene Freundinnen tun würde, besäße sie nur Miss Crawleys Vermögen, daß die fraglichen Damen sie sehr schätzten und ihr ebensoviel Dankbarkeit und Vertrauen entgegenbrachten, als hätte Mrs. Bute sie mit kostspieligen Gunstbezeigungen überhäuft.

Rawdon Crawley allerdings, dieser selbstsüchtige, schwerfällige Dragoner, gab sich nie Mühe, sich bei den Adjutanten seiner Tante angenehm zu machen. Er legte seine Verachtung für die beiden ganz offen an den Tag, ließ sich einmal von der Firkin die Stiefel ausziehen, schickte sie ein andermal im Regen mit entwürdigenden Aufträgen weg, und gab er ihr schon mal eine Guinee, so warf er sie ihr zu wie eine Ohrfeige. Da die Tante die Briggs auch zur Zielscheibe ihres Spottes machte, so folgte der Hauptmann ihrem Beispiel und zielte mit seinen Späßen auf sie – Späßen, so zart wie der Hufschlag seines Pferdes. Mrs. Bute dagegen zog sie in schwierigen Angelegenheiten oder in Fragen des Geschmacks zu Rate, bewunderte ihre Gedichte und bewies durch tausend höfliche und freundliche Taten, wie sehr sie die Briggs schätzte. Und wenn sie der Firkin ein Geschenk von ein paar Pennys machte, so tat sie es mit so vielen Komplimenten, daß sich die wenigen Pennys im Herzen der dankbaren [264] Kammerfrau in pures Gold verwandelten. Außerdem wartete die Firkin geduldig auf einen erstaunlichen Glücksumstand, der sich an dem Tage ereignen mußte, wo Mrs. Bute ihr großes Erbe antreten würde.

Ich erlaube mir, Menschen, die in die Welt eintreten, ergebenst auf das unterschiedliche Benehmen dieser beiden Leute aufmerksam zu machen. Ich rate ihnen: Lobt jedermann, seid nie zurückhaltend, sondern sagt einem Menschen eure Komplimente gerade ins Gesicht und hinter seinem Rücken dann, wenn ihr annehmt, es besteht die Möglichkeit, daß sie ihm zu Ohren kommen. Laßt nie eine Gelegenheit vorübergehen, ein freundliches Wort anzubringen. Wie Collingwood auf seinem Gut nie eine leere Stelle sehen konnte, ohne eine Eichel aus der Tasche zu ziehen und sie in die Erde zu stecken, so haltet es auch euer Leben lang mit den Komplimenten. Eine Eichel kostet nichts, kann aber zu einer riesigen Menge Bauholz werden.

Mit einem Wort, solange es Rawdon Crawley gut ging, gehorchte man ihm nur mürrisch. Als er nun in Ungnade fiel, war niemand da, um ihm zu helfen oder ihn zu bemitleiden. Dagegen als Mrs. Bute in Miss Crawleys Haus das Kommando übernahm, war die Besatzung ganz entzückt, unter solch einem Kommandeur zu stehen, und versprach sich alle erdenklichen Vorteile von ihren Versprechungen, ihrem Edelmut und ihren freundlichen Worten.

Mrs. Bute Crawley glaubte nie, daß Rawdon sich nach einer einzigen Niederlage besiegt erklären und keinen weiteren Versuch unternehmen würde, die verlorene Stellung wiederzuerobern. Sie kannte Rebekka als zu klug, zu mutig und zu rücksichtslos, um sich der Hoffnung hinzugeben, daß sich die junge Frau kampflos in ihr Schicksal fügen würde, und sie fühlte, daß sie sich für diesen Kampf vorbereiten und auf der Hut sein müsse gegen jeden Angriff, jede Mine und jeden Überfall.

War sie aber, obwohl sie die Stadt besetzt hielt, der Hauptbewohnerin [265] so sicher? Würde Miss Crawley selbst aushalten? Trug sie nicht ein heimliches Verlangen, den vertriebenen Gegner wieder bei sich willkommen zu heißen? Die alte Dame hatte Rawdon gern und auch die unterhaltsame Rebekka. Mrs. Bute mußte zugeben, daß von ihrer Partei keiner imstande war, die Lebedame zu amüsieren. Der Gesang meiner Mädchen, das weiß ich sicher, ist im Vergleich mit dem der abscheulichen kleinen Gouvernante unerträglich, gestand sich die aufrichtige Pfarrersfrau selbst ein. Wenn Martha und Louisa ihre Duette spielten, ist sie immer eingeschlafen. Jims steifes Universitätsbenehmen und die Unterhaltung mit dem armen lieben Bute über seine Pferde und Hunde langweilten sie stets. Nähme ich sie mit ins Pfarrhaus, so würde sie ganz bestimmt auf uns alle böse werden und flüchten, und dann könnte sie wieder in die Klauen des abscheulichen Rawdon fallen und ein Opfer dieser kleinen Schlange werden. Immerhin ist mir klar, daß sie sich sehr schlecht fühlt und sich auf jeden Fall ein paar Wochen nicht rühren wird. Während dieser Zeit müssen wir irgendeinen Plan aushecken, um sie vor den Ränken dieser charakterlosen Leute zu schützen.

Wenn jemand Miss Crawley, sogar in ihren besten Augenblicken, zu verstehen gab, sie sei krank oder sehe so aus, dann schickte die zitternde alte Dame auf der Stelle nach ihrem Doktor. Daß es ihr nach dem plötzlichen Familienereignis, das auch stärkere Nerven als ihre erschüttert hätte, wirklich sehr schlecht ging, kann man wohl sagen. Mrs. Bute hielt es wenigstens für ihre Pflicht, den Arzt, den Apotheker, die dame de compagnie und die Dienstboten wissen zu lassen, daß Miss Crawleys Zustand überaus kritisch sei und daß man sich dementsprechend zu benehmen habe. Sie ließ die Straße kniehoch mit Stroh bestreuen, den Türklopfer abnehmen und ihn mit Mr. Bowls' Silbergeschirr wegpacken. Sie bestand darauf, daß der Doktor täglich zweimal kam, und überschwemmte ihre Patientin alle zwei Stunden mit Arzneien. Trat jemand ins Zimmer, so ließ sie ein so zischendes, unheilverkündendes [266] »schschsch« hören, daß die arme alte Dame vor Schreck im Bett zusammenfuhr. Miss Crawley konnte nicht hochblicken, ohne Mrs. Butes eifrig auf sie gerichteten Perlenaugen zu begegnen, da die gute Frau den Armsessel neben dem Bett auch nicht eine Sekunde verließ. Wenn Mrs. Bute im Zimmer wie auf samtenen Katzenpfoten umherging, schienen die Augen sogar im Dunkeln zu leuchten (die Vorhänge hielt sie nämlich ständig zugezogen). So lag Miss Crawley tagelang, viele, viele Tage, und Mrs. Bute las ihr aus Andachtsbüchern vor. So lag sie nächtelang, viele, viele Nächte, in denen sie den Ruf des Nachtwächters hörte und sah, wie das Nachtlicht sprühte. Um Mitternacht kam als letzter Besuch leise der Apotheker, und dann war sie allein mit Mrs. Butes funkelnden Augen und dem gelben Flackern des Nachtlichtes an der eintönigen düsteren Zimmerdecke. Hygieia 2 selbst wäre unter einer solchen Herrschaft krank geworden, wieviel mehr dann erst dieses arme, alte nervenschwache Opfer! Wir haben festgestellt, daß die würdige Bewohnerin des Jahrmarkts der Eitelkeit, wenn sie gesund und munter war, so freie Ansichten über Religion und Moral hatte, wie Monsieur de Voltaire sie sich selbst hätte wünschen können; sobald sie aber krank wurde, verschlimmerte sich ihr Zustand durch die entsetzlichsten Todesschrecken, und die alte Sünderin wurde ausgesprochen feige.

Predigten am Krankenbett und fromme Betrachtungen sind in einem reinen Geschichtenbuch bestimmt fehl am Platze, und wie beabsichtigen nicht (wie manche moderne Romanschreiber), den Leser zu beschwatzen, eine Predigt anzuhören, wenn er für eine Komödie bezahlt hat. Aber ohne predigen zu wollen, möchten wir doch bitten, die Wahrheit im Auge zu behalten und zu sehen, daß das Leben und Treiben und der Triumph, das Lachen und die Fröhlichkeit, die der Jahrmarkt der Eitelkeit öffentlich zeigt, dem Schauspieler nicht immer ins Privatleben folgen und daß ihn oftmals traurige Niedergeschlagenheit und verzweifelte Reue packen. Die [267] Erinnerung an die köstlichsten Bankette wird kranke Epikureer 3 wohl schwerlich aufheitern können. Erinnerungen an die hübschesten Kleider und glänzendsten Balltriumphe werden verwelkten Schönheiten stets nur wenig zum Trost dienen. Vielleicht bereitet es Staatsmännern in einer gewissen Periode ihres Lebens wenig Befriedigung, an die erfolgreichsten Abstimmungen zu denken, und der Erfolg und die Freude von gestern schrumpfen gewaltig zusammen, wenn ein gewisses (und trotzdem ungewisses) Morgen in Aussicht steht, mit dem wir doch alle früher oder später einmal rechnen müssen. O meine Mitbrüder im Narrenkleid! Gibt es nicht Augenblicke, wo einen die Luftsprünge, das Lachen und das Schellengeklingel anekeln? Mein liebenswürdiges Ziel, teure Freunde und Genossen, ist es, mit euch über dem Jahrmarkt zu gehen und die Buden und Schaustellungen zu durchforschen; und nach all dem Glanz, all dem Lärmen und all der Lustigkeit werden wir wieder heimkehren und dann im verborgenen höchst unglücklich sein.


Wenn mein armer Mann doch bloß einen Kopf auf den Schultern trüge, dachte Mrs. Bute Crawley bei sich, wie nützlich könnte er sich gerade jetzt der unglücklichen alten Dame machen! Er könnte sie zur Reue über ihre entsetzliche Freidenkerei bringen; er könnte sie bewegen, ihre Pflicht zu tun und diesen abscheulichen Verworfenen, der sich und seiner Familie Schande gemacht hat, zu verstoßen. Auch könnte er sie veranlassen, meinen lieben Mädchen und den beiden Jungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die ganz sicher jede Hilfe brauchen und verdienen, die ihre Verwandten ihnen geben können.

Da Haß gegen das Laster stets ein Schritt zur Tugend ist, versuchte Mrs. Bute Crawley ihrer Schwägerin einen gehörigen Abscheu vor Rawdon Crawleys vielfältigen Sünden einzuflößen. Die Frau seines Onkels verfaßte einen so ausführlichen Katalog davon, daß er ausgereicht hätte, ein ganzes [268] Regiment junger Offiziere zu verdammen. Hat ein Mensch im Leben ein Unrecht begangen, so wüßte ich nicht, wer schneller dabei wäre, seine Fehler der Welt zu verkünden, als die eigenen Verwandten. Mrs. Bute zeigte daher auch ein höchst lebhaftes Familieninteresse und eine genaue Kenntnis von Rawdons Lebensgeschichte. Sie wußte alle Einzelheiten jenes häßlichen Streites mit Hauptmann Firebrace, bei dem Rawdon, der von Anfang an im Unrecht war, den Hauptmann schließlich erschoß. Sie kannte die Geschichte von dem unglücklichen Lord Dovedale, dessen Mutter in Oxford ein Haus gemietet hatte, damit ihr Sohn dort ausgebildet werden konnte. Der Junge hatte vor seiner Ankunft in London noch nie eine Karte in der Hand gehabt, Rawdon aber, dieser abscheuliche Verführer der Jugend, lockte ihn in den »Kakaobaum«, machte ihn total betrunken und jagte ihm viertausend Pfund ab. Lebhaft und genau beschrieb sie den Schmerz der Familien auf dem Lande, die er ruiniert hatte, deren Söhne er in Unehre und Armut gestürzt, deren Töchter er verführt hatte. Sie kannte die armen Kaufleute, die durch seine Verschwendung an den Bettelstab kamen, die niederträchtigen Ränke und Spitzbübereien, mit denen er zu Werke ging, die erstaunlichen Lügen, mit denen er die edelmütigste aller Tanten hinters Licht führte, und die Undankbarkeit und den Spott, womit er deren Opfer vergalt. Alle diese Geschichten teilte sie Miss Crawley nach und nach mit, und zwar so ausführlich wie möglich. Sie hielt das für ihre Pflicht als Christin und Familienmutter und empfand keine Gewissensbisse oder Mitleid mit dem Opfer ihrer Zunge. Ja sie fand ihre Handlungsweise höchstwahrscheinlich ungemein verdienstvoll und tat sich auf die Entschlossenheit, mit der sie zu Werke ging, nicht wenig zugute. Man sage, was man will: Soll ein Mensch um seinen guten Ruf gebracht werden, so ist niemand geeigneter dazu als ein Verwandter. Dabei muß man zugeben, daß bei diesem elenden, unglückseligen Rawdon Crawley die bloße Wahrheit schon völlig ausgereicht [269] hätte und daß alle erfundenen Skandalgeschichten seiner Freunde eine durchaus überflüssige Mühe waren.

Da Rebekka nun auch zur Verwandtschaft gehörte, hatte sie natürlich ebenfalls teil an Mrs. Butes freundlichen Nachforschungen. Diese unermüdliche Wahrheitsverfechterin (sie hatte strengen Befehl gegeben, allen Abgesandten oder Briefen von Rawdon die Tür zu verschließen) nahm Miss Crawleys Kutsche und fuhr zu ihrer alten Freundin, Miss Pinkerton im Mi nerva-Haus, Chiswick Mall, der sie die schreckliche Nachricht von Hauptmann Rawdons Verführung durch Miss Sharp mitteilte und von der sie alle nur möglichen Einzelheiten über die Geburt und die frühere Geschichte der ehemaligen Gouvernante erfuhr. Die Freundin des großen Lexikographen hatte viel Wissenswertes auf Lager. Miss Jemima mußte die Quittungen und Briefe des Zeichenlehrers herbeiholen. Der eine war entstanden, als er gerade ins Schuldgefängnis geworfen werden sollte, in einem anderen bat er um Vorschuß, ein dritter war voll von Dankbarkeit für Rebekkas Aufnahme im Hause der Damen in Chiswick, und das letzte Dokument aus der Feder des unglücklichen Künstlers war das, worin er auf dem Totenbett sein verwaistes Kind Miss Pinkertons Schutz empfahl. In der Sammlung gab es auch kindliche Briefe und Bittschriften von Rebekka, in denen sie angelegentlich um Unterstützung für ihren Vater bat oder ihre Dankbarkeit ausdrückte. Vielleicht gibt es auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit keine besseren Satiren als eben Briefe. Nimm ein Bündel von denen, die dein lieber Freund dir vor zehn Jahren schrieb – dein lieber Freund, den du jetzt haßt. Schau dir den Stoß von deiner Schwester an; wie hingt ihr aneinander, bis ihr euch wegen der Erbschaft von zwanzig Pfund gestritten habt. Kram die Kinderbriefe deines Sohnes heraus, der dir später mit seinem selbstsüchtigen Ungehorsam fast das Herz gebrochen hat. Oder einen Stoß deiner eigenen, die unendliche Glut und ewige Liebe atmen und die dir deine Geliebte zurückschickte, als sie den Nabob heiratete[270] – deine Geliebte, die dich jetzt nicht mehr kümmert als die Königin Elisabeth. Gelübde, Liebesschwüre, Versprechungen, vertrauliche Mitteilungen, Dankbezeigungen – wie seltsam liest sich das nach einiger Zeit! Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit müßte es ein Gesetz geben, wonach jedes geschriebene Dokument (außer quittierten Rechnungen) nach einem angemessenen Zeitraum vernichtet werden soll. Die Quacksalber und Misanthropen, die ihre unzerstörbare japanische Tinte anpreisen, sollten samt ihren abscheulichen Erfindungen ins Jenseits befördert werden. Die beste Tinte für den Jahrmarkt der Eitelkeit wäre eine, die in wenigen Tagen vollständig verbliche und das Papier rein und weiß hinterließe, so daß man darauf an irgend jemand anderes schreiben könnte.

Von Miss Pinkertons Haus verfolgte die unermüdliche Mrs. Bute die Spur Sharps und seiner Tochter bis in die Wohnung in der Greek Street, die der verstorbene Maler innegehabt hatte und wo das Porträt der Hauswirtin in weißem Atlas und ihres Mannes mit Messingknöpfen, von Sharp als Ersatz für die Vierteljahresmiete gemalt, noch die Wände des Wohnzimmers zierten. Mrs. Stokes war sehr mitteilsam und er zählte ohne Umschweife alles, was sie über Mr. Sharp wußte, wie liederlich und arm er war, wie gutmütig und unterhaltsam, wie er unablässig von Gerichtsdienern und ungeduldigen Gläubigern verfolgt wurde, wie er, zum Entsetzen der Hauswirtin – obgleich sie das Weib nicht ausstehen konnte –, seine Frau erst ganz kurz vor ihrem Tode geheiratet hatte und was für eine komische, wilde kleine Dirne seine Tochter war, wie sie durch ihre Späße und ihre Nachäfferei alle zum Lachen brachte, wie sie den Gin aus dem Wirtshaus holte und wie sie in allen Ateliers des Stadtviertels bekannt war – kurz, Mrs. Bute erhielt einen ausführlichen Bericht über Eltern, Erziehung und Benehmen ihrer neuen Nichte, und Rebekka wäre kaum erfreut gewesen, hätte sie gewußt, daß man solche Nachforschungen über sie anstellte.

[271] Die Ergebnisse dieser fleißigen Untersuchungen wurden Miss Crawley natürlich nicht vorenthalten; Mrs. Rawdon Crawley war die Tochter einer Ballettänzerin. Sie hatte selbst getanzt. Sie hatte Malern Modell gestanden. Sie war erzogen worden, wie es der Tochter einer solchen Mutter anstand. Sie trank Gin mit ihrem Vater und so weiter und so fort. Ein verlorenes Frauenzimmer hatte einen verlorenen Mann geheiratet, und die Moral von Mrs. Butes Geschichte war, daß die Schlechtigkeit des Paares unverbesserlich sei und daß kein Mensch, der etwas auf sich hielt, je wieder Notiz von ihnen nehmen dürfe.

Dies war das Material, das die umsichtige Mrs. Bute in der Park Lane sammelte, sozusagen der Proviant und die Munition, um das Haus gegen die Belagerung zu befestigen, die Rawdon und seine Frau, soviel war ihr klar, gegen Miss Crawley durchführen würden.

Wenn in ihrem System ein Fehler zu finden war, so war es der, daß sie zu eifrig war. Sie tat des Guten zuviel. Zweifellos machte sie Miss Crawley kränker, als es nötig war. Und obgleich die alte Patientin sich ihrer Autorität unterwarf, so war das doch so quälend und streng für das Opfer, daß es bei der ersten besten Gelegenheit nur zu gern entfliehen würde. Geschickte Frauen, die Zierde ihres Geschlechts, Frauen, die alles für alle erledigen und so viel besser als die Betroffenen selbst wissen, was für ihre Nächsten gut ist, ziehen bisweilen nicht die Möglichkeit einer häuslichen Revolte in Betracht oder andere schlimme Folgen, die sich aus ihrer übertriebenen Autorität ergeben.

Mrs. Bute zum Beispiel ging, zweifellos mit den besten Absichten der Welt, in ihrer Überzeugung von der Krankheit der alten Dame so weit, daß sie sie beinahe in den Sarg brachte. Dabei rieb sie sich selbst auf und versagte sich um ihrer kranken Schwägerin willen Schlaf, Essen und frische Luft. Einmal zählte sie dem unvermeidlichen Apotheker, Mr. Clump, alle ihre Opfer und deren Folgen auf.

[272] »Ich habe es, mein lieber Mr. Clump«, sagte sie, »gewiß nicht an Anstrengungen fehlen lassen, um unserer lieben Patientin, die durch die Undankbarkeit ihres Neffen auf das Krankenlager geworfen wurde, wieder auf die Beine zu helfen. Vor persönlichen Unannehmlichkeiten weiche ich nie zurück, nie weigere ich mich, mich aufzuopfern.«

»Ihre Hingabe ist bewundernswert, das muß man gestehen«, sagte Mr. Clump mit einer tiefen Verbeugung, »aber ...«

»Seit meiner Ankunft habe ich kaum ein Auge zugetan. Schlaf, Gesundheit, jede Bequemlichkeit opfere ich meinem Pflichtgefühl. Als mein armer James die Windpocken hatte, durfte ihn da ein anderer pflegen? Nein.«

»Sie handelten wie eine vortreffliche Mutter, wie die beste aller Mütter, meine liebe Dame, aber ...«

»Als Familienmutter und Frau eines englischen Geistlichen glaube ich in aller Bescheidenheit, daß meine Grundsätze richtig sind«, sagte Mrs. Bute mit der glücklichen Feierlichkeit der Überzeugung, »und solange mir die Natur weiterhilft, werde ich nie, nie, Mr. Clump, den Posten der Pflicht verlassen. Andere mögen dieses graue, kummervolle Haupt aufs Krankenbett bringen« (dabei deutete Mrs. Bute mit einer Handbewegung auf eines von Miss Crawleys kaffeefarbenen Toupets, das auf einem Gestell im Ankleidezimmer ruhte), »ich aber werde es nie verlassen. Ach, Mr. Clump! Ich fürchte, ich weiß, daß dieses Krankenlager des geistlichen wie des ärztlichen Trostes bedarf.«

»Was ich gerade sagen wollte, meine liebe Dame«, fiel hier der entschlossene Clump noch einmal mit freundlicher Miene ein. »Was ich gerade sagen wollte, als Sie Gefühle äußerten, die Ihnen alle Ehre machen: Sie beunruhigen sich meiner Meinung nach wegen unserer gütigen Freundin ganz unnötig und opfern Ihre Gesundheit zu verschwenderisch in ihrem Dienste.«

»Ich würde mein Leben für meine Pflicht oder für einen Angehörigen meines Gatten opfern«, entgegnete Mrs. Bute.

[273] »Ja, Madame, wenn es nötig wäre, allein wir wollen nicht, daß Mrs. Bute Crawley zur Märtyrerin wird«, sagte Clump galant. »Sie können glauben, daß Doktor Squills und ich Miss Crawleys Zustand mit ängstlicher Sorgfalt untersucht haben. Wir sehen sie niedergeschlagen und angegriffen. Familienereignisse haben sie erschüttert ...«

»Ihr Neffe wird der Verdammnis anheimfallen«, rief Mrs. Crawley.

»... haben sie erschüttert. Und Sie erscheinen wie ein Schutzengel, meine liebe Dame, wie ein wahrer Schutzengel, das können Sie glauben, um sie im Unglück aufzurichten. Aber Doktor Squills und ich waren der Ansicht, daß der Zustand unserer liebenswürdigen Freundin nicht so ernst ist, daß sie unbedingt das Bett hüten muß. Sie ist zwar niedergeschlagen, aber diese Abgeschlossenheit trägt wahrscheinlich noch zu ihrer Niedergeschlagenheit bei. Sie sollte Abwechslung haben, frische Luft, Fröhlichkeit – die köstlichsten Arzneien der Pharmakologie«, sagte Mr. Clump lächelnd und zeigte seine schönen Zähne. »Lassen Sie sie aufstehen, liebe Dame, befreien Sie sie von ihrem Bett und ihrer Niedergeschlagenheit, bestehen Sie darauf, daß sie jeden Tag kurze Ausfahrten unternimmt. Das wird auch auf Ihre Wangen die Rosen zurückbringen, wenn ich das zu Mrs. Bute Crawley sagen darf.«

»Der Anblick ihres schrecklichen Neffen im Park, wo der Entsetzliche mit seiner unverschämten Spießgesellin herumfahren soll«, sagte Mrs. Bute und ließ damit die Katze der Selbstsucht aus dem Sack der Geheimnisse, »würde ihr einen solchen Schock verursachen, daß wir sie sofort ins Bett zurückbringen müssen. Sie darf nicht hinaus, Mr. Clump. Solange ich da bin, um über sie zu wachen, soll sie mir nicht aus dem Hause. Und was meine Gesundheit betrifft – was macht das schon? Freudig gebe ich sie hin, Sir, und opfere sie auf dem Altar der Pflicht.«

»Auf mein Wort, Madame«, sagte jetzt Mr. Clump geradeheraus, [274] »ich kann nicht für ihr Leben garantieren, wenn sie in diesem dunklen Zimmer eingesperrt bleibt. Sie ist so angegriffen, daß wir sie jeden Tag verlieren können. Und wenn Sie wollen, daß Hauptmann Crawley ihr Erbe wird, so verkünde ich Ihnen ganz offen, Madame, daß Sie Ihr Bestes tun, um ihm zu helfen.«

»Gütiger Himmel! Ist denn ihr Leben in Gefahr?« rief Mrs. Bute. »Warum, warum, Mr. Clump, haben Sie mir das nicht früher gesagt.«

Am Abend vorher hatten Clump und Doktor Squills (bei einer Flasche Wein im Hause von Sir Lapin Warren, dessen Gemahlin ihm eben ein dreizehntes Geschenk bescheren wollte) den Fall Miss Crawley besprochen.

»Na, Clump«, bemerkte Squills, »so eine kleine Harpyie 4, diese Frau aus Hampshire, die die alte Tilly Crawley mit Beschlag belegt hat. Verteufelt guter Madeira!«

»Was für ein Narr doch dieser Rawdon Crawley ist! Eine Gouvernante zu heiraten!« erwiderte Clump. »Das Mädchen hat aber auch etwas an sich.«

»Grüne Augen, weiße Haut, hübsche Figur, famose Frontalentwicklung«, bemerkte Squills. »Es ist tatsächlich etwas an ihr, aber Crawley ist wirklich ein Narr, Clump.«

»Ein verdammter Narr; war er schon immer«, erwiderte der Apotheker.

»Natürlich wirft ihn die alte Jungfer jetzt über Bord«, sagte der Doktor und setzte nach einer Pause hinzu: »Sie wird ganz schön was hinterlassen.«

»Hinterlassen?« sagte Clump lachend, »wegen der zweihundert pro Jahr möchte ich eigentlich nicht, daß sie jetzt schon zum Hinterlassen kommt.«

»Diese Frau aus Hampshire bringt sie in zwei Monaten unter die Erde, Clump, mein Junge, wenn sie bei ihr bleibt«, sagte Doktor Squills. »Alte Frau, starke Esserin, nervöse Patientin, Herzklopfen, Gehirndruck, Schlaganfall – und aus ist es. Erreiche, daß sie aufsteht, Clump, und ausgeht, sonst [275] bleiben für deine zweihundert pro Jahr bloß noch ein paar Wochen.«

Auf diesen Wink hin sprach der würdige Apotheker so offen mit Mrs. Bute Crawley.

Mrs. Bute hatte, solange die alte Dame unter ihrer Regierung im Bett lag und sonst niemand um sie war, öfter einen Angriff unternommen, um sie zu veranlassen, ihr Testament zu ändern. Aber Miss Crawleys gewöhnliche Todesfurcht vergrößerte sich bedeutend, sobald man ihr solche trübseligen Vorschläge machte. Mrs. Bute sah daher ein, daß sie ihre Patientin erst einmal wieder in fröhliche Stimmung versetzen und gesund werden lassen müsse, ehe sie hoffen könnte, das fromme Ziel, das sie im Auge hatte, zu erreichen. Die nächste Frage war, wohin man mit ihr fahren sollte. Der einzige Ort, an dem sie die abscheulichen Rawdons höchstwahrscheinlich nicht treffen würde, war die Kirche, und die langweilt sie nur, empfand Mrs. Bute ganz richtig. Dann dachte sie weiter: Wir müssen unsere schönen Londoner Vororte besuchen. Es heißt, sie seien die malerischsten der Welt; und so fühlte sie ein plötzliches Interesse für Hampstead und Hornsey und fand, daß Dulwich große Reize für sie habe. Sie verstaute ihr Opfer in der Kutsche und fuhr mit ihr in jene ländlichen Orte; dabei verkürzte sie auf diesen kleinen Reisen die Zeit mit Gesprächen über Rawdon und dessen Frau und erzählte der alten Dame allerlei Geschichten, die ihre Entrüstung gegen das verworfene Paar vergrößern konnten.

Vielleicht zog sie die Schlinge unnötig fest, denn obgleich sie Miss Crawley einen gehörigen Widerwillen gegen ihren ungehorsamen Neffen beibrachte, so fühlte die Patientin doch auch großen Haß und geheime Furcht gegenüber ihrer Peinigerin und sehnte sich, ihr zu entkommen. Nach kurzer Zeit empörte sie sich gegen Highgate und Hornsey und wollte in den Park. Mrs. Bute aber wußte, daß sie dort den abscheulichen Rawdon treffen würde, und sie hatte recht. Eines Tages tauchte auf dem Ring Rawdons Stanhope 5 auf,[276] Rebekka saß neben ihrem Mann. In dem feindlichen Wagen saß Miss Crawley auf ihrem gewöhnlichen Platz, Mrs. Bute zu ihrer Linken, der Pudel und Miss Briggs auf dem Rücksitz. Es war ein aufregender Augenblick, und Rebekkas Herz schlug schnell, als sie den Wagen erkannte. Und als die beiden Gefährte dicht aneinander vorbeifuhren, faltete sie die Hände und sah die alte Jungfer mit einer Miene schmerzerfüllter Anhänglichkeit und Hingabe an. Rawdon zitterte, und sein Gesicht hinter dem gefärbten Schnurrbart wurde puterrot. Nur die alte Briggs im anderen Wagen war bewegt und richtete die Augen groß und ängstlich auf ihre alten Freunde. Miss Crawleys Haube blieb beharrlich der Serpentine 6 zugewandt. Mrs. Bute war zufällig ganz entzückt von dem Pudel, nannte ihn ihren kleinen Liebling, ein nettes Zottelchen, ein hübsches Geschöpf und so fort. Die Wagen fuhren weiter, jeder in seiner Reihe.

»Verspielt, beim Zeus«, sagte Rawdon zu seiner Frau.

»Versuch es doch noch einmal, Rawdon«, antwortete Rebekka. »Könntest du nicht mit deinen Rädern in ihre fahren, Liebster?«

Zu diesem Manöver hatte Rawdon jedoch nicht genug Mut. Als die Wagen sich abermals begegneten, erhob er sich in seinem Stanhope, hob die Hand, um den Hut zu ziehen, und blickte angestrengt hinüber. Diesmal aber war Miss Crawleys Gesicht nicht abgewandt, sie und Mrs. Bute sahen ihrem Neffen voll ins Gesicht und schnitten ihn mitleidslos. Mit einem Fluch sank er auf seinen Sitz zurück, schwenkte aus dem Ring und raste verzweifelt nach Hause.

Für Mrs. Bute war das ein herrlicher und entscheidender Triumph. Allein sie fühlte doch die Gefahr mehrerer solcher Begegnungen, als sie die Nervosität Miss Crawleys bemerkte. Sie beschloß daher, daß es für die Gesundheit ihrer lieben Freundin durchaus notwendig sei, die Stadt für einige Zeit zu verlassen, und sie empfahl nachdrücklich Brighton.

Fußnoten

1 Alexis-Benoît Soyer (1809-1858), französischer Koch; ging nach der Julirevolution in Frankreich 1830 nach England; war in vielen Fürstenhäusern und in vornehmen Hotels tätig.

2 griechische Göttin der Gesundheit.

3 hier svw. Genußmensch.

4 in der griechischen Sage weibliches Ungeheuer; wurde als geflügeltes Wesen mit Vogelkrallen dargestellt; später Sinnbild für unersättliche Habsucht.

5 (engl.) leichter, offener vierrädriger Wagen.

6 Teich im Londoner Hydepark.

[277] 20. Kapitel
In dem Hauptmann Dobbin als Bote Hymens 1 auftritt

Ohne zu wissen wie, wurde Hauptmann William Dobbin der große Förderer, Ordner und Dirigent der Heirat George Osbornes mit Amelia. Ohne ihn wäre sie nie zustande gekommen, das mußte er sich selbst mit bitterem Lächeln gestehen. Ausgerechnet er war es, der für die Heirat sorgen mußte. Aber wenn diese Unterhandlung für ihn wirklich eine peinvolle Angelegenheit bedeutete, so war doch Hauptmann Dobbin gewohnt, jede Pflicht ohne viele Worte und langes Zögern zu erfüllen, und da er überzeugt war, daß Miss Sedley vor Kummer sterben würde, wenn sie diesen Mann nicht bekäme, so war er entschlossen, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um sie am Leben zu erhalten.

Ich will auf die Einzelheiten der Unterredung zwischen George und Amelia nicht eingehen, als dieser durch die Vermittlung seines Freundes, des ehrlichen Williams, zu den Füßen (oder dürfen wir sagen: in die Arme?) seiner Geliebten zurückgeführt wurde. Ein weit härteres Herz als Georges wäre geschmolzen beim Anblick des lieblichen Gesichtes, auf dem Schmerz und Verzweiflung ihre Spuren hinterlassen hatten, und bei den einfachen zärtlichen Worten, in denen sie ihre kleine herzzerbrechende Geschichte erzählte. Da sie aber nicht in Ohnmacht fiel, als die zitternde Mutter Osborne zu ihr führte, und da sie ihrem übermäßigen Schmerz erst Luft machen konnte, als sie den Kopf an die Schulter des Geliebten lehnte und dort eine Weile freigebig zärtliche und erfrischende Tränen weinte, dachte die alte Mrs. Sedley ebenfalls sehr erleichtert, es sei wohl das beste, die jungen Leute sich selbst zu überlassen. So ging sie hinaus, während Emmy unter Tränen demütig Georges Hand küßte, als wäre er ihr oberster Herr und Meister, sie aber ein schuldiges und unwürdiges Wesen, das seiner Gunst und Gnade bedürfe.

Diese Demut und süße, widerspruchslose Unterwerfung [278] rührten George Osborne ebenso, wie sie ihm schmeichelten. Er sah in dem einfachen, nachgiebigen, treuen Geschöpf eine Sklavin vor sich, und seine Seele erschauerte insgeheim in der Erkenntnis seiner Macht. Er wollte ein großmütiger Sultan sein und seine kniende Esther 2 aufheben und zur Königin machen. Auch ihre Traurigkeit und Schönheit rührten ihn. Daher tröstete er sie, richtete sie auf und verzieh ihr sozusagen. All ihre Hoffnungen und Gefühle, die dahinwelkten und vergingen, als sie von ihrer Sonne verbannt war, blühten plötzlich wieder, als ihnen das Licht zurückgegeben war. Man hätte an jenem Abend wohl schwerlich das kleine strahlende Gesicht auf Amelias Kissen als das gleiche wiedererkannt, das in der Nacht zuvor so bleich, leblos und gleichgültig für alles um sie her dort gelegen hatte. Das ehrliche irische Dienstmädchen bat, entzückt von der Veränderung, das plötzlich so rosig gewordene Gesicht küssen zu dürfen. Amelia schlang die Arme um den Hals des Mädchens und küßte sie aus tiefstem Herzen wie ein Kind. Sie war auch kaum mehr als ein Kind. In dieser Nacht war ihr Schlaf süß und erquickend wie selten – und welch ein Quell unaussprechlichen Glückes, als sie im Morgensonnenschein erwachte.

Heute kommt er wieder, dachte Amelia. Er ist der größte und beste aller Männer. In Wirklichkeit dachte auch George, er sei eines der edelmütigsten Geschöpfe auf der Welt und er bringe ein ungeheures Opfer, wenn er dieses junge Wesen heirate.

Während sie und Osborne oben ihr entzückendes Tête-à-tête hatten, sprachen die alte Mrs. Sedley und Hauptmann Dobbin über den Stand der Dinge sowie über die Aussichten und das künftige Leben der jungen Leute. Nachdem Mrs. Sedley nun die beiden Liebenden zusammengeführt und sie in inniger Umarmung zurückgelassen hatte, glaubte sie als echte Frau, daß keine Macht auf der Welt Mr. Sedley bewegen würde, der Heirat zwischen seiner Tochter und dem Sohn [279] eines Mannes zuzustimmen, der ihn so schändlich, böse und scheußlich behandelt hatte. Sie erzählte eine lange Geschichte von glücklicheren Tagen und früherem Glanz, als Osborne noch bescheiden in der New Road gelebt hatte und seine Frau nur zu glücklich gewesen war, ein paar von Joes Kindersachen zu bekommen, die Mrs. Sedley ihr bei der Geburt eines der Osborneschen Kinder geschenkt hatte. Die teuflische Undankbarkeit Osbornes hatte Mr. Sedley das Herz gebrochen, davon war sie überzeugt, und er würde nie, nie, nie, niemals in eine Heirat einwilligen.

»Dann müssen sie eben miteinander fliehen, Madame«, sagte Dobbin lachend, »müssen dem Beispiel von Hauptmann Rawdon Crawley und Miss Emmys Freundin, der kleinen Gouvernante, folgen.«

War es möglich? Niemals hätte sie ...! Mrs. Sedley war ganz aufgeregt über diese Nachricht. Sie wünschte, die Blenkinsop wäre da, um es ebenfalls zu hören, die Blenkinsop habe dieser Miss Sharp immer mißtraut. Ein Glück, daß Joe noch davongekommen war! Und nun beschrieb sie die bereits bekannten Liebesabenteuer zwischen Rebekka und dem Steuereinnehmer von Boggley Wollah.

Dobbin fürchtete allerdings Mr. Sedleys Zorn nicht so sehr wie den des anderen beteiligten Vaters, und er gestand sich, daß er erhebliche Zweifel und Besorgnisse hegte, wie sich der finstere alte Tyrann von einem Kaufmann am Russell Square verhalten werde. Er hat die Heirat entschieden verboten, dachte Dobbin. Er wußte, was für ein wilder, entschlossener Mann Osborne war und wie er zu seinem Wort stand. George darf nur dann auf Versöhnung hoffen, meinte sein Freund, wenn er sich in dem bevorstehenden Feldzug auszeichnet. Fällt er, so gehen beide. Zeichnet er sich nicht aus – was dann? Von seiner Mutter hat er etwas Geld, ich nehme an, genug, um den Majorsrang zu erwerben – oder aber er muß sein Offizierspatent verkaufen und sich in Kanada ansiedeln oder sich in einem Häuschen auf dem Lande [280] durchschlagen. Mit einer solchen Lebensgefährtin würde ihm selbst Sibirien nichts ausmachen, meinte Dobbin. Seltsamerweise dachte dieser weltfremde junge Mann auch nicht einen Augenblick daran, daß das Fehlen der nötigen Mittel, um eine hübsche Equipage zu halten, und das Fehlen eines Einkommens, um die Freunde anständig zu bewirten, eine Schranke zwischen George Osborne und Miss Sedley errichten könnte.

Diese gewichtigen Erwägungen ließen ihn auf eine baldige Heirat drängen. Wollte er etwa selbst, daß die Sache so schnell wie möglich erledigt würde, etwa in der Art von Menschen, die sich bei einem Todesfall mit dem Begräbnis beeilen oder bei einem Abschied auf Eile drängen? Sicher ist, daß Mr. Dobbin, nachdem er die Sache in die Hand genommen hatte, sehr eifrig zu Werke ging. Er stellte George eindringlich vor, wie notwendig es sei, schnell zu handeln. Er wies ihn auf die Aussichten einer Versöhnung mit seinem Vater hin, die durch eine günstige Erwähnung seines Namens in der »Gazette« herbeigeführt werden könnte. Wenn nötig, wollte er selbst hingehen und beiden Vätern mutig gegenübertreten. Auf jeden Fall aber ersuchte er George, die Sache zu erledigen, ehe der allgemein erwartete Marschbefehl käme, der das Regiment ins Ausland riefe.

Mit diesen Heiratsprojekten beschäftigt und mit Mrs. Sedleys Zustimmung und Billigung, der es nicht sonderlich darum zu tun war, die Sache ihrem Manne persönlich mitzuteilen, machte Mr. Dobbin sich auf, um John Sedley in seinem Aufenthaltsort in der City, dem Tapioka-Kaffeehaus, aufzusuchen, wohin der arme gebeugte alte Herr täglich ging, seitdem sein Kontor geschlossen war und das Schicksal ihn ereilt hatte. Dort schrieb und empfing er Briefe und bündelte sie zu geheimnisvollen Päckchen, von denen er stets einige in den Rocktaschen herumtrug. Ich kenne nichts Traurigeres als diese Geschäftigkeit und Geheimnistuerei bei einem ruinierten Mann, als diese Briefe von reichen Leuten, die er [281] einem zeigt, als diese abgegriffenen, schmierigen Dokumente voll Hilfeversprechen und Beileidsbezeigungen, die er einem schweigend vorlegt und auf die er seine Hoffnungen vom Wiederaufkommen und künftigen Glück baut. Dem verehrten Leser hat im Laufe seines Lebens zweifellos schon manch einer dieser unglücklichen Gesellen aufgelauert. Er zieht ihn in eine Ecke, holt einen Packen Papiere aus der weit offenstehenden Rocktasche, löst die Schnur, hält sie im Mund, wählt die schönsten Briefe aus und legt sie vor einen hin. Und wer kennt nicht den traurigen, gierigen, halb wahnsinnigen Blick, den seine hoffnungslosen Augen auf einen heften?

In solch einen Mann verwandelt, fand Dobbin den einst so blühenden, jovialen und reichen John Sedley. Sein Rock, sonst immer elegant und sauber, glänzte jetzt an den Nähten, und an den Knöpfen schimmerte das Kupfer durch. Sein Gesicht war eingefallen und unrasiert. Hemdkrause und Halstuch hingen schlaff unter der ausgebeutelten Weste herab. Wenn er in alten Zeiten die Jungen im Kaffeehaus freigehalten hatte, hatte er lauter als irgendein anderer gelacht und geschrien, und stets hatten alle Kellner bei ihm vollauf zu tun gehabt. Es war jetzt wirklich schmerzlich, zu sehen, wie demütig und höflich er gegenüber John vom Tapioka-Kaffeehaus war, einem triefäugigen alten Diener in dunklen Strümpfen und zerrissenen Tanzschuhen, dessen Geschäft darin bestand, den Gästen dieses trübseligen Gasthauses, wo sonst nichts verzehrt zu werden schien, Gläser voller Oblaten, zinnerne Tintenfässer und Papierbogen zu reichen. Der alte Sedley gab William Dobbin, den er in seinen jungen Jahren wiederholt beschenkt und der dem alten Herrn bei tausend Gelegenheiten zur Zielscheibe seines Witzes gedient hatte, zaghaft und demütig die Hand und nannte ihn »Sir«. Als der gebrochene alte Mann ihn so empfing und ansprach, bemächtigte sich William Dobbins ein Gefühl von Scham und Reue, als hätte er selbst irgendwie Schuld an dem Unglück, das Sedley so tief heruntergebracht hatte.

[282] »Es freut mich unendlich, Hauptmann Dobbin, Sie zu sehen«, sagte er nach einigen verstohlenen Blicken auf seinen Besuch (dessen schlanke Gestalt und dessen militärisches Aussehen einiges Leben in die Triefaugen des Kellners mit den zerrissenen Tanzschuhen brachte und die alte Dame in Schwarz aufgeweckt hatte, die zwischen alten, angeschlagenen Kaffeetassen an der Theke döste). »Wie geht es dem würdigen Alderman und der Lady, Ihrer vortrefflichen Mutter, Sir?« Beim Worte »Lady« blickte er sich nach dem Kellner um, als wollte er sagen: Hörst du, John, ich habe noch Freunde, und zwar Personen von Rang und Ruf. »Kommen Sie in Geschäftsangelegenheiten zu mir, Sir? Meine jungen Freunde Dale und Spiggot führen jetzt alle Geschäfte für mich, bis mein neues Kontor fertig ist; ich bin nämlich nur vorübergehend hier, wissen Sie, Hauptmann. Was können wir für Sie tun, Sir? Wollen Sie etwas zu sich nehmen?«

Stockend und stotternd beteuerte Dobbin, daß er weder Hunger noch Durst verspüre, daß er nicht geschäftlich gekommen sei, sondern nur, um zu fragen, ob es Mr. Sedley gut gehe, und um einem alten Freund die Hand zu drücken. Und er stellte verzweifelt die Wahrheit auf den Kopf, als er hinzufügte: »Meiner Mutter geht es gut – das heißt, sie war krank und wartet jetzt bloß auf den ersten schönen Tag, um auszugehen und Mrs. Sedley einen Besuch abzustatten. Wie geht es Mrs. Sedley, Sir? Hoffentlich ist sie wohlauf.« Hier hielt er inne und überlegte sich seine vollendete Heuchelei, denn der Tag war so schön, und die Sonne strahlte wie nur je in Coffin Court, wo das Tapioka-Kaffeehaus liegt. Und Mr. Dobbin erinnerte sich, daß er Mrs. Sedley noch vor einer Stunde gesehen hatte, als er Osborne in seiner Gig nach Fulham gefahren und dort tête-à-tête mit Miss Amelia zurückgelassen hatte.

»Meine Frau wird sich sehr freuen, Lady Dobbin zu sehen«, erwiderte Sedley und zog seine Papiere hervor. »Ich habe [283] hier einen sehr freundlichen Brief von Ihrem Vater, Sir, bitte, richten Sie ihm meine ehrerbietigsten Komplimente aus. Lady Dobbin wird unser Haus jetzt etwas kleiner vorfinden als das, in dem wir sonst unsere Freunde empfingen; aber es ist nett, und die Luftveränderung tut meiner Tochter gut, die in der Stadt etwas leidend – Sie erinnern sich doch der kleinen Emmy, Sir? –, ja sehr leidend war.«

Während der alte Herr sprach, irrten seine Augen umher, und wie er so dasaß und auf seine Papiere trommelte und mit der alten roten Schnur spielte, dachte er an etwas ganz anderes.

»Sie sind Militär«, fuhr er fort, »ich frage Sie, Bill Dobbin, hätte jemand ahnen können, daß der korsische Schurke je von Elba zurückkommen würde? Als die alliierten Monarchen im verflossenen Jahre hier waren und wir ihnen in der City ein Essen gaben, Sir, und den Tempel der Eintracht, das Feuerwerk und die chinesische Brücke im Sankt-James-Park sahen – konnte da ein vernünftiger Mensch denken, daß nicht wirklich Friede geschlossen sei, nachdem wir doch deswegen schon ein Tedeum gesungen hatten, Sir? Ich frage Sie, William, konnte ich vermuten, daß der Kaiser von Österreich ein verdammter Verräter sei – ein Verräter und nichts anderes? Ich will es nicht beschönigen – ein scheinheiliger, teuflischer Verräter und Intrigant, der die ganze Zeit über beabsichtigte, seinen Schwiegersohn zurückzuhaben. Und ich sage, Bonys Flucht von Elba war ein verdammter Betrug und ein Komplott, Sir, an dem die Hälfte der europäischen Mächte beteiligt war, um die Staatspapiere zu drücken und unser Land zu ruinieren. Deshalb bin ich hier, William. Deshalb steht mein Name in der ›Ga zette‹. Warum, Sir? Weil ich dem Kaiser von Rußland und dem Prinzregenten getraut habe. Sehen Sie her. Sehen Sie meine Papiere an. Sehen Sie, wie sie am ersten März standen, wie die französischen Fünfprozentigen standen, als ich sie erwarb. Und wie stehen sie jetzt? Das war ein abgekartetes Spiel, Sir, sonst wäre [284] der Schurke gewiß nie entkommen. Wo war der englische Kommissar, der ihn fliehen ließ? Man sollte ihn erschießen, Sir, sollte ihn vor ein Kriegsgericht stellen und erschießen, beim Zeus!«

»Wir werden Bony bald davonjagen, Sir«, sagte Dobbin, etwas beunruhigt von der Wut des alten Mannes, dessen Stirnadern zu schwellen begannen und der mit geballter Faust auf seine Papiere trommelte. »Wir werden ihn bald davonjagen, Sir, der Herzog ist bereits in Belgien, und wir erwarten täglich Marschbefehl.«

»Gebt ihm keinen Pardon. Bringt den Kopf des Halunken mit! Schießt den Feigling nieder!« brüllte Sedley. »Ich würde selbst ins Feld ziehen, beim ..., aber ich bin ein gebrochener, alter Mann – ruiniert von diesem verdammten Schurken und einem Haufen Gaunern und Dieben in unserem Lande, die ich zu Männern gemacht habe, Sir, und die jetzt in einer Equipage fahren«, setzte er mit brechender Stimme hinzu.

Der Zustand dieses einst so gütigen und jetzt durch sein Unglück fast wahnsinnigen und in altersschwachem Zorn wütenden alten Freundes ging Dobbin sehr zu Herzen. Habt Mitleid mit dem gefallenen alten Herrn, ihr, denen Geld und guter Ruf das Höchste bedeuten, und das bedeuten sie sicherlich auch auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit.

»Ja«, fuhr er fort, »es gibt Schlangen, die man an seinem Busen nährt und die einen später beißen. Es gibt Bettler, denen man aufs Pferd hilft und die einen als ersten niederreiten. Sie wissen, wen ich meine, William Dobbin, mein Junge. Ich meine einen schurkischen Geldsackprotz am Russell Square, den ich schon kannte, als er noch keinen Shilling besaß, ich bete und hoffe, ihn noch einmal als den Bettler zu sehen, der er war, als ich ihm half.«

»Mein Freund George hat mir etwas davon erzählt, Sir«, sprach Dobbin, bestrebt, nun endlich auf sein Ziel loszusteuern. »Der Streit zwischen Ihnen und seinem Vater hat [285] ihn sehr betrübt, Sir. Ich habe für Sie eine Botschaft von ihm.«

»Ach, deswegen sind Sie also hier!« rief der alte Mann und sprang auf. »Wie? Vielleicht läßt er mir sein Beileid bezeigen, ja? Sehr nett von ihm, dem hochnäsigen Geck mit der Stutzermiene und den Westend-Allüren. Schleicht er immer noch um mein Haus herum? Hätte mein Sohn den Mut eines Mannes, so würde er ihn erschießen. Er ist ein ebenso großer Schurke wie sein Vater. Ich will seinen Namen in meinem Haus nicht hören. Ich verfluche den Tag, wo er es zum erstenmal betrat, und lieber möchte ich meine Tochter tot zu meinen Füßen als mit ihm verheiratet sehen.«

»George ist nicht schuld an der Härte seines Vaters, Sir. Daß Ihre Tochter ihn liebt, dazu haben Sie so gut beigetragen wie er. Wer sind Sie, daß Sie mit der Liebe zweier junger Menschen spielen und ihnen nach Ihrem Belieben das Herz brechen können?«

»Vergessen Sie nicht, daß es nicht sein Vater ist, der die Verbindung abbricht«, rief der alte Sedley aus. »Ich bin es, der sie verbietet. Seine und meine Familie sind für immer und ewig geschieden. Ich bin tief gesunken, aber doch nicht so tief. Nein, nein! Das alles können Sie der ganzen Sippschaft sagen – Sohn, Vater und Schwestern und allen.«

»Ich glaube, Sir, daß Sie weder die Macht noch das Recht haben, die beiden zu trennen«, antwortete Dobbin leise, »und wenn Sie Ihrer Tochter nicht die Zustimmung geben wollen, so wird sie ohne heiraten müssen. Es spricht nichts dafür, daß sie wegen Ihrer Starrköpfigkeit ihr Leben lang unglücklich sein sollte. Meiner Ansicht nach ist sie ebensogut verheiratet, als ob sie schon in allen Kirchen Londons aufgeboten worden wäre. Und kann es auf Osbornes Anschuldigungen gegen Sie eine bessere Antwort geben – wenn es nun schon einmal Anschuldigungen gibt –, als daß sein Sohn in Ihre Familie eintreten und Ihre Tochter heiraten will?«

[286] So etwas wie ein Leuchten der Befriedigung ging über das Gesicht des alten Sedley, als ihm die Sache so dargestellt wurde. Doch blieb er hartnäckig dabei, daß Amelia und George niemals seine Zustimmung zur Heirat erhalten würden.

»Dann müssen wir es eben ohne Sie tun«, sagte Dobbin lächelnd und erzählte nun Mr. Sedley wie vorher seiner Frau die Geschichte von Rebekkas und Hauptmann Crawleys Flucht. Offenbar belustigte die Erzählung des Hauptmanns den alten Herrn. »Ihr seid fürchterliche Burschen, Ihr Hauptleute«, sagte er und band seine Papiere wieder zusammen. Dabei zeigte sich auf seinem Gesicht die Andeutung von einem Lächeln, zum Erstaunen des triefäugigen Kellners, der gerade eintrat und, seit Sedley das trübselige Kaffeehaus besuchte, auf seinem Gesicht noch nie solch einen Ausdruck bemerkt hatte.

Vielleicht besänftigte den alten Herrn auch der Gedanke, seinem Feinde Osborne solch einen Schlag zu versetzen, denn als ihr Gespräch zum Ende kam, schieden er und Dobbin als gute Freunde voneinander.


»Meine Schwestern behaupten, sie habe Diamanten, so groß wie Taubeneier«, sagte George lachend. »Wie mögen die bloß ihren Teint noch hervorheben! Es muß ja eine wahre Illumination sein, wenn ihr die Juwelen am Hals hängen. Ihr kohlschwarzes Haar ist so kraus wie Sambos. Sie muß einen Nasenring getragen haben, als sie bei Hofe vorgestellt wurde. Und mit einem Federbusch im Knoten sähe sie geradezu wie eine belle sauvage 3 aus.«

George machte sich im Gespräch mit Amelia gerade über das Äußere einer jungen Dame lustig, die sein Vater und seine Schwestern kürzlich kennengelernt hatten und die die Familie am Russell Square sehr verehrte. Es hieß, sie besitze wer weiß wie viele Plantagen in Westindien, habe eine schöne Summe in Staatspapieren und drei Sterne neben ihrem [287] Namen im Verzeichnis der Aktionäre der Ostindischen Kompanie. Sie hatte ein Gutshaus in Surrey und ein Haus am Portland Place. Der Name der reichen westindischen Erbin war beifällig in der »Morning Post« erwähnt worden. Mrs. Haggistoun, Oberst Haggistouns Witwe, eine Verwandte von ihr, spielte Anstandsdame bei ihr und führte ihr den Haushalt. Sie war gerade von der Schule gekommen, wo ihre Erziehung vollendet worden war, und George und seine Schwestern hatten sie auf einer Abendgesellschaft im Hause des alten Hulker auf dem Devonshire Place kennengelernt (Hulker, Bullock und Co. hatten lange mit ihrem Hause in Westindien in Geschäftsverbindung gestanden), die Mädchen hatten ihr ein herzliches Entgegenkommen gezeigt, was die Erbin gutmütig zugelassen hatte. Eine Waise in ihrer Stellung – mit ihrem Gelde – wie interessant! sagten die beiden Miss Osborne. Sie waren von ihrer neuen Freundin ganz erfüllt, als sie vom Ball bei Hulker zu Miss Wirt, ihrer Gesellschafterin, heimkehrten. Sie hatten verabredet, einander recht häufig zu besuchen, und ließen gleich am nächsten Tag anspannen, um zu ihr zu fahren. Mrs. Haggistoun, Oberst Haggistouns Witwe, eine Verwandte von Lord Binkie, von dem sie beständig sprach, kam den lieben, unschuldigen Mädchen etwas hochmütig vor und etwas zu geneigt, ständig von ihren vornehmen Verwandten zu sprechen. Aber Rhoda war ganz, wie sie nur wünschen konnten – offen, freundlich, angenehm, zwar noch etwas ungeschliffen, aber sehr gutmütig. Die Mädchen nannten einander bald nur noch mit Vornamen.

»Sie hätten sie in ihrem Kleid für den Empfang bei Hofe sehen sollen, Emmy«, rief Osborne lachend. »Sie kam zu meinen Schwestern, um sich bewundern zu lassen, ehe sie von Lady Binkie, der Verwandten der Haggistoun, vorgestellt wurde. Diese Haggistoun ist mit jedermann verwandt. Ihre Diamanten funkelten wie Vauxhall an dem Abend, als wir dort waren. (Erinnern Sie sich noch an Vauxhall, Emmy, [288] und wie Joe seinem Lirum-larum-liebchen vorsang?) Diamanten und Mahagoni, meine Liebe. Stellen Sie sich diesen vorteilhaften Kontrast vor – und die weißen Federn in ihrem Haar – ich meine, in ihrer Wolle. Sie hatte Ohrringe, so groß wie Kronleuchter. Man hätte sie anzünden können, beim Zeus. Und eine gelbe Atlasschleppe, die sie wie einen Kometenschweif hinter sich herzog.«

»Wie alt ist sie denn?« fragte Emmy, der George am Morgen ihrer Wiedervereinigung von diesem schwarzen Musterexemplar vorplauderte – vorplauderte, wie gewiß kein anderer Mensch auf der Welt es konnte.

»Ach, die schwarze Prinzessin muß zwei- oder dreiundzwanzig sein, obgleich sie eben erst von der Schule gekommen ist. Und Sie sollten ihre Handschrift sehen! Gewöhnlich schreibt Mrs. Haggistoun ihre Briefe, aber in einem vertraulichen Augenblick brachte sie etwas für meine Schwestern zu Papier, und da schrieb sie dann statt Satin ›Satteng‹ und anstatt Saint James ›Sent Jehms‹.«

»Ja, das muß Miss Swartz sein, Miss Pinkertons Vorzugsschülerin«, sagte Emmy, der das gutmütige junge Mulattenmädchen einfiel, die sich in ihrer Erregung über Amelias Abschied vom Pensionat so hysterisch aufgeführt hatte.

»Stimmt, so heißt sie«, sagte George. »Ihr Vater war ein deutscher Jude – ein Sklavenbesitzer, erzählt man –, der irgendetwas mit den Kannibaleninseln zu tun hatte. Er ist im vergangenen Jahr gestorben, und Miss Pinkerton hat die Erziehung des Mädchens vollendet. Sie kann zwei Stücke auf dem Klavier spielen, kann drei Lieder singen, kann schreiben, wenn Mrs. Haggistoun dabeisitzt und ihr vorbuchstabiert. Und Jane und Maria haben sie bereits so liebgewonnen wie eine Schwester.«

»Ich wollte, sie hätten mich geliebt«, sagte Emmy gedankenvoll. »Sie waren immer sehr kühl gegen mich.«

»Mein liebes Kind, sie hätten Sie geliebt, wenn Sie zweihunderttausend Pfund gehabt hätten«, erwiderte George. [289] »Sie sind nun einmal so erzogen worden. Unsere Gesellschaft kennt eben nichts als das bare Geld. Wir leben unter Bankiers und City-Geldprotzen, und hängen uns an sie. Und jeder, der mit einem spricht, klappert mit den Guineen in der Tasche. Da ist dieser Esel Fred Bullock, der Maria heiraten wird, da ist Goldmore, der Direktor der Ostindischen Kompanie, da ist Dipley vom Talghandel – unserem Handel«, sagte George errötend und lachte verlegen. »Zum Teufel mit dem ganzen Pack von protzigen Geldschefflern! Bei ihren langweiligen Festessen schlafe ich immer ein. Ich schäme mich bei den geistlosen großen Gesellschaften meines Vaters. Ich bin ge wohnt, mit Gentlemen und vornehmen Leuten zu verkehren, Emmy, nicht mit einem Haufen schildkrötenessender Krämer. Liebes kleines Mädchen, Sie sind die einzige in unseren Kreisen, die wie eine Lady aussieht, denkt und spricht. Und Sie tun es, weil Sie ein Engel sind und nicht anders können. Widersprechen Sie nicht. Sie sind die einzige Lady. Hat es nicht auch Miss Crawley gesagt, die doch in der besten Gesellschaft von Europa gelebt hat? Und der Crawley von der Leibgarde ist, zum Henker, ein feiner Kerl. Es gefällt mir sehr, daß er das Mädchen seiner Wahl geheiratet hat.«

Amelia bewunderte Mr. Crawley ebenfalls deswegen und glaubte, daß Rebekka mit ihm glücklich werde, und meinte lachend, sie hoffe, Joe werde sich wohl trösten. Und so plauderte das Paar ganz wie früher. Amelia hatte ihr Vertrauen wiedergewonnen, obgleich sie vorgab – die kleine Heuchlerin –, sie sei eifersüchtig auf Miss Swartz und schwebe in tausend Ängsten, George könne sie wegen der Erbin, ihres Geldes und ihrer Besitzungen auf Saint Kitts vergessen. Dabei war sie viel zu glücklich, um Zweifel, Befürchtungen oder Besorgnisse irgendeiner Art zu hegen. Und da sie George wieder bei sich hatte, fürchtete sie weder Erbin noch Schönheit, noch eine andere Gefahr.

Als Hauptmann Dobbin am Nachmittag voller Mitgefühl [290] zu ihnen zurückkehrte, tat es ihm im Herzen wohl, zu sehen, wie Amelia wieder jung geworden war, wie sie lachte, zwitscherte und wohlbekannte alte Lieder am Klavier sang, unterbrochen erst von der Haustürklingel, mit der Mr. Sedleys Rückkehr aus der City angekündigt wurde. Das war ein Signal für George, sich zurückzuziehen.

Abgesehen vom ersten Begrüßungslächeln – und auch das war geheuchelt, denn sie empfand sein Kommen als sehr störend –, nahm Miss Sedley während Dobbins Besuch keine Notiz von ihm. Aber er war zufrieden, sie glücklich zu sehen, und dankbar, daß er ihr dazu verholfen hatte.

Fußnoten

1 griechischer Hochzeitsgott.

2 Gestalt aus dem Alten Testament. König Ahasver erwählte Esther aus einer Reihe von Jungfrauen und vermählte sich mit ihr (Esther 2, 2-9).

3 (franz.) schöne Wilde.

21. Kapitel
Streit um eine Erbin

Eine junge Dame mit den Eigenschaften der Miss Swartz mußte wohl geliebt werden, und der alte Mr. Osborne gab sich plötzlich ehrgeizigen Träumen hin, die sie verwirklichen sollte. Er ermutigte die liebenswürdige Anhänglichkeit seiner Töchter für die junge Erbin mit größter Freundlichkeit und Begeisterung und beteuerte, daß er als Vater sehr froh sei, daß seine Mädchen ihre Liebe gerade ihr geschenkt hatten.

»Mein liebes Fräulein«, pflegte er zu Miss Rhoda zu sagen, »Sie werden in unserem bescheidenen Hause am Russell Square nicht den Glanz und Rang finden, den Sie von West End her gewohnt sind. Meine Töchter sind einfache, uneigennützige Mädchen, aber das Herz sitzt ihnen auf dem rechten Fleck, und sie haben eine Zuneigung zu Ihnen gefaßt, die ihnen Ehre macht – ich sage, die ihnen alle Ehre macht. Ich bin ein schlichter, einfacher, bescheidener britischer Kaufmann – ein ehrlicher, wie meine verehrten Freunde Hulker und Bullock, die ehemaligen Geschäftsfreunde Ihres [291] viel betrauerten seligen Vaters, bezeugen können. Sie werden in uns eine einfache, glückliche und, ich darf wohl sagen, angesehene Familie finden, die gut zusammenhält, einen einfachen Tisch, schlichte Leute, aber ein warmes Willkommen, meine liebe Miss Rhoda – lassen Sie mich Rhoda sagen, denn mein Herz erwärmt sich für Sie, wirklich. Ich bin ein freimütiger Mann, und ich habe Sie gern. Ein Glas Champagner, Hicks! Champagner für Miss Swartz!«

Es besteht kaum ein Zweifel, daß der alte Osborne alles glaubte, was er sagte, und daß es den Mädchen mit ihren Freundschaftsbeteuerungen gegenüber Miss Swartz wirklich ernst war. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit schließt man sich ganz natürlich reichen Leuten an. Die einfachsten Menschen schon blicken nicht unfreundlich auf den großen Reichtum (ich fordere jedes Mitglied der britischen Öffentlichkeit auf, zu sagen, ob die Vorstellung von Reichtum nicht etwas Ehrfurchteinflößendes und Anziehendes in sich birgt. Und wenn du erfährst, daß dein Tischnachbar eine halbe Million besitzt – betrachtest du ihn nicht auch mit einem gewissen Interesse?). Wenn einfache Menschen das Geld so wohlwollend ansehen, wieviel mehr erst so ein alter Weltmann! Ihre Neigung stürzt sich auf das Geld und heißt es herzlich willkommen. Freundliche Gefühle gegenüber den interessanten Besitzern erwachen unvermittelt. Ich kenne achtbare Leute, die es sich nur dann gestatten, Freundschaft für jemanden zu empfinden, wenn dieser ein gewisses Vermögen oder eine Stellung in der Gesellschaft hat. Bei passender Gelegenheit machen sie dann ihren Gefühlen Luft. Als Beweis dafür kann dienen, daß der größte Teil der Familie Osborne, dem es fünfzehn Jahre lang unmöglich gewesen war, eine Zuneigung zu Amelia Sedley zu fassen, im Laufe eines einzigen Abends Miss Swartz so liebgewann, daß es sich selbst der romantischste Verteidiger der Freundschaft auf den ersten Blick nicht besser wünschen konnte.

Was für eine vortreffliche Partie wäre das für George [292] (waren sich die Schwestern und Miss Wirt einig), und wie war sie der unbedeutenden kleinen Amelia doch überlegen. So ein schneidiger Bursche wie er, von so gutem Aussehen, Rang und solchen Talenten wäre gerade der rechte Mann für sie. Visionen von Bällen am Portland Place, Vorstellungen bei Hofe und beim halben Adel schwebten den jungen Damen vor, die mit ihrer geliebten neuen Freundin von nichts anderem sprachen als von George und seinen vornehmen Bekannten.

Auch der alte Osborne dachte, sie gebe eine vortreffliche Partie für seinen Sohn ab. Er müsse dann die Armee verlassen, ins Parlament gehen und in der vornehmen Gesellschaft wie im Staat eine große Rolle spielen. Sein Blut wallte in ehrlicher britischer Begeisterung, als er den Namen Osborne schon in der Person seines Sohnes geadelt sah, und er fühlte sich bereits als Stammvater einer ruhmreichen Reihe von Baronets. Er zog in der City und an der Börse Erkundigungen ein, bis er alles über das Vermögen der Erbin wußte, wie ihr Geld angelegt war und wo ihre Besitzungen lagen. Der junge Fred Bullock, eine seiner Hauptinformationsquellen, hätte zwar selbst gern auf sie geboten (so drückte sich der junge Bankier aus), aber er war ja für Maria Osborne bestimmt. Da er sie nun nicht als Frau gewinnen konnte, so war der uneigennützige Fred völlig einverstanden, sie zur Schwägerin zu bekommen. George müsse bald anfangen zu handeln und sie gewinnen, so lautete sein Rat. »Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist, wissen Sie, solange sie noch neu in der Stadt ist. In ein paar Wochen kommt dann so ein verdammter Kerl von West End mit einem Titel und einem Paket Schulden und sticht uns Cityleute aus, wie voriges Jahr Lord Fitzrufus bei Miss Grogram, die eigentlich mit Podder von Podder und Brown verlobt war. Je schneller die Sache zustande kommt, um so besser, Mr. Osborne. Das ist meine Meinung«, sagte der Bursche. Als Osborne jedoch die Bank verlassen hatte, fiel Mr. Bullock [293] Amelia ein und was für ein hübsches Mädchen sie sei und wie sehr sie an George Osborne hänge. Und so widmete er mindestens zehn Sekunden seiner wertvollen Zeit dafür, das Unglück des armen jungen Mädchens zu bedauern.

Während nun George Osbornes bessere Gefühle und sein treuer Freund und guter Genius Dobbin den Pflichtvergessenen zu Amelias Füßen zurückführten, arrangierten Georges Vater und seine Schwestern diese glänzende Partie für ihn, wobei sie sich nicht einen Augenblick träumen ließen, er könne etwas dagegen haben.

Wenn der alte Osborne jemandem einen »Wink« gab, wie er es nannte, so begriff auch der Dümmste, wo lang der Hase lief.

Ein »Wink« für einen Diener, daß er entlassen sei, war es, wenn er ihn die Treppe hinunterwarf. Mit seinem gewohnten Freimut und Takt versprach er Mrs. Haggistoun einen Scheck auf zehntausend Pfund für den Tag, an dem sein Sohn ihr Mündel heiraten würde. Auch diesen Vorschlag nannte er einen Wink und betrachtete ihn als einen geschickten diplomatischen Schachzug. Zuletzt gab er George auch einen »Wink« hinsichtlich der Erbin. Er befahl ihm, sie auf der Stelle zu heiraten, ganz so, wie er dem Butler befohlen hätte, eine Flasche zu entkorken, oder seinem Buchhalter, einen Brief zu schreiben.

Dieser gebieterische »Wink« beunruhigte George doch sehr. Er war noch in der ersten Begeisterung und Freude, Amelia zum zweitenmal den Hof zu machen, was ihm unaussprechlich viel Vergnügen bereitete. Der Kontrast zwischen ihrem Benehmen und Äußeren und dem der Erbin machte ihm die Vorstellung einer Verbindung mit dieser doppelt lächerlich und verhaßt. Kutsche und Opernlogen, dachte er, man stelle sich vor, sie sehen einen darin an der Seite einer solchen mahagonifarbenen Zauberin! Zu alledem war Osborne junior ebenso eigensinnig wie Osborne senior; ebenso standhaft in seinem Entschluß, etwas, [294] was er sich in den Kopf gesetzt hatte, zu erreichen; ebenso heftig im Zorn wie sein Vater in den schlimmsten Augenblicken.

An dem Tage, an dem ihm sein Vater allen Ernstes den Wink gab, seine Liebe Miss Swartz zu Füßen zu legen, versuchte George, bei dem alten Herrn Zeit zu gewinnen. »Du hättest eher daran denken müssen, Vater«, sagte er. »Jetzt, wo wir jeden Tag Marschbefehl erwarten, geht es nicht. Warte bis zu meiner Rückkehr, falls ich zurückkehre.« Er stellte ihm vor, daß die Zeit, wo das Regiment täglich erwartete, England zu verlassen, durchaus schlecht gewählt sei und daß die wenigen Tage in der Woche, an denen sie noch zu Hause sein durften, Geschäften und nicht Liebeleien gewidmet sein müßten. Dafür bliebe immer noch genug Zeit, wenn er als Major zurückkomme, »denn ich verspreche dir«, sagte er mit selbstzufriedener Miene, »du wirst den Namen George Osborne auf die eine oder andere Art in der ›Gazette‹ lesen können.«

Die Antwort des Vaters darauf gründete sich auf die Auskunft, die er in der City erhalten hatte, daß nämlich die Erbin unfehlbar einem der faulen Kunden von West End in die Hände fallen würde, wenn man sich nicht beeilte. Wenn er sich schon nicht schnell mit Miss Swartz trauen lassen wolle, so solle er wenigstens die Verlobung schriftlich bestätigen lassen und gleich heiraten, wenn er nach England zurückkehren würde. Ein Mensch, der zehntausend pro Jahr bekommen könne, wenn er zu Hause bliebe, sei ein Narr, sein Leben auswärts aufs Spiel zu setzen.

»Du möchtest also meinen Namen als den eines Feiglings bloßgestellt sehen, bloß um des Geldes von Miss Swartz willen«, fiel George ihm ins Wort.

Diese Bemerkung beunruhigte den alten Herrn etwas. Da er aber darauf zu antworten hatte und sein Entschluß gefaßt war, erwiderte er:

»Morgen ißt du mit uns, und sooft Miss Swartz kommt, bist [295] du hier, um ihr deine Aufwartung zu machen. Wenn du Geld brauchst, dann sprich bei Mr. Chopper vor.«

Damit stellte sich Georges Plänen mit Amelia ein neues Hindernis in den Weg. Er und Dobbin hielten deshalb manche vertrauliche Beratung ab. Die Ansicht seines Freundes über sein künftiges Verhalten kennen wir bereits. Und wenn sich Osborne etwas in den Kopf gesetzt hatte, machten ihn ein paar Hindernisse um so entschlossener.


Das dunkle Opfer dieser vom Haupt der Osborneschen Familie angezettelten Verschwörung ahnte von all den Plänen rein gar nichts (seltsamerweise verriet auch ihre Freundin und Anstandsdame nichts davon). Sie erwiderte die ihr entgegengebrachte Liebe mit tropischer Glut, da sie alle Schmeicheleien der jungen Damen für echte Gefühle hielt und, wie bereits gesagt, von Natur aus sehr warmherzig und ungestüm war. Um der Wahrheit willen müssen wir hinzusetzen, daß selbstsüchtige Beweggründe sie zu dem Hause am Russell Square führten, kurz gesagt, daß sie George Osborne für einen sehr netten jungen Mann hielt. Schon am ersten Abend ihrer Bekanntschaft auf dem Ball bei Hulkers hatte sein Backenbart Eindruck auf sie gemacht, und bekanntlich war sie nicht die erste Frau, die davon bezaubert war. George war gleichzeitig arrogant und melancholisch und ungestüm. Er sah aus wie ein Mann voll Leidenschaft und Geheimnis, voll geheimen Kummers und voller Abenteuer. Seine Stimme war wohltönend und tief. Er konnte in so traurigem und vertraulichem Ton seiner Partnerin ein Eis anbieten oder sagen, es sei ein warmer Abend, als ob er ihr den Tod ihrer Mutter mitteilen oder eine Liebeserklärung machen wollte. Er drückte alle jungen Stutzer an die Wand, die sich bei seinem Vater blicken ließen, und war der Held dieser drittrangigen Leute. Einige spöttelten über ihn und haßten ihn, andere wieder, unter ihnen Dobbin, bewunderten ihn fanatisch. Und sein Backenbart hatte angefangen, [296] seine Wirkung zu tun und sich um das Herz von Miss Swartz zu winden.

Sooft die Aussicht bestand, George am Russell Square zu treffen, war dieses einfache und gutmütige junge Ding ganz aufgeregt, ihre lieben Osborne-Mädchen zu sehen. Sie stürzte sich in gewaltige Ausgaben für neue Kleider, Armbänder, Hüte und riesige Federbüsche. Sie putzte sich mit großer Geschicklichkeit, um dem Eroberer zu gefallen, und zeigte alle ihre bescheidenen Talente, um seine Gunst zu gewinnen. Die Mädchen pflegten sie feierlich zu bitten, ein wenig Musik zu machen, und sie sang dann ihre drei Lieder und spielte ihre zwei Stückchen, sooft man es wünschte, und ihr Vergnügen dabei steigerte sich ständig. Während dieser ergötzlichen Unterhaltung saßen Miss Wirt und die Anstandsdame dabei und studierten den Adelskalender und sprachen von den Vornehmen.

Am Tage nachdem George von seinem Vater den »Wink« erhalten hatte, lag er kurz vor dem Mittagessen in sehr kleidsamer und vollkommen natürlicher Melancholie auf einem Sofa im Salon hingestreckt. Er war auf Geheiß seines Vaters bei Mr. Chopper in der City gewesen (obwohl der alte Herr seinem Sohne große Summen zukommen ließ, setzte er ihm nie ein festes Taschengeld aus und gab ihm bloß etwas, wenn er in guter Laune war). Darauf hatte er drei Stunden bei Amelia, bei seiner lieben kleinen Amelia, in Fulham verbracht, und als er dann nach Hause kam, fand er seine Schwestern in gestärkten Musselinkleidern im Salon vor, die beiden alten Damen plaudernd im Hintergrund und die ehrliche Swartz in ihrem Lieblingskleid aus bernsteingelbem Atlas, mit Türkisarmbändern, zahllosen Ringen, Blumen, Federn und allen Arten von Besatz und Flitter, fast ebenso elegant herausgeputzt wie ein weiblicher Schornsteinfeger am ersten Mai 1.

Nachdem die Mädchen verschiedene vergebliche Versuche gemacht hatten, ihn ins Gespräch zu ziehen, unterhielten [297] sie sich über Moden und die letzte Hofgesellschaft, bis er von ihrem Geschwätz ganz krank war. Er verglich das Benehmen der drei mit dem von Emmy, ihre schrillen, unangenehmen Stimmen mit Emmys zartem, klingendem Tonfall, ihre Haltung, ihre eckige Steifheit mit den bescheidenen, sanften Bewegungen und dem verschämten Liebreiz Amelias.

Die arme Swartz saß auf Emmys ehemaligem Platz. Ihre juwelenüberladenen Hände lagen gespreizt in ihrem bernsteingelben Atlasschoß. Ihre Behänge und Ohrringe funkelten, und ihre großen Augen rollten durch den Raum. Völlig mit sich zufrieden, tat sie nichts und hielt sich für bezaubernd. Die Schwestern hatten noch nie etwas so Kleidsames gesehen wie Atlas.

»Verdammt«, sagte George zu seinem vertrauten Freund, »sie sah aus wie eine Porzellanpuppe, die den ganzen Tag nichts zu tun hat, als zu lächeln und mit dem Kopfe zu wackeln. Beim Zeus, Will, ich mußte mich beherrschen, daß ich ihr nicht das Sofakissen an den Kopf warf.« Diesen Gefühlsausbruch hielt er jedoch zurück.

Die Schwestern fingen an, die »Schlacht von Prag« zu spielen.

»Hört auf mit dem verdammten Zeug«, brüllte George wütend vom Sofa. »Es macht mich ganz verrückt. Spielen Sie uns lieber etwas, Miss Swartz. Singen Sie etwas, irgend etwas, bloß nicht die ›Schlacht von Prag‹.«

»Soll ich ›Blauäuglein Mary‹ singen oder das Lied von der Gartenlaube?« fragte Miss Swartz.

»Die hübsche ›Gartenlaube‹«, sagten die Schwestern.

»Das haben wir schon gehört«, entgegnete der Misanthrop auf dem Sofa.

»Ich kann auch ›Flefe di Tasche‹ singen«, sagte die Swartz sanftmütig, »wenn ich bloß den Text hätte.«

Es war das letzte Stück aus dem Repertoire des netten jungen Mädchens.

[298] »Ach, ›Fleuve du Tage‹ 2«, rief Miss Maria, »das Lied haben wir«, und sie ging, das Buch zu holen, in dem es stand.

Dieses damals so außerordentlich beliebte Lied war den Damen von einer jungen Freundin geschenkt worden, deren Namen auf dem Titelblatt stand. Miss Swartz hoffte vielleicht, als sie das Lied zu Georges Beifall gesungen hatte (denn der junge Hauptmann erinnerte sich, daß es ein Lieblingslied Amelias war), auf ein Dakapo. Sie spielte dabei mit den Notenblättern, als ihr Auge auf das Titelblatt fiel und sie in der Ecke »Amelia Sedley« las.

»Mein Gott!« rief Miss Swartz und drehte sich auf dem Klaviersessel wie ein Kreisel. »Ist es meine Amelia? Die Amelia, die im Pensionat von Miss Pinkerton in Hammersmith war? Ich weiß, sie ist es. Sie ist es, und ... Erzählen Sie mir doch von ihr ... Wo ist sie?«

»Sprechen Sie nicht von ihr!« sagte Miss Maria Osborne hastig. »Ihre Familie hat sich in Unehre gebracht. Ihr Vater hat Papa betrogen. Und Ihr Name darf hier nie und nimmermehr erwähnt werden.«

Das war Miss Marias Antwort auf Georges Grobheit wegen der »Schlacht von Prag«.

»Sind Sie eine Freundin von Amelia?« fragte George und sprang auf. »Gott segne Sie dafür, Miss Swartz. Glauben Sie nicht, was die Mädchen da sagen. Sie kann auf jeden Fall nichts dafür. Sie ist das beste ...«

»Du weißt, du sollst nicht von ihr sprechen, George«, rief Jane. »Papa hat es verboten.«

»Wer will mich daran hindern?« rief George. »Ich will von ihr sprechen. Ich sage, sie ist das beste, freundlichste, sanfteste, süßeste Mädchen in ganz England, und bankrott oder nicht – meine Schwestern können ihr nicht das Wasser reichen. Wenn Sie sie lieben, Miss Swartz, so besuchen Sie sie, sie braucht jetzt Freunde. Und ich sage, Gott segne alle, die freundlich zu ihr sind! Jeder, der Gutes von ihr sagt, ist mein Freund. Und jeder, der gegen sie spricht, ist mein [299] Feind. Ich danke Ihnen, Miss Swartz.« Und er stand auf und schüttelte ihr die Hand.

»George! George!« rief eine der Schwestern flehend.

»Ich sage«, sagte George heftig, »ich danke jedem, der Liebe für Amelia Sed ...«

Er hielt inne. Der alte Osborne stand im Zimmer, leichenblaß vor Wut und mit Augen wie glühende Kohlen.

Obgleich George mitten im Satz abgebrochen hatte, war sein Blut doch so in Wallung gebracht, daß alle Osborneschen Generationen zusammengenommen ihn nicht einschüchtern konnten. Sofort faßte er sich wieder und erwiderte den drohenden Blick seines Vaters mit seinem eigenen, so voll Entschlossenheit und Trotz, daß der alte Mann nun seinerseits erschrak und wegsah. Er fühlte, daß der Kampf bevorstand. »Mrs. Haggistoun, erlauben Sie mir, daß ich Sie zu Tisch führe«, sagte er. »Reich deinen Arm Miss Swartz, George.« Und sie marschierten ab.

»Miss Swartz, ich liebe Amelia, und wir sind fast unser ganzes Leben miteinander verlobt«, sagte Osborne zu seiner Partnerin. Und während des ganzen Essens plauderte George mit einer Geläufigkeit, die ihn selbst überraschte und seinen Vater doppelt furchtsam machte in Erwartung des Kampfes, der stattfinden mußte, sobald die Damen sich entfernt hatten.

Der Unterschied zwischen beiden lag darin, daß der Vater heftig und grob war, der Sohn aber dreimal soviel Mut und Seelenstärke besaß und nicht bloß angreifen, sondern auch einen Angriff parieren konnte. Und da er sah, daß der Augenblick nun gekommen war, wo der Streit zwischen ihm und seinem Vater zur Entscheidung drängte, so aß er in aller Seelenruhe mit dem besten Appetit, ehe der Kampf begann. Der alte Osborne dagegen war erregt und trank viel. Er stockte in der Unterhaltung mit seinen Tischnachbarinnen, und Georges Kaltblütigkeit machte ihn nur noch zorniger. Er wurde halb wahnsinnig, als er bemerkte, mit welcher Gelassenheit [300] George seine Serviette zusammenfaltete und mit galanter Verbeugung den Damen die Tür öffnete, als sie das Zimmer verlassen wollten. Dann schenkte George sich ein Glas Wein ein, trank es aus und blickte seinem Vater gerade ins Gesicht, als wollte er sagen: Meine Herren von der Garde, feuern Sie zuerst. Der alte Mann versah sich ebenfalls mit Munition, aber die Flasche klirrte gegen das Glas, als er es füllen wollte.

Er holte tief Luft und begann dann, purpurrot im Gesicht, als wollte er ersticken:

»Wie kannst du dich unterstehen, den Namen dieser Person in meinem Salon vor Miss Swartz zu nennen? Ich frage dich, wie kannst du dich unterstehen?«

»Moment mal, Vater«, sagte George, »sage nicht ›unterstehen‹. ›Unterstehen‹ ist ein Wort, das man einem Hauptmann der britischen Armee gegenüber nicht in den Mund nehmen sollte.«

»Ich sage zu meinem Sohn, was ich will. Ich kann ihn enterben bis auf den letzten Shilling, wenn ich will. Ich kann ihn zum Bettler machen, wenn ich will. Ich werde sagen, was ich will«, sagte der Alte.

»Ich bin ein Gentleman, obgleich ich dein Sohn bin«, antwortete George hochmütig. »Ich muß darum bitten, daß alle Mitteilungen, die du mir zu machen, oder alle Befehle, die du mir zu geben beabsichtigst, in einer Form gehalten sind, die ich zu hören gewohnt bin.«

Sooft der junge Osborne diese hochmütige Haltung annahm, erregte er bei dem Vater entweder große Furcht oder einen gewaltigen Zorn. Der alte Osborne hatte eine geheime Angst vor seinem Sohne als dem besseren Gentleman. Und vielleicht haben meine Leser auf unserem Jahrmarkt der Eitelkeit auch schon erfahren, daß Menschen niedriger Gesinnung niemandem so mißtrauen wie einem Gentleman.

»Mein Vater ließ mir nicht die Erziehung angedeihen, die du erhalten hast, ich hatte auch nicht die Vorteile, die du [301] gehabt, oder das Geld, das du bekommen hast. Hätte ich in der Gesellschaft verkehrt, wo ich gewissen Leuten mit meinen Mitteln ermöglicht habe, zu verkehren, so hätte mein Sohn wahrscheinlich keinen Grund, mit seiner Überlegenheit und seiner Westend-Miene zu prahlen.« (Diese Worte sprach der alte Osborne in seinem sarkastischsten Ton). »Aber zu meiner Zeit glaubte man noch nicht, daß es einem Gentleman zieme, seinen Vater zu beleidigen. Hätte ich so etwas getan, so hätte mich meiner die Treppe hinuntergeworfen.«

»Ich habe dich niemals beleidigt, Vater. Ich habe gesagt, du möchtest nicht vergessen, daß dein Sohn ebenso Gentleman ist wie du selbst. Ich weiß sehr gut, daß du mir viel Geld gibst«, sagte George (dabei befühlte er ein Bündel Banknoten, das er am Morgen von Mr. Chopper erhalten hatte). »Das sagst du mir oft genug, Vater. Du brauchst keine Angst zu haben, daß ich es vergesse.«

»Ich wollte, du erinnertest dich anderer Dinge ebenso gut«, antwortete der Vater. »Ich wollte, du erinnertest dich – solange du dieses Haus mit deiner Gegenwart beehrst, Herr Hauptmann – daß ich darin der Herr bin, und dieser Name – und daß der – daß du – daß ich sage ...«

»Daß was, Sir?« fragte George mit einem Anflug von Hohn, während er sich noch ein Glas Rotwein einschenkte.

Dem Vater entfuhr ein gräßlicher Fluch. »Daß der Name dieser Sedleys hier nicht genannt werden darf, nicht einer von der ganzen verdammten Brut!«

»Nicht ich war es, Vater, der Miss Sedleys Namen zuerst erwähnte. Meine Schwestern sprachen vor Miss Swartz schlecht über sie. Und, beim Zeus, ich werde sie verteidigen, wo es auch sein mag. Niemand soll diesen Namen in meiner Gegenwart geringschätzig aussprechen. Unsere Familie hat ihr Schaden genug zugefügt, denke ich, und jetzt, wo sie am Boden liegt, sollte man mit den Schmähungen aufhören. Ich schieße jeden, außer dir, nieder, der nur ein Wort gegen sie sagt.«

[302] »Weiter, nur weiter so«, sagte der alte Herr mit hervorquellenden Augen.

»Weiter? Worüber, Vater? Über die Art und Weise, wie wir diesen Engel von einem Mädchen behandelt haben? Wer hieß mich sie zu lieben? Das war dein Werk. Ich hätte eine andere Wahl treffen und dabei aus deinen Kreisen herauskommen können. Aber ich habe dir gehorcht. Und jetzt, wo mir ihr Herz gehört, befiehlst du mir, es wegzuwerfen und sie zu strafen, vielleicht gar zu töten – wegen anderer Leute Fehler. Es ist eine Schande, beim Himmel«, schrie George, der sich immer mehr in Zorn und Begeisterung steigerte, »mit der Liebe eines jungen Mädchens ein leichtfertiges Spiel zu treiben – und noch dazu eines Engels wie sie – eines Wesens so hoch über den Menschen, unter denen sie lebt, daß sie Neid hätte erregen können, wäre sie nicht so gut und so sanft, daß es ein Wunder ist, wie jemand sie überhaupt hassen kann. Glaubst du denn, Vater, sie würde mich vergessen, wenn ich sie verließe?«

»Ich will von solchem verdammten sentimentalen Quatsch und Unsinn nichts wissen«, schrie der Vater. »In meiner Familie dulde ich keine Bettelheiraten. Wenn du achttausend pro Jahr, die du im Handumdrehen bekommen könntest, aus dem Fenster werfen willst, so tue es nur. Aber beim Zeus, dann pack deine Siebensachen und verschwinde mir aus dem Haus. Willst du tun, was ich dir sage, ein für allemal, oder willst du es nicht?«

»Die Mulattin da heiraten?« fragte George und zog den Hemdkragen hoch. »Ich mag die Farbe nicht. Frag den Schwarzen, der am Fleet Market drüben die Straße fegt! Ich jedenfalls heirate keine Hottentottenvenus.«

Mr. Osborne riß wie ein Rasender an der Klingelschnur, mit der er sonst den Butler herbeirief, wenn er Wein haben wollte, und befahl diesem dienstbaren Geist, fast schwarz im Gesicht, für Hauptmann Osborne einen Wagen zu holen.

[303] »Ich habe es getan«, sagte George, als er eine Stunde später mit bleichem Gesicht zu Slaughters kam.

»Was, mein Junge?« sagte Dobbin.

George erzählte, was zwischen seinem Vater und ihm vorgefallen war.

»Morgen werde ich sie heiraten«, sagte er mit einem Fluch. »Ich liebe sie jeden Tag mehr, Dobbin!«

Fußnoten

1 Die traditionellen Volksfeste, die die Schornsteinfegerjungen jedes Jahr am 1. Mai feierten, werden auf folgende Begebenheit zurückgeführt: Einem Elternpaar soll man den Sohn gestohlen und ihn als Gehilfen zu einem Schornsteinfeger gegeben haben. Als er eines Tages, von der Arbeit müde und erhitzt, durch einen Kamin kam, fand er sich, ohne es zu wissen, im Schlafzimmer seiner Mutter. Er legte sich für ein Weilchen ins Bett, und dort fand sie ihn. Von dem Tage an lud sie alle Londoner Schornsteinfegerjungen einmal jährlich zu Roastbeef, Plumpudding und Bier ein.

2 (franz.) »Der Fluß Tajo«.

22. Kapitel
Eine Heirat und ein Teil der Flitterwochen

Die hartnäckigsten und mutigsten Feinde vermögen dem Hunger nicht auf lange Zeit standzuhalten, und so war denn der alte Osborne unbesorgt um seinen Gegner in dem Kampf, den wir gerade beschrieben haben. Er erwartete zuversichtlich, daß George sich auf Gnade und Ungnade ergeben würde, sobald ihm das Geld ausgehen würde. Zwar war der Junge unglücklicherweise gerade am Tage des ersten Gefechts mit Proviant versehen worden, allein der alte Osborne dachte, er würde nicht lange reichen und Georges Unterwerfung höchstens etwas verzögern. Einige Tage lang hörten Vater und Sohn nichts voneinander. Der Alte war über das Schweigen aufgebracht, aber nicht unruhig, denn er wußte, wo er George die Daumenschrauben anzusetzen hatte, und wollte daher bloß das Resultat dieser Operation abwarten. Er teilte den Schwestern den Ausgang des Streites mit, befahl ihnen aber gleichzeitig, von der Sache keine Notiz zu nehmen und George bei seiner Rückkehr zu begrüßen, als ob nichts vorgefallen wäre. Wie üblich wurde für ihn jeden Tag gedeckt, und der alte Herr erwartete ihn wahrscheinlich sehnsüchtig. Aber George ließ sich nicht blicken. Man erkundigte sich nach ihm bei Slaughters und erfuhr, daß er und sein Freund, Hauptmann Dobbin, die Stadt verlassen hätten.

[304] Es war an einem stürmischen, unfreundlichen Tag Ende April, der Regen peitschte das Pflaster der alten Straße, in der einst Slaughters Kaffeehaus lag – da betrat George Osborne das Kaffeezimmer. Er war ungemein verstört und bleich, obgleich er einen eleganten blauen Frack mit Messingknöpfen und eine nette bräunliche Weste trug, wie es damals gerade Mode war. Sein Freund, Hauptmann Dobbin, war schon anwesend, gleichfalls in Blau und Messing. Diese Kleidung ersetzte den Militärrock und die grauen Beinkleider, mit denen er seinen schmalen Körper sonst bedeckte.

Dobbin war schon über eine Stunde im Kaffeezimmer. Er hatte alle Zeitungen zur Hand genommen, konnte aber nicht lesen. Er hatte unzählige Male auf die Uhr gesehen und auf die Straße geblickt, wo der Regen niederprasselte und wo die Leute in Holzschuhen vorbeiklapperten und sich in den glänzenden Steinen widerspiegelten. Er trommelte auf dem Tisch, kaute gründlich an den Nägeln und biß sie fast bis zum Fleisch ab (er war gewohnt, seine großen Hände auf diese Weise zu zieren), er balancierte den Teelöffel geschickt auf dem Milchkännchen, stieß es um und so weiter und so weiter. Kurz gesagt, er zeigte alle Symptome von Unruhe und machte all die verzweifelten Versuche, die Zeit totzuschlagen, die die Menschen gewöhnlich unternehmen, wenn sie sehr ängstlich, erwartungsvoll und unruhig sind.

Einige seiner gerade anwesenden Kameraden zogen ihn wegen seines glänzenden Aufzuges und seines aufgeregten Benehmens auf. Einer fragte ihn, ob er wohl heiraten wolle. Dobbin lachte und erwiderte, er würde seinem Kameraden (Major Wagstaff von den Genietruppen) ein Stück Kuchen schicken, wenn es soweit wäre. Endlich erschien Hauptmann Osborne, wie gesagt sehr elegant, aber ungemein blaß und aufgeregt. Er wischte sich das bleiche Gesicht mit einem großen gelben, stark parfümierten Taschentuch ab, schüttelte Dobbin die Hand, blickte auf die Wanduhr und bestellte bei John, dem Kellner, Curaçao. Er schüttete ein paar Gläser [305] von diesem Likör mit nervöser Hast hinunter. Sein Freund fragte mit einiger Teilnahme nach seinem Befinden.

»Habe bis Tagesanbruch nicht ein Auge zugetan, Dob«, sagte er. »Höllisches Kopfweh und Fieber. Stand um neun auf und ging ins Bad. Ich sage dir, Dob, es ist mir gerade so zumute wie an dem Morgen in Quebeck, als ich mich mit Rocket schlug.«

»Mir geht es ebenso«, antwortete William. »Ich war aber an dem Morgen verteufelt nervöser als du. Du hast damals noch tüchtig gefrühstückt, wie ich mich entsinnen kann. Iß jetzt auch etwas.«

»Du bist ein guter, alter Kerl, Will. Ich trinke auf dein Wohl, alter Junge, und dann adieu dem ...«

»Nein, nein. Zwei Gläser sind genug«, unterbrach ihn Dobbin. »Hier, John, bringen Sie den Likör weg. Nimm ein bißchen Cayennepfeffer zu deinem Huhn. Aber beeil dich ein wenig, denn es wird Zeit, daß wir hinkommen.«

Es war ungefähr halb zwölf, als dieses kurze Gespräch zwischen den beiden Hauptleuten stattfand. Eine Kutsche, in der Hauptmann Osbornes Diener das kleine tragbare Briefpult und den Toilettenkasten seines Herrn verstaut hatte, wartete schon einige Zeit. Und nun eilten die beiden Herren unter einem Regenschirm eilig auf die Kutsche zu und stiegen ein, während der Diener den Bock bestieg und den Regen sowie die dampfende Feuchtigkeit des Kutschers neben ihm verwünschte. »Wir werden an der Kirchtüre eine bessere Kalesche finden als die hier«, sagte er, »das ist ein Trost.« Und nun ging es weiter, Piccadilly entlang, wo das Apsley-Haus 1 und das Sankt-Georgs-Hospital noch rote Jacken trugen, wo es noch Öllaternen gab, wo der Achilles 2 noch nicht geboren war und man den Pimlico-Bogen noch nicht gebaut hatte und auch nicht das abscheuliche Monstrum von Reiterstandbild, das die ganze Umgebung jetzt überragt. Und so fuhren sie durch Brompton auf eine bestimmte Kapelle in der Nähe der Fulham Road zu.

[306] Dort wartete eine vierspännige Kutsche und noch eine vornehme, die man damals Glaskutsche nannte. Nur sehr wenige Müßiggänger waren in Anbetracht des abscheulichen Regenwetters dort versammelt.

»Zum Henker!« rief George. »Ich habe doch gesagt, zwei sind genug.«

»Mein Herr wollte vier haben«, sagte Mr. Joseph Sedleys Diener, der dort wartete. Er und auch Mr. Osbornes Diener waren der Ansicht, während sie George und William in die Kirche folgten, daß es »wirklich eine schäbige Veranstaltung sei, wo es kaum ein Frühstück oder eine Hochzeitsschleife gebe«.

»Da seid ihr ja«, sagte unser alter Freund Joe Sedley und trat hinzu. »Du kommst fünf Minuten zu spät, George, mein Junge. Was für ein Tag, nicht? Verdammt noch mal, es ist wie beim Beginn der Regenzeit in Bengalen. Ihr werdet aber merken, daß mein Wagen wasserdicht ist. Kommt, kommt, meine Mutter und Emmy warten in der Sakristei.«

Joe Sedley sah prachtvoll aus. Er war dicker denn je. Sein Hemdkragen war noch höher, sein Gesicht noch röter, seine Hemdkrause prangte in vollem Glanze auf seiner bunten Weste. Lackstiefel waren damals noch nicht erfunden, aber die Reitstiefel an seinen schönen Beinen glänzten so, daß es das gleiche Paar sein mußte, vor dem der Herr auf dem alten Bild sich zu rasieren pflegte. Und auf seinem hellgrünen Frack prangte eine schöne Hochzeitsschleife wie eine große vollerblühte weiße Magnolie.

Mit einem Wort, George hatten den großen Wurf getan. Er war auf dem Wege zur Hochzeit. Daher seine Blässe und Nervosität, die schlaflose Nacht und die Aufregung am Morgen. Ich habe Leute, die dasselbe durchgemacht haben, bekennen hören, daß ihnen ebenso zumute gewesen sei. Nach drei oder vier dieser heiligen Handlungen gewöhnt man sich zweifellos daran, aber jedermann gesteht, daß es beim ersten Mal schrecklich ist.

[307] Die Braut trug einen braunseidenen Umhang (wie Hauptmann Dobbin mir später berichtet hat) und einen Strohhut mit rosa Band. Um den Hut hatte sie einen Schleier aus weißen Chantillyspitzen geschlungen – ein Geschenk von ihrem Bruder, Mr. Joseph Sedley. Hauptmann Dobbin hatte gebeten, ihr eine goldene Kette mit einer Uhr schenken zu dürfen, womit sie sich bei dieser Gelegenheit geschmückt hatte. Ihre Mutter hatte ihr ihre Diamantbrosche geschenkt – fast das einzige Schmuckstück, das der alten Dame geblieben war.

Während der Trauung saß Mrs. Sedley heftig weinend in einem Kirchenstuhl, während das irische Dienstmädchen und Mrs. Clapp, eine Hausbewohnerin, sie trösteten. Der alte Sedley wollte nicht kom men. Joe vertrat seinen Vater und gab die Braut zur Ehe, während Hauptmann Dobbin Georges Brautführer war.

Außer dem Pfarrer und seinen Helfern, dem Brautpaar und ihren Begleitern war niemand in der Kirche. Die beiden Bedienten hatten sich hochmütig in den Hintergrund verzogen. Der Regen trommelte gegen die Fenster. In den Pausen beim Gottesdienst konnte man ihn und das Schluchzen der alten Mrs. Sedley im Kirchenstuhl deutlich hören. Die kahlen Wände gaben die Stimme des Pfarrers traurig zurück. Osbornes »Ja« ertönte in tiefem Baß. Emmys Antwort schwebte zitternd vom Herzen zu den Lippen, wurde aber von kaum jemandem außer Hauptmann Dobbin vernommen.

Als die Trauung vorüber war, trat Joe Sedley vor und küßte seine bräutliche Schwester nach vielen Monaten zum erstenmal. Georges düstere Miene war verschwunden, und er sah stolz und strahlend aus. »Nun bist du dran, William«, sagte er und legte die Hand liebevoll auf Dobbins Schulter. Und Dobbin trat hinzu und berührte Amelias Wange.

Dann gingen sie in die Sakristei, wo sie sich in das Register einschrieben. »Gott segne dich, alter Dobbin«, sagte [308] George und ergriff seine Hand, während etwas Feuchtes in seinen Augen schimmerte. William antwortete nur mit einem Kopfnicken. Sein Herz war ihm zu voll zum Sprechen.

»Schreib gleich und komm, sobald du kannst, ja?« sagte Osborne. Nachdem Mrs. Sedley bewegt von ihrer Tochter Abschied genommen hatte, ging das Paar zur Kutsche. »Aus dem Wege, ihr kleinen Teufel«, rief George einigen durchweichten Gassenjungen zu, die sich an der Kirchentür herumtrieben. Der Regen schlug dem Brautpaar ins Gesicht, als sie zum Wagen schritten. Die Hochzeitsschleifen der Postillione baumelten an ihren triefenden Jacken. Die wenigen Kinder riefen ein trauriges Hurra, als der Wagen schmutzspritzend davonfuhr.

William Dobbin stand in der Kirchentür und sah ihnen nach – eine seltsame Figur. Das kleine Zuschauerhäuflein lachte über ihn, aber er beachtete weder sie noch ihr Gelächter.

»Kommen Sie mit, wir wollen einen kleinen Imbiß einnehmen, Dobbin«, rief eine Stimme hinter ihm, und eine fette Hand legte sich auf seine Schulter. Die Träumerei des ehrlichen Burschen war unterbrochen. Aber dem Hauptmann stand der Sinn jetzt nicht nach einem Festessen mit Joe Sedley. Er half der weinenden alten Dame und ihren Begleitern in Joes Kutsche und verließ sie ohne ein weiteres Wort.

Auch diese Kutsche entfernte sich, und die kleinen Gassenjungen riefen noch ein Hurra, sehr sarkastisch.

»Hier, ihr kleinen Bettler«, sagte Dobbin und verteilte ein paar Münzen unter ihnen. Dann ging er allein durch den Regen davon. Alles war vorbei. Sie waren verheiratet und glücklich, darum betete er zu Gott. Seit seiner Kindheit hatte er sich noch nie so elend und so einsam gefühlt. Mit schmerzhaftem Sehnen wünschte er, daß die ersten Tage vorüber wären, damit er sie wiedersehen könnte.

[309] Etwa zehn Tage nach der beschriebenen Feier genossen drei junge Männer aus unserer Bekanntschaft den herrlichen Anblick von Erkerfenstern auf der einen Seite und blauer See auf der anderen, den Brighton dem Reisenden bietet. Bisweilen schaut der Londoner entzückt zum Meer, wenn es mit zahllosen Grübchen lächelt, mit weißen Segeln gesprenkelt ist und Hunderte von Badekarren den Saum seines blauen Gewandes küssen. Manchmal dagegen, wenn er lieber die menschliche Natur als irgendwelche Aussichten studieren will, dann wendet er sich den Erkerfenstern und dem Menschengewimmel zu, das sich dort zeigt. Aus einem Fenster dringen die Töne eines Klaviers, auf dem eine lockige junge Dame zum großen Entzücken der Hausgenossen sechs Stunden täglich übt. An einem anderen steht das Kindermädchen, die hübsche Polly, die den kleinen Master Omnium auf den Armen wiegt, während man ein Fenster tiefer Jakob, seinen Papa, zum Frühstück Garnelen essen und die »Times« verschlingen sieht. Drüben halten die Misses Leery Ausschau nach den jungen Kürassieroffizieren, die höchstwahrscheinlich an den Klippen spazierengehen. Oder dort hält ein Londoner Kaufmann, wie ein Matrose ausstaffiert, ein Teleskop von der Größe einer Sechspfünderkanone auf das Meer gerichtet, um jedes Vergnügungsboot, jedes Fischerboot und jeden Badekarren, die ans Ufer kommen oder hinausfahren, auszumachen. Aber haben wir Zeit für eine Beschreibung von Brighton? Von Brighton, dem sauberen Neapel mit eleganten Lazzaronis 3, von Brighton, das immer lebhaft, heiter und bunt wirkt wie eine Harlekinsjacke, von Brighton, das zur Zeit unserer Geschichte sieben Stunden von London entfernt ist, jetzt nur noch hundert Minuten, und uns noch wer weiß wieviel näher rücken mag, wenn nicht Joinville 4 kommt und es zur Unzeit bombardiert.

»Was für ein unheimlich hübsches Mädchen, das dort in der Wohnung über der Putzmacherin ist«, meinte einer der drei Spaziergänger zu den anderen. »Bei Gott, Crawley, haben [310] Sie das Zeichen gesehen, das sie mir gab, als ich vorüberging?«

»Brechen Sie ihr nicht das Herz, Joe, Sie Schurke«, sagte ein anderer. »Spielen Sie nicht mit ihrem Gefühl, Sie Don Juan!«

»Kommt, weiter!« sagte Joe Sedley hocherfreut und warf dem betreffenden Dienstmädchen einen unwiderstehlichen Blick hinauf. Joe war in Brighton noch großartiger ausgeputzt als bei der Trauung seiner Schwester. Er hatte prächtige Westen an, von denen schon eine ausgereicht hätte, einen gewöhnlichen Stutzer aus jemandem zu machen. Er trug einen militärischen Überrock mit Säbelösen, Quasten, schwarzen Knöpfen und reichen Stickereien verziert. Er hatte in der letzten Zeit militärische Gewohnheiten und ein militärisches Äußeres angenommen; und er schritt sporenklirrend neben seinen beiden Freunden, die diesem Stande angehörten, gab ungeheuer an und schoß tödliche Blicke auf alle Dienstmädchen ab, die es wert waren, erjagt zu werden.

»Was fangen wir an, Jungs, bis die Damen zurückkommen?« fragte der Stutzer. Die Damen hatten in seinem Wagen eine Spazierfahrt nach Rottingdean gemacht. »Wir wollen eine Partie Billard spielen«, sagte einer seiner beiden Freunde, der große mit dem gefärbten Schnurrbart.

»Nein, verdammt, nein, Hauptmann«, antwortete Joe etwas beunruhigt. »Kein Billard heute, Crawley, mein Junge. Gestern hat es gereicht.«

»Sie spielen sehr gut«, sagte Crawley lachend. »Nicht wahr, Osborne? Hat er nicht die fünf Punkte großartig gemacht, wie?«

»Prachtvoll«, sagte Osborne. »Joe ist ein Teufelskerl beim Billard und überhaupt bei allem. Ich wünschte, es gäbe hier Tigerjagden. Dann könnten wir vor Tisch noch einige erlegen. (Dort geht ein hübsches Mädchen! Was für Fesseln, was, Joe?) Erzähl uns doch die Geschichte von der Tigerjagd und wie du die Bestie im Dschungel erledigt hast – eine [311] wundervolle Geschichte, Crawley.« Hier gähnte Osborne. »Es ist doch verdammt langweilig hier«, sagte er. »Was können wir bloß anfangen?«

»Wollen wir ein paar Pferde ansehen, die Snaffler gerade vom Markt in Lewes mitgebracht hat?« fragte Crawley.

»Wie wäre es, wenn wir zu Dutton Gelee essen gehen würden«, fragte der Schalk Joe, der zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte. »Ein verteufelt hübsches Mädchen haben sie bei Dutton.«

»Wie wäre es, wenn wir uns ansehen, wie der ›Blitz‹ kommt? Es ist gerade die rechte Zeit«, sagte George. Dieser Vorschlag trug den Sieg über Stall und Gelee davon, und sie gingen zum Postkutschenbüro, um die Ankunft des »Blitzes« zu sehen.

Unterwegs trafen sie den Wagen – Joseph Sedleys offenen Wagen mit seinem prachtvollen Wappenschmuck –, das glänzende Gefährt, in dem er majestätisch einsam mit Dreispitz und verschränkten Armen oder, glücklicher, in Damengesellschaft herumzukutschieren pflegte.

Im Augenblick saßen zwei Personen in dem Wagen: die eine war klein, mit hellem Haar und in modischer Kleidung, die andere in einem braunseidenen Umhang und einem Strohhut mit rosa Bändern, mit rosigem, rundem, glücklichem Gesicht, dessen Anblick einem guttat. Sie ließ den Wagen anhalten, als er sich den drei Herren näherte. Nach diesem Autoritätsbeweis schien sie ziemlich nervös und errötete seltsamerweise. »Die Spazierfahrt war wunderschön, George«, sagte sie, »und – und wir sind so froh, daß wir wieder da sind. Und Joseph, sorg dafür, daß er nicht zu spät zurückkommt.«

»Verführen Sie unsere Männer nicht, Mr. Sedley, Sie schlimmer, schlimmer Mann, Sie«, sagte Rebekka und drohte Joseph mit einem hübschen kleinen Finger in den zierlichsten französischen Wildlederhandschuhen. »Kein Billard, kein Rauchen, keine Dummheiten!«

[312] »Meine liebe Mrs. Crawley – ach, oh, bei meiner Ehre!« war alles, was Joe als Antwort hervorbringen konnte, aber er bewahrte doch leidlich Haltung; mit schiefem Kopf lächelte er zu seinem Opfer hinauf, die eine Hand hielt er auf dem Rücken, den er auf den Spazierstock stützte, mit der anderen (der Hand mit dem Diamantring) fingerte er an seiner Hemdkrause und an seinen Westen herum. Als der Wagen sich entfernte, warf er den schönen Insassinnen Diamantenhandküsse zu. Er wünschte, ganz Cheltenham, ganz Chowringhee, ganz Kalkutta würde ihn in dieser Stellung sehen, da er in Gesellschaft eines so berühmten Stutzers wie Rawdon Crawley von der Leibgarde solch einer Schönheit nachwinkte.

Unser junges Brautpaar hatte Brighton als Aufenthaltsort für die ersten paar Tage nach der Hochzeit ausersehen und lebte nun dort sehr behaglich und ruhig im »Schiffshof«, bis Joe zu ihnen kam. Er war aber nicht der einzige Gesellschafter, den sie dort fanden. Wen sollten sie eines Nachmittags, als sie von einem Strandspaziergang zum Hotel zurückkamen, treffen als Rebekka und ihren Mann? Sie erkannten sich augenblicklich. Rebekka flog ihrer lieben Freundin in die Arme. Crawley und Osborne schüttelten sich herzlich die Hand. Becky fand im Laufe weniger Stunden den Weg, um George den kleinen unerfreulichen Wortwechsel zwischen ihnen vergessen zu machen.

»Erinnern Sie sich noch an damals, als wir uns bei Miss Crawley sahen? Ich war damals sehr grob zu Ihnen, mein lieber Hauptmann Osborne. Ich glaubte, Sie vernachlässigten die liebe Amelia, und deshalb war ich so böse, so schnippisch, unfreundlich und undankbar. Vergeben Sie mir doch!« sagte Rebekka und streckte ihm ihre Hand mit so freimütiger, gewinnender Anmut hin, daß Osborne sie einfach ergreifen mußte. Du hast keine Ahnung, mein Sohn, wieviel Gutes du erreichen kannst, wenn du offen und bescheiden dein Unrecht zugibst. Ich kannte einmal einen Herrn, einen recht [313] würdigen Kenner des Jahrmarkts der Eitelkeit, der seinen Nächsten absichtlich ein kleines Unrecht zufügte, um sich später offenherzig und mannhaft dafür zu entschuldigen – und was geschah? Mein Freund Crocky Doyle war überall beliebt. Man hielt ihn zwar für etwas heftig, aber doch für einen sehr ehrlichen Kerl. So nahm auch George Osborne Beckys Demut ernst.

Die beiden jungen Paare hatten einander viel zu erzählen. Sie besprachen ihre Heiraten und die Aussichten für das Leben mit großer Offenheit und lebhaftem Interesse. Georges Heirat sollte sein Freund Hauptmann Dobbin dem alten Osborne mitteilen, und der junge Osborne wartete ängstlich auf das Ergebnis dieser Eröffnung. Miss Crawley, auf der alle Hoffnungen Rawdons ruhten, hatte sich immer noch nicht erweichen lassen. Da es ihrem lieben Neffen und seiner Frau nicht gelungen war, sich zu ihrem Haus in der Park Lane Zutritt zu verschaffen, waren sie ihr nach Brighton gefolgt. Nun belagerten ständig Kundschafter die Tür der alten Dame.

»Ich wollte, du könntest einige von Rawdons Freunden sehen, die unsere Tür ständig belagern«, sagte Rebekka lachend. »Hast du schon einmal einen ungeduldigen Gläubiger gesehen, meine Liebe, oder einen Gerichtsdiener mit seinem Gehilfen? Zwei von diesen abscheulichen Kerlen haben die ganze Woche gegenüber beim Gemüsehändler Wachposten bezogen, und wir konnten daher erst am Sonntag raus 5. Was sollen wir bloß tun, wenn Tantchen unerbittlich bleibt?«

Rawdon erzählte unter schallendem Gelächter ein Dutzend lustige Anekdoten von seinen Gläubigern und wie geschickt Rebekka sie behandelte. Mit einem kräftigen Eid beteuerte er, daß es in ganz Europa keine Frau gebe, die es so gut wie sie verstehe, einen Gläubiger einzuwickeln. Gleich nach der Hochzeit hatte ihre Praxis begonnen, und ihr Mann hatte festgestellt, wie wertvoll doch so eine Frau war. Es mangelte ihnen nicht an Kredit, aber ebensowenig mangelte[314] es ihnen an unbezahlten Rechnungen, und es fehlte ihnen an Bargeld. Hatten diese Geldschwierigkeiten einen Einfluß auf Rawdons gute Laune? Nein. Jedermann auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit wird schon bemerkt haben, wie gut diejenigen leben, die bis über die Ohren in Schulden stecken, wie sie sich nichts versagen und wie lustig und unbekümmert sie sind. Rawdon und seine Frau hatten in Brighton die besten Zimmer im Gasthof, der Wirt verbeugte sich vor ihnen wie vor seinen reichsten und vornehmsten Gästen, wenn er ihnen das erste Gericht hereinbrachte, und Rawdon schimpfte über Essen und Wein mit einer Unverschämtheit, die kein reicher Mann hätte übertreffen können. Lange Übung, eine männliche Erscheinung, tadellose Stiefel und Kleider und ein glückliches Temperament sind oft einem Menschen ebenso nützlich wie ein großes Bankkonto.

Die beiden jungen Ehepaare besuchten sich häufig auf ihren Zimmern. Nach zwei oder drei Abenden spielten die Herren ein bißchen Pikett, während ihre Frauen sich zum Plaudern zurückgezogen hatten. Dieser Zeitvertreib sowie die Ankunft Joseph Sedleys, der in seinem prächtigen offenen Wagen erschien und einige Partien Billard mit Hauptmann Crawley spielte, füllten Rawdons Börse wieder einigermaßen und verhalfen ihm zu dem flüssigen Geld, ohne das oft auch die größten Geister nicht mehr weiterwissen.

Die drei Herren gingen also hinab, um die Ankunft des »Blitzes« zu beobachten. Pünktlich auf die Minute kam die Postkutsche, innen und außen vollbesetzt, die Straße herabgerattert; der Postillion blies seine gewöhnliche Melodie, und der »Blitz« hielt vor dem Büro.

»Hallo! Da ist ja der alte Dobbin«, rief George erfreut, als er seinen alten Freund auf dem Dach thronen sah. Dieser hatte seinen versprochenen Besuch in Brighton bis jetzt hinausgezögert. »Wie geht's dir, alter Bursche? Schön, daß du endlich gekommen bist. Emmy wird sich freuen, dich zu sehen«, sagte Osborne und schüttelte die Hand seines Kameraden, [315] so bald er herabgestiegen war. Dann setzte er leiser und erregter hinzu: »Was gibt's Neues? Bist du am Russell Square gewesen? Was sagt der Alte? Erzähl mir alles.«

Dobbin war sehr bleich und ernst. »Ich war bei deinem Vater«, sagte er. »Wie geht es Amelia – Mrs. Osborne? Ich werde dir gleich alles erzählen. Aber vorher habe ich noch eine viel wichtigere Nachricht, und zwar ...«

»Heraus damit, alter Bursche«, sagte George.

»Wir haben Marschbefehl nach Belgien erhalten. Die ganze Armee geht dahin – die Garde und alle. Heavytop hat die Gicht und tobt, weil er sich nicht bewegen kann. O'Dowd hat das Kommando übernommen. Nächste Woche schiffen wir uns in Chatham ein.«

Diese Kriegsnachricht war für unsere Liebenden ein schwerer Schlag, und alle Herren sahen mit einemmal sehr ernst aus.

Fußnoten

1 Haus des Herzogs von Wellington in London.

2 Gemeint ist die sog. Achillesstatue, eine Bronzestatue des englischen Bildhauers Richard Westmacott (1799-1872), die 1822 in London zu Ehren des Herzogs von Wellington und seiner Mitkämpfer in den Napoleonischen Kriegen aufgestellt wurde.

3 (ital.) herumlungernde Bettler in Neapel.

4 François d'Orléans, Prinz von Joinville (1818-1900), Sohn des französischen Königs Louis-Philippe, hoher Marineoffizier.

5 Damit Verschuldeten der Kirchgang ermöglicht wurde, durften in England Gläubiger ihre Schuldner nur an den Werktagen auf der Straße belangen.

23. Kapitel
Hauptmann Dobbin als Vermittler

Welchen geheimen Mesmerismus 1 besitzt doch die Freundschaft, wenn unter ihrem Einfluß ein sonst träger, kalter oder furchtsamer Mensch für einen Freund klug, tätig und entschlossen wird? Wie Alexis nach einigen Strichen von Doktor Elliotson keinen Schmerz mehr verspürt, mit dem Hinterkopf liest, meilenweit und in die nächste Woche sieht und andere Wunder vollbringt, zu denen er im normalen Zustand niemals fähig wäre, so wird auch draußen in der Welt unter dem Magnetismus der Freundschaft der Bescheidene kühn, der Scheue zutraulich, der Träge fleißig und der Ungestüme vorsichtig und friedlich. Was veranlaßt den Advokaten, seinen eigenen Rechtsfall nicht selbst zu führen und seinen gelehrten Kollegen als Ratgeber heranzuziehen? Was veranlaßt den kranken Arzt, nach seinem Rivalen zu schicken, [316] anstatt sich hinzusetzen, um seine Zunge im Spiegel zu betrachten oder sich am eigenen Schreibtisch etwas zu verschreiben? Ich stelle diese Fragen, damit intelligente Leser sie beantworten können, die wissen, wie leichtgläubig und skeptisch, wie nachgiebig und eigensinnig, wie standhaft und schüchtern wir gleich zeitig sind – in den Angelegenheiten anderer und in unseren eigenen. Es ist jedenfalls sicher, daß unser Freund William Dobbin persönlich so nachgiebig war, daß er wahrscheinlich in die Küche hinuntergestiegen wäre, um die Köchin zu heiraten, wenn seine Eltern ihn gedrängt hätten; und wenn es seinen eigenen Interessen gegolten hätte, wäre er deshalb wohl kaum über die Straße gegangen, so aber entwickelte er in George Osbornes Angelegenheiten eine so große Geschäftigkeit und einen Eifer, wie der selbstsüchtigste Taktiker nur in seinen eigenen Sachen an den Tag legen könnte.

Während unser Freund George und seine junge Frau die ersten rosigen Tage der Flitterwochen in Brighton genossen, mußte der ehrliche William als Georges Bevollmächtigter in London zurückbleiben, um den geschäftlichen Teil der Heirat zu erledigen. Seine Aufgabe war es, Mr. Sedley und seine Frau zu besuchen und den Alten bei guter Laune zu erhalten; er mußte Joseph seinem Schwager näherbringen, damit Joes Rang und Würde als Steuereinnehmer von Boggley Wollah als Ersatz für den Sturz seines Vaters dienen und den alten Osborne geneigter machen konnte, sich in die Verbindung zu fügen. Schließlich mußte er ihm die Heirat so mitteilen, daß der Zorn des guten Herrn sowenig wie möglich erregt würde.

Dobbin war der Ansicht, daß es diplomatisch wäre, die übrigen Familienmitglieder zu gewinnen, ehe er dem Haupt des Hauses mit seiner Mitteilung kommen wollte. Er wollte möglichst die Damen auf seine Seite ziehen, weil er dachte, sie könnten im Herzen nicht böse sein. Noch nie war eine Frau wegen einer romantischen Heirat böse gewesen. Es [317] würde ein bißchen Geschrei geben, aber dann mußten sie auf die Seite ihres Bruders treten, und später könnten sie alle drei den alten Mr. Osborne belagern. So überlegte sich also dieser ränkevolle Infanteriehauptmann ein paar geeignete Mittel oder eine Kriegslist, um die beiden Miss Osborne leise und allmählich in das Geheimnis ihres Bruders einzuweihen.

Durch ein paar Fragen über Einladungen, die seine Mutter erhalten hatte, machte er bald ausfindig, welche ihrer Freundinnen bald Gesellschaften geben würden und wo er Osbornes Schwestern eventuell treffen konnte. Und obgleich er vor Bällen und Abendgesellschaften wie viele verständige Männer einen Abscheu hatte, so fand er doch bald ein Vergnügen, zu dem die Schwestern erscheinen mußten. Er kam also auf den Ball und tanzte mit beiden ein paarmal und war ausgesprochen höflich, bis er endlich den Mut fand, Miss Osborne um eine kurze Unterredung für den nächsten Morgen zu bitten, da er ihr, wie er sagte, Neuigkeiten von höchstem Interesse mitzuteilen habe.

Warum fuhr sie wohl zusammen und starrte einen Augenblick auf ihn und dann auf den Boden zu ihren Füßen? Sie tat, als ob sie in seinen Armen in Ohnmacht sinken müßte, er trat ihr aber noch rechtzeitig auf die Zehen und brachte so die junge Dame wieder zu sich selbst. Warum war sie so heftig erregt, als Dobbin seine Bitte vortrug? Das wird ewig ein Geheimnis bleiben. Als er aber am darauffolgenden Tage erschien, war Maria nicht bei ihrer Schwester im Salon, und Miss Wirt entfernte sich, um sie zu holen. So blieb der Hauptmann allein mit Miss Osborne. Sie waren beide so still, daß das Ticktack der Uhr mit dem Opfer der Iphigenie auf dem Kaminsims unbarmherzig laut ertönte.

»Was war das doch für ein netter Ball gestern abend«, fing Miss Osborne endlich an, um den Hauptmann zu ermutigen, »und – und welche Fortschritte Sie im Tanzen gemacht haben, Hauptmann Dobbin! Gewiß hat es Ihnen jemand beigebracht«, setzte sie mit liebenswürdigem Schalk hinzu.

[318] »Sie sollten einmal sehen, wie ich einen Schottischen mit Frau Major O'Dowd von unserem Regiment tanze oder eine Gigue – haben Sie schon mal eine Gigue gesehen? Aber ich glaube, mit Ihnen, Miss Osborne, könnte jeder tanzen, wo Sie doch eine so gute Tänzerin sind.«

»Ist die Majorin jung und schön, Hauptmann?« fuhr die hübsche Fragerin fort. »Ach, es ist doch gewiß schrecklich, die Frau eines Soldaten zu sein! Ich möchte wissen, ob sie überhaupt noch Lust zum Tanzen haben, und noch dazu in diesen furchtbaren Kriegszeiten! Ach, Hauptmann Dobbin, ich zittere bisweilen, wenn ich an unseren lieben George und an die Gefahren des Soldatenlebens denke. Sind beim ...ten Regiment viele Offiziere verheiratet, Hauptmann Dobbin?«

Ehrlich gesagt, spielt sie wohl doch etwas zu sehr mit offenen Karten, dachte Miss Wirt. Allein diese Bemerkung steht nur in Klammern und war durch die Türspalte, an der die Gouvernante sie machte, nicht zu hören.

»Einer unserer jungen Leute hat gerade geheiratet«, sagte Dobbin und steuerte damit auf den Kern zu. »Es war eine sehr alte Liebe, und das junge Ehepaar ist so arm wie eine Kirchenmaus.«

»Oh, wie entzückend! Oh, wie romantisch!« rief Miss Osborne, als der Hauptmann die Worte »alte Liebe« und »arm« aussprach. Ihr Mitgefühl gab ihm Mut.

»Der beste junge Bursche im ganzen Regiment«, fuhr er fort. »Es gibt in der ganzen Armee keinen tapfereren oder hübscheren Offizier und solch eine bezaubernde Frau! Wie würden Sie sie lieben, wie werden Sie sie lieben, wenn Sie sie kennenlernen, Miss Osborne.«

Die junge Dame glaubte, nun sei der große Augenblick gekommen, denn Dobbins nervöse Gesichtszuckungen, seine Art und Weise, mit den großen Füßen den Boden zu stampfen, das rasche Auf- und Zuknöpfen seines Rockes und so weiter schienen Miss Osborne anzudeuten, daß er, sobald er sich etwas gefaßt hätte, sein ganzes Herz ausschütten würde. [319] Sie bereitete sich schon vor, ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zuzuhören. Als die Uhr mit ihrem Altar darauf, auf dem Iphigenie sich befand, nach einem einleitenden Röcheln anfing, die zwölfte Stunde zu schlagen, schien es, als ob die Schläge bis ein Uhr dauern würden – so ewig kam es der ängstlich harrenden Jungfrau vor.

»Aber ich wollte nicht vom Heiraten sprechen – das heißt von dieser Heirat – das heißt – nein, ich meine – meine liebe Miss Osborne, es dreht sich um unseren lieben Freund George«, sagte Dobbin.

»George?« sagte sie so verwirrt, daß Maria und Miss Wirt hinter der Tür lachen mußten und daß selbst der arme Schelm von einem Dobbin ein Lächeln bekämpfen mußte. Er kannte nämlich den Stand der Dinge ganz gut, denn George hatte ihn oft geneckt und zu ihm gesagt: »Zum Henker, Will, warum heiratest du nicht die gute Jane? Sie nimmt dich, wenn du sie fragst. Ich wette fünf gegen zwei, daß sie's tut.«

»Ja, George«, fuhr er fort. »Es hat doch zwischen ihm und Mr. Osborne eine Auseinandersetzung gegeben. Ich schätze ihn so sehr – Sie wissen ja, daß wir stets wie Brüder gewesen sind –, und ich hoffe und bete, der Streit möge beigelegt werden. Wir müssen fort von England, Miss Osborne. Jeden Tag kann der Marschbefehl kommen. Wer weiß, was während des Feldzuges geschieht? Regen Sie sich nicht auf, liebe Miss Osborne; die beiden sollten wenigstens als Freunde scheiden.«

»Es hat keinen Streit gegeben, Hauptmann Dobbin, nur eine seiner üblichen Szenen mit Papa«, sagte die Dame. »Wir erwarten George täglich zurück. Papa wollte nur sein Bestes. Er braucht bloß zurückzukommen, und dann ist alles wieder gut, da bin ich sicher. Und die liebe Rhoda, die sehr, sehr böse und traurig von hier fortgegangen ist, wird ihm ganz gewiß verzeihen. Eine Frau verzeiht nur zu leicht, Hauptmann.«

»Ein Engel wie Sie bestimmt«, sagte Mr. Dobbin mit abscheulicher List. »Und kein rechter Mann kann es sich verzeihen, [320] einer Frau Schmerz zugefügt zu haben. Was würden Sie fühlen, wenn ein Mann Ihnen untreu würde?«

»Ich würde sterben – ich würde mich aus dem Fenster stürzen – ich würde Gift nehmen – ich würde mich zu Tode grämen. Ja, bestimmt«, rief Miss Osborne, die allerdings schon einige Herzensangelegenheiten durchgemacht hatte, ohne an Selbstmord zu denken.

»Es gibt aber auch andere«, fuhr Dobbin fort, »die ebenso aufrichtig, so gutherzig sind wie Sie. Ich spreche nicht von der westindischen Erbin, Miss Osborne, sondern von einem armen Mädchen, das George einst liebte und das von ihrer frühesten Kindheit in Gedanken an ihn erzogen wurde. Ich habe sie klaglos, mit gebrochenem Herzen, aber ohne Falsch in ihrer Armut gesehen. Ich spreche von Miss Sedley. Liebe Miss Osborne, kann Ihr edelmütiges Herz Ihrem Bruder deswegen zürnen, weil er ihr treu blieb? Könnte er seinem eigenen Gewissen je verzeihen, wenn er sie verließe? Seien Sie ihre Freundin – sie hat Sie immer liebgehabt – und – und ich stehe hier, von George beauftragt, und soll Ihnen sagen, daß er seine Verpflichtungen gegenüber Miss Sedley als seine heiligsten betrachtet, und wenigstens Sie bitten, zu ihm zu halten.«

Wenn Mr. Dobbin von einer starken Gemütsbewegung ergriffen wurde, so konnte er nach anfänglichem Stocken sehr geläufig sprechen, und es war offensichtlich, daß seine Beredsamkeit auf seine Gesprächspartnerin doch einigen Eindruck machte.

»Nun«, sagte sie, »das ist – sehr überraschend – sehr schmerzlich – ganz außerordentlich. Was wird Papa dazu sagen – daß George eine so großartige Partie ablehnt – aber auf jeden Fall hat er einen tüchtigen Fürsprecher an Ihnen gefunden, Hauptmann Dobbin. Es hilft aber nichts«, fuhr sie nach einer Pause fort, »die Lage der armen Miss Sedley geht mir ganz gewiß zu Herzen, ja, sehr zu Herzen, wissen Sie. Wir hielten die Partie nie für gut, obgleich wir hier stets[321] freundlich, ja, sehr freundlich zu ihr waren. Aber Papa wird nie seine Einwilligung geben, da bin ich sicher. Und ein wohlerzogenes junges Mädchen, wissen Sie – ein Mädchen mit Verstand – muß ... George muß sie aufgeben, lieber Hauptmann Dobbin, ja, das muß er.«

»Darf ein Mann die Frau aufgeben, die er liebt, gerade wenn sie ins Unglück gerät?« fragte Dobbin und streckte die Hand aus. »Liebe Miss Osborne! Ist das der Rat, den ich von Ihnen höre? Mein liebes gnädiges Fräulein, Sie müssen ihre Freundin sein. Er kann sie nicht aufgeben. Er darf sie nicht aufgeben. Würde ein Mann Sie aufgeben, wenn Sie arm wären?«

Diese geschickte Frage rührte Miss Jane Osbornes Herz. »Ich weiß nicht, ob wir armen Mädchen euch Männern glauben dürfen, Hauptmann«, sagte sie. »Die Liebe macht die Frauen allzu leichtgläubig. Ich befürchte, ihr seid grausame, grausame Betrüger.« Dobbin vermeinte sicher einen Druck der Hand zu spüren, die Miss Osborne ihm hingehalten hatte.

Er ließ sie etwas bestürzt los. »Betrüger!« sagte er. »Nein, liebe Miss Osborne, nicht alle Männer sind Betrüger. Ihr Bruder ist jedenfalls keiner. George hat Amelia Sedley schon geliebt, als sie noch Kinder waren; kein Reichtum könnte ihn bewegen, eine andere zu heiraten als sie. Soll er sie verlassen? Würden Sie ihm raten, das zu tun?«

Was konnte Miss Jane auf solch eine Frage antworten, zumal sie ihre eigenen besonderen Absichten hegte? Sie konnte nicht antworten, also wich sie aus und sagte:

»Nun schön, wenn Sie kein Betrüger sind, so sind Sie jedenfalls sehr romantisch.« Diese Bemerkung ließ Hauptmann William unangefochten.

Als er schließlich durch noch einige höfliche Redensarten Miss Osborne genügend vorbereitet glaubte, die Neuigkeit zu hören, schenkte er ihr die Wahrheit ein. »George könnte Amelia gar nicht aufgeben – George hat sie geheiratet«, und [322] dann erzählte er ihr die näheren Umstände der Heirat und alles, was wir bereits wissen: daß das arme Mädchen gestorben wäre, hätte ihr nicht ihr Liebhaber die Treue gehalten, daß der alte Sedley von der Heirat nichts habe wissen wollen und daß man sich eine Lizenz verschaffen mußte, daß Joseph Sedley von Cheltenham gekommen sei, um die Braut zur Ehe zu geben, daß sie in Joes Vierspänner nach Brighton gefahren seien, um dort die Flitterwochen zu verleben, und daß George auf seine lieben, guten Schwestern rechne, die ihn mit ihrem Vater wieder aussöhnen müßten, denn sie seien doch so treue und zärtliche Mädchen und würden es gewiß tun. Damit verbeugte sich Hauptmann Dobbin und nahm Abschied, nachdem er noch um die (bereitwillig gegebene) Erlaubnis gebeten hatte, sie wieder besuchen zu dürfen. Er vermutete ganz richtig, daß es kaum fünf Minuten dauern würde, bis die anderen Damen die Neuigkeit, die er gebracht hatte, erfahren würden.

Kaum war er aus dem Hause, so stürzten Miss Maria und Miss Wirt zu Miss Osborne herein, und die junge Dame teilte ihnen nun das ganze wunderbare Geheimnis mit. Dabei muß ich jedoch den beiden Schwestern die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß keine sehr böse war. Eine Entführung hat etwas an sich, daß nur wenige Damen ernstlich böse darüber sein können, und wegen des Mutes, den Amelia gezeigt hatte, indem sie ihre Zustimmung zu der Verbindung gab, stieg sie sogar in ihrer Achtung. Während sie die Geschichte besprachen und schwatzten und überlegten, was Papa wohl tun und sagen würde, dröhnte an der Tür ein lautes Klopfen, ähnlich einem rächenden Donnerschlag, und ließ die Verschwörerinnen zusammenfahren. Das muß Papa sein, dachten sie. Aber er war es nicht. Es war nur Mr. Frederick Bullock, der versprochen hatte, die Damen in eine Blumenausstellung zu begleiten, und deshalb aus der City kam.

Wie man sich wohl denken kann, wurde diesem Herrn das Geheimnis nicht lange vorenthalten. Als er es dann erfuhr, [323] zeigte sein Gesicht jedoch eine Verwunderung, die ganz und gar verschieden war von dem sentimentalen Staunen in der Miene der Schwestern. Mr. Bullock war ein Mann von Welt und der jüngere Teilhaber einer reichen Firma. Er wußte, was das Geld bedeutet, und kannte dessen Wert. In seinen kleinen Augen blitzte ein schöner Strahl der Erwartung auf, und er lächelte seiner Maria zu bei dem Gedanken, daß sie durch diesen Narrenstreich von Mr. George dreißigtausend Pfund mehr wert werden könnte, als er je mit ihr zu bekommen gehofft hatte.

»Bei Gott, Jane«, sagte er und musterte selbst die ältere Schwester mit einigem Interesse, »Eels wird es nun leid tun, daß er sich von Ihnen losgesagt hat. Sie können noch einmal ein Fünfzigtausendpfünder werden.«

Bis jetzt hatten die Schwestern noch nie an die Geldfrage gedacht, aber Fred Bullock neckte sie deswegen bei ihrem Vormittagsausflug mit anmutiger Lustigkeit, und als sie nach diesem morgendlichen Vergnügen zum Essen zurückfuhren, waren sie in ihrer eigenen Achtung nicht wenig gestiegen. Der verehrte Leser soll nun diese Selbstsucht nicht etwa als unnatürlich betrachten. Erst heute morgen bemerkte der Verfasser dieser Geschichte, während er auf dem Omnibus aus Richmond saß, beim Pferdewechsel, wie drei schmutzige kleine Kinder in einer Pfütze freundschaftlich und glücklich miteinander spielten. Zu diesen dreien gesellte sich noch ein kleines Mädchen. »Polly«, sagte es, »deine Schwester hat einen Penny bekommen.« Sofort sprangen die Kinder von ihrer Pfütze auf und rannten davon, um Peggy den Hof zu machen. Und als der Omnibus davonfuhr, sah ich Peggy mit dem Kindergefolge würdevoll auf den Stand einer Süßwarenhändlerin in der Nähe zuschreiten.

Fußnoten

1 Lehre von der heilenden Wirkung magnetischer Kräfte, die angeblich dem Menschen innewohnen; benannt nach ihrem Begründer, dem deutschen Theologen und Arzt Franz Mesmer (1734-1815).

[324] 24. Kapitel
In dem Osborne die Familienbibel herunterlangt

Nachdem Dobbin die Schwestern vorbereitet hatte, eilte er nach der City, um den letzten und schwierigsten Teil seiner Aufgabe zu erfüllen. Der Gedanke, dem alten Osborne gegenüberzustehen, machte ihn nicht wenig unruhig, und mehr als einmal dachte er, er wolle es den jungen Damen überlassen, ihm das Geheimnis mitzuteilen, das sie – wie er wohl wußte – nicht lange für sich behalten konnte. Aber er hatte George versprochen, ihm zu berichten, wie der alte Osborne die Nachricht aufgenommen habe, und deshalb ging er in die City zum Kontor Osbornes in der Thames Street und gab dort ein Billett für Mr. Osborne ab, in dem er ihn um eine halbstündige Unterredung betreffs seines Sohnes George bat. Dobbins Bote kam aus dem Büro zurück mit Empfehlungen Mr. Osbornes, der sich glücklich schätzen würde, den Hauptmann gleich zu sprechen. Dobbin machte sich daher auf, ihm gegenüberzutreten.

Der Hauptmann, mit der Aussicht, ein Geheimnis zu enthüllen, an dem er nicht schuldlos war, und eine stürmische und höchst unangenehme Unterredung vor sich zu haben, betrat das Kontor von Mr. Osborne mit trüber Miene und unsicherem Schritt. Als er durch das Vorzimmer ging, wo Mr. Chopper herrschte, grüßte ihn dieser Angestellte vom Schreibtisch aus mit schalkhafter Miene, und das brachte ihn noch mehr aus der Fassung. Mr. Chopper zwinkerte und nickte ihm zu, deutete mit dem Federhalter auf die Tür des Prinzipals und sagte aufreizend humorvoll: »Sie werden den Alten in guter Stimmung finden.«

Osborne erhob sich ebenfalls, schüttelte ihm freundschaftlich die Hand und sagte: »Na wie geht's, mein lieber Junge?« mit einer Herzlichkeit, daß der Abgesandte des armen George sich doppelt schuldig fühlte. Seine Hand lag wie tot in der des alten Mannes. Er fühlte, daß er, Dobbin, mehr oder [325] weniger schuld an allem Geschehenen sei. Er war es, der George zu Amelia zurückgeführt hatte, er hatte die Heirat gebilligt, gefördert, ja fast zustande gebracht, die er nun Georges Vater mitzuteilen gekommen war, und der Alte empfing ihn noch mit freundlichem Lächeln, klopfte ihm auf die Schulter und nannte ihn »Dobbin, mein lieber Junge«. Der Abgesandte hatte wohl Ursache, den Kopf hängenzulassen.

Osborne glaubte nicht anders, als daß Dobbin gekommen sei, um ihm die Unterwerfung seines Sohnes zu melden. Mr. Chopper hatte mit seinem Prinzipal gerade von der Angelegenheit gesprochen, als Dobbins Bote erschien. Beide waren sich einig, daß George seine Unterwerfung mitteilen lasse. Beide hatten schon seit einigen Tagen damit gerechnet. »Mein Gott! Chopper, was für eine Hochzeit werden wir haben!« sagte Mr. Osborne zu seinem Angestellten, dabei knackte er mit den dicken Fingern und klapperte mit den Guineen und Shillings in seinen großen Taschen, als er seinen Untergebenen mit triumphierender Miene ansah.

Mit ähnlichen Geräuschen in beiden Taschen und einer schlauen, fröhlichen Miene betrachtete Osborne von seinem Stuhle aus Dobbin, der ihm wortlos verlegen gegenübersaß. Für einen Hauptmann ist er doch ein rechter Tolpatsch, dachte der alte Osborne. Es will mir nicht in den Kopf, daß George ihm noch keine besseren Manieren beigebracht hat.

Endlich faßte sich Dobbin ein Herz zu beginnen. »Sir«, sagte er, »ich bringe Ihnen sehr ernste Nachrichten. Ich bin an diesem Morgen im Kriegsministerium gewesen, und es unterliegt keinem Zweifel, daß unser Regiment noch vor Ende dieser Woche Marschbefehl erhält und nach Belgien geht. Und Sie wissen, Sir, daß wir erst zurückkommen werden, wenn wir eine Schlacht geschlagen haben, die manchem von uns verhängnisvoll werden wird.«

Osborne sah sehr ernst aus. »Mein S ... das Regiment wird seine Pflicht tun, Sir, das wage ich zu behaupten«, sagte er.

[326] »Die Franzosen sind sehr stark, Sir«, fuhr Dobbin fort. »Es wird lange dauern, bis die Russen und Österreicher ihre Truppen heranbringen. Wir werden die ersten im Kampf sein, Sir, und verlassen Sie sich darauf, Bony wird schon dafür sorgen, daß der Kampf hart wird.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Dobbin?« fragte sein Gegenüber unruhig und finster. »Ich nehme doch an, kein Brite fürchtet sich vor einem verdammten Franzosen, wie?«

»Ich meine nur, bevor wir losrücken und wenn wir die große und sichere Gefahr, die über uns allen schwebt, betrachten, so wäre es gut – falls Differenzen zwischen Ihnen und George bestehen – wenn – wenn Sie sich die Hände reichen würden, nicht wahr? Sollte ihm etwas zustoßen, so würden Sie es sich wohl nie verzeihen können, nicht in Güte von ihm geschieden zu sein.«

Bei diesen Worten wurde der arme William Dobbin scharlachrot, er fühlte und mußte sich selbst eingestehen, daß er ein Verräter sei. Wäre er nicht gewesen, so wäre es wahrscheinlich nie zu dieser Trennung gekommen. Warum war Georgs Heirat nicht aufgeschoben worden? Welchen Grund gab es, so übereifrig darauf zu drängen? Er fühlte, daß George sich jedenfalls ohne tödlichen Schmerz von Amelia getrennt hätte. Auch Amelia hätte sich von dem Schlag viel leicht wieder erholt. Sein Rat war es gewesen, der diese Heirat und alle ihre Folgen zuwege gebracht hatte. Und warum bloß? Weil er sie so sehr liebte, daß er es nicht ertragen konnte, sie unglücklich zu sehen, oder vielleicht weil ihm die schmerzliche Ungewißheit so unerträglich war, daß er die Gelegenheit ergriff, sie mit einem Male ersticken zu können – wie wir nach einem Todesfall das Begräbnis beschleunigen oder wie wir, wenn eine Trennung von unseren Lieben bevorsteht, keine Ruhe finden, ehe der Abschied vorüber ist.

»Sie sind ein guter Junge, William«, sagte Mr. Osborne in sanftem Ton, »und ich und George sollten nicht im Zorne [327] voneinander scheiden, das ist wahr. Sehen Sie, ich habe für ihn getan, was nur je ein Vater tun kann. Er hat bestimmt dreimal soviel Geld von mir bekommen wie Sie von Ihrem Vater. Aber ich brüste mich nicht damit. Ich will nicht davon sprechen, wie ich mich für ihn abgeplagt, wie ich gearbeitet und meine Fähigkeit und Energie aufgewandt habe. Fragen Sie Chopper. Fragen Sie ihn selbst. Fragen Sie die City von London. Nun schlage ich ihm eine Heirat vor, auf die jeder britische Edelmann stolz sein würde – das einzige, was ich jemals von ihm erbeten habe, und er will nicht. Habe ich unrecht? Ist der Streit mein Werk? Was will ich anderes als sein Wohlergehen, für das ich seit seiner Geburt wie ein Sträfling geschuftet habe? Niemand kann sagen, daß ich selbstsüchtig bin. Lassen Sie ihn zurückkommen. Ich sage, hier ist meine Hand, ich will vergessen und vergeben. Heiraten kann er jetzt sowieso nicht. Er soll sich mit Miss Swartz einigen und später heiraten, wenn er als Oberst zurückkommt; denn er soll Oberst werden, bei Gott, ja, das soll er, wenn Geld es tun kann. Ich bin froh, daß Sie ihn herumgebracht haben. Ich weiß, es ist Ihr Werk, Dobbin. Sie haben ihm schon aus mancher Patsche geholfen. Lassen Sie ihn zurückkommen, ich werde nicht hart sein. Kommen Sie beide heute zum Essen am Russell Square. Im alten Haus, zur alten Zeit. Sie werden einen Rehrücken bekommen, und es wird nichts gefragt.«

Dieses Lob und Vertrauen trafen Dobbins Herz tief. Jeder Augenblick des Gesprächs in diesem Ton länger verstärkte sein Schuldgefühl. »Sir«, sagte er, »ich fürchte, Sie täuschen sich. Bestimmt! George ist viel zu hochherzig, um wegen Geldes zu heiraten. Eine Drohung von Ihnen, ihn zu enterben, falls er sich ungehorsam erweisen sollte, würde nur Widerstand bei ihm hervorrufen.«

»Na, zum Henker, Mann, ein Angebot von acht-bis zehntausend pro Jahr nennen Sie doch wohl nicht Drohung?« sagte Mr. Osborne, immer noch aufreizend gut gelaunt. [328] »Mein Gott, wenn Miss Swartz mich haben will, dann bin ich ihr Mann. Ein bißchen mehr oder weniger schwarz macht mir nichts aus.« Dabei grinste der alte Herr bedeutsam und brach in ein rauhes Gelächter aus.

»Sie vergessen frühere Verbindungen von Hauptmann Osborne«, sagte der Gesandte ernst.

»Welche Bindungen? Was zum Teufel meinen Sie? Sie meinen doch wohl nicht«, fuhr Mr. Osborne fort, dem mit diesem Gedanken Zorn und Verwunderung aufstiegen, »Sie meinen doch wohl nicht, daß er ein so verdammter Narr ist und immer noch der Tochter von dem alten Schwindler und Bankrotteur nachläuft? Sie sind doch wohl nicht hierhergekommen, um mich glauben zu machen, daß er diese heiraten will? Die heiraten – das wäre ein guter Witz. Mein Sohn und Erbe eine Bettlerstochter aus der Gosse heiraten! Gott verdamm ihn, wenn er das tut, dann mag er sich einen Besen kaufen und die Straße fegen. Andauernd ist sie ihm nachgelaufen und hat ihm schöne Augen gemacht, jetzt fällt es mir wieder ein. Und ich bin sicher, ihr alter Gauner von einem Vater hat sie angestiftet.«

»Mr. Sedley war einst ein sehr guter Freund von Ihnen, Sir«, fiel Dobbin ein, beinahe froh, daß er selbst wütend wurde. »Es gab einmal eine Zeit, wo Sie ihm bessere Namen gönnten als Spitzbube und Schwindler. Die Verbindung ist ja Ihr Werk. George hatte kein Recht, ein leichtfertiges Spiel zu treiben ...«

»Ein leichtfertiges Spiel treiben«, brüllte der alte Osborne. »Ein leichtfertiges Spiel treiben! Hach, verdammt, das sind ja dieselben Worte, die mein Gentleman benutzte, als er sich am Donnerstag vor vierzehn Tagen so aufspielte und seinem Vater, der erst etwas aus ihm gemacht hat, was von der britischen Armee erzählte. Wie, sind Sie es, der ihm das eingeredet hat? Meinen besten Dank dafür, Herr Hauptmann. Sind Sie es, der Bettler in meine Familie bringen will? Danke ergebenst, Herr Hauptmann. Er und die heiraten! Warum [329] bloß? Ich garantiere Ihnen, sie würde auch ohne das schnell genug zu ihm laufen.«

»Sir«, fuhr Dobbin in unverhohlenem Zorne auf, »niemand darf in meiner Gegenwart die Dame beschimpfen, und Sie am allerwenigsten.«

»Ach, Sie wollen mich herausfordern, ja? Warten Sie, ich will nach zwei Pistolen klingeln. Mr. George hat Sie hergeschickt, um seinen Vater zu beleidigen, nicht wahr?« sagte Osborne und riß an der Klingelschnur.

»Mr. Osborne«, sagte Dobbin mit versagender Stimme, »Sie sind es, der das beste Wesen der Welt beleidigt. Sie sollten sie lieber schonen, Sir, denn sie ist Ihres Sohnes Frau.«

Und mit diesen Worten entfernte sich Dobbin, da er fühlte, daß er nichts weiter sagen könnte. Osborne sank in seinen Stuhl und sah ihm wild nach. Auf das Klingeln hin betrat ein Angestellter den Raum; und kaum hatte der Hauptmann den Hof verlassen, in dem Mr. Osbornes Büro lag, als Mr. Chopper, der Buchhalter, ihm ohne Hut nachgerannt kam. »Um Gottes willen, was ist passiert?« rief Mr. Chopper und ergriff den Hauptmann an den Rockschößen. »Der Alte ist in Ohnmacht gefallen. Was hat: Mr. George bloß angestellt?«

»Er hat vor fünf Tagen Miss Sedley geheiratet«, erwiderte Dobbin. »Ich war sein Brautführer, Mr. Chopper, und Sie müssen sein Freund bleiben.«

Der alte Buchhalter schüttelte den Kopf. »Wenn das Ihre Neuigkeit ist, Hauptmann, dann steht es schlimm. Das wird ihm der Alte nie verzeihen.«

Dobbin bat Chopper, er möchte ihn in dem Hotel, in dem er abgestiegen sei, die weitere Entwicklung wissen lassen, und ging gedankenvoll und wegen der Vergangenheit und Zukunft beunruhigt westwärts.

Als die Familie am Russell Square sich diesen Abend zum Essen versammelte, fand sie den Hausherrn zwar an seinem gewöhnlichen Platze sitzend, aber mit dem düsteren Gesicht, [330] die dem ganzen Kreis stets den Mund verschloß. Die Damen und Mr. Bullock, der mit ihnen speiste, fühlten, daß die Nachricht Mr. Osborne bereits zu Ohren gekommen war. Sein finsterer Blick veranlaßte Mr. Bullock, sich still und ruhig zu verhalten, dabei war er aber außerordentlich freundlich und aufmerksam, gegen Miss Maria, die neben ihm saß, und gegen ihre Schwester, die ihren Platz oben am Tisch hatte.

Deshalb saß Miss Wirt allein an ihrer Tischseite, und ein Stuhl zwischen ihr und Miss Jane Osborne blieb unbesetzt. Das war Georges Platz, wenn er zu Hause aß; sein Gedeck lag, wie gesagt, immer dort, da man ihn ständig zurückerwartete. Nichts geschah während des Essens, was die Stille hätte unterbrechen können, nur das schwache vertrauliche Geflüster des lächelnden Mr. Frederick und das Geklapper des Tafelsilbers und Porzellans war zu vernehmen. Die Dienstboten gingen auf leisen Sohlen hin und her und erfüllten ihre Aufgaben. Begräbniswärter konnten kaum düsterer dreinblicken als die Osborneschen Bedienten. Den Rehrücken, zu dem der alte Herr Dobbin eingeladen hatte, zerlegte er in tiefstem Schweigen, aber seine eigene Portion wurde fast unberührt wieder abgetragen, obgleich er viel trank und der Butler unermüdlich sein Glas füllte.

Schließlich – gegen Ende des Essens – heftete er seine Augen, nachdem er der Reihe nach alle angestarrt hatte, eine Weile auf Georges Gedeck. Dann deutete er mit der linken Hand darauf. Seine Töchter sahen ihn an und verstanden entweder die Geste nicht oder wollten sie nicht verstehen, und auch die Diener wußten zunächst nicht, was sie bedeuten sollte.

»Nehmt das Gedeck weg«, sagte er schließlich und erhob sich mit einem Fluch. Dann stieß er seinen Stuhl zurück und begab sich in sein Zimmer.

Hinter Mr. Osbornes Speisezimmer befand sich wie üblich noch ein Raum, den man hier im Hause Studierzimmer [331] nannte und der das Heiligtum des Hausherrn war. Hierhin pflegte sich Mr. Osborne an Sonntagvormittagen zurückzuziehen, wenn er keine Lust hatte, zur Kirche zu gehen, und hier verbrachte er dann den Morgen in seinem karmesinroten Ledersessel mit Zeitunglesen. Einige verglaste Bücherschränke standen dort mit den klassischen Werken, wie zum Beispiel dem »Jahresregister« 1, dem »Herrenmagazin« 2, »Blairs Predigten« 3 sowie Hume und Smollett. Vom Jahresanfang bis zum Ende nahm er nie einen dieser Bände vom Regal herab. Aber keiner in der Familie hätte je gewagt, eines der Bücher zu berühren, ausgenommen an jenen seltenen Sonntagabenden, an denen man keine Gesellschaft gab und an denen die große scharlachrote Bibel und das Gebetbuch aus der Ecke genommen wurden, wo sie neben einem Exemplar des Adelskalenders standen. Jedesmal rief dann die Klingel die Dienstboten ins Speisezimmer, und Osborne las seiner Familie mit lauter, schriller, hochtrabender Stimme die Abendandacht vor.

Kein Mitglied des Hauses, weder seine Kinder noch die Dienstboten, betrat diesen Raum ohne ein gewisses Entsetzen. Hier prüfte er die Rechnungen der Haushälterin und das Kellerbuch des Butlers. Von hier konnte er jenseits des sauberen kiesbestreuten Hofes die Hintertür des Stalles sehen, mit dem eine Klingel ihn verband; und in diesen Hof trat der Kutscher aus seinen Hintergebäuden wie in eine Anklagebank, wenn Osborne ihn vom Fenster des Studierzimmers aus schalt. Viermal im Jahre betrat Miss Wirt dieses Zimmer, um ihr Gehalt zu holen, und seine Töchter kamen, um ihr vierteljährliches Taschengeld in Empfang zu nehmen. Als Knabe war George in diesem Zimmer sehr oft durchgepeitscht worden, und seine Mutter saß dann kraftlos auf der Treppe und lauschte den Peitschenhieben. Man hatte den Jungen bei dieser Strafe kaum weinen sehen – die arme Frau pflegte ihn insgeheim zu herzen und zu küssen und ihm, wenn er herauskam, Geld zu geben, um ihn zu beschwichtigen.

[332] Über dem Kaminsims hing ein Familiengemälde, das nach Mrs. Osbornes Tod aus dem Vorderzimmer hierhin gebracht worden war: George saß auf einem Pony, die ältere Schwester reichte ihm einen Blumenstrauß hinauf, die jüngere war an der Hand der Mutter. Alle hatten rote Wangen und einen roten Mund und lächelten einander in bewährter Familienbilderweise an. Die Mutter lag jetzt unter der Erde und war von allen schon längst vergessen, die Schwestern und der Bruder hatten hundert verschiedene eigene Interessen und waren sich völlig fremd, obwohl sie nach außen hin auf einem vertrauten Fuße standen. Welch bittere Ironie liegt nicht ein paar Dutzend Jahre später, wenn alle dargestellten Personen alt geworden sind, in diesen kindischen Familienprunkgemälden mit ihren erheuchelten Gefühlen und ihren lächelnden Lügen und ihrer selbstbewußten und selbstzufriedenen Unschuld. Osbornes eigenes Staatsporträt im Lehnsessel mit dem großen silbernen Schreibzeug hatte im Speisezimmer den Ehrenplatz eingenommen, den das Familienstück frei gemacht hatte.

In dieses Studierzimmer zog sich nun der alte Osborne zur Erleichterung der kleinen Gesellschaft, die er verließ, zurück. Als die Dienstboten sich entfernt hatten, sprachen sie eine Weile lebhaft, aber sehr leise; dann gingen sie still die Treppe hinauf, und Mr. Bullock begleitete sie behutsam auf knarrenden Sohlen. Er hatte nicht den Mut, allein und dem fürchterlichen alten Herrn im anstoßenden Studierzimmer so nahe, seinen Wein zu trinken.

Mindestens eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit wagte schließlich der Butler, ohne Aufforderung an die Tür zu klopfen und ihm Kerzen und Tee zu bringen. Der Herr des Hauses saß im Sessel und gab vor, die Zeitung zu lesen. Als der Diener die Lichter und Erfrischung auf den Tisch neben ihm gestellt und sich zurückgezogen hatte, erhob sich Mr. Osborne und verschloß hinter ihm die Tür. Diesmal konnte man sich nicht täuschen; das ganze Haus wußte, daß[333] eine große Katastrophe im Anzug sei, die wahrscheinlich für Master George schreckliche Folgen haben würde.

In dem großen glänzenden Mahagonischreibtisch hatte Mr. Osborne eine Schublade ausschließlich für die Sachen und Papiere seines Sohnes. Hier bewahrte er seit dessen Geburt alle seine Dokumente auf. Hier waren seine Hefte und Zeichenblocks, für die er einen Preis bekommen hatte, alle trugen Georges und des Lehrers Schriftzüge. Da waren seine ersten Briefe, in großer Kinderschrift geschrieben, worin er Papa und Mama herzlich grüßte und sie um einen Kuchen bat. Sein lieber Pate Sedley war mehr als einmal darin genannt. Flüche bebten auf den bleichen Lippen des alten Osborne, und ein schrecklicher Haß und gräßliche Enttäuschung wüteten in seinem Herzen, als er beim Durchsehen der Papiere auf diesen Namen stieß. Sie waren alle bezeichnet, mit kurzer Zusammenfassung versehen und mit einer roten Schnur zusammengebunden. Da war einer: »Von Georgy mit der Bitte um fünf Shilling, 23. April 18..; beantwortet am 25. April« oder »Georgy wegen eines Ponys, 13. Oktober« und so fort. In einem anderen Päckchen waren »Dr. S.'s Rechnungen«, »G. s' Schneiderrechnungen und Ausstattung, Anweisung auf mich von G. Osborne junior« und so weiter, seine Briefe aus Westindien – die Briefe seines Beauftragten sowie Zeitungen, die seine Beförderung brachten. Hier befanden sich auch eine Reitpeitsche, die ihm als Knabe gehörte, und, in Papier eingewickelt, ein Medaillon mit einer Haarlocke, das seine Mutter gewöhnlich getragen hatte.

Der unglückliche Mann verbrachte viele Stunden damit, eines dieser Erinnerungsstücke nach dem anderen zu betrachten und zu grübeln. Seine teuerste Eitelkeit, sein brennender Ehrgeiz, seine schönsten Hoffnungen lagen hier. Wie stolz war er auf seinen Jungen gewesen! Er war das schönste Kind, das man je gesehen hatte. Alle sagten, er sehe wie der Sohn eines Edelmannes aus. Eine königliche Prinzessin hatte ihn einmal in den Kew Gardens bemerkt, ihn geküßt und nach [334] seinem Namen gefragt. Welcher Mann in der City konnte so einen Sohn aufweisen? Hätte der Prinz mehr umsorgt werden können? Sein Sohn hatte alles, was für Geld zu bekommen war. Bei Schulschlußfeiern pflegte er vierspännig und mit neuen Livreen zur Schule zu fahren und neue Shillings unter Georges Mitschülern zu verteilen. Als er George zum Regimentshauptquartier begleitete, ehe der Junge sich nach Kanada einschiffte, gab er den Offizieren ein Essen, an dem auch der Herzog von York hätte teilnehmen können. War je ein Wechsel, von George ausgestellt, unbezahlt geblieben? Da lagen sie – bezahlt, ohne daß er je ein Wort verloren hätte. Mancher General in der Armee hatte nicht solche Pferde, wie George sie ritt. Er hatte das Kind noch vor Augen in hundert verschiedenen Situationen: nach dem Essen, wenn er stolz wie ein Lord hereinkam und an der Seite seines Vaters oben am Tisch sein Glas austrank; auf einem Pony in Brighton, wo er die Hecke nahm und mit dem Jäger Schritt hielt; am Tage, als er dem Prinzregenten beim Lever vorgestellt wurde, wobei der ganze Sankt-James-Palast keinen hübscheren Burschen aufweisen konnte. Und das war nun das Ende vom Lied! Die Tochter eines Bankrotteurs zu heiraten und angesichts Pflicht und Glück zu flüchten. Unter welcher Demütigung und Wut, welchen Qualen schmerzlichen Zorns, vereitelten Ehrgeizes und getäuschter Liebe, welchen Wunden beleidigter Eitelkeit, ja sogar Zärtlichkeit hatte dieser alte Weltmann nun zu leiden!

Nachdem Georges unglücklicher Vater diese Papiere durchgeblättert hatte und im bittersten allen hilflosen Wehs an vergangene glückliche Zeiten zurückgedacht und diesem und jenem nachgesonnen hatte, nahm er sämtliche Dokumente aus der Schublade, in der er sie so lange aufbewahrt hatte, und verschloß sie in einem Schreibkästchen, das er verschnürte und siegelte. Dann öffnete er den Bücherschrank und langte die große, bereits erwähnte rote Bibel herunter – ein prachtvoll ausgestattetes Buch, selten gebraucht, und[335] über und über von Gold glänzend. Das Titelbild stellte die Opferung Isaaks durch Abraham dar. Hier hatte Osborne, wie es Brauch war, auf dem Vorsatzblatt mit seiner großen Kaufmannshandschrift die Daten seiner Heirat, des Todes seiner Frau und die Geburtstage und Taufnamen seiner Kinder eingetragen. Zuerst kam Jane, dann George Sedley Osborne und schließlich Maria Frances und die Taufdaten von allen. Er ergriff eine Feder und strich Georges Namen auf der Seite sorgfältig aus. Als das Blatt ganz trocken war, stellte er das Buch wieder an seinen Platz zurück. Aus einer anderen Schublade, worin seine eigenen Privatpapiere lagen, nahm er ein Dokument und las es durch. Dann zerknüllte er es, zündete es an einer Kerze an und sah zu, wie es auf dem Kaminrost gänzlich verbrannte. Es war sein Testament. Als es in Asche zerfallen war, setzte er sich nieder, schrieb einen Brief und klingelte nach seinem Diener. Er beauftragte ihn, das Schriftstück am Morgen zu bestellen. Es war bereits Morgen. Als er ins Bett ging, erhellte die Sonne schon das ganze Haus, und die Vögel sangen in den frischen grünen Bäumen am Russell Square.

Von dem Wunsche beseelt, Mr. Osbornes Familie und Untergebene in guter Laune zu erhalten und George im Augenblick der Not so viele Freunde wie möglich zu gewinnen, ließ William Dobbin, der die Wirkung eines guten Essens und guten Weines auf die Menschenseele kannte, in sein Hotel zurückgekehrt, sofort dem gnädigen Herrn Thomas Chopper eine gastfreundliche Einladung zugehen. Darin bat er diesen Gentleman, am folgenden Tage mit ihm bei Slaughters zu speisen. Mr. Chopper erhielt die Einladung, noch ehe er die City verließ, und die umgehende Antwort lautete, daß »Mr. Chopper Hauptmann Dobbin seine respektvollsten Empfehlungen sende und sich die Ehre und das Vergnügen geben werde, Hauptmann Dobbin seine Aufwartung zu machen.« Die Einladung sowie der Entwurf der Antwort wurden nach seiner Heimkunft am Abend [336] Mrs. Chopper und ihren Töchtern vorgelegt, und man sprach nun während des Tees triumphierend über höhere Militärs und Westend-Leute. Als die Mädchen sich zur Ruhe begeben hatten, besprachen Mr. und Mrs. Chopper die seltsamen Ereignisse, die in der Familie des Alten vor sich gingen. Noch nie hatte der Buchhalter seinen Prinzipal so erregt gesehen. Als Mr. Chopper nach Hauptmann Dobbins Weggang Mr. Osbornes Zimmer betrat, fand er seinen Prinzipal ganz schwarz im Gesicht und einer Ohnmacht nahe. Er glaubte bestimmt, ein furchtbarer Streit mußte zwischen Mr. Osborne und dem jungen Hauptmann stattgefunden haben. Chopper hatte den Auftrag erhalten, eine Aufstellung aller während der letzten drei Jahre an Hauptmann Osborne gezahlten Summen anzufertigen. »Wahrhaftig, das war ein schöner Haufen Geld, den er bekommen hat«, sagte der erste Buchhalter und achtete seinen alten und jungen Herrn um so mehr wegen der verschwenderischen Freigebigkeit, mit der die Guineen hinausgeworfen worden waren. Der Streit mußte wegen Miss Sedley entstanden sein.

Mrs. Chopper beteuerte, daß ihr die arme junge Dame, die einen so hübschen jungen Mann wie den Hauptmann verloren habe, leid tue. Mr. Chopper dagegen empfand für Miss Sedley als der Tochter eines unglücklichen Spekulanten, der nur eine schäbige Dividende gezahlt hatte, keine sonderliche Achtung. Er schätzte das Haus Osborne vor allen anderen in der City, und er hoffte und wünschte, daß Hauptmann George die Tochter eines Edelmannes heiraten möchte. Der Buchhalter schlief in dieser Nacht viel besser als sein Prinzipal. Nachdem er sein Frühstück mit bestem Appetit verzehrt (obgleich sein bescheidenes Lebenselixier nur mit braunem Zucker gesüßt wurde) und seine Kinder geherzt hatte, machte er sich im besten Sonntagsanzug und im schönsten Hemd auf den Weg zum Büro. Seiner Frau, die ihn voller Bewunderung ansah, versprach er, Hauptmann Dobbins Portwein am Abend nicht allzusehr zuzusprechen.

[337] Als Mr. Osborne zur gewöhnlichen Zeit in der City erschien, fiel seinen Untergebenen, die aus guten Gründen auf seinen Gesichtsausdruck zu achten pflegten, auf, daß er besonders bleich und angegriffen aussah. Um zwölf Uhr kam, wie verabredet, Mr. Higgs (von der Firma Higgs und Blatherwick, Rechtsanwälte, Bedford Row) und wurde in das Privatzimmer des Alten geführt, wo er länger als eine Stunde blieb. Ungefähr um ein Uhr erhielt Mr. Chopper ein Billett von Hauptmann Dobbins Diener gebracht. Es enthielt eine Einlage für Mr. Osborne, die der Buchhalter sogleich abgab. Kurze Zeit darauf wurden Mr. Chopper und Mr. Birch, der zweite Buchhalter, gerufen und ersucht, ein Dokument als Zeugen zu unterschreiben. »Ich habe ein neues Testament gemacht«, sagte Mr. Osborne, worauf die Herren es unterschrieben. Eine weitere Unterhaltung fand nicht statt. Mr. Higgs sah sehr ernst aus, als er in das Vorzimmer trat, und blickte Mr. Chopper scharf ins Gesicht. Erklärungen wurden aber nicht gegeben. Zum großen Erstaunen derjenigen, denen Mr. Osbornes finsteres Gesicht unheilverkündend erschienen war, war der alte Herr den ganzen Tag über besonders ruhig und sanft. Er schimpfte mit niemandem, und man hörte ihn überhaupt nicht fluchen. Er verließ das Kontor ziemlich früh. Ehe er wegging, bestellte er seinen ersten Buchhalter noch einmal zu sich und fragte ihn, nach einigen allgemeinen Anweisungen, zögernd, ob er wisse, ob Hauptmann Dobbin in der Stadt sei.

Chopper sagte, er glaube, ja. In Wirklichkeit aber wußten es beide ganz genau.

Osborne gab dem Buchhalter nun einen an den Offizier gerichteten Brief und bat ihn, das Schriftstück sofort Dobbin persönlich auszuhändigen.

»Und nun, Chopper«, sagte er mit sonderbarem Blick und griff nach seinem Hut, »hat meine Seele Ruhe.« Schlag zwei (zweifellos waren die beiden verabredet) kam Mr. Frederick Bullock, und er und Mr. Osborne gingen davon.

[338] Der Oberst des ...ten Regiments, in dem die Herren Dobbin und Osborne ihre Kompanien hatten, war ein alter General, der seinen ersten Feldzug unter Wolfe 4 in Quebeck mitgemacht hatte und schon längst viel zu alt und schwach für das Kommando war. Aber er zeigte einiges Interesse an dem Regiment, dessen notarielles Haupt er war, und hielt offene Tafel für einige unter seinen jungen Offizieren – eine Art Gastfreundschaft, die heute, wie ich glaube, bei seinen Kameraden nicht allzu häufig vorkommt. Hauptmann Dobbin stand bei diesem alten General in besonderer Gunst. Dobbin war mit der Militärliteratur vertraut und konnte vom Großen Friedrich, von Maria Theresia und deren Kriegen fast ebenso gut sprechen wie der General selbst, der gegen die Triumphe der neuesten Zeit gleichgültig war und dessen Herz für die Strategen vor fünfzig Jahren schlug. Dieser Offizier lud Dobbin an dem Morgen, als Mr. Osborne sein neues Testament machte und Mr. Chopper sein schönstes Hemd anzog, ein, mit ihm zu frühstücken. Dabei setzte er seinen jungen Günstling einige Tage vor den anderen in Kenntnis, daß der lang erwartete Marschbefehl nach Belgien bald ergehen würde und daß in wenigen Tagen das Kriegsministerium das Kommando ausgeben würde, das Regiment möge sich bereit halten. Da genügend Transportschiffe vorhanden waren, war damit zu rechnen, daß man noch vor Ende der Woche aufbrechen würde. Während das Regiment in Chatham lag, waren Rekruten dazugekommen, und der alte General hoffte, daß das Regiment, das geholfen hatte, Montcalm 5 in Kanada zu besiegen und Washington auf Long Island in die Flucht zu schlagen, sich auf den vielumstrittenen Schlachtfeldern der Niederlande seines historischen Rufes würdig erweisen würde. »Wenn Sie nun, mein guter Freund, noch etwas zu erledigen haben«, sagte der alte General, nahm mit seiner zitternden weißen Hand eine Prise Schnupftabak und deutete auf die Stelle seiner robe de chambre 6, unter der sein Herz noch schwach schlug, »wenn Sie eine [339] Phyllis zu trösten haben oder sich von Vater und Mutter verabschieden oder ein Testament machen müssen, so rate ich Ihnen, die Sache nicht länger hinauszuzögern.« Bei diesen Worten reichte der General seinem jungen Freund einen Finger und nickte ihm mit seinem gepuderten und bezopften Kopf gutmütig zu; dann, als Dobbin sich entfernt hatte, setzte er sich nieder, um ein poulet 7 (er war außerordentlich eitel auf sein Französisch) an Mademoiselle Aménaide vom Königlichen Theater zu schreiben.

Diese Nachricht stimmte Dobbin sehr ernst, und er dachte an unsere Freunde in Brighton und schämte sich, daß Amelia stets zuerst in seinen Gedanken auftauchte (vor allen anderen, vor Vater und Mutter, vor Schwestern und Pflicht, ja immer, wachend und schlafend, den ganzen Tag). Und als er wieder in seinem Hotel anlangte, sandte er einen kurzen Brief an Mr. Osborne, worin er ihm die eben erhaltene Nachricht mitteilte, in der Hoffnung, es würde dadurch zu einer baldigen Aussöhnung mit George kommen.

Dieser Brief, von demselben Boten gebracht wie tags zuvor die Einladung an Chopper, beunruhigte den würdigen Buchhalter nicht wenig. Er war an ihn adressiert, und als er den Brief öffnete, zitterte er vor Angst, das Essen, mit dem er schon so sehr gerechnet hatte, sei abgesagt worden. Er fühlte sich unendlich erleichtert, als er merkte, das Kuvert solle ihn nur noch einmal erinnern. »Ich erwarte Sie um halb sechs«, schrieb Hauptmann Dobbin. Er nahm großen Anteil an der Familie seines Prinzipals, aber, que voulez-vous? 8, ein gutes Essen war ihm wichtiger als die Angelegenheiten eines anderen Sterblichen.

Dobbin durfte die vom General erhaltene Nachricht allen Offizieren des Regiments mitteilen, denen er bei seinen Streifzügen begegnete. Er berichtete Fähnrich Stubble davon, den er zufällig traf und der – so groß war sein militärischer Eifer – sich sofort in ein Ausrüstungsgeschäft begab, um einen neuen Degen zu kaufen. Hier zeigte der junge [340] Bursche, obgleich er erst siebzehn Jahre alt und nur etwa 65 Zoll groß und von Natur aus schwächlich war – noch verschlimmert durch allzu zeitigen Alkoholgenuß – Löwenmut. Er wog, probierte, bog und balancierte die Waffe, die unter den Franzosen Verheerung anrichten würde, schrie »ha, ha!«, stampfte mit seinen kleinen Füßen aus Leibeskräften den Boden und machte ein paar Ausfälle auf Hauptmann Dobbin, der die Stöße aber lachend mit dem Spazierstock parierte.

Mr. Stubble gehörte zur leichten Infanterie, wie man aus seiner Größe und Schmächtigkeit schon schließen konnte. Fähnrich Spooney dagegen war ein großer Jüngling aus Hauptmann Dobbins Grenadierkompanie. Er probierte eine neue Bärenfellmütze, unter der er für seine Jahre sehr wild aussah. Dann gingen die beiden Burschen zu Slaughters, bestellten ein gutes Essen und schrieben an ihre teuren, ängstlichen Eltern zu Hause Briefe, voll von Liebe, Herzlichkeit, Mut und schlechter Orthographie. Ach! Damals klopfte in England manches bange Herz, in vielen Häusern vergossen Mütter Tränen, und viele beteten.

Als Dobbin den jungen Stubble an einem Tisch bei Slaughters über einen Brief gebeugt sah und beobachtete, wie ihm die Tränen über die Nase aufs Papier tropften (denn der junge Mensch dachte an seine Mutter, die er vielleicht nie wiedersehen würde), überkam ihn die Rührung. Er unterbrach seinen Brief an George Osborne und schloß sein Schreibpult ab. »Warum sollte ich auch jetzt schreiben?« sagte er. »Mag sie diese Nacht noch glücklich sein. Morgen früh werde ich meine Eltern besuchen und dann selbst nach Brighton fahren.«

So stand er auf und legte dem jungen Stubble seine große Hand auf die Schulter und richtete den jungen Krieger auf. Er sagte ihm, es könne noch ein guter Soldat aus ihm werden, da er stets ein ehrlicher, gutherziger Kerl gewesen sei, wenn er nur den Alkohol meiden würde. Die Augen des [341] jungen Stubble hellten sich bei diesen Worten auf, denn Dobbin war beim Regiment als der beste Offizier und klügste Mensch angesehen.

»Ich danke Ihnen, Dobbin«, sagte er und rieb sich die Augen mit den Knöcheln. »Ich schrieb ihr eben – eben, daß ich es wollte. Ach, Sir, sie ist so verdammt freundlich zu mir.« Die Wasserwerke begannen ihre Tätigkeit von neuem, und ich bin nicht sicher, ob die Augen des weichherzigen Hauptmanns nicht ebenfalls zwinkerten.

Die zwei Fähnriche, der Hauptmann und Mr. Chopper speisten in derselben Abteilung. Chopper übergab den Brief von Mr. Osborne, worin dieser Hauptmann Dobbin kurz seine Empfehlung machte und ihn bat, Inliegendes Hauptmann George Osborne zukommen zu lassen. Chopper wußte nichts Näheres, er beschrieb nur Mr. Osbornes Aussehen und erzählte, daß sein Rechtsanwalt bei ihm gewesen sei. Er drückte auch seine Verwunderung aus, daß der Alte auf niemanden geflucht hatte. Als die Weinflasche die Runde machte, erging er sich in einer Menge von Spekulationen und Vermutungen, mit jedem Glas aber wurden sie vager, bis sie schließlich ganz und gar unverständlich waren. Spät in der Nacht brachte Hauptmann Dobbin seinen Gast, der unter einem Schluckauf schwor, daß er immer und ewig der Freund vom Hau-Hau-Hauptmann bleiben werde, zu einer Droschke.

Wir haben erzählt, daß Hauptmann Dobbin beim Abschied von Miss Osborne um Erlaubnis bat, sie noch einmal besuchen zu dürfen. So wartete das ältliche Mädchen am nächsten Tage mehrere Stunden auf ihn, und wäre er gekommen und hätte er ihr die Frage gestellt, die sie so gern beantwortet hätte, dann hätte sie sich wahrscheinlich auf die Seite ihres Bruders geschlagen, und zwischen George und seinem grimmigen Vater wäre es zu einer Aussöhnung gekommen. Aber obgleich sie zu Hause wartete, ließ sich der Hauptmann nicht blicken. Er mußte seinen eigenen Geschäften [342] nachgehen, seine Eltern besuchen und trösten, und sehr früh nahm er seinen Platz auf dem »Blitz« ein, um zu seinen Freunden nach Brighton zu eilen. Im Laufe des Tages hörte Miss Osborne, wie ihr Vater den Befehl gab, dem intrigierenden Schuft, Hauptmann Dobbin, den Eintritt in sein Haus zu verweigern, und so waren alle Hoffnungen, die sie insgeheim gehegt haben mochte, zunichte gemacht. Mr. Frederick Bullock kam und war besonders liebevoll zu Maria und besonders aufmerksam gegen den gramerfüllten alten Herrn. Denn wenn Mr. Osborne auch sagte, seine Seele sei nun ruhig, so schienen doch die Mittel, mit denen er diese Ruhe hatte finden wollen, noch nicht gewirkt zu haben. Die Ereignisse der letzten zwei Tage hatten ihn sichtlich erschüttert.

Fußnoten

1 »The Annual Register«, jährlich erscheinende Übersicht politischer und gesellschaftlicher Ereignisse des vorangegangenen Jahres; gegründet 1758 von Robert Dodsley (1703 bis 1764).

2 »The Gentleman's Magazine«, seriöse Zeitschrift mit Beiträgen aus den verschiedensten Wissensgebieten, mit Parlamentsberichten usw.; gegründet 1731 von Edward Cave (1691-1754).

3 Die Predigten des schottischen Geistlichen und Professors für Rhetorik Hugh Blair (1718-1800) erschienen von 1777 bis 1801 in 5 Bänden.

4 James Wolfe (1727-1759), englischer General; siegte während des englisch-französischen Kolonialkrieges in Nordamerika (1756-1763) in der Schlacht bei Quebeck (1759) über die Franzosen.

5 Louis-Joseph Marquis de Montcalm de Saint-Véran (1712-1759), französischer General; war während des englisch-französischen Krieges in Nordamerika Oberbefehlshaber der französischen Truppen.

6 (franz.) Hausrock.

7 (franz.) ausgefallenes Wort für Liebesbrief.

8 (franz.) das ist nun mal so.

25. Kapitel
In dem es sämtlichen Hauptpersonen geraten erscheint, Brighton zu verlassen

Als Dobbin im »Schiffshof« zu den Damen geführt wurde, wurde er sehr heiter und gesprächig, was bewies, daß der junge Offizier mit jedem Tage besser zu heucheln verstand. Einmal versuchte er damit seine Gefühle zu verbergen, als er Mrs. George Osborne in ihrem neuen Stande sah, und zum anderen wollte er damit seine Befürchtungen maskieren, wie die schlimme Nachricht, die er brachte, auf sie wirken würde.

»Meiner Meinung nach, George«, sagte er, »wird der französische Kaiser uns mit Kavallerie und Infanterie angreifen, bevor drei Wochen vergangen sind, und dem Herzog einen Tanz liefern, gegen den der Krieg in Spanien ein bloßes Kinderspiel war. Aber weißt du, das brauchst du Mrs. Osborne nicht zu erzählen. Vielleicht kommen wir am Ende gar nicht zum Kampf, und unser ganzes Unternehmen [343] in Belgien erweist sich als bloße militärische Okkupation. Viele teilen diese Ansicht, und Brüssel ist voll von feinen Leuten und vornehmen Damen.« Man beschloß also, Amelia die Aufgabe der britischen Armee in Belgien in diesem harmlosen Licht darzustellen.

Nachdem dieses Abkommen getroffen war, begrüßte der heuchlerische Dobbin Mrs. George Osborne ganz heiter, versuchte, ihr einige Komplimente über ihren jungen Ehestand zu machen (die, wie wir bekennen müssen, außerordentlich ungeschickt waren und jämmerlich verpufften), und fing dann an, von Brighton und der Seeluft und den Vergnügungen des Ortes, den Schönheiten der Reise und den Vorzügen des »Blitzes« und der Pferde zu sprechen – alles das in einer Art, die für Amelia völlig unverständlich schien, für Rebekka aber sehr belustigend war, denn sie beobachtete den Hauptmann, wie jeden anderen, der in ihre Nähe kam, sehr genau.

Die kleine Amelia hatte, wie wir gestehen müssen, keine sehr hohe Meinung von dem Freunde ihres Mannes, Hauptmann Dobbin. Er lispelte, hatte unschöne, grobe Gesichtszüge und war dazu noch sehr linkisch und schwerfällig. Sie konnte ihn wegen der Anhänglichkeit gegenüber ihrem Mann ganz gut leiden (darin lag nur ein geringes Verdienst) und hielt George für ungemein großmütig und gütig, weil er seinem Offizierskollegen Freundschaft schenkte. George hatte vor ihr oft Dobbins Gelispel und seine wunderlichen Manieren nachgeahmt, obgleich er, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, stets hochachtungsvoll von den guten Eigenschaften seines Freundes sprach. In den wenigen Tagen ihres Glückes, wo sie den ehrlichen William noch nicht so genau kannte, machte sie sich nichts aus ihm – und er wußte sehr gut, wie sie über ihn dachte, und ließ es sich demütig gefallen. Es sollte eine Zeit kommen, wo sie ihn besser kennenlernen und ihre Ansicht von ihm ändern würde, aber diese Zeit lag noch fern.

[344] Rebekka kannte Hauptmann Dobbins Geheimnis, noch ehe er zwei Stunden in Gesellschaft der Damen verbracht hatte. Sie konnte ihn nicht leiden und fürchtete ihn insgeheim, aber auch er mochte sie nicht besonders. Er war so ehrlich, daß ihre Künste und Schmeicheleien bei ihm nicht wirkten, und in instinktivem Widerwillen scheute er vor ihr zurück. Und da sie keineswegs so hoch über ihr Geschlecht erhaben war, daß sie keine Eifersucht gekannt hätte, haßte sie ihn wegen seiner Verehrung für Amelia noch mehr. Trotzdem benahm sie sich sehr respektvoll und herzlich gegen ihn. Ein Freund der Osbornes! Ein Freund ihrer teuersten Wohltäter! Sie beteuerte, daß sie ihn stets aufrichtig lieben würde; sie hatte ihn von dem Vauxhall-Abend noch gut im Gedächtnis, wie sie Amelia schelmisch erzählte, und sie machte sich ein wenig über ihn lustig, als die beiden Damen sich entfernten, um sich zum Essen umzukleiden. Rawdon Crawley beachtete Dobbin fast gar nicht. Er betrachtete ihn als einen gutmütigen Einfaltspinsel und als einen unerzogenen Krämerssohn. Joseph begönnerte ihn würdevoll.

Als George Dobbin in dessen Zimmer gefolgt war, nahm Dobbin aus seinem Pult den Brief, den er im Auftrag von Mr. Osborne dem Freund übergeben sollte. »Es ist nicht die Handschrift meines Vaters«, sagte George bestürzt, und das war es auch nicht. Der Brief stammte von Mr. Osbornes Rechtsanwalt und lautete:


Bedford Row, 7. Mai, 1815


Sir

Ich bin von Mr. Osborne beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß er auf dem Entschluß beharrt, den er früher schon einmal gegen Sie ausgesprochen hat, und daß er Sie infolge der Heirat, die Sie einzugehen beliebten, in Zukunft nicht mehr als Mitglied seiner Familie betrachtet. Dieser Entschluß ist endgültig und unwiderruflich.

Obwohl die während Ihrer Minderjährigkeit auf Sie verwendeten [345] Gelder und die Wechsel, die Sie während der letzten Jahre so reichlich auf Mr. Osborne gezogen haben, bei weitem die Summe übersteigen, auf die Sie rechtmäßig Anspruch erheben können (das heißt den dritten Teil vom Vermögen Ihrer Mutter, der verstorbenen Mrs. Osborne, das bei ihrem Tode auf Sie, Miss Jane Osborne und Miss Maria Frances Osborne fiel), so soll ich Ihnen doch mitteilen, daß Mr. Osborne auf alle Ansprüche auf Ihr Vermögen verzichtet und daß die Summe von zweitausend Pfund mit vierprozentigen Jahreszinsen zum Tageskurs (das ist das Ihnen zustehende Drittel der sechstausend Pfund) entweder an Sie selbst oder Ihren Beauftragten gegen Quittung ausgezahlt werden kann von

Ihrem gehorsamen Diener

S. Higgs.


PS: Mr. Osborne ersucht mich, Ihnen ein für allemal zu sagen, daß er keinerlei Botschaften, Briefe oder Mitteilungen von Ihnen über diese oder eine andere Frage entgegennehmen wird.


»Das hast du ja hübsch arrangiert«, rief George mit einem wilden Blick auf William Dobbin. »Da, siehst du, Dobbin«, und er warf ihm das väterliche Schreiben zu. »Ein Bettler, beim Zeus, und alles wegen meiner verdammten Rührseligkeit. Warum konnten wir nicht warten? Eine Kugel hätte mich im Laufe des Krieges erledigen können und kann es noch – und wie ist Emmy gebessert, wenn sie als Witwe eines Bettlers zurückbleibt? Das ist alles dein Werk. Du hattest weder Rast noch Ruhe, bis du mich verheiratet und ruiniert hattest. Was, zum Henker, soll ich mit zweitausend Pfund anfangen? So eine Summe reicht keine zwei Jahre. Seitdem ich hier bin, habe ich allein hundertundvierzig Pfund bei Karten und Billard an Crawley verloren. Du verstehst es wirklich, anderer Leute Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.«

[346] »Es läßt sich nicht leugnen, daß die Lage schwierig ist«, erwiderte Dobbin, nachdem er den Brief mit blassem Gesicht gelesen hatte, »und, wie du schon sagst, ist es teilweise mein Werk. Es gibt aber doch noch Leute, die gern mit dir tauschen würden«, setzte er bitter lächelnd hinzu. »Wieviel Hauptleute im Regiment, glaubst du wohl, haben zweitausend Pfund zur Verfügung? Du mußt von deinem Sold leben, bis dein Vater nachgibt, und wenn du stirbst, so hinterläßt du deiner Frau hundert pro Jahr.«

»Du glaubst doch wohl nicht, daß ein Mann von meinen Lebensgewohnheiten von seinem Sold und jährlich hundert leben kann«, rief George zornig. »Du mußt ein Narr sein, daß du so reden kannst, Dobbin. Wie, zum Teufel, kann ich meine Stellung in der Welt mit einem so erbärmlichen bißchen halten? Ich kann meine Gewohnheiten nicht ändern. Ich muß meine Bequemlichkeiten haben. Ich bin nicht mit Haferbrei aufgezogen worden wie MacWhirter oder mit Kartoffeln wie der alte O'Dowd. Denkst du etwa, meine Frau soll den Soldaten die Wäsche waschen oder dem Regiment in einem Gepäckwagen nachfahren?«

»Nun, nun«, sagte Dobbin immer noch gutmütig, »es wird uns schon ein besseres Fahrzeug einfallen. Aber versuch daran zu denken, daß du jetzt bloß ein entthronter Prinz bist, George, mein Junge, und verhalte dich ruhig, solange der Sturm dauert. Lange kann er nicht anhalten. Laß erst mal deinen Namen in der ›Gazette‹ stehen, und ich verspreche dir, daß der alte Vater dann nachgibt.«

»Mein Name in der ›Gazette‹!« höhnte Georg. »Und in welchem Teil? Unter den Toten und Verwundeten, und höchstwahrscheinlich an der Spitze der Liste.«

»Pah! Wenn wir verwundet werden, ist Zeit genug zu schreien«, sagte Dobbin. »Und wenn etwas passiert, so weißt du, George, daß ich etwas besitze. Ich gedenke nicht zu heiraten und werde in meinem Testament meinen Patensohn nicht vergessen«, setzte er lächelnd hinzu. Damit endete der [347] Streit – wie schon Hunderte von Unterredungen zwischen den beiden Freunden früher geendet hatten: Osborne erklärte, es sei unmöglich, mit Dobbin lange böse zu sein, und verzieh ihm großmütig, nachdem er ihn ohne allen Grund beschimpft hatte.


»Du Becky«, rief Rawdon Crawley aus seinem Ankleideraum seiner Frau zu, die sich in ihrem Zimmer zum Essen anzog.

»Was ist?« antwortete Beckys schrille Stimme. Sie blickte über die Schulter in den Spiegel. Sie hatte das hübscheste, frischeste weiße Kleid an, das man sich nur denken kann, und sah mit den bloßen Schultern, einer kleinen Halskette und einer hellblauen Schärpe wie ein Bild jugendlicher Unschuld und mädchenhaften Glücks aus.

»Du, was wird Mrs. Osborne tun, wenn George mit dem Regiment auszieht?« fragte Crawley und trat ins Zimmer, wobei er mit zwei riesigen Haarbürsten auf seinem Kopfe ein Duett spielte und unter seinem Haar hervor sein hübsches Weibchen bewundernd anblickte.

»Ich denke, sie wird sich die Augen ausweinen«, antwortete Becky. »Schon bei dem bloßen Gedanken hat sie bereits ein halbes Dutzend Mal gewinselt, als ich dabei war.«

»Dir macht es wahrscheinlich nichts aus«, sagte Rawdon, halb ärgerlich über die Gefühllosigkeit seiner Frau.

»Du armer Tropf! Weißt du denn nicht, daß ich mitkommen werde?« erwiderte Becky. »Zudem ist es mit dir ganz anders. Du gehst als General Tuftos Adjutant. Wir gehören nicht zur Linie«, sagte Mrs. Crawley und warf ihren Kopf mit einer Miene in den Nacken, die ihren bezauberten Gatten veranlaßte, sich niederzubeugen und sie zu küssen.

»Rawdon, Lieber – meinst du nicht auch, daß es ganz gut wäre, wenn du das – Geld von Cupido bekämst, ehe er weggeht?« fuhr Becky fort, während sie eine reizende Schleife befestigte. Sie nannte George Osborne Cupido. Sie hatte [348] ihm bereits einige Dutzend Male mit seinem guten Aussehen geschmeichelt. Sie schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit, wenn er abends für eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen in Rawdons Zimmer kam, um noch ein bißchen Ecarté 1 zu spielen.

Oft hatte sie ihn einen schrecklichen, ausschweifenden Schurken genannt und ihm gedroht, Emmy von seinem nichtsnutzigen Lebenswandel und seinen unartigen, verschwenderischen Gewohnheiten zu erzählen. Sie brachte seine Zigarre und zündete sie ihm an; sie kannte die Wirkung dieses Manövers, hatte sie es doch schon früher an Rawdon Crawley erprobt. Sie schien ihm lustig, lebhaft, schelmisch, vornehm, entzückend. Bei ihren kleinen Spazierfahrten und Mahlzeiten stellte Becky natürlich die arme Emmy ganz in den Schatten. Amelia war stumm und schüchtern, während ihr Mann und Mrs. Crawley drauflosschwatzten und Hauptmann Crawley und Joseph (nachdem er sich zu dem neuvermählten Paar gesellt hatte) schweigend aßen.

Emmy ahnte nichts Gutes; Rebekkas Witz, ihr Temperament und ihre Talente versetzten sie in schmerzvolle Unruhe. Sie waren erst eine Woche verheiratet, und schon langweilte sich George und suchte eifrig die Gesellschaft anderer! Sie zitterte für die Zukunft. Wie kann ich ihm eine Gefährtin sein, dachte sie, da er so klug und glänzend ist und ich ein so unbedeutendes törichtes Geschöpf bin? Wie edel war es von ihm, mich zu heiraten, alles aufzugeben und sich zu mir herabzulassen! Ich hätte ihn zurückweisen sollen, aber ich konnte es nicht übers Herz bringen. Ich hätte daheim bleiben und mich um den armen Papa kümmern sollen. Zum erstenmal fielen ihr ihre vernachlässigten Eltern ein (tatsächlich war die Anklage des schlechten Gewissens gegen das arme Kind ja nicht ganz unbegründet), und sie wurde schamrot. Oh! dachte sie, wie bin ich doch böse und selbstsüchtig gewesen! Selbstsüchtig, weil ich sie in ihrem Kummer vergaß, selbstsüchtig, weil ich George zwang, mich zu heiraten. Ich [349] weiß, daß ich seiner nicht würdig bin; ich weiß, er wäre ohne mich glücklich – aber ich habe doch immer wieder versucht, ihn aufzugeben.

Es ist hart, wenn solche Gedanken und Geständnisse sich einer jungen Frau aufdrängen, noch ehe sieben Tage der Ehe vergangen sind. Aber so war es nun eben. Am Abend vor Dobbins Ankunft, einem schönen prachtvollen mondbeschienenen Maiabend, so warm und balsamisch, daß die Fenster zum Balkon aufgemacht wurden, standen George und Mrs. Crawley draußen und blickten auf das ruhige Meer hinaus, das vor ihnen glänzte, während drinnen Rawdon und Joseph Puff spielten. Amelia aber hockte völlig verlassen in einem großen Sessel und beobachtete die beiden Gruppen, und es bemächtigte sich ihrer Verzweiflung und Reue, die gewiß bittere Gesellschafter für diese zarte, einsame Seele waren. Kaum eine Woche war vergangen, und so weit war es schon gekommen! Hätte sie die Zukunft ins Auge gefaßt, so hätten sich ihr trübe Aussichten geboten. Aber Emmy war irgendwie viel zu scheu, dahin zu blicken und sich allein auf das weite Meer zu wagen, das sie ohne Führer und Beschützer doch nicht befahren konnte. Ich weiß, daß Miss Smith keine sehr hohe Meinung von ihr hat. Aber wie viele, mein teures Fräulein, besitzen Ihre ungeheure Geistesstärke?

»Gott, was für ein schöner Abend, und wie hell der Mond scheint!« sagte George und paffte ein Zigarrenrauchwölkchen zum Himmel empor.

»Wie köstlich riecht das doch im Freien! Ich liebe es! Soll man glauben, daß der Mond zweihundertsechsunddreißigtausendachthundertsiebenundvierzig Meilen von uns entfernt ist?« setzte sie hinzu und lächelte dem Himmelskörper zu. »Bin ich nicht gut, daß ich mich noch daran erinnere. Solchen Quatsch haben wir bei Miss Pinkerton gelernt! Wie ruhig doch das Meer ist und wie klar alles! Ich möchte sagen, ich kann fast die Küste von Frankreich sehen.« Ihre hellen grünen Augen funkelten und schossen einen Blick[350] in die Nacht hinaus, als ob sie wirklich hindurch schauen könnten.

»Wissen Sie, was ich eines Morgens tun will?« fragte sie. »Ich kann nämlich sehr gut schwimmen, und eines Tages, wenn Tante Crawleys Gesellschafterin, die alte Briggs, wissen Sie – können Sie sich entsinnen, die Frau mit der krummen Nase und den langen Haarbüscheln? –, wenn die Briggs baden geht, dann will ich unter ihr Badezelt tauchen und im Wasser auf eine Versöhnung drängen. Ist das nicht eine Kriegslist?«

Beim Gedanken an die wäßrige Zusammenkunft mußte George laut lachen. »Was treibt ihr denn da draußen, ihr zwei?« schrie Rawdon und schüttelte den Würfelbecher. Amelia reagierte sehr töricht: sie benahm sich ganz unsinnig und hysterisch und zog sich auf ihr Zimmer zurück, um dort im stillen zu schluchzen.

Unsere Erzählung muß in diesem Kapitel scheinbar unentschlossen vorwärts und rückwärts gehen, und wenn wir mit unserer Geschichte bald bei morgen angelangt sind, so werden wir sofort wieder Gelegenheit haben, auf gestern zurückzukommen, damit die ganze Geschichte berichtet wird. Wie beim Empfang Ihrer Majestät die Wagen der Gesandten und hohen Würdenträger von einem Privatausgang davonfahren, während Hauptmann Jones' Damen auf ihre Droschke warten – wie im Vorzimmer des Sekretärs der Schatzkammer ein halbes Dutzend Bittsteller geduldig auf ihre Audienz warten und der Reihe nach hereingerufen werden, während plötzlich ein irischer Abgeordneter oder eine hochgestellte Persönlichkeit hereinkommt und sozusagen über die Köpfe aller Anwesenden hinweg zum Herrn Untersekretär hineingeht, so muß auch im Laufe einer Erzählung der Autor diese höchst parteiische Gerechtigkeit walten lassen. Wenn auch keiner der kleineren Vorfälle unerwähnt bleiben soll, so müssen sie doch vor großen Ereignissen zurückstehen. Ganz gewiß war ein Umstand wie der, der Dobbin [351] nach Brighton führte, das heißt der Marschbefehl für Garde und Linie nach Belgien und die Vereinigung der alliierten Heere in diesem Land unter dem Kommando Seiner Gnaden, des Herzogs von Wellington, so sehr wichtig. Er berechtigte uns, allen unwichtigeren Vorfällen, woraus unsere Geschichte hauptsächlich besteht, vorauszueilen, und deshalb war eine kleine Unordnung entschuldbar und dienlich. Wir sind jetzt wieder im 22. Kapitel und nur soweit fortgeschritten, daß wir unsere verschiedenen Darsteller in ihre Ankleidezimmer befördert haben. Es ist kurz vor dem Essen am Tage von Dobbins Ankunft, das wie üblich stattfand.

George war zu menschenfreundlich oder zu sehr mit dem Binden seines Halstuches beschäftigt, um Amelia sofort alle Nachrichten mitzuteilen, die sein Kamerad aus London gebracht hatte. Aber er betrat ihr Zimmer mit so ernster und wichtiger Miene, den Brief des Rechtsanwaltes in der Hand, daß sie, stets in Erwartung eines Unheils, glaubte, das Schlimmste sei im Anzug. Sie eilte auf ihren Mann zu und bat ihren geliebten George inständig, er möge ihr doch alles sagen: Gewiß müsse er weg von England, es werde nächste Woche eine Schlacht stattfinden, sie wisse es wohl.

Der geliebte George parierte die Frage nach dem Feldzug und sagte mit melancholischem Kopfschütteln: »Nein, Emmy, das ist es nicht, nicht um mich mache ich mir Gedanken, sondern um dich. Ich habe schlimme Nachrichten von meinem Vater bekommen. Er lehnt jede Verbindung mit mir ab, er schickt uns weg und überläßt uns der Armut. Ich kann schon irgendwie durchkommen, aber du, meine Liebe, wie wirst du es ertragen? Da, lies!« Und er reichte ihr den Brief.

Amelia lauschte mit zärtlicher Unruhe im Blick ihrem edlen Helden, als er diese großmütigen Gefühle äußerte. Dann setzte sie sich aufs Bett und las den Brief, den George ihr mit hochtrabender Märtyrermiene überreicht hatte. Während [352] sie las, erhellte sich ihr Gesicht zusehends. Der Gedanke, Armut und Entbehrung mit dem Geliebten zu teilen, hat, wie bereits gesagt, für eine warmherzige Frau nichts Abschreckendes an sich. Ja, die Aussicht war der kleinen Amelia sogar angenehm. Dann schämte sie sich, wie gewöhnlich, daß sie sich in einem so unpassenden Augenblick glücklich fühlte, bezähmte ihre Freude und sagte demütig:

»O George, wie dir doch das Herz bluten muß bei dem Gedanken, daß du von deinem Papa getrennt bist.«

»Ja, das tut es auch«, sagte George mit gequältem Gesichtsausdruck.

»Aber er kann dir nicht lange böse sein«, fuhr sie fort. »Niemand könnte das, davon bin ich überzeugt. Er muß dir verzeihen, mein liebster, bester Mann. Oh, ich werde mir nie verzeihen, wenn er es nicht tut.«

»Was mich quält, meine arme Emmy, ist nicht mein Unglück, sondern deines«, sagte George. »Ein bißchen Armut stört mich nicht, und ich glaube ohne Eitelkeit sagen zu können, daß ich genug Talente besitze, um meinen Weg selbst zu machen.«

»Das stimmt«, fiel seine Frau ein, die glaubte, der Krieg werde sofort beendet werden und ihr Mann zum General befördert.

»Ja, ich werde meinen Weg machen, so gut wie jeder andere«, fuhr Osborne fort, »aber du, mein liebes Mädchen, wie kann ich es ertragen, daß dir die Bequemlichkeit entgeht und du nicht die Stellung in der Gesellschaft einnehmen kannst, die dir als meiner Frau gebührt? Mein liebstes Mädchen in einer Kaserne! Soldatenfrau beim Regiment, allen Arten von Belästigungen und Entbehrungen ausgesetzt! Es macht mich ganz elend!«

Erleichtert, daß dies ihres Mannes einziger Grund zur Beunruhigung war, ergriff sie seine Hand und begann mit freudestrahlendem Gesicht aus dem bekannten Lied »An der alten Treppe von Wapping« die Strophe zu singen, wo [353] die Heldin, nachdem sie ihren Tom wegen seiner Unaufmerksamkeit gescholten hat, verspricht, »seine Hosen zu flicken und Grog ihm zu machen«, wenn er treu und freundlich sein und sie nicht verlassen würde. »Und außerdem«, sagte sie nach einer Pause, wobei sie so hübsch und glücklich aussah, wie eine junge Frau es sein sollte, »sind nicht zweitausend Pfund ungeheuer viel Geld, George?«

George lachte über ihre Naivität, und schließlich gingen sie zum Essen hinab. Amelia hing an Georges Arm und trällerte noch immer die Melodie von der »Alten Treppe von Wapping«.

Sie war so vergnügt und lustig wie schon einige Tage nicht mehr.

So war denn das Mittagsmahl, das endlich zustande kam, gar nicht traurig, sondern im Gegenteil ungemein lebhaft und lustig. Die Aufregung beim Gedanken an den bevorstehenden Feldzug wirkte bei George der Niedergeschlagenheit, die durch den Enterbungsbrief verursacht worden war, entgegen. Dobbin bewährte sich als unermüdlicher Plauderer. Er belustigte die Gesellschaft mit Berichten über die Armee in Belgien, wo es nichts anderes gab als Festlichkeiten, Vergnügungen und vornehme Leute. Sodann ging der geschickte Hauptmann zur Beschreibung der Majorin O'Dowd über, wobei er ein besonderes Ziel verfolgte. Er erzählte, wie sie ihre und ihres Majors Garderobe eingepackt hatte und wie sie seine besten Epauletten in einer Teebüchse verstaut hatte. Ihr berühmter gelber Turban, mit dem Paradiesvogel, in Packpapier gewickelt, war in die blecherne Hutschachtel des Majors gewandert. Dobbin hätte gern wissen mögen, welche Wirkung der Turban wohl am Hofe des französischen Königs in Gent oder auf den großen Offiziersbällen in Brüssel haben würde.

»Gent! Brüssel!« rief Amelia und fuhr vor Schreck hoch. »Hat das Regiment Marschbefehl bekommen, George, hat es Marschbefehl bekommen?«

[354] Schrecken malte sich in dem lieblichen, lächelnden Gesicht, und sie klammerte sich instinktiv an George an.

»Hab keine Angst, Liebste«, sagte er gutmütig, »die Überfahrt dauert nur zwölf Stunden. Es wird dir nichts passieren. Du sollst auch mitkommen, Emmy.«

»Ich gehe jedenfalls mit«, sagte Becky, »ich bin beim Generalstab, General Tufto gehört zu meinen eifrigsten Anbetern, nicht wahr, Rawdon?«

Rawdon brach in sein übliches schallendes Gelächter aus. William Dobbin wurde rot. »Sie kann nicht mitkommen«, sagte er, »denk doch an die ...«, die Gefahr wollte er hinzufügen; sollte aber denn nicht sein ganzes Tischgespräch beweisen, daß es keine Gefahr gab? Er wurde sehr verlegen und schweigsam.

»Ich muß und will gehen«, rief Amelia mit größter Lebhaftigkeit. George lobte ihren Entschluß, tätschelte sie unterm Kinn und fragte alle Anwesenden, ob sie je eine so ungestüme Frau gesehen hätten. Er war einverstanden, daß sie ihm Gesellschaft leisten würde. »Wir haben Mrs. O'Dowd als Anstandsdame für dich«, sagte er. Was kümmerte sie sich darum, solange ihr Mann in der Nähe war? Und so wurde denn die Bitterkeit des Abschieds sozusagen hinweggegaukelt. Wenn es auch Krieg und Gefahr gab, so konnte es doch noch Monate dauern, bis Krieg und Gefahr sich bemerkbar machten. Auf jeden Fall war es ein Aufschub, der die schüchterne kleine Amelia fast ebenso glücklich machte, wie die aufgehobene Gefahr es getan hätte. Selbst Dobbin mußte im Innern zugeben, daß es so ganz günstig sei. Amelia sehen zu dürfen war nämlich jetzt das größte Glück und die Hoffnung seines Lebens, und insgeheim überlegte er, wie er sie bewachen und beschützen wollte. Ich hätte sie nicht mitgehen lassen, wenn sie meine Frau wäre, dachte er. Aber George war nun einmal der Herr, und sein Freund hielt es nicht für angemessen, ihm Vorstellungen zur machen.

Den Arm um Amelias Taille geschlungen, führte Rebekka [355] ihre Freundin schließlich vom Tisch fort, wo so viele wichtige Dinge besprochen worden waren. Sie ließen die Herren in der heitersten Stimmung der Welt, trinkend und plaudernd, zurück.

Im Laufe des Abends erhielt Rawdon von seiner Frau ein kleines Familienbriefchen. Obgleich er es zerknüllte und sofort an der Kerze verbrannte, glückte es uns doch, über Rebekkas Schulter zu lesen. »Wichtige Neuigkeiten«, schrieb sie. »Mrs. Bute ist fort. Verschaff dir noch heute abend das Geld von Cupido, da er morgen höchstwahrscheinlich abfährt. Denk daran. R.«

Als daher die kleine Gesellschaft unterwegs war, um im Zimmer der Damen Kaffee zu trinken, berührte Rawdon Hauptmann Osborne am Ellbogen und sagte freundlich: »Hören Sie, Osborne, mein Junge, wenn es Ihnen recht ist, so möchte ich Sie um die Kleinigkeit bemühen.« Es war George nicht recht, aber trotzdem leistete er eine bedeutende Abschlagszahlung in Banknoten aus der Brieftasche und gab ihm für den Rest einen in acht Tagen bei seinem Beauftragten zahlbaren Wechsel.

Nachdem die Sache erledigt war, hielten George, Joseph und Dobbin bei einer Zigarre Kriegsrat und beschlossen, am folgenden Tage alle in Joes offenem Wagen nach London aufzubrechen. Joseph hätte es ganz gern gesehen, wenn man bis zu Rawdon Crawleys Abreise in Brighton geblieben wäre, aber Dobbin und George überstimmten ihn, und so ließ er sich denn herbei, die Gesellschaft in die Stadt zu bringen, und bestellte, wie es seiner Würde angemessen war, vier Pferde. Damit fuhren sie am folgenden Tage nach dem Frühstück mit Gepränge ab. Amelia war sehr zeitig aufgestanden und hatte mit großem Eifer ihre Köfferchen gepackt, während Osborne im Bett lag und bedauerte, daß sie kein Mädchen hatte, das ihr helfen könnte. Amelia war aber nur zu froh, diese Arbeit selbst tun zu können. Ein vages, unheimliches Gefühl beschlich sie, wenn sie an Rebekka dachte, und obgleich [356] sie sich beim Abschied recht zärtlich küßten, so wissen wir doch, was Eifersucht ist; und die besaß Mrs. Amelia neben den anderen Tugenden ihres Geschlechtes.


Wir dürfen nicht vergessen, daß neben diesen ankommenden und abfahrenden Personen sich noch einige andere alte Bekannte von uns in Brighton befanden: Miss Crawley nämlich und ihr Gefolge. Obgleich Rebekka mit ihrem Mann nur ein paar Steinwürfe von der kranken Miss Crawley entfernt wohnte, so blieb doch für beide die Tür zu der alten Dame ebenso unbarmherzig verschlossen wie zuvor in London. Solange Mrs. Bute Crawley bei ihrer Schwägerin war, sorgte sie dafür, daß ihre geliebte Matilda nicht durch ein Zusammentreffen mit ihrem Neffen aufgeregt wurde. Fuhr die alte Jungfer aus, so saß die treue Mrs. Bute neben ihr im Wagen. Schöpfte Miss Crawley in einem Rollstuhl Luft, so ging Mrs. Bute auf einer Seite des Gefährts, während die ehrliche Briggs die andere einnahm. Trafen sie zufällig einmal Rawdon und dessen Frau, so ging die Gesellschaft um Miss Crawley so kalt und niederschmetternd gleichgültig vorbei, obwohl Rawdon stets unterwürfig den Hut zog, daß er anfing zu verzweifeln.

»Wir könnten ebensogut in London sein wie hier«, sagte Rawdon oft mit niedergeschlagener Miene.

»Ein komfortabler Gasthof in Brighton ist besser als das Schuldgefängnis in der Chancery Lane«, antwortete seine Frau, die ein fröhliches Temperament besaß. »Denk nur an die beiden Adjutanten von Mr. Moses, dem Gerichtsvollzieher, die unsere Wohnung eine ganze Woche lang bewacht haben. Unsere Freunde hier sind zwar sehr geistlos, aber Mr. Joe und Hauptmann Cupido sind immerhin bessere Gesellschafter als Mr. Moses' Leute, mein lieber Rawdon.«

»Ich wundere mich, daß mir die Haftbefehle nicht hierher gefolgt sind«, fuhr Rawdon immer noch verzagt fort.

»Wenn sie noch kommen, dann werden wir ihnen schon entwischen«, [357] sagte die unerschrockene kleine Becky und setzte ihrem Mann den Vorteil und Nutzen, daß sie Joe und Osborne getroffen hatten, auseinander. Hatte doch diese Bekanntschaft Rawdon einen willkommenen kleinen Vorrat an Bargeld eingebracht.

»Es wird kaum reichen, die Gasthofrechnung zu bezahlen«, brummte der Leibgardist.

»Warum sollen wir sie denn bezahlen?« fragte die Dame, die auf alles eine Antwort wußte.

Durch Rawdons Diener, der mit den männlichen Dienstboten von Miss Crawley immer noch gelegentlich Umgang pflegte und angewiesen worden war, den Kutscher, sooft sie zusammenkamen, zum Trinken einzuladen, erfuhr unser junges Paar so beinahe alle Schritte der alten Miss Crawley; Rebekka kam auch noch auf den glücklichen Gedanken, unwohl zu sein und denselben Arzt zu rufen, der die alte Jungfer behandelte, so daß sie, im großen ganzen, einigermaßen unterrichtet waren. Übrigens war Miss Briggs, die zwar gezwungen war, äußerlich eine feindliche Haltung einzunehmen, im Innern Rawdon und seiner Frau nicht unfreundlich gesinnt. Sie hatte von Natur aus ein gutmütiges, versöhnliches Wesen, und jetzt, wo kein Grund mehr zur Eifersucht vorhanden war, verschwand auch ihre Abneigung gegen Rebekka, und sie erinnerte sich nur noch an ihre freundlichen Worte und ihre gute Laune. Tatsächlich stöhnten sie und Mrs. Firkin, die Kammerfrau, und das ganze Dienstpersonal von Miss Crawley insgeheim unter der Tyrannei der glorreichen Mrs. Bute.

Wie es oft vorkommt, verfolgte diese gute, aber herrschsüchtige Frau ihren Vorteil zu weit und ihr Glück zu unbarmherzig. Im Laufe weniger Wochen war es ihr gelungen, die Kranke in einen solchen Zustand hilfloser Fügsamkeit zu versetzen, daß die arme Seele sich völlig den Befehlen ihrer Schwägerin unterwarf und sich nicht einmal bei der Briggs oder der Firkin über ihre Sklaverei zu beklagen wagte. Mit [358] unwiderstehlicher Genauigkeit maß Mrs. Bute die Gläser Wein ab, die Miss Crawley täglich trinken durfte – zum großen Ärger der Firkin und des Butlers, die sich nun sogar der Herrschaft über die Sherryflasche beraubt sahen. Sie teilte die Kalbsmilch, Gelees und Hühnchen nach Menge und Reihenfolge aus. Abends, mittags und morgens brachte sie die vom Arzt verordneten abscheulichen Tränke, die die Kranke mit einem so rührenden Gehorsam schluckte, daß die Firkin sagte: »Meine arme Herrin nimmt ihre Arznei wie ein Lamm ein.« Sie bestimmte, wann sie in der Kutsche oder im Rollstuhl ausgefahren werden sollte; mit einem Wort: sie zermürbte die alte Dame während ihrer Genesung, wie es nur einer so rechtschaffenen, mütterlichen, moralischen Frau gelingt. Leistete die Patientin einmal einen schwachen Widerstand und bat um ein wenig mehr Essen oder einen Tropfen weniger Arznei, dann drohte ihre Wärterin ihr mit augenblicklichem Tode, und Miss Crawley gab sofort nach. »Es ist gar kein Leben mehr in ihr«, bemerkte die Firkin gegenüber der Briggs, »schon seit drei Wochen hat sie mich nicht mehr Dummkopf genannt.« Schließlich nahm sich Mrs. Bute vor, die eben erwähnte ehrliche Kammerfrau, den dicken, vertrauenerweckenden Mr. Bowls und die Briggs wegzuschicken und dafür ihre Töchter aus dem Pfarrhaus kommen zu lassen, bevor man die teure Patientin nach Queen's Crawley bringen konnte. Es ereignete sich aber ein böser Unfall, der sie von ihren angenehmen Pflichten wegrief. Ehrwürden Bute Crawley, ihr Mann, war nämlich eines Abends beim Heimritt vom Pferd gestürzt und hatte sich das Schlüsselbein gebrochen. Fieber und eine Entzündung stellten sich ein, und Mrs. Bute mußte Sussex verlassen und nach Hampshire fahren. Sie versprach, zu ihrer teuersten Freundin zurückzukehren, sobald Bute wiederhergestellt wäre, und hinterließ bei ihrer Abreise für die Dienerschaft strengste Vorschriften, wie ihre Herrin zu behandeln war. Kaum aber hatte sie den Southamptoner Postwagen bestiegen, als sich im ganzen [359] Haus von Miss Crawley ein Jubel verbreitete und alle so erleichtert aufatmeten, wie es die Gesellschaft dort seit vielen Wochen nicht erlebt hatte. Noch am gleichen Tage ließ Miss Crawley ihre Nachmittagsdosis an Medizin aus, noch am gleichen Nachmittag öffnete Bowls nur für sich und Mrs. Firkin eine Flasche Sherry, noch am gleichen Abend frönten Miss Crawley und Miss Briggs einem Spiel Pikett, anstatt einer Predigt von Porteus. Es war ganz wie in dem alten Ammenmärchen, wo der Prügel vergaß, den Pudel zu schlagen, und der ganze Lauf der Ereignisse eine friedliche und glückliche Veränderung erfuhr.

Zwei- oder dreimal in der Woche pflegte Miss Briggs morgens in aller Frühe einen Badekarren aufzusuchen und sich in einem Flanellgewand und einer Ölhauthaube im Wasser zu vergnügen. Wie wir gesehen haben, war Rebekka dieser Umstand nicht unbekannt, und obgleich sie nicht versuchte, die Briggs zu stürmen, wie sie angedroht hatte, nämlich plötzlich vor der Dame aufzutauchen und sie unter ihrem geheiligten Zelt zu überraschen, so beschloß Mrs. Rawdon doch, die Briggs anzugreifen, wenn sie erfrischt und gestärkt und wahrscheinlich in guter Laune vom Bade käme.

Becky stand also am nächsten Morgen sehr zeitig auf, holte sich das Fernrohr in ihr Wohnzimmer, das aufs Meer hinausging, und richtete es auf die Badekarren am Strand. Bald sah sie die Briggs herbeikommen, in ihren Kasten steigen und auf das Meer hinausfahren. Rebekka war am Strande, gerade als die ersehnte Nymphe aus dem kleinen Fahrzeug kletterte und auf die Steine trat. Es war ein hübsches Bild: der Strand, die Gesichter der Badefrauen, die lange Reihen von Felsen und Häusern leuchteten rot im Sonnenlicht. Rebekka trug ein freundliches, zärtliches Lächeln zur Schau und streckte in dem Augenblick, als die Briggs aus dem Kasten auftauchte, ihre hübsche weiße Hand aus. Was konnte die Briggs anderes tun, als den Gruß zu erwidern?

[360] »Miss Sh..., Mrs. Crawley«, sagte sie.

Mrs. Crawley ergriff ihre Hand, drückte sie an ihr Herz und umarmte und küßte die Briggs in einer plötzlichen Eingebung herzlich. »Liebe, liebe Freundin!« sagte sie mit so echtem Gefühl, daß Miss Briggs natürlich sofort zerschmolz und sogar die Badefrau weich wurde.

Es fiel Rebekka nicht schwer, die Briggs in ein langes, vertrautes und reizendes Gespräch zu verwickeln. Die Briggs beschrieb alles, was sich seit Beckys plötzlichem Verschwinden an jenem Morgen aus Miss Crawleys Haus in der Park Lane bis zu diesem Tage mit Mrs. Butes glücklichem Rückzug ereignet hatte. Ausführlich und genau, wie Frauen es gern tun, schilderte die Vertraute alle Einzelheiten von Miss Crawleys Krankheit und der ärztlichen Behandlung. Werden Frauen jemals müde, sich über ihre Krankheiten und Ärzte zu unterhalten? Die Briggs wurde es jedenfalls nicht, und Rebekka hörte unermüdlich zu. Sie war dankbar, wirklich dankbar, daß die liebe gute Briggs und die treue, unschätzbare Firkin bei ihrer kranken Wohltäterin hatten bleiben dürfen. Der Himmel segne Miss Crawley! Obgleich sie, Rebekka, sich scheinbar ungehorsam gegen die alte Dame betragen habe. Aber sei ihr Vergehen nicht natürlich und entschuldbar? Konnte sie anders, als dem Mann, der ihr Herz gewonnen hatte, ihre Hand zu geben? Die sentimentale Briggs konnte bei diesem Geständnis nur ihre Augen zum Himmel erheben und einen mitfühlenden Seufzer ausstoßen. Sie dachte daran, daß auch sie einst, vor vielen Jahren, ihr Herz verschenkt hatte, und mußte zugeben, daß Rebekkas Verbrechen nicht groß war.

»Kann ich jemals die vergessen, die der freundlosen Waise eine Freundin wurde? Nein, obwohl sie mich verstoßen hat, werde ich doch nie aufhören, sie zu lieben, und würde gern mein Leben ihrem Dienste weihen«, versicherte Rebekka. »Als meine Wohltäterin, als die angebetete Verwandte meines geliebten Rawdon liebe und bewundere ich Miss Crawley,[361] meine teure Miss Briggs, mehr als jede andere Frau in der Welt, und danach liebe ich alle die, die ihr treu sind. Nie hätte ich Miss Crawleys treue Freundinnen so behandelt, wie die gemeine, ränkevolle Mrs. Bute es getan hat. Rawdon, der ganz Herz ist«, fuhr Becky fort, »obgleich seine Manieren rauh und unbedacht erscheinen mögen, hat wohl hundertmal mit Tränen in den Augen gesagt, er danke dem Himmel dafür, daß er seinem lieben Tantchen zwei so wunderbare Wärterinnen gesandt hat wie ihre ergebene Firkin und ihre bewundernswerte Miss Briggs. Sollten die Anschläge der abscheulichen Mrs. Bute damit enden – und sie, Rebekka, befürchte das nur zu sehr –, daß sie jeden, der Miss Crawley liebte, von ihrer Seite verbannte und die arme Dame so ein Opfer der Harpyien im Pfarrhaus würde, so bitte sie (Rebekka) ihre Freundin (Miss Briggs) stets daran zu denken, daß ihr Haus, so bescheiden es auch sei, immer für Miss Briggs offenstünde. Liebe Freundin«, rief sie in einem Ausbruch von Begeisterung, »es gibt Herzen, die Wohltaten niemals vergessen! Nicht alle Frauen sind Bute Crawleys! Aber weshalb sollte ich mich über sie beklagen«, setzte Rebekka hinzu, »wenn ich auch ihr Werkzeug und das Opfer ihrer Künste wurde – verdanke ich ihr nicht meinen liebsten Rawdon?«

Und nun enthüllte Rebekka der Briggs das ganze Verhalten von Mrs. Bute in Queen's Crawley, ein Verhalten, das ihr damals unverständlich gewesen sei, jetzt aber durch die Ereignisse deutlich genug erklärt werde – jetzt, da die Verbindung entstanden war, die Mrs. Bute durch tausend Kunstgriffe begünstigt hatte, jetzt, da zwei Unschuldige in die Schlinge gegangen waren, die sie gelegt hatte, sich liebten, heirateten und dem Ruin entgegengingen – alles durch ihre Schliche.

Das entsprach alles der Wahrheit. Die Briggs durchschaute die Kriegslist völlig. Mrs. Bute hatte die Ehe zwischen Rawdon und Rebekka gestiftet. Obgleich die junge Frau durchaus [362] ein unschuldiges Opfer war, so konnte doch Miss Briggs ihrer Freundin nicht ihre Furcht verhehlen, daß Miss Crawley ihre Liebe von Rebekka abgewandt habe und daß die alte Dame es ihrem Neffen nie verzeihen werde, eine so unkluge Heirat eingegangen zu sein.

In diesem Punkte hatte Rebekka ihre eigenen Ansichten und war noch immer guten Mutes. Wenn Miss Crawley ihnen auch nicht jetzt verzieh, so konnte sie sich doch später erweichen lassen. Es stand jetzt nur noch der plärrende, kränkliche Pitt Crawley zwischen Rawdon und der Baronetswürde, und sollte diesem etwas zustoßen, wäre alles gut. Jedenfalls war es eine Genugtuung, Mrs. Butes Ränke enthüllt und sich selbst ins rechte Licht gerückt zu haben – was auch Rawdons Interessen dienen konnte. Nach einem einstündigen Schwatz verließ Rebekka ihre wiedergewonnene Freundin unter den zärtlichsten Freundschaftsbezeigungen, vollkommen überzeugt, daß die Unterhaltung Miss Crawley noch vor Ablauf einiger Stunden berichtet werden würde.

Als die Unterredung zu Ende war, wurde es für Rebekka höchste Zeit, in ihr Gasthaus zurückzukehren, wo sich die ganze Gesellschaft vom vergangenen Tage zu einem Abschiedsfrühstück zusammengefunden hatte. Rebekka nahm von Amelia so zärtlich Abschied, wie es zwei Frauen, die sich wie Schwestern lieben, zukommt. Sie benutzte ausgiebig ihr Taschentuch, hängte sich der Freundin an den Hals, als ob sie sich für immer trennten, und winkte mit dem (nebenbei gesagt ganz trockenen) Taschentuch aus dem Fenster dem abfahrenden Wagen nach. Dann begab sie sich an den Frühstückstisch zurück und aß – wenn man ihre Rührung in Betracht zieht, mit gutem Appetit – ein paar Garnelen. Während sie diese Delikatessen kaute, erzählte sie Rawdon, was auf ihrem Morgenspaziergang zwischen ihr und der Briggs vorgefallen war.

Ihre Hoffnungen waren hochgespannt, und sie brachte ihren Mann dazu, sie zu teilen. Es gelang ihr stets, ihren [363] Mann für ihre Ansichten zu gewinnen, ganz gleich, ob sie traurig oder lustig waren.

»Mein Lieber, du wirst dich nun gefälligst an den Schreibtisch setzen und mir ein hübsches Briefchen an Miss Crawley schreiben und ihr darin sagen, daß du ein guter Junge bist und so weiter.« Er setzte sich also hin und schrieb schnell los: »Brighton, Donnerstag« und »Meine liebe Tante!« Aber hier verließ den tapferen Offizier die Phantasie. Er kaute an der Feder und sah seine kleine Frau an. Sie mußte über seine jämmerliche Miene lachen und begann nun selbst einen Brief zu diktieren, wobei sie, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab ging:

»Bevor ich England verlasse und in eine Schlacht ziehe, die sehr wahrscheinlich verhängnisvoll ...«

»Was?« rief Rawdon ziemlich überrascht, begriff aber doch den Humor des Satzes und schrieb ihn grinsend nieder.

»... die sehr wahrscheinlich verhängnisvoll werden kann, bin ich hierhergekommen ...«

»Warum nicht: ›hergekommen‹, Becky? ›hergekommen‹ ist doch auch grammatisch«, fiel der Dragoner ein.

»... bin ich hierhergekommen«, wiederholte Rebekka und stampfte mit dem Fuß auf, »um meiner liebsten und ältesten Freundin Lebewohl zu sagen. Ich flehe Sie an, ehe ich scheide, um vielleicht nie zurückzukommen, mich noch einmal die Hand drücken zu lassen, aus der ich mein Leben lang nichts als Güte empfangen habe.«

»... Güte empfangen habe«, wiederholte Rawdon, und als er die Worte hinkritzelte, war er ganz erstaunt über seinen flüssigen Stil.

»Ich erbitte von Ihnen nur, daß wir nicht in Unfrieden voneinander scheiden. In einigen Punkten, wenn auch nicht in allen, besitze ich den Stolz meiner Familie. Ich habe die Tochter eines Malers geheiratet und schäme mich dieser Verbindung nicht.«

[364] »Nein, du kannst mich durchbohren, wenn ich das tue!« rief Rawdon.

»Du alter Einfaltspinsel«, sagte Rebekka und kniff ihn ins Ohr. Sie sah ihm über die Schulter, um zu verhüten, daß er Schreibfehler machte. »›Güte‹ schreibt man ohne h, ›Lebewohl‹ mit.«

Er beugte sich der überlegenen Kenntnis seiner kleinen Herrin und verbesserte die Worte.

»Ich dachte, Sie kannten meine Liebe«, fuhr Rebekka fort, »ich wußte, daß Mrs. Bute Crawley sie guthieß und unterstützte. Aber ich mache niemandem Vorwürfe. Ich habe ein armes Mädchen geheiratet und will zu dem, was ich getan habe, stehen. Hinterlassen Sie Ihr Vermögen, liebe Tante, wem Sie wollen. Ich werde mich nie beklagen, wie Sie auch darüber verfügen mögen. Ich möchte Sie nur davon überzeugen, daß ich Sie nicht um Ihres Geldes, sondern um Ihrer selbst willen liebe. Ich möchte mich gern mit Ihnen versöhnen, ehe ich England verlasse. Bitte, bitte, darf ich Sie sehen, ehe ich gehe? In ein paar Wochen oder Monaten könnte es zu spät sein, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, mein Vaterland ohne ein freundliches Abschiedswort von Ihnen zu verlassen.«

»Sie wird hier meinen Stil wohl kaum erkennen«, sagte Becky. »Ich habe die Sätze absichtlich so kurz und bündig gemacht.«

Und nun wurde dieses authentische Schreiben an Miss Briggs' Adresse abgeschickt.

Die alte Miss Crawley lachte, als die Briggs mit äußerst geheimnisvoller Miene ihr dieses aufrichtige und ungekünstelte Schreiben überreichte. »Wir können es jetzt wohl lesen, da Mrs. Bute fort ist«, sagte sie. »Lesen Sie mir den Brief vor, Briggs.«

Als die Briggs gelesen hatte, lachte ihre Gebieterin noch mehr. »Sehen Sie nicht, Sie Gans«, sagte sie zu der Briggs, die sich den Anschein gab, als sei sie von der uneigennützigen [365] Liebe, die aus dem ganzen Schreiben sprach, sehr gerührt, »merken Sie nicht, daß Rawdon auch nicht eine Silbe davon geschrieben hat? Sein ganzes Leben hat er mir noch nie geschrieben, ohne Geld zu verlangen, und alle seine Briefe wimmelten von Schreibfehlern, von falscher Grammatik und Strichen. Diese kleine Schlange von einer Gouvernante hat ihn an der Strippe.« Sie sind sich alle gleich, dachte Miss Crawley in ihrem Herzen. Alle möchten, daß ich tot wäre, und trachten nach meinem Geld.

»Ich habe nichts dagegen, Rawdon zu sehen«, setzte sie nach einer Pause in vollkommen gleichgültigem Ton hinzu. »Es macht nichts aus, ob ich ihm nun die Hand drücke oder nicht. Vorausgesetzt, es gibt keine Szene – warum sollten wir uns nicht sehen? Von mir aus! Aber die menschliche Geduld hat ihre Grenzen, und vergessen Sie nicht, meine Liebe, ich lehne es höflich ab, Mrs. Rawdon zu empfangen, das kann ich denn doch nicht ertragen.«

Miss Briggs mußte sich nun wohl oder übel mit dieser halben Versöhnungsbotschaft zufriedengeben. Sie dachte, die beste Weise, die alte Dame und den Neffen zusammenzubringen, wäre, Rawdon zu empfehlen, auf den Klippen zu warten, wenn Miss Crawley sich im Rollstuhl dorthin bringen ließ, um Luft zu schöpfen.

Dort trafen sie sich. Ich weiß nicht, ob Miss Crawley noch ein geheimes Gefühl der Zuneigung oder Rührung empfand, als sie ihren einstigen Liebling erblickte, jedenfalls hielt sie ihm lächelnd und mit gutgelaunter Miene ein paar Finger hin, als ob sie sich tags zuvor erst getroffen hätten. Rawdon wurde scharlachrot und zerdrückte der armen Briggs beinahe die Hand, so groß waren seine Begeisterung und Verwirrung bei dem Zusammentreffen. Vielleicht waren es seine Interessen, die ihn bewegten, vielleicht war es Liebe, vielleicht war es auch die Veränderung im Äußeren seiner Tante, durch die Krankheit der letzten Wochen, die ihn ergriff.

»Das alte Mädchen war immer eine treue Seele für mich«, [366] sagte er zu seiner Frau, als er ihr von der Unterredung berichtete, »und weißt du, mir war ganz komisch zumute, na ja, und so weiter. Ich bin neben dem Dingsda – du weißt schon – hergegangen, bis vor ihre Tür, und dann kam Bowls und brachte sie hinein. Ich wollte ja auch ganz gern mit reingehen, bloß ...«

»Bist du etwa nicht mit hineingegangen, Rawdon!« schrie seine Frau.

»Nein, meine Liebe, der Teufel hole mich, aber ich hatte Angst, als es soweit war.«

»Du Narr! Du hättest hineingehen und nicht mehr herauskommen sollen«, sagte Rebekka.

»Beschimpf mich nicht!« sagte der große Leibgardist verdrießlich. »Vielleicht war ich ein Narr, Becky, aber du solltest das nicht sagen.« Und er warf seiner Frau den Blick zu, den er im Zorn haben konnte und dem man lieber nicht trotzen sollte.

»Schön, Liebster, du mußt eben morgen wieder auf der Lauer liegen und sie besuchen, ob sie dich nun einlädt oder nicht!« sagte Rebekka und versuchte, ihren zornigen Eheliebsten zu besänftigen. Dieser erwiderte darauf, daß er tun würde, was ihm beliebte, und daß er ihr raten wollte, in Zukunft ihre Zunge im Zaum zu halten. Damit entfernte sich der gekränkte Ehemann und verbrachte den Vormittag mürrisch, schweigsam und argwöhnisch im Billardzimmer.


Noch vor Ende der Nacht aber sah er sich genötigt, nachzugeben und wie gewöhnlich abermals die größere Klugheit und Vorsicht seiner Frau anzuerkennen. Ihre Ahnungen wegen der Folgen seines Fehlers bestätigten sich auf traurige Weise. Miss Crawley mußte wirklich etwas bewegt worden sein, als sie ihn nach einem so langen Bruch wiedersah und ihm die Hand drückte. Sie dachte lange Zeit über die Zusammenkunft nach. »Rawdon wird sehr dick und alt, Briggs«, bemerkte sie zu ihrer Gesellschafterin. »Seine Nase[367] ist entsetzlich rot, und er sieht außerordentlich heruntergekommen aus. Seine Heirat mit diesem Frauenzimmer hat ihn hoffnungslos ordinär gemacht. Mrs. Bute sagte mir immer, daß sie beide trinken, und ich zweifle nicht daran, daß sie es wirklich tun. Ja, er hat ganz entsetzlich nach Gin gerochen. Ich habe es gemerkt. Sie nicht auch?«

Vergeblich wandte die Briggs ein, daß Mrs. Bute von jedermann schlecht sprach, und soweit ein Mensch in ihrer bescheidenen Stellung urteilen könne, so sei sie ein ...

»Ein gerissenes, ränkevolles Frauenzimmer, nicht wahr? Ja, das stimmt, und es stimmt auch, daß sie von jedermann schlecht spricht. Aber ich bin doch überzeugt, daß dieses Weib Rawdon zum Trinken verleitet hat. Alle diese gewöhnlichen Leute ...«

»Er war sehr ergriffen, als er Sie sah, Madame«, sagte die Gesellschafterin, »und ich bin überzeugt, wenn Sie bedenken, daß er sich nun in Gefahr begibt ...«

»Wieviel Geld hat er Ihnen versprochen, Briggs?« schrie die alte Jungfer, die sich in eine nervöse Wut hineinarbeitete, »da haben wir's wieder, natürlich fangen Sie jetzt an zu heulen. Ich hasse Szenen. Warum muß ich immer gequält werden? Gehen Sie in Ihr Zimmer und weinen Sie sich dort aus und schicken Sie mir die Firkin – oder nein, bleiben Sie da, setzen Sie sich und putzen Sie sich die Nase. Hören Sie auf zu heulen und schreiben Sie einen Brief an Hauptmann Crawley.«

Die arme Briggs setzte sich gehorsam an den Schreibblock. Die Blätter trugen noch Spuren der festen, energischen, schnellen Handschrift von dem letzten Amanuensis der alten Jungfer, von Mrs. Bute Crawley.

»Fangen Sie an: ›Mein sehr verehrter Herr‹ oder besser ›Verehrter Herr‹, und sagen Sie, Sie seien beauftragt von Mrs. Crawley – nein, von Miss Crawleys Arzt, Mr. Creamer, mitzuteilen, daß in meinem jetzigen Gesundheitszustand alle starken Gemütsbewegungen gefährlich seien – und daß ich [368] deshalb jede Besprechung von Familienangelegenheiten und überhaupt jede Unterredung ablehnen müsse. Und danken Sie ihm, daß er nach Brighton gekommen ist und so weiter und bitten Sie ihn, meinetwegen nicht länger hier zu verweilen. Und, Miss Briggs, Sie können noch hinzufügen, daß ich ihm bon voyage 2 wünsche und daß er bei meinem Rechtsanwalt am Gray's Inn Square vorsprechen kann, wenn er sich die Mühe machen will, und dort eine Mitteilung von mir finden wird. Ja, ja, das wird reichen und bewirken, daß er Brighton verläßt.« Den letzten Satz schrieb die wohlwollende Briggs mit großer Befriedigung nieder.

»Mich schon am Tag nach Mrs. Butes Abreise zu überfallen«, schwatzte die alte Dame weiter, »das war doch etwas taktlos. Briggs, meine Liebe, schreiben Sie an Mrs. Crawley und sagen Sie ihr, sie brauche nicht wiederzukommen. Nein, sie braucht nicht, und sie soll auch nicht, ich will nicht Sklavin in meinem eigenen Hause sein – und ich will nicht verhungern und vergiftet werden. Sie wollen mich alle umbringen – alle – ja, alle.« Und bei diesen Worten brach die einsame alte Frau in einen hysterischen Tränenstrom aus.

Der letzte Aufzug ihrer traurigen Komödie auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit näherte sich schnell dem Ende, die flimmernden Lampen erloschen eine nach der anderen, und der dunkle Vorhang sollte sich bald herabsenken.

Der letzte Absatz, der Rawdon an Miss Crawleys Advokaten in London verwies und den die Briggs so befriedigt geschrieben hatte, tröstete den Dragoner und seine Frau etwas nach der ersten schweren Enttäuschung über die ablehnende Antwort der alten Jungfer hinsichtlich der Versöhnung. Aber er erfüllte den Zweck, den die alte Dame beim Schreiben im Auge gehabt hatte, denn Rawdon war jetzt sehr erpicht darauf, nach London zu kommen.

Mit Josephs Geldverlusten und mit George Osbornes Banknoten bezahlte er die Gasthofrechnung, und der Wirt hat wahrscheinlich bis heute nicht erfahren, wie unsicher die [369] Aussicht auf Bezahlen seiner Rechnung einmal war. Denn wie ein General vor dem Treffen sein Gepäck bei der Nachhut in Sicherheit bringt, so hatte auch Rebekka wohlweislich ihr wertvollstes Eigentum in Koffer gepackt und sie unter der Aufsicht von Georges Diener mit der Postkutsche nach London geschickt. Rawdon fuhr mit seiner Frau am nächsten Tag mit demselben Fahrzeug zurück.

»Ich hätte das alte Mädchen vor unserer Abreise gern noch einmal gesehen«, sagte Rawdon. »Sie sieht so krank und verändert aus, daß sie es gewiß nicht mehr lange treiben kann. Möchte wohl wissen, wie hoch der Scheck bei Waxy ist. Zweihundert – es kann doch nicht weniger als zweihundert sein, meinst du nicht auch, Becky?«

Infolge der wiederholten Besuche der beiden Herren, die wir bereits beschrieben haben, kehrten Rawdon und seine Frau nicht zu ihrer Wohnung in Brompton zurück, sondern stiegen in einem Gasthaus ab. Früh am nächsten Morgen hatte Rebekka Gelegenheit, sie zu sehen. Sie war unterwegs zu der alten Mrs. Sedley in Fulham, um ihre liebe Amelia und ihre Freunde von Brighton zu besuchen, und dabei kam sie an der Vorstadt vorbei. Sie waren alle nach Chatham und von dort nach Harwich gegangen, um sich mit dem Regiment nach Belgien einzuschiffen. Rebekka traf die gute alte Mrs. Sedley sehr gedrückt und in ihrer Einsamkeit weinend an. Als sie von dem Besuch zurückkam, fand sie ihren Mann, der in Gray's Inn gewesen war und dort sein Schicksal erfahren hatte. Wütend war er zurückgekommen.

»Beim Zeus, Becky«, sagte er, »sie hat mir nur zwanzig Pfund gegeben!«

Obgleich es sie beide betraf, war der Spaß doch zu gelungen, und Becky brach über Rawdons langes Gesicht in schallendes Gelächter aus.

Fußnoten

1 französisches Kartenspiel.

2 (franz.) gute Reise.

[370] 26. Kapitel
Zwischen London und Chatham

Als unser Freund George Brighton verließ, fuhr er, wie es sich für einen Mann von Rang und Welt, der vierspännig reist, gehört, mit Pomp an einem vornehmen Hotel am Cavendish Square vor, wo eine Flucht prächtiger Zimmer und eine Tafel, verschwenderisch mit Silber gedeckt und umgeben von einem halben Dutzend schweigsamer Kellner in Schwarz, für die beiden Neuvermählten bereit waren. George machte mit fürstlicher Miene Joseph und Dobbin die Honneurs, und Amelia führte zum erstenmal schüchtern und ängstlich den Vorsitz am »eigenen Tisch«, wie George es nannte.

George schimpfte über den Wein und kommandierte die Kellner herum wie ein König, und Joe schlürfte mit Behagen die Schildkrötensuppe. Dobbin tat ihm auf, denn die Dame des Hauses, vor der die Terrine stand, kannte den Inhalt so wenig, daß sie Mr. Sedley auftun wollte, ohne ihm Schildkrötenfleisch zu geben.

Die Pracht des Essens und des Zimmers, in dem es gereicht wurde, beunruhigte Mr. Dobbin, und als die Mahlzeit vorüber war und Joe in dem großen Lehnsessel eingeschlafen war, machte er seinem Freund Vorhaltungen. Aber vergebens protestierte er gegen die Verschwendung von Schildkrötensuppe und Champagner, die einem Erzbischof Ehre gemacht hätten. »Ich bin stets gewohnt gewesen, wie ein Gentleman zu reisen«, sagte George, »und verdammt noch mal, meine Frau soll reisen wie eine Lady. Solange ich noch Pulver auf der Pfanne habe, soll sie keinen Mangel leiden«, sagte der hochherzige Bursche, sehr zufrieden mit seiner Großartigkeit. Dobbin machte nun keinen Versuch, ihn zu überzeugen, daß Amelias Glück nicht von Schildkrötensuppe abhing.

Kurz nach dem Essen fragte Amelia schüchtern, ob sie ihre Mutter in Fulham besuchen dürfe. Etwas unwillig erlaubte es George. Sofort trippelte sie in ihr riesiges Schlafzimmer [371] mit dem riesigen Paradebett in der Mitte, worin »dem Zar Alexander seine Schwester geschlafen hat, als die alliierten Herrscher hier waren«. Eilig und vergnügt setzte sie den Hut auf und legte sich den Schal um. George saß noch bei seinem Rotwein, als sie in den Speisesaal zurückkam, und machte keine Anstalten aufzubrechen. »Willst du mich nicht begleiten, Liebster?« fragte sie. Nein, der »Liebste« hatte an jenem Abend »dienstlich« zu tun. Sein Diener sollte ihr einen Wagen holen und sie begleiten. Als der Wagen vor der Hoteltür stand, machte Amelia George einen kleinen enttäuschten Knicks, nachdem sie ein paarmal vergeblich versucht hatte, ihm ins Gesicht zu blicken. Sie ging mit Hauptmann Dobbin traurig die große Treppe hinab. Er half ihr beim Einsteigen und blickte dem Fahrzeug nach, als es losfuhr. Sogar der Diener schämte sich, dem Droschkenkutscher vor den Ohren der Hotelkellner die Adresse zu sagen. Er erklärte deshalb, er wolle ihm Bescheid sagen, wenn sie ein Stück gefahren wären.

Dobbin ging in sein altes Quartier zu Slaughters und dachte wahrscheinlich daran, wie schön es wäre, mit Mrs. Osborne in der Droschke zu sitzen. Georges Geschmack war offensichtlich anderer Art, denn als er genug Wein getrunken hatte, ging er zum halben Preis ins Theater, um Mr. Kean den Shylock 1 spielen zu sehen. Hauptmann Osborne war ein großer Theaterfreund und war selbst bei verschiedenen Theatervorstellungen in der Garnison in komischen Rollen erfolgreich aufgetreten. Joseph schlief bis in die dunkle Nacht hinein und fuhr erst hoch, als sein Diener die Weinkaraffen auf dem Tisch leerte und abräumte. Der Droschkenstand wurde erneut alarmiert, und es kam ein Wagen, der den dicken Helden nach Hause und ins Bett brachte.


Als die Kutsche vor dem kleinen Gartentor anhielt, rannte Mrs. Sedley aus dem Hause, drückte ihre Tochter in mütterlicher Liebe ans Herz und begrüßte die weinende, zitternde [372] junge Frau so stürmisch, daß der alte Mr. Clapp, der in Hemdsärmeln in seinem Gärtchen arbeitete, erschrocken zusammenfuhr. Das irische Dienstmädchen eilte aus der Küche und lächelte ihr ein »Gott segne Sie« zu. Amelia war kaum imstande, über die Steinplatten und die Treppe ins Wohnzimmer zu gehen.

Jeder Leser mit einem bißchen Gefühl kann sich ausmalen, wie die Tränenschleusen geöffnet wurden und Mutter und Tochter sich weinend umarmten, als sie in dem Heiligtum waren. Wann weinen Frauen nicht? Bei welcher freudigen oder traurigen oder anderen Gelegenheit im Leben? Nach einem solchen Ereignis wie einer Hochzeit durften Mutter und Tochter sicher ihrem Gefühl Luft machen, was ebenso zärtlich wie erquickend war. Ich habe schon Frauen gesehen, die sich sonst haßten und die sich doch küßten und zusammen weinten, wenn es um eine Hochzeit ging. Wie stark sind ihre Gefühle erst, wenn sie sich lieben! Gute Mütter heiraten bei der Hochzeit ihrer Töchter noch einmal, und wer weiß nicht, daß bei späteren Ereignissen Großmütter doppelt mütterlich sind? In der Tat weiß eine Frau oft erst dann, was es heißt, Mutter zu sein, wenn sie Großmutter geworden ist. Wir wollen daher Amelia und ihre Mama bei ihrem Flüstern, Weinen, Lachen und Schluchzen im Dämmerlicht des Wohnzimmers allein lassen. Der alte Mr. Sedley tat es. Er hatte nicht erraten, wer in der Kutsche saß, die vor dem Hause hielt. Er war seiner Tochter nicht entgegengeeilt, obgleich er sie bei ihrem Eintreten in das Zimmer (wo er wie immer mit seinen Papierbündeln, Schnüren und Rechnungen beschäftigt war) herzlich küßte. Nachdem er aber eine Weile bei Mutter und Tochter sitzen geblieben war, überließ er ihnen das Stübchen weise allein.

Georges Kammerdiener sah hochmütig Mr. Clapp zu, der in Hemdsärmeln seine Rosensträucher begoß. Er nahm jedoch sehr herablassend den Hut vor Mr. Sedley ab, der ihn nach seinem Schwiegersohn fragte und nach Josephs Wagen [373] und ob seine Pferde auch in Brighton gewesen seien und wie es um den höllischen Verräter Bonaparte und den Krieg stünde – bis das irische Dienstmädchen mit einer Flasche Wein auf einem Tablett erschien, aus der der alte Herr dem Diener unbedingt einschenken wollte. Er gab ihm auch eine halbe Guinee, die der Diener mit einer Mischung von Verwunderung und Verachtung einsteckte. »Auf das Wohl Ihrer Herrschaft, Trotter«, sagte Mr. Sedley, »und hier ist etwas, damit Sie zu Hause auf Ihre Gesundheit trinken können, Trotter.«

Es waren erst neun Tage vergangen, seit Amelia ihr Heim in dem kleinen Häuschen verlassen hatte, wie lange schien ihr aber der Abschied schon zurückzuliegen. Was für ein Abgrund lag zwischen ihr und ihrem früheren Leben. Wenn sie von ihrem jetzigen Standpunkt fast wie ein fremdes Wesen darauf zurückblickte, sah sie das junge unverheiratete Mädchen, in ihre Liebe versunken, das für nichts anderes Augen hatte. Sie hatte die elterliche Liebe nicht undankbar, aber doch gleichgültig und als selbstverständlich hingenommen, und ihr ganzes Herz und Denken waren nur auf die Erfüllung eines Wunsches gerichtet. Der Rückblick auf diese kaum erst entschwundenen und doch schon so fernen Tage erweckte in ihr ein Schamgefühl, und der Anblick der guten Eltern erfüllte sie mit zärtlicher Reue. War der Preis – der Himmel auf Erden – errungen und die Gewinnerin noch zweifelnd und unbefriedigt? Gewöhnlich läßt der Romanschreiber, wenn Held und Heldin im Hafen der Ehe gelandet sind, den Vorhang fallen, als ob das Drama nun vorüber wäre, die Zweifel und Kämpfe des Lebens zu Ende, im Laufe der Ehe alles grün und schön und Mann und Frau nun nichts anderes zu tun hätten, als Arm in Arm im Genuß vollkommensten Glückes langsam dem Alter zuzusteuern. Aber unsere kleine Amelia war eben erst am Ufer ihrer neuen Heimat angekommen, und schon blickte sie ängstlich zu den traurigen, freundlichen Gestalten zurück, die jenseits des Stromes standen und ihr Lebewohl winkten.

[374] Die Mutter hielt es für notwendig, zu Ehren der jungen Frau was weiß ich für Empfangsvorbereitungen zu treffen. Nach den ersten überschäumenden Worten zog sie sich auf eine Weile von Mrs. George Osborne zurück und tauchte in die unteren Regionen des Hauses, in eine Art Wohnküche, hinab, wo Mr. und Mrs. Clapp sich aufhielten und abends, wenn sie das Geschirr gespült und die Lockenwickel entfernt hatte, Miss Flannigan, das irische Dienstmädchen, sich zu ihnen gesellte. Dort traf sie die nötigen Vorbereitungen für einen großartigen Festtee. Jeder Mensch drückt seine Liebe anders aus, und Mrs. Sedley schienen ein Brötchen und eine Menge Orangenmarmelade in einer kleinen Kristallschale für Amelia in ihrer interessanten Lage ganz besonders willkommene Erfrischungen zu sein.

Während unten alle diese Delikatessen zubereitet wurden, verließ Amelia den Salon und befand sich bald, fast ohne zu wissen wie, oben in dem Zimmerchen, das sie vor ihrer Heirat bewohnt hatte, und auf dem Sessel, auf dem sie so manche bittere Stunde zugebracht hatte. Sie schmiegte sich hinein, als ob er ein alter Freund wäre, und dachte über die vergangene Woche und das Leben vorher nach. Jetzt schon traurig und unsicher zurückzublicken, sich stets nach etwas zu sehnen, das, wenn es erreicht war, mehr Zweifel und Traurigkeit brachte als Freude – das war das Los unseres armen kleinen Geschöpfs, dieses harmlosen einsamen Wanderers in dem tosenden Menschengewühl auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit.

Da saß sie nun und rief sich zärtlich das Bild von George zurück, vor dem sie vor ihrer Heirat gekniet hatte. Gestand sie sich ein, wie verschieden der wirkliche Mensch von dem herrlichen jungen Helden war, den sie angebetet hatte? Es braucht viele, viele Jahre – und der Mann muß wirklich sehr schlecht sein –, bis der Stolz und die Eitelkeit einer Frau solch ein Geständnis zulassen. Dann stiegen vor ihr Rebekkas funkelnde grüne Augen und ihr unheilvolles Lächeln auf und peinigten sie. So saß sie eine ganze Weile, in ihr übliches [375] selbstsüchtiges Brüten versunken und in derselben teilnahmslosen und melancholischen Haltung, in der das ehrliche Dienstmädchen sie an dem Tag gefunden hatte, als sie ihr den Brief mit Georges erneutem Heiratsantrag hinaufbrachte.

Sie sah zu dem weißen Bettchen hin, das noch vor wenigen Tagen ihres gewesen war, und dachte, wie gern sie diese Nacht darin schlafen würde, um am Morgen, wie früher, unter dem Lächeln der Mutter zu erwachen. Dann dachte sie mit Schrecken an das große feierliche Damasthimmelbett in dem riesigen und düsteren Prachtschlafzimmer, das sie in dem vornehmen Hotel am Cavendish Square erwartete. Liebes weißes Bettchen! Wie manche lange Nacht hatte sie in die Kissen geweint! Wie oft war sie verzweifelt und hatte darin zu sterben gehofft! Und waren nicht jetzt alle ihre Wünsche erfüllt, und der Geliebte, den sie schon aufgegeben hatte, gehörte ihr für immer? Gute Mutter! Wie geduldig und zärtlich hatte sie an diesem Bett gewacht. Sie kniete daran nieder, und die verwundete, schüchterne, sanfte und liebende Seele suchte da Trost, wo unser kleines Mädchen, wie wir zugeben müssen, ihn bis dahin selten gefunden hatte. Bisher war die Liebe ihr Glaube gewesen, und das traurige, blutende, enttäuschte Herz begann nun zu fühlen, daß es einen anderen Tröster brauche.

Haben wir das Recht, ihr Gebet zu belauschen oder zu wiederholen? Das, mein Bruder, sind Geheimnisse und liegt außerhalb der Sphäre des Jahrmarkts der Eitelkeit, auf dem unsere Erzählung spielt.

Soviel sei gesagt: Als endlich zum Tee gebeten wurde, stieg unsere junge Dame weit froher die Treppe hinunter. Sie verzagte nicht und beklagte nicht ihr Schicksal. Sie dachte nicht an Georges Kälte oder an Rebekkas Augen, wie sie es in der letzten Zeit oft getan hatte. Sie ging hinunter, küßte den Vater und die Mutter, plauderte mit dem alten Herrn und machte ihn heiterer, als er seit langem gewesen war. Sie setzte sich an das Klavier, das Dobbin ihr gekauft hatte, und sang [376] alle alten Lieblingslieder ihres Vaters. Sie erklärte, der Tee sei ausgezeichnet, und lobte den erlesenen Geschmack, mit dem die Marmelade in den Schalen serviert war. Da sie nun entschlossen war, alle anderen glücklich zu machen, wurde sie selbst glücklich. Sie schlief in dem großen düsteren Himmelbett ruhig ein und wachte mit einem Lächeln auf, als George aus dem Theater zurückkam.


Am folgenden Tage hatte George wichtigere »Geschäfte« zu erledigen, als Mr. Kean in der Rolle des Shylock zu sehen. Unmittelbar nach seiner Ankunft in London hatte er an die Rechtsanwälte seines Vaters geschrieben und ihnen königlich mitgeteilt, er werde sich das Vergnügen geben, sie am nächsten Tag zu einer Unterredung aufzusuchen. Seine Verluste beim Billard- und Kartenspiel im Gasthof mit Hauptmann Crawley hatten die Börse des jungen Mannes fast geleert. Vor seinem Weggang mußte er sie daher wieder füllen, und es blieb ihm nichts übrig, als die zweitausend Pfund anzugreifen, die auszuzahlen die Rechtsanwälte bevollmächtigt worden waren. Er war innerlich vollkommen überzeugt, daß der Alte bald nachgeben würde. Wie konnte auch ein Vater auf die Dauer gegen solch ein Musterbeispiel von Vollkommenheit wie ihn hart bleiben. Wenn seine Persönlichkeit und seine Verdienste nicht ausreichen sollten, den Vater zu erweichen, so beschloß George, sich in dem bevorstehenden Feldzuge so ungeheuer auszuzeichnen, daß der alte Herr nachgeben mußte. Und wenn nicht? Pah! Die ganze Welt lag vor ihm. Vielleicht würde das Glück beim Spiel ihm wieder einmal lächeln, und dann waren zweitausend Pfund ja auch eine ganze Menge Geld.

Er schickte also Amelia noch einmal im Wagen zu ihrer Mutter mit einer carte blanche und der strengen Weisung für die beiden Damen, alles einzukaufen, was eine Dame von Mrs. George Osbornes Stellung für eine Reise ins Ausland benötigte. Sie hatten nur einen Tag, um die Ausstattung zu [377] vervollständigen, und es läßt sich daher leicht denken, daß dieses Geschäft sie völlig in Anspruch nahm. Wieder einmal in einer Kutsche, auf dem Weg von der Putzmacherin zum Wäschegeschäft, von dienstfertigen Ladendienern oder höflichen Besitzern an den Wagen zurückgeleitet, war Mrs. Sedley beinahe wieder die alte und zum ersten Male seit ihrem Unglück wahrhaft glücklich. Aber auch Mrs. Amelia war nicht erhaben über die Freuden des Einkaufens, Handelns und Aussuchens von hübschen Sachen. (Würde der philosophischste Mann auch nur einen Groschen für eine Frau geben, die darüber erhaben wäre?) Sie machte sich daher ein Vergnügen daraus, der Anweisung ihres Mannes zu folgen, und kaufte einen Haufen Damenartikel, wobei sie, nach der Ansicht aller Verkäufer, sehr viel Geschmack und Schönheitssinn bewies.

Über den bevorstehenden Krieg beunruhigte sich Mrs. Osborne nicht allzusehr. Bonaparte würde schon kampflos zerschmettert werden. Von Margate segelten fast täglich Schiffe vornehmer Herren und Damen ab, die nach Brüssel und Gent gingen. Man begab sich nicht so sehr in einen Krieg als auf eine elegante Reise. Die Zeitungen verhöhnten den elenden Emporkömmling und Schwindler. Wie sollte auch so ein korsischer Tropf den vereinigten Armeen von Europa und dem Genie des unsterblichen Wellington widerstehen! Amelia verachtete ihn auch, denn es braucht wohl kaum erst hier gesagt zu werden, daß dieses sanfte und liebe Geschöpf sich nach der Meinung der Leute um sie herum richtete und in ihrer Aufrichtigkeit viel zu bescheiden war, um sich eigene Ansichten zu bilden. Mit einem Wort: Sie und ihre Mutter kauften den lieben langen Tag ein, und Amelia erledigte diese Geschäfte bei ihrem ersten Auftreten in der vornehmen Londoner Welt mit großer Lebhaftigkeit und legte Ehre ein.

Unterdessen ging George, den Hut schief auf dem Kopf, die Ellbogen angewinkelt, mit überaus forscher martialischer Miene zur Bedford Row und stolzierte in das Anwaltsbüro [378] hinein, als ob er der Herr und Gebieter jedes bleichwangigen, kritzelnden Schreibers dort wäre. Stolz und herablassend schickte er jemanden, um Mr. Higgs zu melden, daß Hauptmann Osborne warte, als ob dieser pékin 2 von einem Anwalt, der doch dreimal soviel Verstand, fünfzigmal soviel Geld und tausendmal soviel Erfahrung wie er besaß, ein Nichts wäre, das augenblicklich alle seine Geschäfte liegenlassen müsse, um dem Hauptmann zu Diensten zu sein. Er bemerkte nicht das verächtliche Lächeln, das durch das ganze Zimmer lief, vom ersten Buchhalter bis zu den Gehilfen, von den Gehilfen bis zu den zerlumpten Schreibern und bleichwangigen Botenjungen in ihren zu engen Kleidern, während er dasaß, mit seinem Spazierstock auf den Stiefel schlug und dachte, was für ein Pack von elenden armen Teufeln alle diese Leute doch seien. Die elenden armen Teufel kannten seine Lage jedoch genau, sie besprachen das alles abends beim Bier an ihrem Stammtisch mit anderen Angestellten. Ihr Götter, was wissen nicht die Londoner Rechtsanwälte und ihre Angestellten alles! Nichts bleibt ihren Nachforschungen verborgen, und ihre Leute herrschen stumm über unsere Stadt.

Vielleicht erwartete George beim Eintritt in Mr. Higgs' Büro, daß der Herr beauftragt sei, ihm eine Botschaft seines Vaters über Kompromiß oder Versöhnung mitzuteilen. Vielleicht sollte sein hochmütiges und kühles Auftreten seinen Mut und seine Entschlossenheit bekunden. Wenn es so war, dann traf sein hochfahrendes Wesen bei dem Rechtsanwalt auf eisige Kälte und Gleichgültigkeit, die seine Großtuerei völlig sinnlos machten. Als der Hauptmann ein trat, gab er sich den Anschein, mit Schreiben beschäftigt zu sein. »Nehmen Sie bitte Platz, Sir«, sagte er, »einen Augenblick noch, dann werde ich mich Ihrer kleinen Angelegenheit zuwenden. Mr. Poe, bringen Sie mir bitte die Quittungsformulare!« Und dann schrieb er weiter.

Als Poe die Formulare gebracht hatte, berechnete sein [379] Prinzipal den Betrag von zweitausend Pfund Aktien nach dem Tageskurs und fragte Hauptmann Osborne, ob er für die Summe einen Scheck auf die Bank haben wolle oder ob er lieber die Bank beauftragen solle, für die Summe Aktien für ihn zu kaufen. »Einer der Vermögensverwalter der verstorbenen Mrs. Osborne ist nicht in der Stadt«, sagte er gleichgültig, »aber mein Klient will Ihren Wünschen entgegenkommen und das Geschäft so rasch wie möglich erledigen.«

»Geben Sie mir einen Bankscheck, Sir«, sagte der Hauptmann verdrießlich. »Lassen Sie nur das verdammte einzelne Geld, Sir«, setzte er hinzu, als der Rechtsanwalt die Anweisung ausschrieb, und in dem schmeichelhaften Glauben, daß er durch diesen Großmutsbeweis die alte Schreiberseele beschämt habe, stolzierte er mit dem Scheck in der Tasche aus dem Büro.

»Der Bursche sitzt in zwei Jahren im Gefängnis«, sagte Mr. Higgs zu Mr. Poe.

»Ob Osborne sich nicht herumbringen läßt, Sir?«

»Läßt eine Statue sich herumbringen?« antwortete Mr. Higgs.

»Er treibt's ganz schön«, sagte der Buchhalter. »Seit einer Woche ist er erst verheiratet, und schon habe ich gesehen, wie er und einige andere Kerle in Uniform Mrs. Highflyer nach der Vorstellung zum Wagen begleiteten.«

Dann kam ein anderer Fall zur Sprache, und Mr. Osborne verschwand aus dem Gedächtnis dieser würdigen Herren.

Die Anweisung lautete auf unsere Freunde Hulker und Bullock aus der Lombard Street. Zu deren Haus lenkte George nun seine Schritte, immer noch im Glauben, daß er ein Geschäft mache, und erhielt sein Geld. Als George eintrat, war Frederick Bullock zufällig im Kassenraum, das gelbe Gesicht über ein Hauptbuch gebeugt, an dem ein ernst aussehender Angestellter saß. Als er den Hauptmann erblickte, wurde sein gelbes Gesicht leichenfahl, und er schlich sich schuldbewußt in den hinteren Büroraum zurück. George war zu sehr damit beschäftigt, sich an seinem Geld zu weiden [380] (er hatte noch nie eine so große Summe besessen, um den Gesichtsausdruck oder die Flucht des totenblassen Liebhabers seiner Schwester zu bemerken.

Frederick Bullock berichtete dem alten Osborne von dem Erscheinen und Benehmen seines Sohnes. »Er kam mit unverschämter Miene und hat sich bis auf den letzten Shilling alles geben lassen«, sagte Frederick. Wie lange wird einer wie der mit ein paar hundert Pfund reichen?

Osborne schwor, daß es ihm völlig gleichgültig wäre, wann oder wie bald er es ausgeben würde. Frederick aß jetzt täglich am Russell Square. George war im großen ganzen höchst zufrieden mit den Geschäften. Sein Gepäck und seine ganze Ausstattung wurden schnell zusammengebracht, und er bezahlte Amelias Einkäufe mit einem Scheck und der Großartigkeit eines Lords.

Fußnoten

1 Gestalt aus Shakespeares Drama »Der Kaufmann von Venedig«.

2 im französischen Militärjargon abwertende Bezeichnung für einen Zivilisten.

27. Kapitel
In dem Amelia zu ihrem Regiment stößt

Das erste Gesicht, das Amelia erkannte, als Josephs vornehmer Wagen vor dem Gasthaus in Chatham hielt, war das freundliche Antlitz Hauptmann Dobbins, der schon über eine Stunde in Erwartung seiner Freunde die Straße auf und ab gegangen war. Der Hauptmann, Militärknöpfe am Rock, mit Degen und roter Schärpe, bot einen so militärischen Anblick, daß Joe ganz stolz war, einen solchen Bekannten zu haben, und der dicke Zivilist begrüßte ihn mit einer Herzlichkeit, die sehr von dem Empfang abstach, den Joe seinem Freunde in Brighton und in der Bond Street zuteil werden ließ.

An der Seite des Hauptmanns ging Fähnrich Stubble, der, als die Kutsche sich dem Gasthof näherte, in den Ausruf: »Beim Zeus! Was für ein hübsches Mädel!« ausbrach und damit Osbornes Wahl billigte. In der Tat sah Amelia mit den [381] rosa Bändern und dem Hochzeitsumhang, das Gesicht gerötet von der schnellen Fahrt in der frischen Luft, so frisch und hübsch aus, daß das Kompliment des Fähnrichs vollkommen am Platze war. Dobbin schloß ihn ins Herz dafür. Als er vortrat, um der Dame beim Aussteigen zu helfen, sah Stubble, was für ein hübsches Händchen sie ihm gab und was für ein reizendes zierliches Füßchen sie auf den Tritt setzte. Er wurde scharlachrot im Gesicht und machte seine allerschönste Verbeugung, worauf Amelia, als sie die Nummer des ...ten Regiments auf seiner Mütze eingestickt sah, errötend lächelte und mit einem Knicks dankte – da war es um den jungen Fähnrich auf der Stelle geschehen. Dobbin war von Stund an sehr freundlich gegenüber Stubble und ermunterte ihn, bei ihren Spaziergängen oder im Quartier von Amelia zu sprechen. Bald wurde es bei allen ehrlichen jungen Burschen des ...ten Regiments Mode, Mrs. Osborne zu bewundern und anzubeten. Ihr schlichtes, ungekünsteltes Wesen und die ihr eigene bescheidene Freundlichkeit gewann alle diese natürlichen Herzen. Diese Einfachheit und Lieblichkeit lassen sich nicht in Worte fassen. Wer hat das aber noch nicht bei Frauen gefunden und alle möglichen Vorzüge bei ihnen bemerkt, wenn sie einem auch nichts weiter gesagt haben, als daß sie die nächste Quadrille bereits vergeben haben oder daß es sehr heiß ist? George, schon immer der Liebling seines Regiments, stieg noch mehr in der Achtung der jungen Leute, weil er dieses vermögenslose junge Geschöpf so edelmütig geheiratet und sich eine so hübsche, freundliche Lebensgefährtin auserkoren hatte.

In dem Wohnzimmer, das die Reisenden erwartete, fand Amelia zu ihrem großen Erstaunen einen an Frau Hauptmann Osborne adressierten Brief vor. Es war ein dreieckiges Billett auf rosa Papier, mit einer Taube und einem Olivenzweig und einer Unmenge hellblauen Siegellacks gesiegelt und in einer großen undeutlichen weiblichen Handschrift beschrieben.

[382] »Das ist Peggy O'Dowds Klaue«, sagte George lachend, »ich sehe es am verklecksten Siegellack.«

Und in der Tat war es ein Billett von der Majorin O'Dowd, worin sie Mrs. Osborne bat, ihr noch am gleichen Abend das Vergnügen zu machen, an einer kleinen Gesellschaft im engsten Freundeskreis teilzunehmen.

»Du mußt gehen«, sagte George. »Du wirst dort mit dem ganzen Regiment bekannt werden. O'Dowd kommandiert das Regiment, und Peggy kommandiert O'Dowd.«

Ihre Freude über Mrs. O'Dowds Brief hatte aber noch nicht lange gedauert, als die Tür aufflog und eine stattliche, muntere Dame im Reitkleid, gefolgt von ein paar Offizieren des Regiments, das Zimmer betrat. »Wirklich, ich konnte nicht bis zum Tee warten. George, mein lieber Junge, stellen Sie mich Ihrer Gemahlin vor. Madame, es freut mich unendlich, Sie zu sehen und Ihnen meinen Mann, Major O'Dowd, vorstellen zu können.« Bei diesen Worten drückte die muntere Dame im Reitkleid herzlich Amelias Hand, und diese wußte sofort, daß die Dame vor ihr stand, über die ihr Mann so oft gelacht hatte.

»Ihr Mann da hat Ihnen gewiß oft genug von mir erzählt«, sagte die Dame sehr lebhaft.

»Gewiß oft genug von ihr erzählt«, echote ihr Mann, der Major.

Amelia antwortete lächelnd, daß das stimme.

»Und bestimmt hat er Ihnen nicht viel Gutes von mir erzählt«, erwiderte Mrs. O'Dowd und fügte noch hinzu, George sei ein böser Teufel.

»Dafür kann ich mich verbürgen«, sagte der Major und versuchte eine schlaue Miene anzunehmen, worüber George lachen mußte. Aber Mrs. O'Dowd bedeutete dem Major mit einem leichten Schlag ihrer Reitpeitsche, still zu sein, und bat nun, der Frau Hauptmann Osborne in aller Form vorgestellt zu werden.

»Dies, meine Liebe«, sagte George gravitätisch, »ist meine [383] gute, liebe und vortreffliche Freundin Aurelia Margareta, sonst Peggy genannt.«

»Meiner Treu, da haben Sie recht«, fiel der Major ein.

»Sonst Peggy genannt, Gemahlin von Major Michael O'Dowd aus unserem Regiment und Tochter von Fitzjurld Ber'sford de Burgo Malony von Glenmalony, Grafschaft Kildare.«

»Und vom Muryan Square, Dublin«, sagte die Dame ruhig und überlegen.

»Ja natürlich, auch Muryan Square«, flüsterte der Major.

»Dort war es, wo du mir den Hof gemacht hast, mein lieber Major«, sagte die Dame. Und der Major stimmte zu, wie er jeder in Gesellschaft gemachten Behauptung zustimmte.

Major O'Dowd, der seinem König in allen Teilen der Welt gedient und jede Beförderung durch mindestens eine kühne und ritterliche Tat erkauft hatte, war der bescheidenste, schweigsamste, harmloseste und sanfteste kleine Mann und seiner Frau so gehorsam, als wäre er ihr Laufbursche. Am Offizierstisch war er stets schweigsam und trank viel. Hatte er genug Alkohol zu sich genommen, schwankte er schweigend nach Hause. Wenn er sprach, dann nur, um jedermann in jedem Punkt recht zu geben. So ging er in vollkommener Ruhe und Zufriedenheit durchs Leben. Die heißeste Sonne Indiens hatte ihn nie hitzig gemacht und das Tropenfieber ihn nicht erschüttert. Er näherte sich einer Batterie ebenso gleichgültig wie einem Mittagstisch. Mit gleichem Appetit aß er Pferdefleisch und Schildkrötensuppe, und er hatte eine alte Mutter, Mrs. O'Dowd von O'Dowdstown, der er nur zweimal im Leben ungehorsam gewesen war, nämlich, als er davonlief und zu den Soldaten ging und als er darauf bestand, diese schreckliche Peggy Malony zu heiraten.

Peggy war eins von fünf Mädchen und elf Kindern des edlen Hauses von Glenmalony. Ihr Gatte war ihr leiblicher Vetter mütterlicherseits und hatte demnach nicht den unschätzbaren [384] Vorteil, mit den Malonys verwandt zu sein, die sie für die vornehmste Familie der Welt hielt. Nachdem Miss Malony neun Saisons in Dublin und zwei in Bath und Cheltenham einen Lebensgefährten gesucht und nicht gefunden hatte, befahl sie mit ungefähr dreiunddreißig ihrem Vetter Mick, sie zu heiraten.

Der ehrliche Bursche gehorchte und nahm sie mit nach Westindien, wo sie den Vorsitz der Damen des ...ten Regimentes übernahm, in das er soeben versetzt worden war.

Mrs. O'Dowd war noch keine halbe Stunde in Amelias Gesellschaft (wie überhaupt in jedermanns Gesellschaft), als die liebenswürdige Dame ihrer neuen Freundin auch schon alles mitgeteilt hatte, was mit ihrer Herkunft und ihrem Stammbaum zusammenhing. »Meine Liebe«, sagte sie gutmütig, »es war eigentlich meine Absicht, daß George mein Schwager würde, und meine Schwägerin Glorvina hätte auch gut zu ihm gepaßt. Na ja, vorbei ist vorbei, und da er schon mit Ihnen verlobt war, so habe ich mich entschlossen, Sie statt dessen als Schwester zu betrachten und Sie wie ein Glied meiner Familie zu lieben. Meiner Treu, Sie haben so ein hübsches, gutmütiges Gesicht und Wesen, daß wir uns gewiß gut vertragen werden, und Sie werden ein netter Familienzuwachs sein.«

»Das wird sie sicher«, sagte O'Dowd mit beistimmender Miene, und Amelia fühlte sich nicht wenig belustigt und dankbar, plötzlich in eine so große Verwandtschaft aufgenommen zu sein.

»Wir hier sind alles gute Kerle«, fuhr die Majorsfrau fort. »Es gibt kein Regiment, wo Sie eine einträchtigere Gesellschaft und eine angenehmere Offiziersmesse finden werden. Bei uns gibt es keinen Zank und Streit, keine Verleumdungen und keinen Klatsch. Wir lieben uns alle.«

»Ganz besonders Mrs. Magenis«, sagte George lachend.

»Frau Hauptmann Magenis und ich haben uns wieder ausgesöhnt, [385] obgleich sie mich so behandelt hat, daß sie mich beinahe mit grauen Haaren ins Grab gebracht hätte.«

»Wo du doch so schönes schwarzes hast, meine liebe Peggy«, rief der Major.

»Halt'n Mund, Mick, du Dummkopf. Die Ehemänner stehen einem immer im Wege, meine liebe Mrs. Osborne. Und wie oft habe ich meinem Mick schon gesagt, daß er den Mund nur zum Kommandieren und Essen und Trinken aufmachen soll. Ich werde Ihnen alles über das Regiment erzählen und Sie warnen, wenn wir einmal allein sind. Stellen Sie mich nun Ihrem Bruder vor. Das ist ja fürwahr ein gewaltig hübscher Mann und erinnert mich an meinen Vetter, Dekan Malony (Malony von Ballymalony, meine Liebe, wissen Sie, der Ophelia Scully von Oystherstown, eine leibliche Cousine von Lord Poldoody, geheiratet hat). Mr. Sedley, es freut mich unendlich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Vermutlich speisen Sie heute in der Offiziersmesse. (Denk an den verflixten Doktor, Mick, und vor allem, bleib nüchtern für meine Gesellschaft heute abend.)«

»Das Hundertfünfzigste gibt uns heute ein Abschiedsessen, meine Liebe«, fiel der Major ein, »aber wir werden für Mr. Sedley leicht eine Karte bekommen.«

»Laufen Sie, Simple (Fähnrich Simple, von unserem Regiment, meine liebe Amelia, ich habe vergessen, ihn vorzustellen), rennen Sie zu Oberst Tavish, grüßen Sie ihn von Majorin O'Dowd, und Hauptmann Osborne hätte seinen Schwager mitgebracht und würde ihn Punkt fünf zur Messe des Hundertfünfzigsten mitbringen. Sie, meine Liebe, und ich werden hier etwas essen, wenn es Ihnen recht ist.« Mrs. O'Dowd hatte noch nicht ausgeredet, da trabte der junge Fähnrich bereits die Treppe hinab, um seinen Auftrag auszuführen.

»Gehorsam ist die Seele der Armee. Wir wollen unserem Dienst nachgehen, während Mrs. O'Dowd bei dir bleibt, um dich aufzuklären, Emmy«, sagte Hauptmann Osborne, worauf die beiden Hauptleute jeder einen Arm des Majors ergriffen [386] und mit ihm abmarschierten, wobei sie sich über seinen Kopf zugrinsten.

Und nun, da die temperamentvolle Mrs. O'Dowd mit ihrer neuen Freundin allein war, fing sie an, eine Unmenge von Geschichten herauszusprudeln, die der Kopf einer armen kleinen Frau niemals behalten konnte. Sie erzählte Amelia tausend Einzelheiten über die zahlreiche Familie, deren Mitglied die verwirrte junge Dame nun war. Mrs. Heavytop, die Frau des Obersten, starb in Jamaika am gelben Fieber und an gebrochenem Herzen, denn der schreckliche alte Oberst, kahlköpfig wie eine Kanonenkugel, machte einem Eingeborenenmädchen schöne Augen. Mrs. Magenis, obwohl ungebildet, ist eine gute Frau. Sie hat aber eine Teufelszunge und würde ihre eigene Mutter beim Whist betrügen. Die Frau des Hauptmanns Kirk schlägt schon beim Gedanken an ein ehrliches Spiel ihre Hummeraugen zum Himmel auf (dabei spielten mein Vater, ein so frommer Mann, wie nur je zur Kirche ging, mein Onkel, Dekan Malony, und unser Cousin, der Bischof, jeden Abend in ihrem Leben Whist oder Loo 1). »Keine von ihnen geht diesmal mit dem Regiment mit«, setzte Mrs. O'Dowd hinzu. »Fanny Magenis bleibt bei ihrer Mutter, die, wie man erzählt, in Islington-Town, ganz in der Nähe von London, Kohlen und Kartoffeln verkauft, obwohl sie ständig mit den Schiffen ihres Vaters prahlt und sie uns zeigt, wenn sie den Fluß hinauffahren. Und Mrs. Kirk wird mit ihren Kindern hier am Bethesda Place bleiben, um in der Nähe ihres Lieblingspredigers, Doktor Ramshorns, zu sein. Mrs. Bunny ist in interessanten Umständen (das ist sie immer), sie hat dem Leutnant schon sieben geschenkt. Und Fähnrich Poskys Frau, die zwei Monate vor Ihnen zu uns kam, meine Liebe, hat mit Tom Posky schon ein paar dutzendmal Streit gehabt, daß man es durch die ganze Kaserne hört (man sagt, es hätte schon zerbrochene Teller gegeben, und Tom hat nie erzählt, wo er sein blaues Auge herhatte). Sie geht zu ihrer Mutter, die in [387] Richmond eine höhere Töchterschule hat – schadet ihr nichts, warum ist sie von dort weggelaufen? Wo sind Sie zur Schule gegangen, meine Liebe? Ich muß sagen, bei mir haben sie keine Kosten gescheut, ich bin im Pensionat von Madame Flanahan, Booterstown bei Dublin, Ulysses Growe, erzogen worden, wo wir eine Marquise hatten, die uns den echten Pariser Akzent beibringen sollte, und einen pensionierten französischen Generalmajor, um uns bei den Aufgaben zu helfen.«

Unsere erstaunte Amelia war also plötzlich Mitglied dieser bunten Familie, und Mrs. O'Dowd war ihre ältere Schwester. Ihren übrigen weiblichen Verwandten, auf die sie einen angenehmen Eindruck machte, weil sie ruhig, gutmütig und nicht zu hübsch war, wurde sie beim Tee vorgestellt. Als aber die Herren von der Offiziersmesse des Hundertfünfzigsten kamen und sie alle bewunderten, fanden ihre Schwestern natürlich bald etwas an ihr auszusetzen.

»Hoffentlich hat Osborne sich nun die Hörner abgelaufen«, meinte Mrs. Magenis zu Mrs. Bunny. »Wenn ein gebesserter Wüstling ein guter Ehemann wird, so hat sie fürwahr mit George die besten Aussichten«, bemerkte Mrs. O'Dowd zur Posky, die nun ihre Stellung als Jüngste im Regiment eingebüßt hatte und natürlich über die Verdrängung böse war. Und Mrs. Kirk, die Schülerin von Doktor Ramshorn, stellte Amelia wichtige religiöse Fragen, um zu sehen, ob sie erweckt sei, ob sie eine gute Christin sei und so weiter, und als sie aus Mrs. Osbornes einfältigen Antworten schloß, daß diese noch in tiefster Finsternis wandle, so steckte sie ihr drei bebilderte kleine Traktätchen zu, und zwar »Die heulende Wildnis«, »Die Waschfrau von Wandsworth« und »Das beste Bajonett des britischen Soldaten«. Da Mrs. Kirk sich in den Kopf gesetzt hatte, Amelia noch vor dem Einschlafen zu erwecken, bat sie die junge Frau, sie vor dem Schlafengehen zu lesen.

Alle Männer aber, gute Burschen, die sie waren, sammelten [388] sich um die hübsche kleine Frau ihres Kameraden und machten ihr mit militärischer Galanterie den Hof. Sie feierte einen kleinen Triumph, der ihre Stimmung belebte und ihre Augen leuchten ließ. George war ganz stolz auf ihre Beliebtheit und freute sich darüber, wie munter und graziös und trotzdem naiv und etwas schüchtern sie die Aufmerksamkeiten der Herren entgegennahm und ihren Komplimenten antwortete. Und er in seiner Uniform – wieviel hübscher war er als alle im Zimmer Anwesenden! Sie fühlte, daß er sie liebevoll beobachtete, und strahlte vor Freude über seine Güte. Ich will zu allen seinen Freunden nett sein, beschloß sie in ihrem Herzen. Ich will alle lieben, die ihn lieben. Ich will mir Mühe geben, immer munter und gut gelaunt zu sein, um ihm ein glückliches Heim zu schaffen.

Das Regiment nahm sie wirklich mit Jubel auf. Die Hauptleute freundeten sich mit ihr an, die Leutnants spendeten Beifall, die Fähnriche bewunderten sie. Der alte Cutler, der Arzt, machte ein paar Witze, die wir nicht wiederholen wollen, weil sie in sein Fach schlagen, und Cackle, der assistierende Doktor der Medizin aus Edinburgh, ließ sich herab, sie in Literatur zu prüfen, und stellte sie mit seinen drei besten französischen Zitaten auf die Probe. Der junge Stubble ging von einem zum anderen und flüsterte: »Beim Zeus, ist sie nicht ein nettes Mädel?« und wandte seine Augen nur von ihr ab, wenn der Glühwein serviert wurde.

Hauptmann Dobbin sprach den ganzen Abend fast kein Wort mit ihr. Er brachte jedoch mit Hauptmann Porter vom Hundertfünfzigsten den bezechten Joe ins Hotel. Dieser hatte mit großem Erfolg sowohl in der Offiziersmesse als auch bei der Soiree Mrs. O'Dowd in ihrem Turban mit dem Paradiesvogel seine Tigerjagdgeschichte zum besten gegeben. Nachdem Dobbin den Steuereinnehmer den Händen seines Bedienten überantwortet hatte, ging er die Straßen auf und ab und rauchte vor der Gasthaustür noch seine Zigarre. Mittlerweile hatte George seine Frau sorgfältig in den Schal gehüllt [389] und sie nach allgemeinem Händedrücken von Mrs. O'Dowd weggeführt. Die jungen Offiziere begleiteten sie an den Wagen und ließen sie hochleben, während die Kutsche sich entfernte. Beim Aussteigen reichte Amelia ihm ihr kleines Händchen und machte ihm lächelnd Vorwürfe, weil er sie den ganzen Abend nicht beachtet habe.

Der Hauptmann überließ sich noch lange, nachdem das Gasthaus und die Straße zur Ruhe gegangen waren, dem köstlichen Vergnügen des Rauchens. Er beobachtete, wie die Lichter in den Fenstern von Georges Wohnzimmer verschwanden und im daranstoßenden Schlafzimmer wieder auftauchten. Es war fast Morgen, als er in sein eigenes Quartier zurückkehrte. Er konnte die hellen Zurufe von den Schiffen im Fluß hören, wo sie ihre Ladung aufnahmen, ehe sie die Themse hinabglitten.

Fußnoten

1 englisches Kartenspiel.

28. Kapitel
In dem Amelia in die Niederlande einrückt

Das Regiment samt seinen Offizieren sollte in Schiffen transportiert werden, die die Regierung Seiner Majestät eigens dafür beschaffte. Zwei Tage nach der Gesellschaft bei Mrs. O'Dowd fuhren die Schiffe unter dem Geschrei der Seeleute von sämtlichen Ostindienfahrern auf dem Fluß, des Militärs am Ufer und unter den Klängen von: »Gott schütz den König« 1 mit Konvoi flußabwärts. Die Offiziere schwenkten die Mützen, und die Mannschaften schrien wacker hurra. Unterdessen hatte der ritterliche Joseph sich entschlossen, seine Schwester und die Majorin zu begleiten. Der größte Teil des Gepäcks, einschließlich des berühmten Paradiesvogels und des Turbans, befand sich bei der Regimentsbagage, und so reisten unsere beiden Heldinnen bequem bis nach Ramsgate, von wo sie in einem der vielen Schiffe schnell nach Ostende kamen.

[390] Der nun folgende Abschnitt in Josephs Leben war so ereignisreich, daß es ihm noch jahrelang Unterhaltungsstoff bot, und selbst die Tigerjagdgeschichte geriet ins Hintertreffen zugunsten aufregenderer Berichte, die er von der großen Schlacht bei Waterloo zu geben hatte.

Sobald er sich dazu entschlossen hatte, seine Schwester ins Ausland zu begleiten, konnte man bemerken, daß er aufhörte, sich die Oberlippe zu rasieren. In Chatham verfolgte er mit großer Beharrlichkeit alle Paraden und Exerzierübungen. Aufmerksam lauschte er den Gesprächen seiner Offizierskameraden (wie er sie später bisweilen nannte) und lernte so viele militärische Namen wie möglich. Dabei war ihm die treffliche Mrs. O'Dowd eine große Hilfe. Und an dem Tage, als sie sich schließlich auf der »Lieblichen Rose« einschifften, die sie an ihren Bestimmungsort bringen sollte, erschien er in einem bordierten Rock, weißen Beinkleidern und einer Feldmütze mit prächtigem Goldband. Da er seinen Wagen bei sich hatte und jedem an Bord vertraulich mitteilte, daß er zur Armee des Herzogs von Wellington wolle, hielt man ihn für eine große Persönlichkeit, für einen Generalproviantmeister oder wenigstens für einen Regierungskurier.

Er litt sehr während der Überfahrt, und auch die Damen waren krank. Amelia aber wurde ins Leben zurückgebracht, als sie bei ihrer Ankunft in Ostende die Transportschiffe mit ihrem Regiment erblickte, die fast zur gleichen Zeit wie die »Liebliche Rose« in den Hafen einliefen. Joseph begab sich, mehr tot als lebendig, in ein Gasthaus, während Hauptmann Dobbin die Damen begleitete und sich dann damit beschäftigte, Josephs Wagen und Gepäck vom Schiff und dem Zollhaus zu holen. Mr. Joe war nämlich im Augenblick ohne Diener, da Osbornes und sein eigener verzärtelter dienstbarer Geist sich in Chatham verschworen hatten und sich rundweg weigerten, übers Wasser zu gehen. Diese Revolte, die unerwartet am letzten Tage ausbrach, beunruhigte Mr. Sedley [391] junior derartig, daß er schon drauf und dran war, das Unternehmen aufzugeben. Aber Hauptmann Dobbin (der sich, wie Joe sagte, in dieser Angelegenheit fast übertrieben diensteifrig zeigte) schalt ihn und lachte ihn tüchtig aus; der Schnurrbart war schon so schön gewachsen, und schließlich ließ sich Joe überreden, sich einzuschiffen. Anstelle der wohlerzogenen und wohlgenährten Londoner Bedienten, die nur Englisch sprechen konnten, trieb Dobbin für Joe einen kleinen, dunklen, belgischen Diener auf, der überhaupt keine Sprache sprach, sich aber durch sein äußerst rühriges Wesen und dadurch, daß er Mr. Sedley stets mit »gnädiger Herr« ansprach, in kurzer Zeit dessen Gunst erwarb. Die Zeiten haben sich jetzt in Ostende geändert. Von den Briten, die nun dahin fahren, sehen nur sehr wenige wie Lords aus oder handeln wie Mitglieder unserer erblichen Aristokratie. Sie haben größtenteils ein schäbiges Äußeres, tragen schmutzige Wäsche und lieben Billard, Branntwein, Zigarren und schmierige Wirtshäuser.

Es muß gesagt werden, daß in der Regel jeder Engländer bei der Armee des Herzogs von Wellington sofort bar bezahlte, und die Erinnerung daran ziemt einer Nation von Kaufleuten gar wohl. Es war ein Segen für ein handelsfreudiges Land, von einem solchen Heer von Kunden überschwemmt zu werden und so zuverlässige Soldaten zu ernähren. Und das Land, das zu schützen sie kamen, ist nicht kriegerisch gesinnt. Eine lange Zeit in der Geschichte haben sie andere Länder dort kämpfen lassen. Als der Verfasser dieser Geschichte sich nach Waterloo begab, um das Schlachtfeld mit Adlerblicken zu überschauen, fragte er den Postillion der Postkutsche, einen stattlichen, kriegerisch aussehenden Veteranen, ob er an der Schlacht teilgenommen habe. »Pas si bête« 2 lautete seine Antwort, und gewiß hätte ein Franzose nie so etwas gedacht oder gesagt. Auf der anderen Seite war unser Postillion ein Vicomte, der Sohn irgendeines bankrotten kaiserlichen Generals, der unterwegs [392] Geld für ein Glas Bier annahm. Man kann daraus sicherlich eine gute Lehre ziehen.

Dieses flache, blühende, zufriedene Land hatte wohl niemals reicher und glänzender ausgesehen als im Frühsommer 1815, als Tausende von Rotröcken seine grünen Felder und ruhigen Städte belebten, als seine breiten Chausseen prächtige englische Equipagen bedeckten, als englische Reisende seine großen Kanalschiffe füllten, die an fetten Weiden und schönen sauberen alten Dörfern und alten Schlössern, von alten Bäumen umgeben, vorbeiglitten, als der Soldat, der in der Dorfkneipe trank, nicht nur trank, sondern auch seine Zeche bezahlte, und Donald, der Hochländer 3, der in dem flämischen Bauernhaus einquartiert worden war, das Kind wiegte, während Jean und Jeanette das Heu einfuhren. Da unsere Maler sich jetzt gerade viel mit militärischen Themen befassen, empfehle ich das als einen guten Gegenstand für ihren Pinsel, um die Prinzipien eines ehrlichen englischen Krieges zu illustrieren. Alles wirkte so glänzend und harmlos wie bei einer Truppenbesichtigung im Hyde Park. Unterdessen bereitete sich Napoleon, geschützt hinter seiner Kette von Grenzfestungen, auf den Krieg vor, der alle diese ordentlichen Leute in Wut und Blut stürzen und manchen von ihnen ins Grab bringen sollte.

Jeder hatte ein so vollkommenes Zutrauen zu dem Heerführer (denn das entschlossene Vertrauen, das der Herzog von Wellington der ganzen englischen Nation eingeflößt hatte, war ebenso stark wie die noch wildere Begeisterung, mit der einst die Franzosen Napoleon angesehen hatten), das Land schien in so gutem Verteidigungszustand und im Notfall die Hilfe so nahe und wirksam zu sein, daß Furcht unbekannt war und unsere Reisenden, von denen doch zwei von Natur aus sehr ängstlich waren, ebenso beruhigt waren wie alle anderen der zahlreichen englischen Touristen. Das berühmte Regiment, von dem wir so viele Offiziere kennengelernt haben, wurde auf Kanalschiffen nach Brügge und [393] Gent gebracht, um von dort nach Brüssel zu marschieren. Joseph begleitete die Damen in einem Passagierboot. Alle, die einst in Flandern reisten, werden sich der prächtigen und bequemen Einrichtung erinnern. Essen und Trinken waren an Bord dieser zwar langsamen, aber außerordentlich komfortablen Schiffe so gut, daß man sich dort von einem englischen Reisenden erzählt, der auf eine Woche nach Belgien gekommen und in einem dieser Schiffe gefahren sei. Er sei von der Kost so begeistert gewesen, daß er ständig von Gent nach Brügge und wieder zurück gefahren sei, bis die Eisenbahn erfunden wurde. Auf der letzten Fahrt des Schiffes stürzte er sich ins Wasser. Josephs Tod sollte nicht so aussehen, aber er fühlte sich doch ungemein behaglich, und Mrs. O'Dowd behauptete, daß ihm zum vollständigen Glück nur noch ihre Schwägerin Glorvina fehle. Er saß den ganzen Tag auf dem Deck, trank flämisches Bier, schrie nach seinem Diener Isidor und unterhielt sich galant mit den Damen.

Sein Mut war grenzenlos. »Bony uns angreifen!« rief er. »Mein liebes Kleines, meine arme Emmy, fürchte dich nicht. Es besteht keine Gefahr. Ich sage dir, in zwei Monaten sind die Alliierten in Paris, und dann gehe ich mit dir ins Palais Royal Essen. Ich sage dir, dreihunderttausend Russen marschieren jetzt bei Mainz über den Rhein nach Frankreich ein, dreihunderttausend unter Wittgenstein 4 und Barclay de Tolly 5, mein armes Kleines. Du verstehst nichts von militärischen Dingen, meine Liebe. Aber ich, und ich sage dir, keine französische Infanterie kann sich mit der russischen messen, und keiner von Bonys Generalen kann Wittgenstein das Wasser reichen. Dann sind da noch die Österreicher, wenigstens fünfhunderttausend, unter Schwarzenberg 6 und Prinz Karl 7, und sie sind in diesem Augenblick nur noch zehn Tagesmärsche von der Grenze entfernt. Dann haben wir die Preußen unter dem tapferen Marschall 8. Nennt mir einen Kavalleriegeneral wie ihn, jetzt, wo Murat 9 tot ist. Mrs. O'Dowd, glauben Sie denn, daß unser kleines Mädchen Angst zu [394] haben braucht? Besteht ein Grund zur Furcht, Isidor? He, Mann! Bringen Sie noch Bier!«

Mrs. O'Dowd meinte, ihre Glorvina fürchte sich vor keinem Mann auf der Welt, am allerwenigsten aber vor einem Franzosen. Dann stürzte sie ein Glas Bier hinunter und zwinkerte mit den Augen, was ihre Vorliebe für das Getränk ausdrückte.

Unser Freund, der Steuereinnehmer, hatte nun oft genug dem Feinde oder, besser gesagt, den Damen in Cheltenham und Bath gegenübergestanden und ein Großteil seiner früheren Schüchternheit verloren und war jetzt, besonders wenn Alkohol ihn ermutigt hatte, so gesprächig wie nur möglich. Beim Regiment stand er sehr in Gunst, weil er die jungen Offiziere großzügig freihielt und sie durch sein militärisches Getue belustigte. Und wie es in der englischen Armee ein Regiment gibt, dem beim Marsch stets eine Ziege vorangeht, und ein anderes, das von einem Hirsch angeführt wird, so sagte George im Hinblick auf seinen Schwager, sein Regiment marschiere mit einem Elefanten.

Seit Amelia in das Regiment eingeführt worden war, fing George an, sich einiger, denen er sie hatte vorstellen müssen, zu schämen. Er hatte daher beschlossen, wie er Dobbin erzählte (und wir brauchen wohl nicht zu sagen, welche Befriedigung es diesem bereitete), sich bald in ein besseres Regiment versetzen zu lassen und seine Frau von der Gesellschaft dieser verdammt ordinären Weiber zu befreien. Diese häßliche Eigenschaft, sich anderer zu schämen, ist bei Männern weit häufiger als bei Frauen (natürlich mit Ausnahme der Damen von Welt, die auch dieser Unart frönen). Mrs. Amelia, eine natürliche und schlichte Frau, kannte diese künstliche Scham nicht, die ihr Mann in seinem Innern für Zartgefühl hielt. Mrs. O'Dowd trug zum Beispiel eine Hahnenfeder auf dem Hut und eine riesige Repetieruhr am Gürtel, die sie bei jeder Gelegenheit schlagen ließ. Dabei erzählte sie, wie ihr Vater ihr die Uhr geschenkt habe, als sie nach der [395] Trauung in den Wagen gestiegen sei. Diese Schmuckstücke nun und noch andere äußerliche Eigentümlichkeiten der Majorin bereiteten Hauptmann Osborne Höllenqualen, sooft seine Frau mit der Majorin zusammentraf. Amelia dagegen fand die Eigenheiten der ehrlichen Dame nur belustigend und schämte sich ihrer Gesellschaft nicht im geringsten.

Auf dieser wohlbekannten Reise, die seitdem fast jeder Engländer aus der Mittelklasse gemacht hat, hätte es vielleicht eine belehrendere, aber schwerlich eine unterhaltendere Gesellschaft als die der Majorin O'Dowd geben können. »Wo wir gerade von Kanalschiffen sprechen, meine Liebe. Sie sollten einmal die zwischen Dublin und Ballinasloe sehen. Da reist man schnell, und da bekommt man schönes Vieh zu sehen. Mein Vater hat einmal eine goldene Medaille gekriegt für eine vierjährige Kuh, wie sie hierzulande gewiß nie einer zu Gesicht bekommen hat (und Seine Exzellenz hat selbst ein Stück davon gegessen und erklärt, daß er noch nie in seinem Leben besseres Fleisch gegessen habe).« Und Joe gab seufzend zu, daß kein Land auf der Welt so gutes, durchwachsenes Rindfleisch, nicht zu fett und nicht zu mager, aufweisen könne wie England.

»Irland ausgenommen, wo euer bestes Fleisch herkommt«, sagte die Majorin und fuhr fort, wie man es bei Patrioten ihres Volkes nicht selten findet, Vergleiche anzustellen, die sehr vorteilhaft für ihre Heimat ausfielen. Der Gedanke, den Markt von Brügge mit dem von Dublin zu vergleichen, erregte bei ihr Hohn und Spott, obwohl sie selbst den Vergleich gezogen hatte. »Ich wäre froh, wenn mir einer erklären würde, was die alte Baracke dort auf dem Marktplatz bedeuten soll«, sagte sie in einem Lachanfall, der den alten Turm beinahe umgeworfen hätte. Die Stadt war, als sie hinkamen, voll von englischem Militär. Englische Hörner weckten sie am Morgen, am Abend gingen sie unter dem Klang britischer Pfeifen und Trommeln ins Bett, das ganze Land, ganz Europa stand unter Waffen, und das größte Ereignis [396] der Geschichte bereitete sich vor. Das hinderte jedoch die ehrliche Peggy O'Dowd, die es ebenso anging wie alle anderen, nicht, von Ballinafad und den Pferden in den Ställen von Glenmalony und dem Rotwein, der dort getrunken werde, zu sprechen. Joe Sedley wiederum warf Bemerkungen vom Curry und dem Reis in Dumdum ein, während Amelia an ihren Mann dachte und überlegte, wie sie ihm am besten ihre Liebe beweisen könne – als ob das jetzt die weltbewegenden Themen gewesen wären.

Diejenigen, die das Geschichtsbuch gern weglegen, um Spekulationen darüber anzustellen, was in der Welt hätte geschehen können, wenn unglücklicherweise nicht gerade das geschehen wäre, was geschah (eine ungemein verwirrende, ergötzliche, sinnreiche und nützliche Art, nachzudenken), haben sich ohne Zweifel oft überlegt, wie unglücklich Napoleon den Zeitpunkt gewählt habe, um von Elba zurückzukommen und seinen Adler vom Golfe Juan 10 nach Notre Dame fliegen zu lassen. Die Geschichtsschreiber auf unserer Seite berichten, daß die Armeen der alliierten Mächte alle vorsorglich für den Krieg gerüstet und bereit gewesen seien, sich sofort auf den Kaiser von Elba zu stürzen. Die erlauchten Spekulanten, die sich in Wien versammelt hatten 11 und nach ihrem Verstand die Königreiche Europas zurechtschnitten, hatten so viele Ursachen zum Streit unter sich selbst, daß die Armeen, die Napoleon besiegt hatten, sich gegenseitig bekämpft hätten, wäre nicht der Gegenstand des allgemeinen Hasses und der Furcht zurückgekehrt. Ein Monarch hatte eine vollkommen gerüstete Armee, weil er sich Polen angeeignet hatte und entschlossen war, es zu halten; ein anderer hatte halb Sachsen geraubt und wollte seine Beute um keinen Preis verlieren; ein dritter hatte sich Italien zum Gegenstand seiner Fürsorge erkoren. Jeder protestierte gegen die Raubgier des anderen, und hätte der Korse nun in seinem Gefängnis gewartet, bis sich all diese Parteien in den Haaren lagen, dann hätte er zurückkommen und unbelästigt regieren können. [397] Aber was wäre dann aus unserer Geschichte und allen unseren Freunden geworden? Was würde aus dem Meer werden, wenn jeder Wassertropfen darin vertrocknen würde?

Unterdessen gingen die Geschäfte des Lebens und insbesondere die Vergnügungen weiter, als ob kein Ende zu erwarten stünde und kein Feind sich nähern könnte. Als unsere Reisenden in Brüssel ankamen, wo das Regiment einquartiert war – ein wahres Glück, wie alle sagten –, fanden sie sich in einer der lustigsten und glänzendsten kleinen Hauptstädte Europas. Alle Buden auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit waren hier besonders prachtvoll und verlockend ausgestattet. Spiel und Tanz wurden groß geschrieben; man speiste so gut, daß selbst der große Gourmand Joseph entzückt war; es gab ein Theater, wo eine wundervolle Catalani alle Zuhörer hinriß; prächtige Reitwege waren von soldatischem Glanz belebt, eine merkwürdige alte Stadt mit seltsamen Trachten und wundervollen Gebäuden erfreute das Auge der kleinen Amelia, die noch nie ein fremdes Land gesehen hatte, und bereitete ihr zauberhafte Überraschungen. In einer schönen Wohnung, deren Kosten Joe und Osborne trugen – George hatte reichlich Geld und war voll zarter Aufmerksamkeit gegen seine Frau –, war Mrs. Amelia in den letzten vierzehn Tagen ihrer Flitterwochen so froh und glücklich wie nur irgendeine junge Frau außerhalb Englands.

In dieser glücklichen Zeit brachte jeder Tag etwas Neues und Vergnügliches für alle. Man besichtigte eine Kirche oder eine Gemäldegalerie, unternahm eine Spazierfahrt oder besuchte eine Oper. Ständig spielten die Regimentskapellen. Die vornehmsten Leute von England spazierten im Park – es war ein einziges militärisches Fest. George führte seine Frau jeden Abend zu einem anderen Vergnügen und war, wie gewöhnlich, außerordentlich zufrieden mit sich selbst. Er beteuerte, daß er direkt Familiensinn entwickelte. Und ein Vergnügen in seiner Gesellschaft! Reichte das nicht aus, um [398] das kleine Herzchen vor Freude hüpfen zu lassen? Die Briefe an ihre Mutter waren in dieser Zeit voll von Entzücken und Dankbarkeit.

Ihr Mann beauftragte sie, Spitzen, Juwelen und allerlei Flitterkram zu kaufen. Oh, er war der freundlichste, beste und großmütigste aller Männer!

Der Anblick der vielen Lords und Ladys und vornehmen Leute, von denen die Stadt wimmelte und die sich alle in der Öffentlichkeit zeigten, erfüllte Georges echt britische Seele mit hohem Entzücken. Sie hatten das kühle und anmaßende Wesen abgelegt, das die vornehmen Engländer häufig zu Hause charakterisiert. Sie erschienen auf zahllosen öffentlichen Veranstaltungen und ließen sich herab, sich unter die übrige Gesellschaft, die sie dort trafen, zu mischen. Eines Abends auf einer Party beim General der Division, dem Georges Regiment angehörte, hatte er die Ehre, mit Lady Blanche Thistlewood, der Tochter von Lord Bareacres, zu tanzen. Er eilte geschäftig nach Eis und Erfrischungen für die beiden vornehmen Damen, er drängte und zwängte sich durch, um Lady Bareacres' Wagen zu holen. Zu Hause prahlte er mit der Gräfin, daß nicht einmal sein Vater ihn darin hätte übertreffen können. Am nächsten Tage machte er den Damen seine Aufwartung, ritt im Park an ihrer Seite, lud sie zu einem großen Diner in ein Restaurant ein und wußte sich vor Frohlocken kaum zu fassen, als sie die Einladung annahmen. Der alte Bareacres, der nicht viel Stolz, aber einen großen Appetit besaß, wäre für ein Mittagessen sonstwohin gegangen.

»Hoffentlich werden außer uns keine anderen Damen dasein«, meinte Lady Bareacres, nachdem sie über die allzu bereitwillig ausgesprochene und angenommene Einladung nachgedacht hatte.

»Gütiger Himmel, Mama! Du wirst doch nicht glauben, daß der Mann seine Frau mitbringt«, schrie Lady Blanche, die am vorhergehenden Abend, beim neuimportierten Walzer, [399] stundenlang in Georges Armen geschmachtet hatte. »Die Männer sind ja erträglich, aber ihre Weiber ...«

»Seine Frau, erst ganz kurz verheiratet, verteufelt hübsch, wie ich höre«, sagte der alte Graf.

»Nun, meine liebe Blanche«, sagte die Mutter, »ich denke, wenn Papa gehen will, dann müssen wir eben gehen. Aber weißt du, wir brauchen sie in England ja nicht zu kennen.«

Und so gingen diese vornehmen Leute, um in Brüssel beim Diner ihrer neuen Bekannten zu speisen, aber fest entschlossen, sie in der Bond Street zu schneiden. Und während sie sich herabließen, sich ihr Vergnügen von George bezahlen zu lassen, bewiesen sie ihre Würde, indem sie seine Frau in eine unbehagliche Stimmung versetzten und sie sorgfältig von der Unterhaltung ausschlossen. Das ist so eine Art von Würde, in der eine hochgeborene britische Dame unübertroffen dasteht. Das Benehmen einer vornehmen Dame gegenüber einer einfacheren zu beobachten ist für einen philosophisch veranlagten Besucher des Jahrmarkts der Eitelkeit eine besonders gute Unterhaltung.

Dieses Festmahl, das den ehrlichen George einen großen Teil seines Geldes kostete, war das trübseligste Vergnügen, das Amelia während ihrer Flitterwochen hatte. Sie schrieb den kläglichsten Bericht darüber an ihre Mama nach Hause – daß die Gräfin Bareacres nicht geantwortet hatte, wenn man mit ihr sprach, daß Lady Blanche sie durch ihr Lorgnon angestarrt habe, wie wütend Hauptmann Dobbin über das Benehmen der beiden vornehmen Damen gewesen sei und daß der Lord hinterher die Rechnung hatte sehen wollen und das Essen als verdammt schlecht und verdammt teuer bezeichnet habe. Aber obgleich Amelia alle diese Geschichten berichtete und die Ungezogenheit ihrer Gäste sowie ihre eigene Niederlage schilderte, war doch die alte Mrs. Sedley trotzdem höchst erfreut und erzählte überall von Emmys Freundin, der Gräfin von Bareacres, daß die Nachricht, sein Sohn [400] bewirte Grafen und Gräfinnen, schließlich auch dem alten Osborne in der City zu Ohren kam.

Wer den jetzigen Generalleutnant Sir George Tufto, Komtur des Bathordens, kennt und ihn gesehen hat – was man während der Saison fast täglich kann – wie er auswattiert und geschnürt, sich gebrechlich in den Hüften wiegend, mit hochhackigen lackierten Stiefeln die Pall Mall hinabstolziert, vorübergehenden Damen unter den Hut schaut oder in den Parks einen prächtigen Kastanienbraunen reitet und in die Kutschen äugelt, der würde wohl schwerlich in ihm den kühnen Offizier von Spanien und Waterloo wiedererkennen. Er hat jetzt dichte, braune Locken und schwarze Augenbrauen, und sein Backenbart ist von tiefstem Purpur. Im Jahre 1815 war er hell und fast kahl und dabei dicker. Seine Glieder vor allem sind in letzter Zeit bedeutend zusammengeschrumpft. Als er etwa siebzig Jahre alt war (er ist jetzt bald achtzig), wurde sein spärliches, ganz weißes Haar auf einmal dicht und braun und lockig, und Augenbrauen und Backenbart nahmen ihre jetzige Farbe an. Mißgünstige behaupten, seine Brust sei nur Watte und sein Haar sei eine Perücke, da es nie wachse. Tom Tufto, mit dessen Vater er sich vor langen Jahren gestritten hatte, erklärte, daß Mademoiselle de Jaisey vom französischen Theater seinem Großpapa in der Garderobe das Haar ausgerissen habe, aber Tom ist notorisch boshaft und eifersüchtig, und die Perücke des Generals hat nichts mit unserer Geschichte zu tun.

Eines Tages schlenderten einige unserer Freunde vom ...ten Regiment auf dem Blumenmarkt von Brüssel umher. Sie hatten das Hôtel de ville 12 besichtigt, und die Majorin O'Dowd behauptete, daß es lange nicht so groß und schön sei wie ihres Vaters Haus in Glenmalony. Da kam ein höherer Offizier, gefolgt von einer Ordonnanz, auf den Markt geritten, stieg ab, ging auf die Blumen zu und wählte das allerschönste Bukett, das für Geld zu haben war. Als der schöne Strauß in Papier gewickelt war, stieg der Offizier [401] wieder auf, übergab das Bukett seinem Burschen, der es grinsend seinem stattlich und selbstzufrieden davonreitenden Herrn nachtrug.

»Sie sollten einmal die Blumen in Glenmalony sehen«, bemerkte Mrs. O'Dowd. »Mein Vater hat drei schottische Gärtner und neun Gehilfen. Wir haben einen Morgen voll von Gewächshäusern und in der Saison ebensoviel Ananas wie Erbsen. Jede Weintraube wiegt mindestens sechs Pfund, und auf Ehre und Gewissen – unsere Magnolien sind wohl ebenso groß wie Teekessel.«

Dobbin, der Mrs. O'Dowd niemals zum Reden veranlaßte, wie der boshafte Osborne es so gern tat (zum Schrecken Amelias, die ihn bat, sie doch zu verschonen), suchte sich unter fortwährendem Prusten in der Menge zu verlieren, bis er in sicherer Entfernung inmitten der erstaunten Marktleute in ein schallendes Gelächter ausbrach.

»Was hat der Tölpel da zu kichern?« fragte Mrs. O'Dowd. »Hat er denn wieder Nasenbluten? Er sagt immer, er hat Nasenbluten, und jetzt muß er ja bald sein ganzes Blut aus sich rausgepumpt haben. Sind die Magnolien in Glenmalony nicht so groß wie Teekessel, O'Dowd?«

»Natürlich und noch größer, Peggy«, sagte der Major. Und hier wurde das Gespräch, wie schon berichtet, durch die Ankunft des Offiziers unterbrochen, der das Bukett kaufte.

»Verteufelt schönes Pferd – wer ist es?« fragte George.

»Sie sollten meines Bruders Mallay Malonys Pferd Melasse sehen, das den Curragh-Pokal gewonnen hat«, rief die Majorin und wollte die Familiengeschichte fortsetzen, als ihr Mann sie unterbrach und sagte:

»Es ist General Tufto, der die ...te Kavalleriedivision kommandiert.« Und ganz ruhig setzte er hinzu: »Er und ich wurden in Talavera 13 am gleichen Bein verwundet.«

»Wo Sie befördert wurden«, sagte George lachend. »General Tufto! Dann, meine Liebe, sind auch die Crawleys da.«

Amelia sank das Herz – sie wußte nicht warum. Es war, [402] als ob die Sonne nicht mehr so hell schiene. Die hohen alten Dächer und Giebel sahen plötzlich nicht mehr so malerisch aus, obwohl es ein prächtiger Sonnenuntergang und einer der hellsten und schönsten letzten Maitage war.

Fußnoten

1 »God Save the King«, englische Nationalhymne.

2 (franz.) Ich bin doch kein Dummkopf.

3 Diese Szene schildert der englische Feldgeistliche George Robert Gleig (1796-1888) in seinem Werk »Story of the Battle of Waterloo« (Geschichte der Schlacht von Waterloo).

4 Ludwig Adolf Peter Fürst zu Sayn-Wittgenstein (1769-1843), russischer Feldmarschall; führte im Feldzug von 1814 ein russisches Korps in der Armee der Verbündeten.

5 Michail Bogdanowitsch Fürst Barclay de Tolly (1761-1818), russischer Feldherr, Oberbefehlshaber der russischen Armee jährend der Feldzüge in Mitteleuropa 1813/14 und 1815.

6 Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg (1771 bis 1820), österreichischer Feldmarschall; hatte 1815 den Oberbefehl über die Armee der Verbündeten.

7 Karl Ludwig Johann Erzherzog von Österreich, Herzog von Teschen (1771-1847), österreichischer Feldmarschall während der Kriege gegen Frankreich von 1796 bis 1815.

8 Gemeint ist Gebhard Leberecht Fürst Blücher von Wahlstatt (1742-1819), preußischer Feldmarschall; hatte den Oberbefehl über die preußische Armee in Belgien; kam in der Schlacht bei Waterloo (1815) dem stark bedrängten Wellington zu Hilfe und entschied damit den Sieg über Napoleon.

9 Joachim Murat (1767-1815), französischer Marschall und König von Neapel von 1808 bis 1815, bedeutender Reiterführer während der Napoleonischen Kriege, vor allem im russischen Feldzug von 1812.

10 Siehe Anm. Napoleon ist in Cannes gelandet zu S. 247.

11 Gemeint sind die europäischen Fürsten und Staatsmänner, die nach dem Sturz Napoleons I. 1814 in Wien zusammenkamen, um über die Friedensbedingungen zu verhandeln, wobei es den Siegermächten vor allem um eine Aufteilung Europas zu ihren Gunsten ging. So eigneten sich z.B. Zar Alexander I. von Rußland den größten Teil des polnischen Herzogtums Warschau an, Friedrich Wilhelm III. von Preußen den nördlichen Teil des Königreichs Sachsen und Franz I. von Österreich die italienischen Provinzen Lombardei und Venetien.

12 (franz.) Rathaus.

13 Stadt in Zentralspanien. In der Schlacht bei Talavera 1809 besiegten die englischen und spanischen Truppen die französischen Truppen. (Siehe auch Anm. der wieder eingesetzte König von Spanien zu S. 44 des 2. Bandes.)

29. Kapitel
Brüssel

Mr. Joseph hatte für seinen offenen Wagen ein paar Pferde gemietet. Mit diesen Tieren und seinem eleganten Londoner Wagen gab er bei den Spazierfahrten in Brüssel gar keine schlechte Figur ab. George kaufte sich ein Pferd zu eigenem Gebrauch und begleitete mit Hauptmann Dobbin oft den Wagen, in dem Joseph und seine Schwester täglich Ausflüge machten. Sie fuhren wie gewöhnlich auch an diesem Tag zu ihrer Zerstreuung im Park spazieren, und dort erwies es sich, daß Georges Bemerkung über die Ankunft Rawdon Crawleys und seiner Frau stimmte. Inmitten eines kleinen Reitertrupps, einigen der bedeutendsten Personen in Brüssel, war Rebekka zu sehen. Sie trug ein sehr hübsches, eng anliegendes Reitkostüm und saß auf einem prachtvollen kleinen Araber, den sie vortrefflich ritt (sie hatte in Queen's Crawley vom Baronet, Mr. Pitt und Rawdon selbst das Reiten gelernt). Neben ihr der tapfere General Tufto.

»Ha, da ist ja der Herzog selbst«, rief die Majorin O'Dowd Joseph zu, der heftig errötete, »und dort, auf dem Braunen, das ist Lord Uxbridge. Wie elegant er aussieht! Mein Bruder Mallay Malony gleicht ihm wie eine Erbse der anderen.«

Rebekka ritt nicht auf den Wagen zu. Als sie aber ihre alte Freundin Amelia darin sitzen sah, grüßte sie mit einem gnädigen Wort und Lächeln und warf spielerisch eine Kußhand in Richtung des Wagens. Sodann setzte sie ihre Unterhaltung [403] mit General Tufto fort und antwortete auf die Frage, wer denn der dicke Offizier mit der goldbebänderten Mütze sei, es sei ein Offizier in Diensten der Ostindischen Kompanie. Rawdon Crawley jedoch kam herbeigeritten, drückte Amelia herzlich die Hand, fragte Joe: »Nun, alter Knabe, wie geht's?« und starrte Mrs. O'Dowd ins Gesicht und auf die schwarzen Hahnenfedern, bis die Majorin zu glauben anfing, sie habe an ihm eine Eroberung gemacht.

George, der ein wenig zurückgeblieben war, kam sofort mit Dobbin herbeigeritten, und sie grüßten, die Hand an der Mütze, die erlauchten Persönlichkeiten, unter denen Osborne sogleich Mrs. Crawley bemerkte. Er freute sich, zu sehen, wie Rawdon sich vertraulich über seinen Wagen lehnte und mit Amelia sprach, und begegnete dem herzlichen Gruß des Adjutanten mit mehr als angemessener Wärme. Das Kopfnicken zwischen Rawdon und Dobbin gehörte zu den schwächsten Beweisstücken der Höflichkeit.

Crawley erzählte George, daß sie mit General Tufto im Hotel du Parc wohnten, und George ließ sich von seinem Freunde versprechen, die Osbornes recht bald zu besuchen.

»Schade, daß ich Sie nicht schon vor drei Tagen sah«., sagte George. »Hatten ein Diner im Restaurant – ganz hübsch. Lord Bareacres und die Gräfin sowie Lady Blanche waren so gütig, mit uns zu speisen – wollte, Sie wären auch dabeigewesen.« Nachdem Osborne so seinem Freund beigebracht hatte, daß er als Mann von Welt angesehen werden wollte, trennte er sich von Rawdon, der der davongaloppierenden vornehmen Gesellschaft in eine Allee hinein folgte, während George und Dobbin wieder ihre Plätze neben dem Wagen Amelias einnahmen.

»Wie gut der Herzog aussah«, bemerkte Mrs. O'Dowd. »Die Wellesleys und Malonys sind doch miteinander verwandt; natürlich würde ich armes Wesen nicht im Traume daran denken, mich vorzustellen, wenn nicht Seine Gnaden [404] es für angemessen hielte, sich unserer Familienbande zu erinnern.«

»Er ist ein großer Soldat«, sagte Joe, der sich jetzt weit behaglicher fühlte, nachdem der bedeutende Herr fort war. »Gab es je eine Schlacht wie die bei Salamanca 1? Was meinen Sie, Dobbin? Aber wo hat er seine Kunst gelernt? In Indien, mein Junge! Der Dschungel ist die rechte Schule für einen General, merken Sie sich das. Ich habe ihn auch persönlich kennengelernt, Mrs. O'Dowd. Wir beide tanzten im Dumdum am selben Abend mit Miss Cutler, der Tochter Cutlers von der Artillerie, ein verteufelt hübsches Mädchen.«

Die Erscheinung der hohen Herrschaften bot ihnen während der Spazierfahrt, beim Essen und bis zur Stunde, wo sie alle miteinander in die Oper gehen wollten, genug Unterhaltungsstoff.

Es war beinahe wie im alten England. Das Haus war voll von bekannten englischen Gesichtern und den Toiletten, die die Britin schon seit langer Zeit berühmt gemacht hatte. Mrs. O'Dowds gehörte zu den prächtigsten, sie trug auf der Stirn eine Locke und einen Schmuck von irischen Diamanten und Rauchtopasen, der nach ihrer Meinung alles im Hause überstrahlte. Ihre Gegenwart war qualvoll für Osborne. Aber sie hatte nun einmal beschlossen, um jeden Preis alle Vergnügungen mitzumachen, wenn sie hörte, daß ihre Freunde teilnahmen. Es kam ihr nie anders in den Sinn, als daß sie von ihrer Gesellschaft bezaubert sein müßten.

»Sie ist dir nützlich gewesen, meine Liebe«, sagte George zu seiner Frau, die er in ihrer Gesellschaft mit weniger Bedenken allein lassen konnte. »Wie gut ist es aber, daß Rebekka gekommen ist. Sie wird dir eine Freundin sein, und wir können nun diese verdammte Irin loswerden.« Amelia antwortete hierauf weder mit Ja noch mit Nein, und wie können wir wissen, was sie dachte?

Der coup d'œil 2 des Brüsseler Opernhauses war für Mrs. O'Dowd lange nicht so schön wie der des Theaters in der [405] Fishamble Street in Dublin. Auch die französische Musik kam ihrer Meinung nach den Melodien ihres Heimatlandes bei weitem nicht gleich. Mit diesen und anderen sehr laut ausgesprochenen Bemerkungen erfreute sie ihre Freunde, wobei sie mit vornehmer Selbstgefälligkeit einen großen klappernden Fächer hin und her schwenkte.

»Wer ist die wundervolle Frau dort bei Amelia, liebster Rawdon?« fragte in einer gegenüberliegenden Loge eine Dame (die, schon zu Hause fast immer höflich gegenüber ihrem Mann, in der Öffentlichkeit liebevoller denn je zu ihm war). »Siehst du nicht dieses Wesen dort, mit dem gelben Ding auf dem Turban und einem roten Atlaskleid und einer großen Uhr?«

»Neben der hübschen kleinen Frau in Weiß?« fragte ein Mann mittleren Alters, der neben der Fragerin saß. Er trug Orden im Knopfloch und verschiedene Unterwesten und eine große, weiße Halsbinde, die ihn fast erwürgte.

»Die hübsche Frau in Weiß ist Amelia, General. Sie bemerken doch gleich alle hübschen Frauen, Sie ungezogener Mann!«

»Bei Gott, nur eine in der Welt!« sagte der General ganz entzückt, und die Dame versetzte ihm einen sanften Schlag mit dem großen Bukett, das sie in der Hand hielt.

»Bei Gott, er ist es«, sagte Mrs. O'Dowd, »und es ist dasselbe Bukett, das er auf dem Blumenmarkt gekauft hat!« Als Rebekka dem Blick ihrer Freundin begegnet war und noch einmal die kleine Handkußszene spielte, bezog die Majorin O'Dowd das Kompliment auf sich selbst und erwiderte den Gruß mit einem graziösen Lächeln, was den unglücklichen Dobbin wieder prustend aus der Loge trieb.

Nach dem ersten Akt war George sofort aus der Loge verschwunden, um Rebekka seine Aufwartung zu machen. Im Foyer traf er Crawley, und sie wechselten einige Worte über die Vorfälle der letzten vierzehn Tage.

»War der Scheck auf meinen Agenten in Ordnung?« fragte George mit schlauer Miene.

[406] »Jawohl, mein Junge«, antwortete Rawdon. »Soll mir ein Vergnügen sein, Ihnen Revanche zu geben. Der Alte herumgebracht?«

»Noch nicht«, sagte George, »wird aber bald sein. Und wissen Sie, ich habe etwas Vermögen von meiner Mutter. Ist Tantchen weich geworden?«

»Hat mir zwanzig Pfund geschickt, der verdammte alte Geizkragen. Wann treffen wir uns wieder einmal? Dienstag speist der General auswärts. Können Sie nicht Dienstag kommen? Und dann noch, veranlassen Sie doch Sedley bloß, sich den Schnurrbart abzurasieren. Was, zum Henker, braucht ein Zivilist einen Schnurrbart und die verdammten Borten am Rock. Adieu! Sehen Sie zu, daß Sie Dienstag kommen können.« Und Rawdon entfernte sich mit zwei eleganten jungen Herren, die wie er dem Generalstab angehörten.

George war nur halb erfreut, gerade für den Tag eine Einladung zu erhalten, an dem der General nicht dabei war. »Ich will hineingehen und Ihrer Frau meine Aufwartung machen«, sagte er, und Rawdon antwortete mit finsterem Blick: »Hm, wenn es Ihnen beliebt.« Die beiden jungen Offiziere tauschten verständnisinnige Blicke. George trennte sich von ihnen und stolzierte durch das Foyer zur Loge des Generals, deren Nummer er sich gut ausgerechnet hatte.

»Entrez!« 3 rief ein helles Stimmchen, und unser Freund fand sich Rebekka gegenüber. Vor Freude, ihn zu sehen, sprang sie auf, klatschte in die Hände und streckte sie George entgegen. Der General, die Orden im Knopfloch, starrte den Neuankömmling finster an, als wollte er sagen: Wer, zum Teufel, sind Sie?

»Mein lieber Hauptmann George!« rief die kleine Rebekka ganz entzückt. »Wie nett von Ihnen, mich aufzusuchen. Der General und ich, wir langweilen uns so bei unserem Tête-à-tête. General, das ist mein Hauptmann George, von dem ich Ihnen schon erzählt habe.«

[407] »Soso«, sagte der General mit einer ganz leichten Verbeugung, »zu welchem Regiment gehört Hauptmann George?«

George nannte das ...te Regiment. Wie gern hätte er von einem glänzenden Kavalleriekorps gesprochen!

»Wie ich glaube, erst kürzlich aus Westindien zurückgekommen, wie? Vom letzten Krieg nicht viel erlebt. Hier einquartiert, Hauptmann George?« fuhr der General mit eisigem Hochmut fort.

»Nicht Hauptmann George, Sie Dummerchen, Hauptmann Osborne«, sagte Rebekka. Der General blickte während der ganzen Zeit wütend von einem zum anderen.

»Hauptmann Osborne, soso, mit den Osbornes von L. verwandt?«

»Wir führen das gleiche Wappen«, sagte George wahrheitsgemäß, da Mr. Osborne vor fünfzehn Jahren bei der Anschaffung seines Wagens einen Heraldiker in Long Acre zu Rate gezogen hatte und sich aus dem Adelskalender das Wappen der Osbornes von L. herausgesucht hatte. Darauf erwiderte der General nichts, sondern nahm sein Theaterfernrohr – das doppelläufige Opernglas war in jenen Tagen noch nicht erfunden – und stellte sich, als betrachte er das Haus; aber Rebekka sah wohl, daß sein freies Auge nach ihr schielte und blutdürstige Blicke auf sie und George schoß.

Sie verdoppelte ihre Herzlichkeit. »Wie geht es der lieben Amelia? Aber ich brauche ja gar nicht zu fragen – wie hübsch sie aussieht! Und wer ist das nette, gutmütig aussehende Geschöpf neben ihr – wohl eine Flamme von Ihnen? Oh, ihr bösen Männer! Und dort ißt Mr. Sedley Eis, nein, wie es ihm schmeckt! General, warum haben wir kein Eis bekommen?«

»Soll ich Ihnen welches holen?« sagte der General wutschnaubend.

»Lassen Sie mich gehen, ich bitte Sie darum«, sagte George.

»Nein, ich will Amelia in ihrer Loge aufsuchen. Liebes, süßes Mädchen! Geben Sie mir bitte den Arm, Hauptmann George.«

[408] Nach diesen Worten nickte sie dem General leicht zu und trippelte in das Foyer hinaus. Kaum waren sie draußen, so warf sie George einen sehr seltsam schlauen Blick zu, einen Blick, der in Worten ausgedrückt hätte bedeuten können: Sehen Sie nicht, wie die Dinge stehen und wie ich ihn zum Narren halte? Aber er bemerkte den Blick nicht. Er dachte an seine eigenen Pläne und war in prahlerische Bewunderung seiner eigenen Unwiderstehlichkeit versunken.

Die Flüche, die der General vor sich hin murmelte, sobald Rebekka und ihr Eroberer ihn verlassen hatten, waren so schrecklich, daß sicherlich kein Setzer in der Firma von Bradbury und Evans 4 es wagen würde, sie zu setzen, wenn ich sie aufgeschrieben hätte. Sie kamen dem General aus der Tiefe des Herzens, und es ist doch wunderlich, wenn man sich überlegt, daß das menschliche Herz solche Produkte erzeugt, daß es, wie es die Gelegenheit erfordert, eine solche Menge von Begierde und Zorn, Wut und Haß zutage bringen kann.

Auch Amelias sanfte Augen hatten sich ängstlich auf das Paar geheftet, dessen Benehmen den eifersüchtigen General so erhitzt hatte. Als aber Rebekka die Loge betrat, flog sie der Freundin mit einem liebevollen Entzücken entgegen, obwohl das Publikum sie sehr gut beobachten konnte, denn sie umarmte ihre liebste Freundin vor dem ganzen Haus oder doch zumindest unter dem Fernglas des Generals, das jetzt gerade auf die Osbornesche Gesellschaft gerichtet war. Mrs. Rawdon begrüßte auch Joseph sehr freundlich. Sie bewunderte Mrs. O'Dowds große Rauchtopasbrosche und ihre prachtvollen irischen Diamanten und wollte gar nicht glauben, daß sie nicht direkt von Golkonda kämen. Sie plauderte, drehte und wendete sich und lächelte bald diesem, bald jenem zu, alles unter dem eifersüchtigen Fernglas gegenüber. Als das Ballett anfangen sollte (in dem keine Tänzerin echter spielte und sich besser verstellte), hüpfte sie wieder in ihre eigene Loge zurück, diesmal an Hauptmann Dobbins Arm. [409] Nein, sie wollte Georges Arm nicht nehmen, er sollte bei seiner allerliebsten, besten, kleinen Amelia bleiben und mit ihr plaudern.

»Was für eine Schwindlerin doch diese Frau ist«, murmelte der alte ehrliche Dobbin George zu, als er aus Rebekkas Loge, wohin er sie schweigend und mit Leichenbittermiene begleitet hatte, zurückkam. »Sie dreht und wendet sich wie eine Schlange. Hast du nicht gemerkt, George, daß sie die ganze Zeit, wo sie hier war, für den General da drüben gespielt hat?«

»Schwindlerin – gespielt? Zum Henker, sie ist die netteste kleine Frau in ganz England«, erwiderte George. Er zeigte seine weißen Zähne und zwirbelte seinen ambrosiaduftenden Backenbart. »Du bist kein Mann von Welt, Dobbin, verdammt, sieh mal hinüber, in der kurzen Zeit hat sie Tufto beschwatzt! Sieh nur, wie er lacht! Bei Gott, was für Schultern sie hat! Emmy, warum hast du kein Bukett? Jeder hat doch ein Bukett.«

»Na ja, warum haben Sie ihr denn eigentlich keins gekauft?« fragte Mrs. O'Dowd, und sowohl Amelia als auch William Dobbin waren ihr für diese treffende Bemerkung dankbar. Trotzdem fand keine der beiden Damen ihre gute Laune wieder. Amelia war ganz überwältigt von dem verwirrenden Glanz und dem eleganten Geplauder ihrer gewandten Rivalin. Selbst die O'Dowd war schweigsam und unterworfen von Beckys brillanter Erscheinung und sagte den ganzen Abend über kaum noch ein Wort von Glennmalony.


»Wann wirst du endlich das Spielen aufgeben, George, wie du es mir in den letzten hundert Jahren andauernd versprochen hast?« fragte Dobbin seinen Freund ein paar Tage nach dem Opernbesuch.

»Und wann wirst du endlich das Predigen aufgeben?« lautete die Antwort des anderen. »Weshalb, zum Henker, Mann, regst du dich so auf? Wir spielen niedrig; ich habe gestern [410] abend gewonnen. Du glaubst doch nicht etwa, daß Crawley betrügt? Wenn man ehrlich spielt, gleicht es sich bis zum Ende des Jahres wieder aus.«

»Aber ich glaube nicht, daß er bezahlen könnte, wenn er verlöre«, sagte Dobbin. Der Rat des guten William hatte den Erfolg, den ein guter Rat gewöhnlich hat. Osborne und Crawley waren jetzt häufig zusammen. General Tufto speiste fast immer auswärts. George war stets willkommen in den Räumen, die der Adjutant und seine Frau, wirklich sehr dicht neben denen des Generals, im Hotel bewohnten.

Als George mit Amelia Crawley und dessen Frau in dieser Wohnung besucht hatte, führte sich Amelia so auf, daß es fast zu ihrem ersten Streit gekommen wäre. George schalt seine Frau heftig, weil sie erst zu verstehen gab, daß sie nicht mitgehen wollte, und sich dann so hochmütig gegenüber ihrer alten Freundin, Mrs. Crawley, benahm. Amelia antwortete keinen Ton darauf. Aber beim zweiten Besuch, unter den Augen ihres Mannes und Rebekkas prüfendem Blick, war sie womöglich noch scheuer und unbeholfener als beim ersten.

Rebekka war natürlich doppelt liebevoll und wollte von der Kälte ihrer Freundin nicht die mindeste Notiz nehmen. »Ich glaube, Emmy ist stolzer geworden, seitdem der Name ihres Vaters in der ... seit Mr. Sedleys Unglück«, sagte Rebekka, wobei sie den Satz für Georges Ohr barmherzig milderte. »Auf mein Wort, als wir in Brighton waren, glaubte ich, daß sie mir die Ehre erwiese, eifersüchtig auf mich zu sein, und jetzt stößt sie sich wahrscheinlich daran, daß Rawdon, ich und der General zusammen wohnen. Aber, Kindchen, wie könnten wir mit unseren geringen Mitteln überhaupt leben, wenn wir nicht einen Freund hätten, der die Kosten mit uns teilt? Und glauben Sie denn, Rawdon sei nicht groß genug, um über meiner Ehre zu wachen? Aber ich bin Emmy sehr verbunden, sehr«, sagte Mrs. Rawdon.

»Pah, Eifersucht!« antwortete George. »Alle Frauen sind eifersüchtig.«

[411] »Und alle Männer auch. Waren Sie an dem Abend in der Oper nicht eifersüchtig auf General Tufto und der General auf Sie? Hach, er hätte mich am liebsten gefressen, als ich mit Ihnen ging, um ihre närrische kleine Frau zu besuchen. Als ob ich mir auch nur einen Pfifferling aus einem von euch machte«, sagte Crawleys Frau und warf keck den Kopf in den Nacken. »Wollen Sie hier speisen? Der Dragoner speist bei dem Oberbefehlshaber. Wichtige Nachrichten soll es geben. Man sagt, die Franzosen hätten die Grenze überschritten. Wir können ganz ruhig essen.«

George nahm die Einladung an, obwohl seine Frau sich nicht ganz wohl fühlte. Sie waren jetzt noch nicht sechs Wochen verheiratet. Eine andere Frau verlachte und verhöhnte sie, und er ließ es ruhig geschehen. Er war nicht einmal mit sich selbst böse, der gutmütige Bursche. Es ist eine Schande, gestand er sich; allein, zum Henker! was kann ein junger Kerl tun, wenn sich ihm eine hübsche Frau an den Hals wirft? »Ich springe mit Frauen eben ziemlich frei um«, hatte er oft lächelnd und verständnisinnig nickend zu Stubble, Spooney und anderen Kameraden am Offizierstisch gesagt, und sie achteten ihn wegen dieser Tapferkeit nur um so mehr. Nächst Kriegseroberungen sind seit undenklichen Zeiten Liebeseroberungen bei Männern auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit stets eine Quelle des Stolzes gewesen; denn warum sollten sonst Schulbuben mit ihren Liebschaften prahlen und Don Juan so beliebt sein?

So versuchte denn Mr. Osborne in der Überzeugung, er sei ein Herzensbrecher und seine Bestimmung sei es, Frauen zu erobern, nicht, gegen sein Schicksal anzukämpfen, sondern ergab sich selbstzufrieden darein. Und da Emmy nicht viel sagte und ihn nicht mit ihrer Eifersucht plagte, sondern bloß unglücklich wurde und sich im stillen grämte, so bildete er sich ein, daß sie gar keine Ahnung von dem hätte, was doch keinem seiner Bekannten verborgen war – dem verzweifelten Flirt, der sich zwischen ihm und Mrs. Crawley [412] angesponnen hatte. Sooft sie frei war, ritt er mit ihr aus. Bei Amelia schützte er Regimentsgeschäfte vor (eine Lüge, die sie nicht zu täuschen vermochte). Er überließ seine Frau der Einsamkeit oder der Gesellschaft ihres Bruders und verbrachte seine Abende bei den Crawleys. Er verlor sein Geld an den Mann und schmeichelte sich, daß die Frau sterblich in ihn verliebt sei. Höchstwahrscheinlich hatte sich das würdige Paar nie direkt gegen ihn verschworen und ausgesprochen, daß der eine dem jungen Mann um den Bart gehen sollte, während der andere ihm beim Kartenspiel sein Geld abzugewinnen habe; aber sie verstanden sich völlig, und Rawdon ließ Osborne stets gutgelaunt kommen und gehen.

George war mit seinen neuen Bekannten so beschäftigt, daß er mit William Dobbin weit weniger zusammen war als früher. George mied ihn in der Öffentlichkeit und beim Regiment und liebte, wie wir wissen, die Predigten nicht, mit denen sein älterer Freund ihn so gern heimsuchte. Georges Benehmen stimmte Hauptmann Dobbin oftmals außerordentlich ernst und kühl; doch was nützte es, George zu sagen, daß er trotz seines mächtigen Backenbartes und seines großen Selbstgefühls so grün wie ein Schuljunge war, daß er Rawdons Opfer werden würde, wie schon viele zuvor, und daß dieser ihn verächtlich abschütteln werde, wenn er ihn ausgenützt habe? Er würde ja doch nicht zuhören; und da Dobbin an den Tagen, an denen er Osbornes Haus aufsuchte, seinen alten Freund selten traf, wurden ihnen viele schmerzliche nutzlose Gespräche erspart. Unser Freund George genoß mit vollen Zügen die Freuden des Jahrmarkts der Eitelkeit.


Seit den Tagen des Königs Darius 5 hat sich wohl kaum einem Heer ein so glänzendes Gefolge angeschlossen wie im Jahre 1815 dem des Herzogs von Wellington in den Niederlanden. Dieses Gefolge führte die Armee des Herzogs sozusagen tanzend und feiernd der Schlacht entgegen. Ein [413] Ball, den eine edle Herzogin am 15. Juni dieses Jahres in Brüssel gab, ist historisch geworden. Ganz Brüssel war in Aufruhr deshalb, und ich habe von Damen, die sich zu jener Zeit in dieser Stadt aufhielten, gehört, daß sich ihre Geschlechtsgenossinnen weit mehr für den Ball interessierten und erhitzten als für den Feind an der Front. Die Kämpfe, Intrigen und Bitten um Karten waren so, wie nur englische Damen sie anstrengen können, die in die Gesellschaft der Großen ihrer Nation zugelassen werden wollen.

Joseph und Mr. O'Dowd, die darauf brannten, eingeladen zu werden, bemühten sich vergeblich, Karten zu erhalten; aber andere unserer Freunde waren glücklicher. So erhielt zum Beispiel George durch Vermittlung von Lord Bareacres als Ausgleich für das Diner in dem Restaurant eine Karte für Hauptmann und Mrs. Osborne. Er war nicht wenig stolz darauf. Dobbin, der ein Freund des kommandierenden Generals der Division, zu der ihr Regiment gehörte, war, kam eines Tages lachend zu Mrs. Osborne und zeigte eine gleiche Einladungskarte vor, was den guten Joseph neidisch machte und George verwunderte, wie zum Teufel denn der sich Zutritt zu so vornehmer Gesellschaft verschaffen konnte. Mr. und Mrs. Rawdon waren natürlich auch eingeladen, wie es Freunden des Generals einer Kavalleriebrigade zukam.

An dem festgesetzten Abend fuhren George und Amelia, der er neue Kleider und Schmuck aller Art hatte kommen lassen, auf den berühmten Ball, wo seine Frau auch nicht eine Seele kannte. Nachdem er sich nach Lady Bareacres umgesehen hatte, die ihn aber schnitt, weil sie dachte, die Einladung sei genug, setzte er Amelia auf eine Bank und überließ sie ihren eigenen Gedanken. Er war der Ansicht, daß er sich doch recht anständig benommen hatte, ihr neue Kleider zu kaufen und sie auf den Ball mitzunehmen, nun stand es ihr doch frei, sich zu amüsieren, wenn sie Lust hatte. Ihre Gedanken waren nicht sehr heiter, und außer dem ehrlichen Dobbin kam niemand, um sie darin zu stören.

[414] Während ihr Erscheinen gar kein Aufsehen erregte (wie ihr Gatte mit einiger Wut feststellte), war Mrs. Rawdon Crawleys Debüt dagegen sehr glänzend. Sie kam spät. Ihr Gesicht strahlte, ihre Kleidung war vollkommen. Inmitten der anwesenden hohen Persönlichkeiten und der auf sie gerichteten Augengläser schien Rebekka so kaltblütig und gefaßt zu sein wie damals, als sie die kleinen Mädchen bei Miss Pinkerton zur Kirche geführt hatte. Viele der Herren kannte sie bereits, und sämtliche Stutzer umdrängten sie. Die Damen flüsterten untereinander, Rawdon habe sie aus einem Kloster entführt und sie sei eine Verwandte der Montmorencys. Sie sprach so vollendet Französisch, daß an dem Gerücht wohl etwas Wahres sein konnte. Man war sich einig, daß sie sehr gute Manieren habe und sehr vornehm auftrete. Fünfzig Tänzer umringten sie auf einmal und drängten auf die Ehre, mit ihr tanzen zu dürfen. Aber sie sagte, sie sei bereits engagiert und wolle nur sehr wenig tanzen. Dann eilte sie zu dem Platz, wo Emmy völlig unbeachtet und tief unglücklich saß. Und um das arme Kind unmöglich zu machen, begrüßte Mrs. Rawdon ihre liebste Amelia herzlich und fing sofort an, sie zu begönnern. Sie hatte am Kleid und an der Frisur ihrer Freundin etwas auszusetzen und wunderte sich, wie sie nur so chaussée 6 sein könne, und sie bestand darauf, ihr gleich am nächsten Morgen ihre corsetière 7 zu schicken. Sie beteuerte, daß es ein herrlicher Ball sei, daß alle da seien, die jedermann kenne, und daß nur ganz wenige gesellschaftliche Nullen im Saal seien. Tatsächlich hatte diese junge Frau schon nach vierzehn Tagen und drei Diners in der Gesellschaft sich so den vornehmen Jargon angeeignet, daß ein Angehöriger dieser Klasse ihn nicht besser hätte sprechen können. Und nur daraus, daß ihr Französisch so gut war, konnte man ersehen, daß sie von Geburt keine Dame war.

George, der Amelia beim Eintritt in den Ballsaal auf ihrer Bank gelassen hatte, fand bald seinen Weg zu ihr zurück, als Rebekka bei ihrer lieben Freundin war. Becky belehrte [415] eben Mrs. Osborne über die Torheiten, die ihr Mann beging. »Um Himmels willen, meine Liebe, halt ihn vom Spielen zurück, sonst ruiniert er sich noch«, sagte sie. »Er und Rawdon spielen jeden Abend Karten, und du weißt, wie arm er ist, und Rawdon gewinnt ihm jeden Shilling ab, wenn er sich nicht vorsieht. Warum verhinderst du es nicht, du sorgloses Geschöpfchen? Warum kommst du nicht abends zu uns, anstatt dich mit diesem Hauptmann Dobbin daheim zu langweilen? Er ist gewiß très aimable 8, aber wie kann man einen Mann mit so großen Füßen lieben? Die Füße deines Mannes dagegen sind süß – ah, da kommt er ja. Wo sind Sie gewesen, Sie Böser? Emmy weint sich inzwischen Ihretwegen die Augen aus. Wollen Sie mich zur Quadrille holen?« Und sie ließ ihr Bukett und ihren Schal bei Amelia und trippelte mit George davon zum Tanzen. Nur Frauen können so verletzen. Sie haben an den Spitzen ihrer kleinen Pfeile ein Gift, das tausendmal mehr schmerzt als die stumpfere Waffe eines Mannes. Unsere arme Emmy, die in ihrem ganzen Leben noch nie gehaßt, noch nie gehöhnt hatte, war machtlos in den Händen ihrer unbarmherzigen kleinen Feindin.

George tanzte zwei- oder dreimal mit Rebekka, wie oft, wußte Amelia kaum. Sie saß völlig unbeachtet in ihrer Ecke, und nur Rawdon kam einmal und versuchte ungeschickt, sich ein wenig mit ihr zu unterhalten, und spät am Abend war Hauptmann Dobbin so kühn, ihr ein paar Erfrischungen zu bringen und sich zu ihr zu setzen. Er mochte sie nicht fragen, warum sie so traurig sei, aber als Erklärung für die Tränen in ihren Augen sagte sie, Mrs. Crawley habe sie erschreckt, als sie ihr erzählte, daß George immer noch spiele.

»Es ist doch komisch, von welchen plumpen Schuften sich ein Mann betrügen läßt, wenn er hinter dem Spiel her ist«, sagte Dobbin, und Emmy antwortete: »Ja, wirklich.« Sie dachte an etwas anderes. Es war nicht der Verlust des Geldes, der ihr Kummer machte.

[416] Schließlich kam George zurück, um Rebekkas Schal und ihre Blumen zu holen. Sie ging und ließ sich nicht einmal herab, zurückzukommen, um sich von Amelia zu verabschieden. Das arme Mädchen ließ ihren Mann kommen und gehen, ohne auch nur eine Silbe zu sagen, und ließ traurig den Kopf hängen. Dobbin war weggerufen worden und flüsterte angelegentlich mit dem Divisionsgeneral, seinem Freund. Er hatte diesen Abschied nicht beobachtet. George entfernte sich mit dem Bukett. Als er es aber der Eigentümerin übergab, lag ein Briefchen, zusammengerollt wie eine Schlange, in den Blumen. Rebekka fiel es sofort ins Auge. Schon in frühester Jugend war sie es gewöhnt, mit Briefchen umzugehen. Sie streckte ihre Hand aus und nahm den Strauß. Ihre Augen trafen sich, und er sah, daß sie wußte, was sie darin finden würde. Ihr Mann führte sie eiligst davon, scheinbar viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um die Zeichen der Verständigung zwischen seinem Freund und seiner Frau zu bemerken. Sie waren auch nicht sehr auffällig. Rebekka reichte George die Hand mit einem ihrer raschen schlauen Blicke, knickste und entfernte sich. George beugte sich über ihre Hand, erwiderte nichts auf eine Bemerkung Crawleys, ja hörte sie nicht einmal. Sein Gehirn fieberte vor Triumph und Aufregung, und er ließ sie wortlos gehen.

Seine Frau sah zumindest einen Teil der Bukettszene. Daß George auf Rebekkas Bitte ihren Schal und die Blumen holte, war ganz in Ordnung, das hatte er im Laufe der letzten Tage zwanzigmal getan, aber jetzt wurde es ihr doch zuviel.

»William«, sagte sie und klammerte sich plötzlich an Dobbin, der ganz in der Nähe stand, »Sie sind immer sehr freundlich zu mir gewesen – mir ist – mir ist nicht gut. Bringen Sie mich nach Hause.« Sie wußte nicht, daß sie ihn mit dem Vornamen ansprach, wie es George sonst tat. Rasch ging er mit ihr davon. Ihre Wohnung war ganz in der Nähe, und [417] sie schlängelten sich durch die Menge draußen, die in noch größerer Bewegung war als im Ballsaal.

George war schon ein paarmal ärgerlich gewesen, als er, von einer Gesellschaft nach Hause gekommen, seine Frau noch auf fand. Sie legte sich daher bald ins Bett, aber obgleich sie nicht schlief und der Lärm und das Getöse und das Pferdegetrappel kein Ende nahm, so hörte sie doch nichts von alldem, da ganz andere Aufregungen sie wach hielten.

Unterdessen ging Osborne, ganz berauscht in seinem Hochmut, an einen Spieltisch und fing an, wie wild zu setzen. Er gewann wiederholt. »Heute abend gelingt mir alles«, sagte er. Aber nicht einmal das Glück im Spiel heilte ihn von seiner Ratlosigkeit.

Er sprang daher nach einer Weile auf, steckte seinen Gewinn ein und ging an ein Büfett, wo er mehrere Gläser Wein hinunterstürzte.

Hier fand ihn Dobbin, als er mit den Umstehenden überschäumend vor Lebhaftigkeit schwatzte und laut lachte. Er hatte seinen Freund schon an den Spieltischen gesucht. Dobbin war so blaß und ernst, wie sein Kamerad rot und lustig war.

»Hallo, Dob! Komm und trink, alter Dob! Der Wein des Herzogs ist famos. Geben Sie mir noch etwas, mein Herr«, und er streckte sein zitterndes Glas aus.

»Komm mit raus, George«, sagte Dobbin, immer noch ernst. »Laß das Trinken!«

»Das Trinken! Es gibt nichts Besseres auf der Welt. Trink selbst, damit deine Wangen ein bißchen Farbe bekommen, alter Junge. Auf dein Wohl!«

Dobbin trat ganz nahe an ihn heran und flüsterte ihm etwas zu, worauf George hochfuhr, ein wildes Hurra ausstieß, sein Glas austrank, es klirrend auf den Tisch stellte und sich am Arme seines Freundes eiligst entfernte.

»Der Feind hat die Sambre überschritten«, sagte William, [418] »und unser linker Flügel kämpft bereits. Komm fort. In drei Stunden müssen wir marschieren.«


George ging mit Dobbin davon, und seine Nerven zitterten vor Aufregung über die so lange erwartete Nachricht, die doch so plötzlich kam. Was bedeuteten jetzt Liebe und Intrigen? Er dachte, während er mit eiligen Schritten seinem Quartier zustrebte, an tausend andere Dinge – an sein vergangenes Leben und seine Aussichten für die Zukunft, an das Schicksal, das ihn erwarten konnte, an die Frau, vielleicht an das Kind, von dem er, ohne es gesehen zu haben, scheiden mußte. Ach, könnte er doch die Ereignisse des Abends ungeschehen machen und dem zarten und reinen Wesen mit ruhigem Gewissen Lebewohl sagen, dessen Liebe er so gering geachtet hatte!

Er dachte über sein kurzes Eheleben nach. In diesen wenigen Wochen hatte er sein kleines Kapital furchtbar verschwendet. Wie wild und rücksichtslos war er doch gewesen! Was blieb ihr, wenn ihm ein Unglück zustieße? Wie unwürdig war er ihrer. Warum hatte er sie geheiratet? Er war nicht für die Ehe geboren. Warum hatte er seinem Vater nicht gehorcht, der doch stets so großmütig gegen ihn gewesen war? Hoffnung, Reue, Ehrgeiz, Zärtlichkeit und egoistisches Bedauern erfüllten sein Herz. Er setzte sich nieder und schrieb an seinen Vater, dabei fiel ihm ein, was er schon einmal gesagt hatte, als er vor einem Duell stand. Die Morgendämmerung warf bereits ihre zarten Streifen über den Himmel, als er den Abschiedsbrief beendete. Er versiegelte ihn und küßte die Aufschrift. Er dachte daran, wie er diesen großzügigen Vater verlassen hatte, und an das viele Gute, das ihm der strenge alte Mann erwiesen hatte.

Er hatte einen Blick in Amelias Schlafzimmer geworfen, als er nach Hause kam. Sie lag ruhig, ihre Augen schienen geschlossen, und er war froh, daß sie schlief. Vom Balle zurückgekehrt, hatte er seinen Burschen schon inmitten der [419] Vorbereitungen für den Abmarsch angetroffen. Der Diener hatte sein Signal, kein Geräusch zu machen, verstanden und tat seine Arbeit schnell und ruhig. Sollte er nun hineingehen und Amelia wecken, überlegte er, oder sollte er ihrem Bruder ein Briefchen zurücklassen, daß der ihr die Nachricht von dem Abmarsch mitteilte? Er ging hinein, um sie noch einmal zu sehen.

Sie war wach gewesen, als er zum ersten Male in ihr Zimmer trat, hatte aber die Augen geschlossen gehalten, damit er ihr Wachsein nicht als Vorwurf betrachten sollte. Als er aber so kurz nach ihr selbst zurückkam, fühlte sich das furchtsame Herzchen etwas erleichtert. Sie drehte sich ihm zu, als er leise aus ihrem Zimmer ging, und fiel in einen leichten Schlummer. George trat nun noch leiser ein und betrachtete sie wieder. Bei dem bleichen Nachtlicht konnte er ihr liebliches, blasses Gesicht sehen – die rosigen Augenlider mit den langen Wimpern waren geschlossen, und ein runder Arm, glatt und weiß, lag auf der Decke. Guter Gott! Wie rein war sie, wie anmutig, wie zart und wie einsam! Und er, wie egoistisch, wie brutal und wie verbrecherisch! Schuldbewußt und tief beschämt stand er am Fußende des Bettes und sah auf das schlafende Mädchen. Wie konnte er es wagen – wer war er, für eine so Reine zu beten! Gott segne sie! Gott segne sie! Er trat neben das Bett und blickte auf die Hand, die kleine, weiche Hand, die schlafend dalag. Dann beugte er sich lautlos über das Kissen mit dem sanften blassen Gesicht.

Zwei schöne Arme schlangen sich zärtlich um seinen Hals. »Ich bin wach, George«, sagte das arme Kind mit einem tiefen Seufzer, der beinahe das kleine Herz gebrochen hätte, das sich so fest an das seine anschmiegte. Sie war wach, die arme Seele, und warum? In diesem Augenblick ertönte vom Waffenplatz der helle Ton eines Horns und wurde überall aufgenommen. Und von dem Trommeln der Infanterie und dem schrillen Pfeifen der Schotten erwachte die ganze Stadt.

Fußnoten

1 Stadt in Westspanien; wurde 1812 von den Franzosen erstürmt; bereits nach kurzer Zeit wurden die französischen Truppen von den Engländern unter Arthur Wellesley (s. Anm. zu S. 73) geschlagen.

2 (franz.) Anblick.

3 (franz.) Treten Sie ein!

4 englisches Verlagshaus.

5 Darius I. (gest. 485 v.u.Z.), altpersischer König; eroberte weite Teile von Indien und mehrere Inseln im Ägäischen Meer.

6 (franz.) beschuht.

7 (franz.) Korsettmacherin.

8 (franz.) sehr liebenswürdig.

[420] 30. Kapitel
»Ein Mädchen ließ zurück ich«

Wir erheben keinen Anspruch, zu den Kriegsschriftstellern gerechnet zu werden. Unser Platz ist bei den Nichtkämpfern. Wenn das Verdeck für den Kampf geräumt wird, dann gehen wir hinab und warten bescheiden ab. Wir würden nur die Manöver behindern, die die tapferen Burschen oben durchführen. Wir wollen daher auch mit dem ...ten Regiment nur bis zum Stadttor mitgehen und kehren, während wir den Major O'Dowd seinen Pflichten überlassen, zu der Majorin, den Damen und der Bagage zurück.

Der Major und seine Frau, die man nicht zu dem Ball eingeladen hatte, auf dem in unserem letzten Kapitel andere unserer Freunde erschienen waren, hatten weit mehr Zeit gehabt, die gesunde natürliche Ruhe im Bette zu pflegen, als Leute, die neben den Pflichten noch Vergnügungen nachgehen wollen.

»Ich glaube, meine liebe Peggy«, sagte der Major, als er sich gelassen die Nachtmütze über die Ohren zog, »es wird in ein paar Tagen auf einem Ball getanzt werden, dessen Musik einige von denen noch nie gehört haben.« Er fühlte sich weit glücklicher, nach einem stillen Gläschen zur Ruhe gehen zu können als bei irgendeinem anderen Vergnügen zu erscheinen. Peggy ihrerseits hätte zwar gern ihren Turban und den Paradiesvogel auf dem Ball gezeigt, wenn nicht ihr Mann ihr etwas mitgeteilt hätte, was sie sehr ernst stimmte.

»Ich möchte gern, daß du mich, eine halbe Stunde bevor das Signal zum Sammeln gegeben wird, weckst«, sagte der Major zu seiner Frau. »Ruf mich um halb zwei Uhr, liebe Peggy, und bring bitte meine Sachen in Ordnung. Es kann sein, daß ich nicht zum Frühstück zurückkomme, Mrs. O'Dowd.« Mit diesen Worten, mit denen er ausdrückte, daß das Regiment am nächsten Morgen marschieren würde, beendete der Major das Gespräch und schlief ein.

[421] Mrs. O'Dowd, die gute Hausfrau, geschmückt mit Lockenwickeln und Kamisol, fühlte, daß es in diesem Moment ihre Pflicht sei, zu handeln und nicht zu schlafen. »Dafür ist noch Zeit genug, wenn Mick fort ist«, sagte sie, und so packte sie seinen Reisesack für den Marsch, bürstete seinen Mantel, seine Mütze und andere Uniformstücke, legte sie ihm zurecht und steckte ihm in die Manteltaschen ein Päckchen mit allerlei Erfrischungen und eine Korbflasche, eine sogenannte Taschenpistole, mit fast einem halben Liter guten Kognaks, den sie und der Major sehr schätzten. Sobald dann die Zeiger der Repetieruhr auf halb zwei Uhr wiesen und das Schlagwerk (es stand dem Klang von Kirchenglocken nicht nach, wie seine schöne Eigentümerin meinte) die verhängnisvolle Stunde einläutete, weckte Mrs. O'Dowd ihren Major und hatte für ihn eine so gemütliche Tasse Kaffee bereit, wie nur eine an jenem Morgen in Brüssel gemacht wurde. Wer kann leugnen, daß die Vorbereitungen dieser würdigen Dame ebensoviel Zuneigung bewiesen wie die hysterischen Tränenausbrüche, mit denen gefühlvollere Frauen ihre Liebe zur Schau stellten? War nicht das gemeinsame Kaffeetrinken unter dem Sammelruf der Hörner und dem Trommelklang in den verschiedenen Stadtteilen nützlicher und zweckmäßiger, als ein bloßer Gefühlserguß sein konnte? Die Folge war, daß der Major bei der Parade nett, frisch und munter erschien, und sein rosiges, gutrasiertes Gesicht hoch zu Pferde erfüllte das ganze Korps mit Zuversicht und Vertrauen. Alle Offiziere grüßten beim Vorbeimarsch die wackere Frau auf dem Balkon, die ihnen einen Abschiedsgruß zuwinkte. Ich glaube, ich darf sagen, daß es nicht Mangel an Mut war, sondern eher das Gefühl weiblichen Taktes und Anstands, was die Majorin davon abhielt, das tapfere ...te Regiment persönlich in die Schlacht zu führen.

An Sonntagen und bei feierlichen Anlässen las Mrs. O'Dowd sehr ernsthaft in einem dicken Band mit Predigten [422] ihres Onkels, des Dekans. Sie hatte Trost darin gefunden, als sie auf der Rückreise von Westindien nach England mit ihrem Transportschiff beinahe untergegangen wären. Nach dem Abmarsch des Regiments nahm sie sich wieder den Band vor, um ihre Betrachtungen anzustellen. Wahrscheinlich verstand sie nicht viel von dem, was sie las, und ihre Gedanken waren woanders. Aber jetzt zu schlafen, mit der Nachtmütze des armen Mick dort auf dem Kopfkissen, war ein vergebliches Unterfangen. So ist der Lauf der Welt. Jack und Donald marschieren, mit dem Tornister auf dem Rücken, dem Ruhm entgegen und setzen ihre Füße munter nach der Melodie »Ein Mädchen ließ zurück ich«. Und sie ist es, die zurückbleibt und leidet – denn sie hat Zeit zum Denken und Brüten und dazu, Erinnerungen nachzuhängen.

Da sie wußte, wie unnütz Kummer ist und daß man sich nur noch unglücklicher macht, wenn man seinen Gefühlen nachgibt, beschloß Mrs. Rebekka weislich, keine sinnlose Trauer aufkommen zu lassen, und ertrug die Trennung von ihrem Gatten mit wahrhaft spartanischem Gleichmut. Tatsächlich war Hauptmann Rawdon vom Abschied weit mehr ergriffen als die entschlossene kleine Frau, der er Lebewohl sagte. Sie hatte diesen rohen, ungehobelten Charakter bezwungen, und er liebte und verehrte sie mit allen Kräften von Achtung und Bewunderung. Während seines ganzen Lebens war er noch nie so glücklich gewesen wie in den wenigen letzten Monaten durch seine Frau. Alle früheren Freuden beim Pferderennen, am Offizierstisch, bei der Jagd und beim Spiel, alle früheren Liebschaften mit Modistinnen und Ballettänzerinnen und ähnliche leichte Triumphe des ungeschlachten Adonis in Uniform waren fade im Vergleich zu den rechtmäßigen Ehefreuden, die er zuletzt genossen hatte. Seine Frau wußte ihn stets zu zerstreuen, und er hatte sein Haus und ihre Gesellschaft tausendmal angenehmer empfunden als alle Orte oder Gesellschaften seit seiner Kindheit. Er verwünschte seine früheren Torheiten und Ausschweifungen [423] und bedauerte vor allem seine keineswegs unbedeutenden Schulden, die das Fortkommen seiner Frau in der Welt stets behindern würden. Oft hatte er in mitternächtlichen Unterredungen mit Rebekka darüber gestöhnt, obgleich sie ihm während seiner Junggesellenzeit niemals Unruhe verursacht hatten. Das setzte ihn selbst in Erstaunen. »Zum Henker«, pflegte er zu sagen (vielleicht benutzte er auch einen stärkeren Ausdruck aus seinem einfachen Wortschatz), »bevor ich geheiratet hatte, war es mir gleich, unter welche Wechsel ich meinen Namen setzte, und solange Moses Aufschub gab oder Levy auf weitere drei Monate verlängern wollte, kümmerte ich mich nicht darum. Aber seit ich verheiratet bin, habe ich auf Ehrenwort keinen Fetzen Stempelpapier angerührt, außer natürlich der verlängerten Wechsel.«

Rebekka wußte diese melancholische Stimmung stets zu verscheuchen. »Ach, du dummes Schätzchen«, pflegte sie zu sagen, »mit deiner Tante sind wir noch nicht fertig. Wenn sie uns im Stich läßt, so kann man immer noch öffentlich Bankrott erklären, oder halt! Ich habe noch einen anderen Plan für den Fall, daß dein Onkel Bute stirbt. Die Pfründe hat stets dem jüngeren Bruder gehört, und warum solltest du nicht dein Offizierspatent verkaufen und der Kirche beitreten?« Der Gedanke an diese Bekehrung ließ Rawdon in ein brüllendes Gelächter ausbrechen; man hätte die Explosion und das »Haha« der gewaltigen Dragonerstimme durch das mitternächtliche Hotel hören können. General Tufto vernahm es in seinem Quartier im ersten Stock über ihnen. Rebekka führte mit viel Witz zur großen Freude des Generals die ganze Szene beim Frühstück noch einmal auf und hielt dabei Rawdons Antrittspredigt.

Aber alle diese Tage und Unterhaltungen gehörten der Vergangenheit an. Als die Nachricht kam, daß der Feldzug eröffnet sei und die Truppen marschieren sollten, wurde Rawdon so ernst, daß Becky ihn neckte, und das verletzte [424] die Gefühle des Leibgardisten tief. »Hoffentlich glaubst du nicht, daß ich Furcht habe«, sagte er mit etwas zitternder Stimme. »Aber ich bin ein gutes Ziel für eine Kugel, und siehst du, wenn es mich trifft, so lasse ich einen oder vielleicht zwei Menschen zurück, die ich gern versorgt wissen möchte, da ich sie doch in die Patsche gebracht habe. Dabei gibt es wirklich nichts zu lachen, Mrs. Crawley.«

Rebekka suchte durch hundert Liebkosungen und freundliche Worte die Gefühle des verwundeten Liebhabers wieder zu besänftigen. Wenn das Temperament und der Humor in diesem munteren Geschöpf die Oberhand gewannen (und das geschah in fast allen Lebenslagen), brach der Spott mit ihr durch, sie konnte aber bald auch wieder ein ernsthaftes Gesicht aufsetzen. »Liebster Schatz«, sagte sie, »glaubst du, ich fühle nichts?« Sie wischte hastig etwas aus ihren Augen und sah ihren Mann lächelnd an.

»Schau mal«, sagte er. »Wir wollen sehen, was für dich bleibt, wenn ich fallen sollte. Ich habe jetzt ziemlich viel Glück gehabt, da, hier sind zweihundert Pfund. In meiner Tasche habe ich zehn Napoleons. Mehr brauche ich nicht, denn der General zahlt wie ein Fürst alles. Und wenn ich getroffen werde, nun, so weißt du ja, daß ich nichts mehr koste. Weine nicht, kleine Frau, ich kann noch lange leben, um dich zu ärgern. Von meinen Pferden nehme ich keins mit, ich werde den Grauen des Generals reiten, das ist billiger. Ich habe ihm gesagt, meins sei lahm. Komm ich nicht wieder, dann könnten dir die beiden was einbringen. Gestern, ehe diese vermaledeite Nachricht kam, hat Grigg mir neunzig für die Stute geboten. Dumm wie ich war, wollte ich sie nicht unter zwei Nullen weggeben. Für Dompfaff erhältst du überall einen schönen Preis, nur wird es besser sein, wenn du ihn hierzulande verkaufst. Die Händler drüben haben zu viele Wechsel von mir in Händen, und deshalb wäre mir lieber, er ginge nicht nach England zurück. Die kleine Stute, die der General dir geschenkt hat, wird [425] auch etwas bringen, und hier gibt es nicht die verdammten Stallrechnungen wie in London«, setzte Rawdon lachend hinzu. »Da das Necessaire hat mich zweihundert gekostet – das heißt, ich bin zweihundert dafür schuldig. Und die Golddeckel und Flaschen werden dreißig bis vierzig wert sein. Das mußt du alles versetzen mitsamt meinen Nadeln und Ringen, meiner Uhr, Kette und dem ganzen Kram. Es hat alles eine hübsche Summe gekostet. Soviel ich weiß, hat Miss Crawley für die Kette samt der Ticktack hundert bare bezahlt. Ja, ja, Golddeckel und Flaschen! Verdammt, ich ärgere mich jetzt, daß ich nicht mehr genommen habe. Edwards wollte mir durchaus einen silbernen vergoldeten Stiefelknecht aufdrängen, und ich hätte ein Necessaire bekommen können mit einer silbernen Wärmflasche und ein Silberservice. Aber weißt du, Becky, wir müssen eben aus dem, was wir haben, das Beste machen.«

So traf Hauptmann Crawley, der bis auf die letzten Monate seines Lebens, als die Liebe ihn bezwungen hatte, selten an etwas anderes gedacht hatte als an sich selbst, seine letzten Verfügungen und ging die verschiedenen Posten seines kleinen Eigentumsverzeichnisses durch, um zu sehen, wie sie sich zum Wohle seiner Frau in Geld umsetzen ließen, falls ihm ein Unglück zustoßen würde. Er gefiel sich darin, mit einem Bleistift in seiner Schuljungenhandschrift die verschiedenen Posten seines beweglichen Eigentums, das zugunsten seiner Witwe verkauft werden konnte, aufzuschreiben. Es hieß zum Beispiel darin: »Meine doppelläufige Mantonflinte, sagen wir 40 Guineen; mein Ausgehmantel mit Zobel gefüttert 50 Pfund; meine Duellpistolen im Rosenholzkasten (mit denen ich Hauptmann Marker erschoß) 20 Pfund; meine regulären Sattelhalter und Satteldecke; dito von Laurie« und so weiter. Er machte Rebekka zur Herrin über alle diese Gegenstände.

Getreu seinem Sparsamkeitsplan zog der Hauptmann seine älteste und schäbigste Uniform an und nahm die schlechtesten [426] Epauletten, alles Neue ließ er unter der Obhut seiner Frau (oder vielleicht seiner Witwe) zurück. So zog also dieser berühmte Stutzer von Windsor und dem Hyde Park bescheiden ausgerüstet wie ein Sergeant in den Kampf und mit einer Art von Gebet für die Frau, von der er schied, auf den Lippen. Er hob sie hoch und hielt sie eine Minute, fest an sein heftig klopfendes Herz gedrückt, in den Armen. Sein Gesicht war purpurrot, und seine Augen verschleiert, als er sie niedersetzte und sich entfernte. Schweigend ritt er neben seinem General und rauchte seine Zigarre, als sie den Truppen, die zur Brigade des Generals gehörten und schon voraus waren, nacheilten. Erst als sie ein paar Meilen zurückgelegt hatten, hörte er auf, seinen Schnurrbart zu zwirbeln, und brach das Schweigen.

Rebekka hatte ja weislich beschlossen, wie wir bereits berichtet haben, beim Abschied ihres Mannes sich keinen nutzlosen Sentimentalitäten hinzugeben. Sie winkte ihm vom Fenster aus ein Adieu zu, und nachdem er verschwunden war, blieb sie noch einen Augenblick stehen, um hinauszusehen. Die Türme der Kathedrale und die hohen Giebel der altertümlichen Häuser begannen gerade, in der aufgehenden Sonne rosig zu leuchten. Sie hatte in dieser Nacht keinen Schlaf gehabt. Immer noch war sie in ihrem hübschen Ballkleid, ihr blondes Haar hing ihr in leichter Unordnung im Nacken, und sie hatte dunkle Augenränder vom Wachen. Wie abscheulich sehe ich aus, sagte sie sich, als sie einen prüfenden Blick in den Spiegel warf, und wie blaß mich dieses Rosa macht! Sie legte das rosa Gewand ab, dabei fiel aus dem Mieder ein Billett. Sie hob es lächelnd auf und verschloß es in ihrem Toilettenkästchen. Dann stellte sie ihr Bukett vom Ball in ein Glas Wasser, ging zu Bett und schlief sehr behaglich.

Die Stadt war ganz ruhig, als sie um zehn Uhr aufwachte und ihren Kaffee trank. Nach der Anstrengung und dem Kummer des Morgens war er sehr notwendig und angenehm.

[427] Nachdem sie ihr Frühstück eingenommen hatte, ging sie die Berechnungen des ehrlichen Rawdon von der vergangenen Nacht durch und überdachte ihre Lage. Sollte das Schlimmste eintreten, war sie, alles in allem betrachtet, gar nicht so schlecht gestellt. Neben dem, was ihr Mann ihr zurückgelassen hatte, hatte sie noch ihre eigenen Juwelen und ihre ganze Ausstattung. Rawdons Großmut nach der Heirat wurde schon beschrieben und gelobt. Außerdem hatte ihr der General, ihr Sklave und Anbeter, neben der kleinen Stute noch manches hübsche Geschenk gemacht in der Gestalt von Kaschmirschals, gekauft auf der Auktion einer bankrotten französischen Generalin, und zahlreichen Kostbarkeiten aus Juwelierläden, die alle den Geschmack und Reichtum ihres Bewunderers bekundeten. Ihre Wohnung war voll von dem Geräusch der »Ticktacks«, wie der arme Rawdon Uhren nannte. Eines Abends hatte sie zufällig erwähnt, daß ihre Uhr, ein Geschenk Rawdons, englisches Fabrikat sei und schlecht gehe. Schon am nächsten Morgen kam ein kleines Juwel Marke Leroy mit einer Kette und einem reizenden türkisbesetzten Deckel und eine andere, Marke Breguet, perlenbesetzt und kaum größer als ein Goldstück. General Tufto hatte die eine gekauft, und der galante Hauptmann Osborne die andere geschickt. Mrs. Osborne hatte keine Uhr, obgleich sie, um George Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nur hätte darum bitten müssen, und die ehrenwerte Mrs. Tufto in England hatte ein altes Monstrum von ihrer Mutter geerbt, das als die silberne Wärmflasche hätte dienen können, von der Rawdon gesprochen hatte. Sollte es der Firma Howell und James einmal einfallen, eine Liste aller ihrer Käufer von Schmucksachen zu veröffentlichen, dann wäre das Erstaunen vieler Familien groß; und würden alle diese Schmuckgegenstände zu den rechtmäßigen Frauen und Töchtern der Männer gelangen, welche Unmasse von Juwelen würde da in den vornehmsten Häusern auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit zu finden sein!

[428] Nachdem Mrs. Rebekka den Wert aller dieser Gegenstände so ziemlich genau berechnet hatte, stellte sie fest, nicht ohne ein prickelndes Gefühl von Triumph und Selbstzufriedenheit, daß sie, wenn es die Umstände erforderten, mindestens auf sechs- bis siebenhundert Pfund rechnen könne, um ihre Laufbahn in der Welt zu beginnen. So verbrachte sie den Morgen in der angenehmsten Weise mit dem Ordnen, Betrachten und Wegpacken ihres Besitzes. Unter den Papieren in Rawdons Brieftasche befand sich auch eine Anweisung von zwanzig Pfund auf Osbornes Bank. Das brachte ihr Osborne in Erinnerung. »Ich will gehen und den Wechsel einlösen«, sagte sie, »und nachher die arme kleine Emmy besuchen.«

Wenn dies ein Roman ohne Helden ist, so wollen wir wenigstens Anspruch auf eine Heldin erheben. Kein Mann in der ausmarschierenden britischen Armee, ja nicht einmal der große Herzog selbst, hätte Zweifeln oder Schwierigkeiten kaltblütiger oder gefaßter begegnen können als die unbezwingbare kleine Frau des Adjutanten.


Von unseren Bekannten war noch einer zurückgeblieben, ein Nichtkämpfer, dessen Gefühle und Benehmen kennenzulernen wir deshalb ein Recht haben. Es war unser Freund, der ehemalige Steuereinnehmer von Boggley Wollah, dessen Nachtruhe, wie die anderer Leute, in aller Frühe durch den Klang der Hörner gestört worden war. Da er ein großer Schläfer war und sein Bett liebte, so hätte er wahrscheinlich, allen Trommeln, Hörnern und Dudelsäcken der britischen Armee zum Trotz, bis zu seiner üblichen Zeit am Vormittag durchgeschnarcht, wenn es nicht eine Störung gegeben hätte, die nicht George Osborne verursachte, der mit Joseph das Quartier teilte. Der Hauptmann war nämlich wie gewöhnlich viel zu sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten oder mit dem Abschiedskummer seiner Frau beschäftigt, um auf den Gedanken zu kommen, von seinem schlummernden[429] Schwager Abschied zu nehmen. Es war also, wie gesagt, nicht George, der sich zwischen Joseph Sedley und den Schlaf drängte, sondern Hauptmann Dobbin, der kam und ihn aufrüttelte und ihm vor seinem Weggehen unbedingt noch die Hand schütteln wollte.

»Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Joe gähnend und wünschte den Hauptmann zum Teufel.

»Ich – ich wollte nicht gehen, ohne Ihnen Lebewohl zu sagen, wissen Sie«, sagte Dobbin etwas unzusammenhängend, »weil, wissen Sie, einige von uns kommen vielleicht nicht zurück, und ich möchte, daß es Ihnen allen gut geht, und – und allerlei so was, wissen Sie.«

»Was meinen Sie eigentlich?« fragte Joe und rieb sich die Augen.

Der Hauptmann hörte weder, noch sah er den dicken Herrn in der Nachtmütze, für den er so ein zärtliches Interesse zu hegen vorgab. Der Heuchler blickte und lauschte, so scharf er konnte, in die Richtung von Georges Zimmer, ging im Zimmer auf und ab, warf Stühle um, trommelte gegen die Scheiben, kaute an den Nägeln und gab allerlei Anzeichen einer großen inneren Erregung von sich.

Joseph hatte schon immer eine geringe Meinung von dem Hauptmann gehabt, und nun begann er an seinem Mut zu zweifeln. »Was kann ich für Sie tun, Dobbin?« fragte er sarkastisch.

»Ich will Ihnen sagen, was Sie tun können«, erwiderte der Hauptmann und trat an das Bett heran, »in einer Viertelstunde marschieren wir, Sedley, und vielleicht kommen weder George noch ich zurück. Vergessen Sie nicht, daß Sie diese Stadt nicht verlassen dürfen, bis Sie ganz sicher sind, wie die Dinge stehen. Sie müssen hierbleiben und Ihre Schwester schützen und sie trösten und dafür sorgen, daß ihr nichts zustößt. Denken Sie daran, wenn George etwas passiert, hat sie außer Ihnen niemanden auf der Welt. Erleidet die Armee eine Niederlage, dann müssen Sie dafür[430] sorgen, daß sie sicher nach England zurückkommt, und Sie müssen mir auf Ihr Ehrenwort versprechen, daß Sie sie niemals verlassen werden. Ich weiß, daß Sie das nicht tun, in Geldangelegenheiten waren Sie immer großzügig genug. Brauchen Sie welches? Ich meine, haben Sie genug, um im Falle eines Unglücks nach England zurückkehren zu können?«

»Sir«, sagte Joseph majestätisch, »wenn ich Geld brauche, so weiß ich, wo ich darum anzuklopfen habe. Und was meine Schwester betrifft, so brauchen Sie mir nicht zu erzählen, wie ich mich ihr gegenüber benehmen muß.«

»Sie sprechen wie ein Mann von Charakter, Joseph«, versetzte der andere gutmütig, »und ich freue mich, daß George sie in so guten Händen zurücklassen kann. So darf ich ihm also Ihr Ehrenwort geben, nicht wahr, daß Sie ihr im schlimmsten Fall beistehen werden?«

»Natürlich, natürlich«, erwiderte Joseph, dessen Großzügigkeit in Geldangelegenheiten Dobbin ganz richtig beurteilt hatte.

»Und Sie werden sie im Falle einer Niederlage sicher von Brüssel wegbringen?«

»Eine Niederlage! Verdammt, Sir, das ist unmöglich. Versuchen Sie doch nicht, mir Furcht einzuflößen«, rief der Held aus seinem Bett, und Dobbin war nun vollkommen beruhigt, als Joe sich so entschieden geäußert hatte, wie er sich seiner Schwester gegenüber verhalten wollte. So ist ihr Rückzug wenigstens gesichert, wenn das Schlimmste sich ereignen sollte, dachte der Hauptmann.

Wenn Hauptmann Dobbin erwartet hatte, vor dem Abmarsch des Regiments noch einmal Trost und Befriedigung in ihrem Anblick zu finden, so erhielt sein Egoismus die verdiente Strafe. Die Tür von Josephs Schlafzimmer führte in das gemeinsame Wohnzimmer, und gegenüber befand sich Amelias Tür. Die Hörner hatten alle aufgeweckt, es war also nutzlos, noch etwas zu verheimlichen. Georges Diener [431] packte in diesem Raum, und Osborne kam öfter aus dem anstoßenden Schlafzimmer, um dem Diener die Sachen zuzuwerfen, die er mit ins Feld nehmen wollte. Bald erhielt auch Dobbin die so heiß ersehnte Gelegenheit, Amelias Gesicht noch einmal zu sehen. Aber welch ein Gesicht! So weiß, so wild und so verzweifelt, daß ihn die Erinnerung daran später wie ein Verbrechen verfolgte, und der Anblick erfüllte ihn mit unaussprechlichen Qualen von Sehnsucht und Mitleid.

Sie war in ein weißes Morgenkleid gehüllt, ihr Haar fiel auf die Schultern herab, und ihre großen Augen waren starr und glanzlos. Um bei den Vorbereitungen zum Abmarsch nicht müßig zu sein und um zu zeigen, daß auch sie in einem so kritischen Augenblick sich nützlich machen könne, hatte die arme Seele eine von Georges Schärpen von der Kommode genommen. Mit dieser Schärpe in der Hand folgte sie ihm bald hierhin, bald dahin und sah stumm dem Packen zu. Sie kam heraus und lehnte sich an die Wand. Die Schärpe drückte sie an ihren Busen, so daß das schwere karmesinrote Netz wie ein riesiger Blutfleck herabhing. Ein Schuldgefühl durchschoß unseren sanftmütigen Hauptmann, als er sie so stehen sah. Guter Gott, dachte er, diesen Schmerz habe ich zu belauschen gewagt? Aber es gab keine Hilfe, kein Mittel, diesen hilflosen, stummen Kummer zu lindern. Er stand einen Augenblick da und sah sie an, ohnmächtig und mitleidzerrissen, wie ein Vater ein leidendes Kind ansieht.

Schließlich ergriff George Emmys Hand und führte sie in das Schlafzimmer zurück, aus dem er allein wieder heraustrat. In diesem kurzen Augenblick hatten sie Abschied genommen, und er hatte sich entfernt.

Dem Himmel sei Dank, daß es vorüber ist, dachte George, als er mit dem Degen unter dem Arm die Treppe hinunterstieg. Und während er zum Sammelplatz lief, wo das Regiment gemustert wurde und wohin Soldaten und Offiziere [432] aus ihren Quartieren eilten, schlug sein Puls heftig, und seine Wangen röteten sich: das große Kriegsspiel sollte nun beginnen, und er war einer der Mitspielenden! Welch fieberhafte Aufregung, bestehend aus Zweifeln, Hoffnungen und Freuden! Was für ein Wagnis um Verlust oder Gewinn! Was waren alle Glücksspiele seines Lebens im Vergleich mit diesem? An jedem Wettkampf, der Körpergewandtheit und Mut erforderte, hatte sich der junge Mann seit seinen Knabenjahren mit allen Kräften beteiligt. Er war der Champion der Schule und des Regiments, und überall folgten ihm die Hochrufe seiner Schulkameraden. Von dem Kricketspiel der Knaben bis zu den Garnisonswettrennen hatte er hundert Triumphe gefeiert. Wo er ging und stand, hatten Frauen und Männer ihn bewundert und beneidet. Welche menschlichen Eigenschaften werden so häufig mit Beifall belohnt wie körperliche Überlegenheit, Tatkraft und Mut? Seit undenklichen Zeiten sind Körperstärke und Mut Themen von Barden 1 und Liedern gewesen. Und seit der Sage von Troja bis auf diesen Tag hat die Poesie stets einen Krieger zum Helden erkoren. Ich möchte wohl wissen, ob die Menschen auf Grund einer heimlichen Feigheit die Tapferkeit so sehr bewundern und kriegerische Großtaten so viel höher einschätzen und besser lohnen als jede andere Eigenschaft.

George riß sich also bei den Tönen des erregenden Schlachtrufes aus den zarten Armen, in denen er getändelt hatte, nicht ohne ein Schamgefühl (obgleich seine Frau ihn nicht sehr stark gefesselt hatte), daß er sich so lange hatte darin zurückhalten lassen. Dasselbe Gefühl von Eifer und Aufregung hatten alle seine Freunde, die wir gelegentlich kennengelernt haben, angefangen von dem untersetzten Major, der das Regiment in den Kampf führte, bis zu dem kleinen Stubble, der als Fähnrich an diesem Tage die Regimentsfahne zu tragen hatte.

Die Sonne ging eben auf, als sie losmarschierten – es war [433] ein prachtvoller Anblick: voran die Musikkapellen mit dem Regimentsmarsch, dann der kommandierende Major auf seinem kräftigen Schlachtroß Pyramus, dann folgten die Grenadiere, mit ihrem Hauptmann an der Spitze. In der Mitte die Fahnen, getragen von den älteren und jüngeren Fähnrichen, George marschierte an der Spitze seiner Kompanie und blickte lächelnd zu Amelia auf. Dann war er vorüber, und auch die Musikklänge erstarben.

Fußnoten

1 im Mittelalter an irisch-keltischen Herrenhöfen auftretende Sänger und Dichter.

31. Kapitel
In dem Joseph Sedley die Schwester in seine Obhut nimmt

Da nun alle höheren Offiziere anderswo ihrer Dienstpflicht nachgingen, blieb Joseph Sedley als Oberbefehlshaber der kleinen Kolonie in Brüssel zurück. Seine Garnison bestand aus der leidenden Amelia, seinem belgischen Diener Isidor und der Zofe, die Mädchen für alles im Haushalt war. Obgleich Josephs Geist beunruhigt war und Dobbins Eindringen und die morgendlichen Vorfälle seine Nachtruhe gestört hatten, blieb er, sich schlaflos hin und her wälzend, doch noch ein paar Stunden bis zu seiner üblichen Aufstehzeit im Bett. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und unsere tapferen Freunde vom ...ten Regiment hatten auf ihrem Marsch bereits einige Meilen zurückgelegt, ehe der Zivilist in seinem geblümten Schlafrock beim Frühstück erschien.

Georges Abwesenheit bereitete seinem Schwager keinen Kummer. Vielleicht war Joe innerlich sogar froh darüber, daß Osborne fort war; denn solange George da war, hatte sein Schwager im Haus nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Osborne hatte nie mit seiner Verachtung gegenüber dem dicken Zivilisten hinter dem Berg gehalten. Emmy dagegen [434] war stets nett und aufmerksam zu ihm. Sie war es, die sich um seine Bequemlichkeit kümmerte, die die Zubereitung seiner Lieblingsgerichte überwachte, die mit ihm spazierenging oder -fuhr (wozu sie oft, allzuoft Gelegenheit hatte, denn wo war George?) und sich mit ihrem süßen, freundlichen Gesicht zwischen Josephs Zorn und ihres Mannes Verachtung stellte. Sie war bei George oft für ihren Bruder eingetreten. Ihr Mann aber fertigte diese Bitten immer schneidend kurz ab. »Ich bin ein ehrlicher Mann«, sagte er, »und nehme wie jeder ehrliche Mann nie ein Blatt vor den Mund. Wie, zum Teufel, kannst du von mir verlangen, meine Liebe, daß ich mich gegen einen Narren wie deinen Bruder achtungsvoll benehme?« Joe war also über Georges Abwesenheit wirklich erfreut. Der Anblick von Georges Hut und Handschuhen auf einem Seitentisch und der Gedanke, daß ihr Besitzer nicht mehr da war, bereiteten Joseph weiß der Himmel was für ein geheimes Vergnügen. Der mit seiner Stutzermiene und seiner Unverschämtheit wird mich jedenfalls heute morgen nicht ärgern, dachte Joseph.

»Bringen Sie den Hut des Hauptmanns ins Vorzimmer«, befahl er dem Diener Isidor.

»Vielleicht braucht er ihn nicht mehr«, erwiderte der Lakai und warf seinem Herrn einen schlauen Blick zu. Er konnte George auch nicht leiden, da die ser ihn stets mit echt englischer Anmaßung behandelt hatte.

»Und fragen Sie bitte, ob Madame zum Frühstück kommt«, sagte Mr. Sedley majestätisch, da er etwas beschämt war, sich mit einem Diener über das Thema seiner Abneigung gegen George unterhalten zu haben. Dabei hatte er aber schon einige dutzendmal vorher in Gegenwart des Bedienten auf seinen Schwager geschimpft.

Ach! Madame konnte nicht zum Frühstück kommen und die tartines 1 zurechtmachen, die Joseph so sehr liebte. Madame war viel zu krank und befand sich seit dem Abschied [435] von ihrem Mann in einem entsetzlichen Zustand, berichtete ihre Zofe. Joe bewies seine Sympathie, indem er eine große Tasse Tee für sie einschenkte. Das war so seine Art, seine Zuneigung zum Ausdruck zu bringen. Er ging sogar noch weiter, denn er schickte ihr nicht nur das Frühstück hinein, sondern zerbrach sich auch noch den Kopf darüber, welche Delikatessen sie wohl am liebsten zu Mittag essen würde.

Isidor, der Diener, hatte äußerst verdrießlich ausgesehen, als Osbornes Bursche das Gepäck seines Herrn vor dem Abmarsch in Ordnung brachte, denn einmal haßte er Mr. Osborne, der sich gegen ihn und alle Untergebenen in der Regel sehr hochfahrend benahm (denn auf dem Kontinent lassen sich die Dienstboten nicht so unverschämt behandeln wie unsere geduldigeren englischen Bedienten), und zum anderen ärgerte es ihn, daß so viele wertvollen Sachen aus seiner Reichweite gebracht wurden und anderen Leuten in die Hände fallen würden, wenn die Engländer besiegt wären. An dieser Niederlage zweifelte weder er noch viele andere Leute in Brüssel und Belgien auch nur im geringsten. Man glaubte allgemein, der Kaiser würde die preußische und die englische Armee trennen und beide nebeneinander vernichten und binnen drei Tagen in Brüssel einmarschieren. Dann würden seine jetzigen Herren getötet oder gefangengenommen werden oder flüchten, und ihre ganze bewegliche Habe würde von Rechts wegen Monsieur Isidor zufallen.

Während der treue Diener Joseph bei seiner mühsamen und komplizierten täglichen Toilette half, überlegte er, was er mit den Gegenständen anfangen würde, mit denen er im Augenblick die Person seines Herrn schmückte. Die silbernen Essenzfläschchen und den anderen Toilettentand würde er einer jungen Dame, die er liebte, schenken. Die englischen Messer dagegen und die große Rubinnadel wollte er selbst behalten. Die Nadel mußte sich auf einem der feinen Hemden mit Krause wunderschön ausnehmen. Zusammen mit der [436] goldbebänderten Mütze und dem bordierten Rock, den er leicht für sich ändern lassen könnte, des Hauptmanns Spazierstock mit dem goldenen Knauf und dem großen doppelten Rubinring, aus dem sich zwei prachtvolle Ohrringe fertigen ließen, würde das seiner Meinung nach aus ihm einen vollkommenen Adonis machen und Mademoiselle Reine eine leichte Beute werden. Wie gut mir diese Manschettenknöpfe stehen werden, dachte er, als er ein Paar an den dicken, schwammigen Handgelenken von Mr. Sedley befestigte. Ich sehne mich nach Manschettenknöpfen. Und corbleu 2, welches Aufsehen werden des Hauptmanns Stiefel nebenan mit den Messingsporen in der Allée-verte erregen! Während Monsieur Isidor mit seinen leibhaftigen Fingern die Nase seines Herrn hielt und Josephs untere Gesichtspartie rasierte, flog die Phantasie des Dieners der grünen Allee zu. Er sah sich schon im bordierten Rock mit Manschetten und Spitzen in Gesellschaft von Mademoiselle Reine. Im Geist schlenderte er am Kanal entlang und musterte die Barken, die im kühlen Schatten der Uferbäume langsam dahinfuhren, oder er erfrischte sich mit einem Krug Bier auf der Bank eines Gasthauses, unterwegs nach Laeken.

Aber zum Glück für Mr. Joseph Sedleys eigenen Frieden wußte er ebensowenig, was im Kopf seines Dieners vorging, wie der verehrte Leser und ich erraten können, was John oder Mary, die bei uns in Lohn und Brot stehen, von uns denken. Was unsere Dienst boten von uns denken! Wüßten wir, was unsere engsten Freunde und unsere lieben Verwandten von uns denken, so würden wir die Welt, in der wir leben, sehr gerne verlassen und befänden uns in einem Zustand ewigen Schreckens, der unerträglich wäre. Josephs Bedienter zeichnete also schon sein Opfer, wie man in der Leadenhall Street beobachten kann, wie ein Angestellter von Mr. Paynter eine ahnungslose Schildkröte mit einem Zettel ziert, worauf geschrieben steht: »Morgen zur Suppe«.

[437] Amelias Zofe war viel weniger selbstsüchtig gesinnt. Diesem freundlichen, sanften Geschöpf konnten nur wenige Untergebene nahekommen, ohne ihr einen Tribut an Ergebenheit und Anhänglichkeit für ihr nettes und liebevolles Wesen zu zahlen. Und tatsächlich tröstete Pauline, die Köchin, ihre Gebieterin mehr als sonst jemand, den sie an diesem unglückseligen Morgen sah, denn als das ehrliche Mädchen bemerkte, daß Amelia noch stundenlang, nachdem die Bajonette der abmarschierenden Truppen verschwunden waren, starr und stumm und verstört am Fenster saß, von dem sie ihnen nachgeblickt hatte, ergriff sie die Hand der Dame und sagte: »Tenez, Madame, est-ce qu'il n'est pas aussi à l'armée, mon homme à moi?« 3 Sie brach in Tränen aus, und Amelia fiel ihr, ebenfalls weinend, in die Arme, und sie bemitleideten und trösteten sich gegenseitig.

Mehrmals im Laufe des Vormittags ging Mr. Josephs Isidor in die Stadt zu den Türen der Hotels und Pensionen rund um den Park, wo die Engländer zusammengekommen waren. Dort mischte er sich unter die anderen Kammerdiener, Kuriere und Lakaien, sammelte alle Neuigkeiten, die in Umlauf waren, und hinterbrachte die Berichte seinem Herrn. Fast alle diese Ehrenmänner standen innerlich auf der Seite des Kaisers und hatten ihre eigenen Ansichten über die baldige Beendigung des Feldzuges. Die Proklamation des Kaisers aus Avesnes 4 war in Brüssel überall in großen Mengen verbreitet worden. »Soldaten«, hieß es darin, »es ist der Jahrestag von Marengo 5 und Friedland 6, an dem das Geschick Europas zweimal entschieden wurde. Damals, wie auch nach Austerlitz 7 und Wagram 8, waren wir zu großmütig. Wir glaubten an die Schwüre und Versprechungen von Fürsten, die wir auf ihrem Thron beließen. Laßt uns noch einmal gegen sie marschieren. Wir und sie – sind es nicht immer noch dieselben? Soldaten! Dieselben Preußen, die jetzt so anmaßend sind, standen uns bei Jena 9 in dreifacher Überzahl und in Montmirail sogar in sechsfacher gegenüber. Diejenigen [438] unter euch, die Gefangene in England waren, können ihren Kameraden erzählen, welchen fürchterlichen Quälereien sie auf den englischen Schiffen ausgesetzt waren. Die Wahnsinnigen! Ein Augenblick des Glücks hat sie verblendet, und wenn sie jemals in Frankreich einmarschieren, dann nur, um dort ihr Grab zu finden!«

Die Anhänger der Franzosen prophezeiten jedoch den Feinden des Kaisers ein noch schnelleres Ende, und man war sich einig, daß die Preußen und Briten nie zurückkommen würden, es sei denn als Gefangene im Gefolge der siegreichen Armee.

Diese Meinungen wurden im Laufe des Tages Mr. Sedley mitgeteilt, damit sie bei ihm ihre Wirkung tun könnten. Man erzählte ihm, der Herzog von Wellington hatte versucht, seine Armee wieder zu sammeln, da der Vormarsch in der vergangenen Nacht vereitelt worden sei.

»Vereitelt, pah!« sagte Joseph, der während des Frühstücks sehr mutig war. »Der Herzog wird den Kaiser schlagen, wie er zuvor alle seine Generale geschlagen hat.«

»Seine Papiere sind verbrannt, seine Sachen fortgeschafft, und sein Quartier wird für den Herzog von Dalmatien 10 hergerichtet«, erwiderte Josephs Berichterstatter. »Ich habe es von seinem eigenen maître d'hôtel 11. Die Leute vom Herzog von Richmond 12 packen schon alles ein. Seine Gnaden sind bereits geflohen, und die Herzogin wartet nur noch, bis das Silber verpackt ist, und geht dann nach Ostende zum König von Frankreich 13

»Der König von Frankreich ist in Gent, Kerl«, entgegnete Joseph mit einem Versuch, sich ungläubig zu stellen.

»Er ist in der letzten Nacht nach Brügge geflohen und schifft sich heute in Ostende ein. Der Herzog von Berry 14 ist gefangen. Wer sich in Sicherheit bringen will, sollte lieber bald gehen, denn morgen sollen die Deiche geöffnet werden – und wer kann dann noch fliehen, wenn das ganze Land überschwemmt ist?«

[439] »Unsinn, wir sind in dreifacher Überzahl gegen jede Macht, die Bony aufbringen kann«, wandte Mr. Sedley ein, »die Österreicher und Russen sind schon auf dem Marsch. Er muß, er wird besiegt werden«, sagte Joseph und schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Die Preußen waren auch in dreifacher Überzahl bei Jena, und doch vernichtete er ihre Armee und eroberte das Reich in einer Woche. Sie waren sechsmal soviel in Montmirail, und doch trieb er sie wie Schafe auseinander. Es stimmt schon, daß die österreichische Armee im Anzug ist, aber mit der Kaiserin 15 und dem König von Rom 16 an der Spitze. Und die Russen, pah! Die Russen werden sich zurückziehen. Den Engländern wird man kein Pardon geben, weil sie sich so grausam gegen unsere Tapferen auf den abscheulichen Schiffen aufgeführt haben. Schauen Sie her, hier steht es schwarz auf weiß. Das ist die Proklamation Seiner Majestät des Kaisers und Königs«, sagte Isidor, der sich jetzt offen als Anhänger Napoleons erklärte. Er zog das Dokument aus der Tasche und hielt es mit strenger Miene seinem Herrn vors Gesicht. Dabei blickte er auf den bordierten Rock und die Wertsachen als auf seine Kriegsbeute.

Joseph verspürte zwar noch keine ernste Furcht, war aber doch beträchtlich beunruhigt. »Geben Sie mir Rock und Mütze und folgen Sie mir«, sagte er. »Ich will selbst gehen und mich überzeugen, ob etwas Wahres an diesen Gerüchten ist.«

Isidor war wütend, als Joseph den bordierten Rock anzog. »Der gnädige Herr sollte den Soldatenrock lieber nicht tragen«, sagte er, »die Franzosen haben geschworen, keinem einzigen britischen Soldaten Pardon zu geben.«

»Halten Sie's Maul, Kerl!« sagte Joe, immer noch mit entschlossener Miene, und stieß mit unbezwingbarem Mut einen Arm in den Rockärmel. Bei dieser heroischen Tat wurde er von Mrs. Rawdon Crawley überrascht, die gerade in dem Augenblick, ohne an der Vorzimmertür zu läuten, eingetreten war, um Amelia zu besuchen.

[440] Rebekka war wie gewöhnlich ungemein nett und elegant gekleidet. Der ruhige Schlummer nach Rawdons Weggang hatte sie erfrischt, und der Anblick ihrer lächelnden rosigen Wangen in einer Stadt und an einem Tage, wo sich auf allen Gesichtern die größte Angst und Unruhe spiegelte, tat wohl. Sie lachte über die Stellung, in der sie Joe antraf, und über seine krampfhaften Bemühungen, sich in den bordierten Rock zu zwängen.

»Treffen Sie Anstalten, sich der Armee anzuschließen, Mr. Joseph?« fragte sie. »Bleibt denn niemand in Brüssel zurück, um uns arme Frauen zu schützen?«

Unterdessen war es Joe gelungen, sich in seinen Rock zu klemmen. Er trat auf seine hübsche Besucherin zu und stotterte tief errötend ein paar Entschuldigungen hervor. Wie sie sich denn nach den Ereignissen des Morgens und den Anstrengungen des Balls abends zuvor fühle? Monsieur Isidor verschwand mit dem geblümten Schlafrock im anstoßenden Schlafzimmer seines Herrn.

»Wie nett von Ihnen, sich danach zu erkundigen«, sagte sie und drückte seine Hand zwischen ihren beiden. »Wie kaltblütig und gefaßt sehen Sie doch aus, während alle anderen vor Angst umkommen! Wie geht es unserer lieben kleinen Emmy? Es muß ein schrecklicher, schrecklicher Abschied gewesen sein.«

»Ja, furchtbar«, sagte Joseph.

»Ihr Männer könnt doch alles ertragen«, erwiderte die Dame. »Trennung und Gefahren bedeuten euch nichts. Geben Sie nur zu, daß Sie beabsichtigt haben, sich der Armee anzuschließen und uns unserem Schicksal zu überlassen. Ich weiß, daß Sie das tun wollten, irgend etwas sagt es mir. Ich war so erschrocken, als mir der Gedanke kam (denn manchmal, wenn ich allein bin, denke ich an Sie, Mr. Joseph!). Ich bin gleich losgelaufen, um Sie zu bitten und anzuflehen, uns doch hier nicht im Stich zu lassen.«

Diese Worte muß man folgendermaßen auslegen: Mein [441] lieber Herr, Sie haben einen bequemen Wagen, und sollte der Armee etwas zustoßen und ein Rückzug würde notwendig, so beabsichtige ich, darin einen Platz zu belegen. Ich weiß zwar nicht, ob Joe die Worte so verstand. Er war nämlich tief gekränkt wegen der geringen Aufmerksamkeit, die die Dame ihm während ihres Aufenthalts in Brüssel gezollt hatte. Man hatte ihn keinem von Rawdon Crawleys bedeutenden Bekannten vorgestellt, und zu Rebekkas Gesellschaften war er kaum eingeladen worden, denn er war zu ängstlich, um hoch zu spielen, und seine Anwesenheit langweilte George und Rawdon. Keiner der beiden hatte gern einen Zeugen bei den Vergnügungen, denen sie frönten. Aha! dachte Joe, jetzt, wo sie mich braucht, kommt sie zu mir. Wenn sie niemanden weiter hat, dann fällt ihr der alte Joseph Sedley ein! Aber abgesehen von diesen Zweifeln fühlte er sich geschmeichelt durch Rebekkas Ansichten über seinen Mut.

Er errötete, setzte eine ungemein wichtige Miene auf. »Ich möchte das Gefecht gern sehen«, sagte er. »Jeder mutige Mann möchte das, wissen Sie. In Indien habe ich ein bißchen Krieg, aber keineswegs in solchem großen Ausmaß, kennengelernt.«

»Für ein Vergnügen opfert ihr alles«, erwiderte Rebekka. »Hauptmann Crawley hat mich heute morgen so fröhlich verlassen, als ob er zu einer Jagdpartie gehen würde. Was kümmert er sich schon darum! Was kümmert sich überhaupt einer von euch Männern um die Qualen und den Kummer einer armen verlassenen Frau!« (Ich möchte wirklich wissen, ob er sich aufraffen würde, sich den Truppen anzuschließen, dieser große träge Schlemmer.) »Oh, lieber Mr. Sedley, ich komme, um bei Ihnen Trost zu suchen und Beistand. Den ganzen Morgen habe ich auf den Knien gelegen. Ich zittere, wenn ich an die furchtbare Gefahr denke, in die unsere Ehemänner, Freunde, unsere tapferen Truppen und Alliierten sich stürzen. Und ich komme hierher, um Schutz zu suchen, und finde [442] einen meiner Freunde – den letzten, der mir geblieben ist – entschlossen, sich zu dem furchtbaren Kriegsschauplatz zu begeben!«

»Meine liebe gnädige Frau«, erwiderte Joe, der allmählich besänftigt wurde. »Haben Sie keine Angst. Ich sagte nur, daß ich gern dabeisein würde – und welcher Brite möchte das wohl nicht? Aber meine Pflicht hält mich hier zurück. Ich kann das arme Geschöpf nebenan nicht allein lassen.« Dabei deutete er mit dem Finger auf die Tür von Amelias Zimmer.

»Guter, edler Bruder!« sagte Rebekka und führte ihr Taschentuch an die Augen. Sie roch das Eau de Cologne, womit es parfümiert war. »Ich habe Ihnen unrecht getan: Sie haben ein Herz. Ich glaubte, Sie hätten keins.«

»Oh, bei meiner Ehre!« sagte Joseph und machte eine Bewegung, als wollte er die Hand auf die erwähnte Körperstelle legen. »Sie tun mir unrecht, ja, gewiß, das tun Sie – meine liebe Mrs. Crawley.«

»Ja, das stimmt, jetzt, wo Ihr Herz Ihrer Schwester so treu ist. Aber ich erinnere mich, vor zwei Jahren – als es so treulos mir gegenüber war!« sagte Rebekka, heftete ihre Augen eine Sekunde auf ihn und wandte sich dann zum Fenster.

Joe errötete heftig. Das Organ, das er nach Rebekkas Beschuldigung nicht hatte, fing an, heftig zu klopfen. Er rief sich die Tage ins Gedächtnis zurück, wo er ihr entflohen war, und die Leidenschaft, die ihn einst verzehrt hatte, die Tage, wo er sie in seinem Wagen spazierenfuhr und sie ihm die grüne Börse arbeitete – wo er entzückt dasaß und ihre weißen Arme und leuchtenden Augen angestarrt hatte.

»Ich weiß, Sie halten mich für undankbar«, fuhr Rebekka fort, nachdem sie vom Fenster zurückgekehrt war und ihn abermals ansah. Sie sprach leise und mit zitternder Stimme. »Ihre Kälte, Ihre abgewandten Blicke, Ihr Verhalten, wenn wir uns in der letzten Zeit trafen und auch eben, als ich eintrat, das alles bewies es mir. Aber hatte ich keine Gründe, [443] Sie zu meiden? Lassen Sie Ihr eigenes Herz diese Frage beantworten. Glauben Sie, mein Mann war sehr geneigt, Sie bei uns zu empfangen? Die einzigen unfreundlichen Worte, die ich je von ihm gehört habe (diese Gerechtigkeit muß ich Hauptmann Crawley widerfahren lassen), fielen Ihretwegen – und das waren sehr, sehr grausame Worte.«

»Gütiger Himmel! Was habe ich denn getan?« fragte Joe in einer Mischung von Freude und Verwirrung. »Was habe ich getan ... um ... um ...?«

»Ist Eifersucht nichts?« fragte Rebekka. »Er macht mir Ihretwegen die Hölle heiß. Aber was auch je geschehen sein mag – mein Herz gehört nur ihm. Ich bin doch unschuldig. Nicht wahr, Mr. Sedley?«

Josephs Blut geriet in freudige Wallung, als er dieses Opfer seiner Reize betrachtete. Ein paar geschickte Worte, einige verständnisinnige, zärtliche Blicke – und sein Herz stand wieder in Flammen, und seine Zweifel und sein Verdacht waren vergessen. Sind nicht seit Salomos Tagen schon weisere Männer als er von Frauen beschwatzt und betört worden? Kommt es zum Schlimmsten, dachte Becky, mein Rückzug ist jedenfalls gesichert, und der beste Platz im Wagen gehört mir.

Man kann nicht wissen, zu welchen Liebeserklärungen Mr. Joseph sich durch seine gewaltige Leidenschaft hätte hinreißen lassen, wäre nicht der Diener Isidor in diesem Augenblick wieder erschienen und hätte sich im Zimmer zu schaffen gemacht. Joe, der gerade im Begriff war, ein Geständnis hervorzukeuchen, erstickte fast an den Gefühlen, die er jetzt zurückdrängen mußte. Rebekka dachte nun auch, daß es an der Zeit sei, zu ihrer teuersten Amelia zu gehen und sie zu trösten. »Au revoir«, sagte sie und warf Mr. Joseph eine Kußhand zu. Dann klopfte sie leise an die Tür seiner Schwester. Als sie hineinging und die Tür hinter sich schloß, sank er in einen Stuhl und starrte, seufzte und keuchte furchtbar. »Dieser Rock ist dem gnädigen Herrn aber [444] sehr eng«, sagte Isidor, der die Augen nicht von den Borten wenden konnte. Aber sein Herr hörte ihn nicht, seine Gedanken waren anderswo. Bald erglühte er in wahnsinniger Raserei beim Gedanken an die bezaubernde Rebekka, bald schreckte er schuldbewußt zurück vor der Erscheinung des eifersüchtigen Rawdon Crawley mit dem gekräuselten grimmigen Schnurrbart und den furchtbaren, geladenen und gespannten Duellpistolen.

Beim Anblick Rebekkas fuhr Amelia erschrocken zurück. Das rief sie in die Welt zurück, und ihr kam wieder die Erinnerung an den vergangenen Abend. In der alles überschattenden Furcht vor dem Morgen hatte sie Rebekka, die Eifersucht, alles vergessen und dachte nur noch daran, daß ihr Mann fort war und in Gefahr schwebt. Wir haben dieses traurige Zimmer nicht betreten wollen, bis das unerschrockene Weltkind kam und mit dem Druck auf die Klinke den Zauber brach. Wie lange hatte die arme junge Frau auf den Knien gelegen! Welche Stunden stummen Gebets und bitterer Niedergeschlagenheit hatte sie da durchlebt! Kriegschronisten, die glänzende Geschichten vom Kampf und Triumph schreiben, berichten davon kaum. Dies sind zu unbedeutende Szenen in dem Schauspiel, und die Schreie der Witwen und das Schluchzen der Mütter gehen unter im Jubelruf des großen Siegeschores. Und doch, wann hat es diese Schreie nicht gegeben, wann haben nicht Frauen, gebrochenen Herzens, demütige Proteste ausgestoßen, die ungehört im Siegeslärm verhallten!

Nach Amelias erstem Schrecken, als Rebekka ihre grünen Augen auf sie richtete und in ihrem neuen rauschenden Seidenkleid und glänzenden Schmuck mit ausgebreiteten Armen auf sie zutrippelte, um sie zu umarmen, gewann ein Zorngefühl die Oberhand. Ihr Gesicht, vorher totenblaß, überzog sich purpurrot, und im nächsten Moment erwiderte sie Rebekkas Blick mit einer Festigkeit, die ihre Rivalin überraschte und irgendwie beschämte.

[445] »Liebste Amelia, dir geht es ganz und gar nicht gut«, sagte die Besucherin und streckte die Hand aus, um Amelias zu ergreifen. »Was ist mit dir? Ich fand keine Ruhe, bis ich wußte, wie es dir geht.«

Amelia zog ihre Hand zurück – noch nie in ihrem Leben hatte die sanfte Seele sich geweigert, eine nette oder liebevolle Geste zu glauben oder zu erwidern. Aber jetzt zog sie, am ganzen Körper bebend, ihre Hand zurück. »Warum bist ausgerechnet du hierhergekommen, Rebekka?« fragte sie und sah Rebekka noch immer mit großen, ernsten Augen an. Dieser Blick brachte ihre Besucherin etwas aus der Fassung.

Sie muß gesehen haben, wie er mir auf dem Ball den Brief zusteckte, dachte Rebekka. »Rege dich nicht auf, liebe Amelia«, sagte sie und blickte zu Boden. »Ich bin nur gekommen, um zu sehen, ob ich dir irgendwie ... ob du wohlauf bist.«

»Bist du es denn?« fragte Amelia. »Ich glaube schon, daß du es bist. Du liebst deinen Mann nicht. Du wärst nicht hier, wenn du ihn liebtest. Sag mir doch, Rebekka, hast du von mir je etwas anderes als Freundlichkeiten erfahren?«

»Nein, bestimmt nicht, Amelia«, erwiderte die andere, immer noch mit gesenktem Kopf.

»Wer war dir eine Freundin, als du noch ganz arm warst? War ich nicht wie eine Schwester zu dir? Du hast uns alle in glücklicheren Tagen gesehen, ehe er mich heiratete. Damals bedeutete ich alles für ihn, denn hätte er sonst sein Vermögen, seine Familie so edelmütig aufgegeben, um mich glücklich zu machen? Warum bist du zwischen meine Liebe und mich getreten? Wer hat dich geschickt, zu trennen, was Gott zusammengefügt hat, und mir das Herz meines Geliebten – meinen Mann zu stehlen? Glaubst du, du könntest ihn lieben wie ich? Seine Liebe bedeutet mir alles. Du hast es gewußt und wolltest sie mir stehlen. Pfui, Rebekka, du schlechtes, böses Geschöpf – falsche Freundin und falsche Ehefrau.«

[446] »Amelia, ich schwöre vor Gott, ich habe meinem Mann kein Unrecht getan«, sagte Rebekka und wandte sich ab.

»Hast du mir kein Unrecht getan, Rebekka? Es gelang dir nicht, aber du hast es versucht. Frage dein Herz, ob es stimmt.«

Sie weiß nichts, dachte Rebekka.

»Er ist zu mir zurückgekommen. Ich wußte, daß er das tun würde. Ich wußte, daß keine Lüge, keine Schmeichelei ihn mir lange entziehen konnte. Ich wußte, er würde zurückkommen. Gott hat mein Gebet erhört.«

Das arme Mädchen sprach diese Worte ohne Stocken, mit einem Mut, den Rebekka bei ihr nicht kannte. Sie war völlig sprachlos.

»Was habe ich dir denn getan«, fuhr Amelia in wehmütigerem Ton fort, »daß du versucht hast, ihn mir zu entreißen? Ich hatte ihn nur sechs Wochen. Die hättest du mir gönnen sollen, Rebekka. Und doch bist du vom ersten Tage unserer Ehe an gekommen, um sie zu zerstören. Bist du jetzt, wo er fort ist, gekommen, um zu sehen, wie unglücklich ich bin?« Sie fuhr fort: »Du hast mich in den letzten vierzehn Tagen elend genug gemacht. Heute wenigstens hättest du mich verschonen können.«

»Ich – ich bin nie hierhergekommen«, fiel Rebekka ein, was unglücklicherweise stimmte.

»Nein, du bist nicht hierhergekommen. Du hast ihn weggenommen. Bist du gekommen, um ihn von mir wegzuholen?« fuhr sie in wilderem Tone fort. »Er ist hiergewesen, aber jetzt ist er fort! Auf dem Sofa dort hat er gesessen. Berühre es nicht! Dort haben wir miteinander gesprochen. Ich saß auf seinen Knien, und meine Arme umschlangen seinen Hals, und wir beteten ein Vaterunser. Ja, er ist hiergewesen, und sie sind gekommen und haben ihn weggeholt, aber er hat mir versprochen, zurückzukommen.«

»Er wird zurückkommen, meine Liebe«, sagte Rebekka, wider Willen gerührt.

[447] »Sieh her«, fuhr Amelia fort, »das ist seine Schärpe – hat sie nicht eine hübsche Farbe?« Und sie nahm die Fransen und küßte sie. Sie hatte sich irgendwann am Vormittag die Schärpe um die Taille gebunden. Anscheinend hatte sie ihren Zorn, ihre Eifersucht, ja sogar die Gegenwart ihrer Rivalin vergessen; denn sie ging schweigend und mit der Andeutung eines Lächelns auf das Bett zu und begann Georges Kissen zu glätten.

Rebekka ging, ebenfalls schweigend, davon. »Wie geht es Amelia?« fragte Joe, der immer noch in derselben Stellung auf dem Stuhl saß.

»Es sollte jemand bei ihr sein«, sagte Rebekka. »Ich glaube, es geht ihr nicht gut.« Und Mrs. Crawley entfernte sich ernsten Gesichtes, ohne auf Mr. Sedleys dringende Bitten, sie solle dableiben und an dem frühen Essen, das er bestellt hatte, teilnehmen, einzugehen.


Rebekka war von Natur aus gutmütig und gefällig, und sie mochte Amelia ganz gern. Sogar deren harte Worte waren trotz aller Vorwürfe Komplimente für sie – es war das Stöhnen eines Menschen, der verwundet und besiegt war.

Im Park traf Rebekka Mrs. O'Dowd, die durch die Predigten des Dekans keineswegs getröstet worden war und nun verzweifelt umherlief. Sie redete die Majorin vertraulich an, und diese war ziemlich überrascht, da sie an Höflichkeitsbezeigungen von Mrs. Rawdon Crawley nicht gewöhnt war. Nachdem sie der gutmütigen Irin gesagt hatte, daß sich die arme kleine Mrs. Osborne in einem verzweifelten Zustand befände und fast wahnsinnig vor Schmerz sei, veranlaßte sie die die Majorin, geradewegs hinzugehen und zu versuchen, ob sie ihre junge Freundin nicht trösten könne.

»Ich habe selbst Sorgen genug«, sagte Mrs. O'Dowd ernst, »und ich dachte, die arme Amelia hätte heute kein großes Verlangen nach Gesellschaft. Wenn es aber so schlimm mit ihr steht, wie Sie sagen, und Sie nicht bei ihr bleiben können, [448] wo Sie sie doch so gern hatten, nun, so will ich sehen, ob ich nicht von Nutzen sein kann. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Madame.« Damit warf die Dame mit der Repetieruhr den Kopf in den Nacken und verabschiedete sich von Mrs. Crawley, um deren Gesellschaft sie sich keineswegs bemühte.

Becky verfolgte ihren Abgang mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie hatte viel Sinn für Humor, und der vernichtende Blick, den die abziehende Mrs. O'Dowd ihr über die Schulter zuwarf, stellte Mrs. Crawleys Ernst auf eine harte Probe.

Ganz zu Ihren Diensten, meine feine gnädige Frau. Es freut mich, Sie so lustig zu sehen, dachte Peggy. Auf jeden Fall sind nicht Sie es, die sich vor Kummer die Augen ausweint. Und damit marschierte sie los und fand schnell ihren Weg zu Mrs. Osbornes Wohnung.

Die arme Seele stand, fast wahnsinnig vor Schmerz, immer noch an dem Bett, wo Rebekka sie verlassen hatte. Die Majorin, eine weniger zartbesaitete Frau, versuchte nach besten Kräften, ihre junge Freundin zu trösten. »Sie müssen standhaft sein, liebe Amelia«, sagte sie freundlich, »denn er darf Sie nicht krank finden, wenn er Sie nach dem Siege holen läßt. Sie sind nicht die einzige Frau, deren Schicksal jetzt in Gottes Händen liegt.«

»Ich weiß das. Ich bin sehr gottlos, sehr schwach«, sagte Amelia. Sie kannte ihre eigene Schwäche gut genug. Die Anwesenheit der resoluteren Freundin hielt sie jedoch etwas zurück, und dieser Zwang und diese Gesellschaft taten ihr wohl. Bis zwei Uhr saßen sie so zusammen, und ihre Herzen waren bei der Truppe, die sich immer weiter entfernte. Schreckliche Zweifel und Ängste, Gebete, Befürchtungen und unaussprechlicher Kummer folgten dem Regiment. Das war der Tribut der Frauen an den Krieg. Der fordert seine Abgaben von Männern und Frauen gleichermaßen: von diesen das Blut, von jenen die Tränen.

Um halb drei Uhr geschah täglich ein Ereignis von Wichtigkeit [449] für Mr. Joseph: die Essenszeit nahte. Krieger mochten kämpfen und fallen – er mußte zu Mittag speisen. Er trat in Amelias Zimmer, um sie vielleicht überreden zu können, daran teilzunehmen. »Versuche es doch einmal«, sagte er, »die Suppe ist sehr gut. Bitte, versuche es, Emmy«, und er küßte ihre Hand. Außer an ihrem Hochzeitstag hatte er sich seit Jahren nicht so um sie bemüht.

»Du bist sehr gut und freundlich, Joseph«, sagte sie, »alle sind es, aber wenn du nichts dagegen hast, möchte ich heute in meinem Zimmer bleiben.«

Der Duft der Suppe war indessen Mrs. O'Dowd angenehm in die Nase gestiegen, und sie glaubte daher, sie würde Mr. Josephs Gesellschaft wohl aushalten können. So setzten sich die beiden zum Essen nieder. »Der Herr segne die Mahlzeit«, sagte die Majorin feierlich. Sie dachte an ihren ehrlichen Mick, der an der Spitze seines Regiments ritt. »Die armen Burschen bekommen heute ein schlechtes Mittagessen«, sagte sie mit einem Seufzer und ließ es sich dann als echter Lebensphilosoph schmecken.

Mit dem Essen belebte sich Josephs Geist. Er brachte die Gesundheit des Regiments aus oder benutzte auch jeden anderen Vorwand, ein Glas Champagner hinunterstürzen zu können. »Wir wollen auf das Wohl O'Dowds und des tapferen ...ten Regiments trinken«, sagte er mit galanter Verbeugung zu seinem Gast. »Ja, Mrs. O'Dowd! Füllen Sie bitte Mrs. O'Dowds Glas, Isidor.«

Aber plötzlich fuhr Isidor zusammen, und die Majorin legte Messer und Gabel hin. Die Fenster standen offen. Sie gingen nach Süden, und aus dieser Richtung über die sonnenbeschienenen Dächer erscholl ein dumpfes, fernes Dröhnen.

»Was ist los?« fragte Joseph. »Warum schenken Sie nicht ein, Sie Schurke?«

»C'est le feu« 17, erwiderte Isidor und stürzte auf den Balkon.

»Gott schütze uns. Es sind die Kanonen!« rief Mrs. O'Dowd erschrocken und eilte ebenfalls zum Fenster. Tausend blasse [450] und ängstliche Gesichter hätte man an anderen Fenstern erblicken können, und bald schien es, als ob die gesamte Bevölkerung der Stadt auf die Straße stürzte.

Fußnoten

1 (franz.) belegte Brote.

2 (franz.) alle Wetter!

3 (franz.) Sehen Sie, Madame, mein Mann ist doch auch bei der Armee!

4 Stadt im Nordwesten Frankreichs, nahe der belgischen Grenze.

5 Dorf in der oberitalienischen Provinz Alessandria. In der Schlacht bei Marengo am 14. 6. 1800 errang Napoleon einen entscheidenden Sieg über die Österreicher.

6 Stadt in Ostpreußen. In der Schlacht bei Friedland am 14. 6. 1807 besiegten die verbündeten Armeen der Preußen und Russen Napoleon.

7 Stadt in Südmähren. In der Schlacht bei Austerlitz (1805) schlug Napoleon die verbündeten Armeen der Russen und Österreicher.

8 Dorf in Niederösterreich. In der Schlacht bei Wagram (1809) besiegten die Franzosen die Österreicher.

9 In der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt (1806) wurde die preußisch-sächsische Armee von den Franzosen entscheidend geschlagen.

10 Nicolas-Jean Soult, Herzog von Dalmatien (1769-1851), französischer Marschall, Kriegsminister unter Ludwig XVIII.; schloß sich 1815 Napoleon an, wurde sein Generalstabschef und nahm an der Schlacht bei Waterloo teil.

11 (franz.) Haushofmeister.

12 Charles Lennox, vierter Herzog von Richmond und Lennox (1764-1819), englischer General; gehörte zu Wellingtons Stab in der Schlacht bei Waterloo.

13 Gemeint ist Ludwig XVIII. (1755-1824), König von Frankreich 1814/15 und von 1815 bis 1824; zog sich bei Napoleons Landung in Cannes (1815) nach Gent zurück.

14 Charles-Ferdinand Herzog von Berry (1778 bis 1820); floh 1789 aus Frankreich; war einer der führenden Emigranten; kämpfte als Anhänger der Bourbonen gegen die Revolution und gegen Napoleon.

15 Gemeint ist die österreichische Erzherzogin Marie Louise (1791-1841), Tochter Kaiser Franz' II. von Österreich, mit der Napoleon in zweiter Ehe verheiratet war.

16 Gemeint ist Napoleon II. (1811-1832), der Sohn Napoleons I. und der Erzherzogin Marie Louise (s. vorhergehende Anm.), der nach seiner Geburt zum König von Rom ausgerufen wurde.

17 (franz.) Es wird geschossen.

32. Kapitel
In dem Joseph die Flucht ergreift und der Krieg zu Ende geht

Wir friedlichen Bewohner Londons haben nie solch eine Szene von Hast und Verwirrung erblickt wie die, die sich in Brüssel abspielte, und werden es, will's Gott, auch nie erleben. Die Menge eilte zum Namure-Tor, denn aus dieser Richtung kam der Schall, und viele fuhren auf die ebene Chaussee hinaus, um noch schneller Nachrichten von der Armee zu bekommen. Jeder fragte seinen Nachbarn nach Neuigkeiten, und selbst vornehme englische Lords und Ladys ließen sich herab, mit Leuten zu sprechen, die sie gar nicht kannten. Die Franzosenfreunde liefen in wilder Aufregung umher und prophezeiten den Triumph ihres Kaisers. Die Kaufleute schlossen ihre Läden und traten auf die Straße, um den allgemeinen Chor von Aufregung und Lärm zu verstärken. Frauen stürzten zu den Kirchen, füllten die Kapellen und knieten betend auf Fußböden und Stufen. Das dumpfe Donnern der Kanonen dröhnte und dröhnte; bald begannen Wagen mit Reisenden die Stadt durch den Genter Schlagbaum zu verlassen. Die Prophezeiungen der Parteigänger Frankreichs nahm man als Tatsachen auf. »Er hat einen Keil in die Armee getrieben«, hieß es. »Er marschiert geradewegs auf Brüssel los. Er wird die Engländer überwältigen und heute abend hiersein.« – »Er wird die Engländer überwältigen«, schrie Isidor seinem Herrn zu, »und heute abend hiersein.« Der Kammerdiener sprang zwischen Haus und Straße hin und her und brachte jedesmal neue [451] Einzelheiten des Unheils mit. Josephs Gesicht wurde bleicher und bleicher. Der Schrecken begann von dem dicken Zivilisten Besitz zu ergreifen. All der Champagner, den er trank, war nicht imstande, ihm Mut einzuflößen. Ehe die Sonne unterging, hatte er sich in eine schreckliche Angst hineingesteigert, und sein Freund Isidor beobachtete ihn entzückt, da er jetzt sicher auf Beute aus den Besitztümern des Herrn mit dem bordierten Rock rechnete.

Die Frauen waren die ganze Zeit über unsichtbar gewesen. Nachdem die wackere Majorin einen Augenblick dem Schießen gelauscht hatte, dachte sie an ihre Freundin nebenan, und sie eilte hinüber, um auf Amelia aufzupassen und sie, wenn möglich, zu trösten. Der Gedanke, daß sie das hilflose, sanfte Geschöpf beschützen mußte, erhöhte noch die Kraft der von Natur aus mutigen Irin. Sie blieb fünf Stunden lang an der Seite ihrer Freundin, ermahnte sie hin und wieder, plauderte zuweilen munter, aber den größten Teil der Zeit über schwiegen sie und beteten stumm. »Ich habe ihre Hand erst losgelassen«, erzählte die wackere Dame später, »als nach Sonnenuntergang das Schießen vorüber war.« Pauline, die Zofe, lag in einer nahen Kirche auf den Knien und betete für son homme à elle 1.

Als das Geräusch der Kanonen verstummt war, ging Mrs. O'Dowd aus Amelias Raum nach nebenan ins Wohnzimmer, wo Joseph völlig mutlos bei zwei leeren Flaschen saß. Ein paarmal war er in Amelias Zimmer aufgetaucht, in großer Unruhe, als wollte er etwas sagen. Aber die Majorin war nicht von ihrem Platz gewichen, und er ging wieder hinaus, ohne sein Herz erleichtert zu haben. Er schämte sich, ihr zu erklären, daß er fliehen wolle.

Als sie aber in der Dämmerung im Speisezimmer erschien, wo er in der trostlosen Gesellschaft seiner leeren Champagnerflaschen saß, begann er ihr sein Herz auszuschütten.

»Mrs. O'Dowd«, sagte er, »wäre es nicht besser, Sie forderten Amelia auf, sich fertigzumachen?«

[452] »Wollen Sie mit ihr spazierengehen?« entgegnete die Majorin. »Dafür ist sie wahrscheinlich zu schwach.«

»Ich – ich habe den Wagen bestellt«, sagte er, »und – und Postpferde; Isidor holt sie«, fuhr er fort.

»Wozu wollen Sie denn heute abend noch ausfahren?« fragte die Dame. »Meinen Sie nicht, daß Amelia sich im Bett wohler fühlt? Ich habe sie eben dazu gebracht, sich hinzulegen.«

»Sagen Sie ihr, sie soll aufstehen«, forderte Joseph, »sie muß aufstehen«, und er stampfte energisch mit dem Fuß. »Ich sagte bereits, die Pferde sind schon bestellt, ja, die Pferde sind bestellt. Es ist alles aus, und ...«

»Und was?« fragte Mrs. O'Dowd.

»Ich gehe nach Gent«, antwortete Joseph, »alle machen, daß sie fortkommen. Ich habe auch einen Platz für Sie; in einer halben Stunde fahren wir los.«

Die Majorin sah ihn mit unendlicher Verachtung an. »Ich rühre mich erst, wenn mir O'Dowd den Marschbefehl gibt«, sagte sie. »Sie können ja gehen, wenn Sie wollen, Mr. Sedley, aber bei meiner Ehre, Amelia und ich bleiben hier.«

»Sie muß weg«, sagte Joseph und stampfte wieder mit dem Fuß. Mrs. O'Dowd stemmte die Arme in die Hüfte und stellte sich vor die Schlafzimmertür. »Ist es, weil Sie sie zu ihrer Mutter bringen wollen?« fragte sie. »Oder wollen Sie selbst zur Mama, Mr. Sedley? Guten Morgen, angenehme Reise, mein Herr; bon voyage, wie man hier sagt, und folgen Sie meinem Rat und rasieren Sie sich den Schnurrbart da ab, der könnte Sie noch ins Unglück stürzen.«

»Verdammt!« brüllte Joseph, halb wahnsinnig vor Furcht, Wut und Demütigung, und in diesem Augen blick kam Isidor herein, und nun war er mit Fluchen an der Reihe. »Pas de chevaux, sacrebleu!« 2 zischte der wütende Diener. Alle Pferde waren weg. Joseph war an jenem Tag in Brüssel nicht der einzige, der von Panik ergriffen war.

Aber noch vor Ende der Nacht sollte Josephs ohnehin [453] schon große und grausame Angst sich fast zur Raserei steigern. Wir haben erwähnt, daß Pauline, die Zofe, ihren homme à elle ebenfalls in den Reihen der Armee hatte, die ausgezogen war, um Kaiser Napoleon entgegenzutreten. Dieser Geliebte war Brüsseler und belgischer Husar. Die Truppen seiner Nation zeichneten sich in diesem Kriege durch alles andere als Mut aus, und der junge Van Cutsum, Paulines Liebhaber, war ein zu guter Soldat, um dem Befehl seines Obersten davonzulaufen, nicht zu gehorchen. Solange der junge Regulus (er war in der Revolutionszeit geboren) in Brüssel in Garnison lag, hatte er in Paulines Küche Trost gefunden und dort fast alle seine Freizeit zugebracht. Als er vor wenigen Tagen ins Feld rücken mußte und von seiner weinenden Geliebten Abschied nahm, hatte sie ihm Taschen und Halfter mit allerlei guten Sachen aus ihrer Speisekammer vollgepackt.

Soweit es sein Regiment betraf, war der Feldzug nun vorüber. Es gehörte zu der Division, die der rechtmäßige Herrscher, der Prinz von Oranien, kommandierte. Nach der Länge der Säbel und Schnurrbärte und der Pracht der Uniformen und Ausrüstung zu urteilen, waren Regulus und seine Kameraden eine so tapfere Truppe, wie nur je eine von der Trompete zum Angriff gerufen wurde.

Als Ney sich auf die Vorhut der alliierten Truppen stürzte und diesen eine Stellung nach der anderen entriß, bis die Ankunft des Hauptkörpers der britischen Armee aus Brüssel die Aussichten des Kampfes bei Quatre-Bras änderte, hatten die Schwadronen, zu denen Regulus gehörte, die größte Tapferkeit im Rückzug vor den Franzosen bewiesen und sich bereitwillig von einer Stellung zur anderen zurücktreiben lassen. Ihre Bewegungen waren erst von dem Anmarsch der Engländer hinter ihnen aufgehalten worden. Da sie nun auf diese Weise zum Stillstand gezwungen waren, hatte endlich die feindliche Kavallerie (deren blutdürstige Hartnäckigkeit nicht scharf genug getadelt werden kann) Gelegenheit, [454] mit den braven Belgiern vor ihnen zusammenzutreffen. Die zogen jedoch ein Treffen mit den Engländern einem mit den Franzosen vor, machten kehrt, ritten durch die hinter ihnen kommenden englischen Regimenter und zerstreuten sich in alle Richtungen. Das Regiment hatte zu existieren aufgehört. Es war nirgends. Es hatte kein Hauptquartier. Regulus fand sich plötzlich vollkommen allein, meilenweit vom Schlachtfeld entfernt, und wo konnte er anders Zuflucht suchen, als in der Küche und den treuen Armen, wo ihn Pauline so oft willkommen geheißen hatte!

Gegen zehn Uhr konnte man das Klappern eines Säbels auf der Treppe des Hauses, in dem die Osbornes nach kontinentaler Sitte ein Stockwerk bewohnten, hören. Man konnte ein Klopfen an der Küchentür vernehmen, und die arme Pauline, die gerade erst aus der Kirche zurückgekehrt war, fiel vor Schreck fast in Ohnmacht, als sie beim Öffnen ihren erschöpften Husaren erblickte. Er sah so totenbleich aus, wie jener mitternächtliche Reiter, der Lenore aufstörte 3. Pauline hätte geschrien, wenn sie damit nicht ihre Herrschaft herbeigerufen und ihren Geliebten verraten hätte. Sie erstickte daher ihren Aufschrei, führte ihren Helden in die Küche und gab ihm Bier und die erlesenen Bissen vom Mittagessen, die Joseph aus Angst nicht hatte anrühren können. Der Husar bewies durch die ungeheuren Mengen von Fleisch und Bier, die er verschlang, daß er kein Geist war. Zwischendurch erzählte er seine Unglücksgeschichte.

Sein Regiment hatte Wunder an Tapferkeit vollbracht und eine Zeitlang dem Angriff des gesamten französischen Heeres standgehalten. Es war aber endlich überwältigt worden, wie inzwischen die ganze britische Armee. Ney hatte jedes Regiment, wie es ankam, vernichtet. Umsonst hatten sich die Belgier bemüht, die Engländer vor dem Abschlachten zu bewahren. Die Braunschweiger waren besiegt und geflohen, ihr Herzog getötet. Es war ein allgemeines débâcle 4; [455] er versuchte, seinen Kummer über die Niederlage in Strömen von Bier zu ertränken.

Isidor, der in die Küche gekommen war, hörte das Gespräch und eilte hinaus, um es seinem Herrn mitzuteilen. »Es ist alles aus!« schrie er Joseph zu, »Mylord der Herzog ist gefangen, der Herzog von Braunschweig getötet, die britische Armee in wilder Flucht, nur ein Mann ist davongekommen, und der sitzt jetzt in der Küche – kommen Sie und hören Sie ihn an.« Joseph schwankte also in die Küche, wo Regulus auf dem Tisch saß und seine Bierflasche festhielt. In seinem besten Französisch, das aber leider doch ziemlich ungrammatisch war, beschwor Joseph den Husaren, seine Geschichte zu erzählen. Je mehr Regulus berichtete, desto schlimmer wurde das Unglück. Er war der einzige Mann aus seinem Regiment, der nicht auf dem Schlachtfeld erschlagen worden war. Er hatte gesehen, wie der Herzog von Braunschweig fiel, die schwarzen Husaren flohen und die Schotten von den Kanonen niedergemäht wurden.

»Und das ...te Regiment?« keuchte Joseph.

»In Stücke gehauen«, antwortete der Husar – worauf Pauline rief: »Oh, meine Herrin, ma bonne petite dame! 5« und das Haus mit ihrem hysterischen Geschrei erfüllte.


Mr. Sedley wußte in wildem Entsetzen nicht, wie oder wo er Sicherheit finden konnte. Er stürzte von der Küche ins Wohnzimmer und warf einen flehenden Blick auf Amelias Tür, die Mrs. O'Dowd ihm vor der Nase zugemacht und verschlossen hatte. Er verweilte einen Augenblick lauschend an der Tür, da ihm aber einfiel, wie verächtlich ihn die Majorin behandelt hatte, trat er zurück und beschloß, zum erstenmal an jenem Tag auf die Straße zu gehen. Er ergriff eine Kerze und sah sich nach seiner goldbebänderten Mütze um. Er fand sie auf ihrem gewöhnlichen Platz auf einer Spiegelkonsole im Vorzimmer liegen. Dort pflegte Joseph sonst sich zu drehen und zu wenden, seine Schläfenlocken zurechtzulegen [456] und seine Mütze schief aufzusetzen, ehe er sich in der Öffentlichkeit zeigte. So stark ist die Macht der Gewohnheit, daß er sogar jetzt in seiner entsetzlichen Angst mechanisch an seinem Haar zupfte und seine Mütze schief aufsetzte; dann blickte er bestürzt auf das blasse Gesicht im Spiegel und besonders auf seinen Schnurrbart, der in den sieben Wochen, die er auf der Welt war, ein stattliches Wachstum entwickelt hatte. Sie werden mich ganz bestimmt für einen Militär halten, überlegte er und dachte an Isidors Warnung bezüglich des Gemetzels, das die besiegte britische Armee erwartete. Er schwankte in sein Schlafzimmer zurück und fing an, wie toll an der Klingel zu reißen, um seinen Diener zu rufen.

Isidor erschien. Joseph war in einen Stuhl gesunken, hatte sein Halstuch abgerissen, den Kragen heruntergeklappt und saß da, mit beiden Händen an der Kehle. »Coupez-moi, Isidor«, schrie er, »vite! Coupez-moi!« 6 Isidor glaubte einen Augenblick, er sei wahnsinnig geworden und fordere ihn auf, ihm den Hals abzuschneiden.

»Les moustaches«, ächzte Joseph, »les moustaches, couper, raser, vite!« 7 So war sein Französisch: fließend, wie wir gesagt haben, aber grammatisch nicht besonders korrekt.

Isidor fegte den Schnurrbart im Nu mit dem Rasiermesser hinweg und vernahm mit unaussprechlichem Entzücken den Befehl seines Herrn, einen Hut und einen Zivilrock zu bringen. »Ne porter plus – habit militaire – bonnet – donner à vous, prenez dehors« 8, waren Josephs Worte; Rock und Mütze waren endlich sein Eigentum.

Nachdem Joseph dies Geschenk gemacht hatte, suchte er aus seinem Vorrat einen einfachen schwarzen Rock mit Weste, ein großes weißes Halstuch und einen einfachen Filzhut heraus. Wenn er einen breitkrempigen Hut hätte auftreiben können, er hätte sogar diesen getragen. Aber auch so schon hätte man ihn für einen stattlichen Geistlichen der englischen Kirche halten können.

[457] »Venez maintenant«, fuhr er fort, »suivez – allez – partez – dans la rue.« 9 Hiermit stürzte er schnell die Treppe hinab und eilte auf die Straße.

Obwohl Regulus behauptet hatte, er sei fast der einzige Mann seines Regimentes oder gar des alliierten Heeres, den Ney nicht in Stücke gehauen hatte, so erwies sich seine Angabe doch als ungenau, und es stellte sich heraus, daß eine ganze Anzahl von den angeblichen Schlachtopfern das Gemetzel überlebt hatte. Viele Dutzende von Regulus' Kameraden hatten nach Brüssel zurückgefunden und durch ihr einmütiges Geständnis, sie seien davongelaufen, die ganze Stadt zum Glauben an die Niederlage der Alliierten gebracht. Man erwartete stündlich die Ankunft der Franzosen; die Panik wurde immer größer, und überall traf man Vorbereitungen zur Flucht. Keine Pferde! dachte Joseph entsetzt. Er schickte Isidor zu unzähligen Leuten, um zu erfahren, ob sie welche zu verleihen oder zu verkaufen hätten, und sein Herz sank immer tiefer, je mehr verneinende Antworten er erhielt. Sollte er die Reise zu Fuß machen? Nicht einmal die Angst vermochte es, diesen schwerfälligen Körper in Bewegung zu setzen.

Fast alle von Engländern in Brüssel bewohnten Hotels lagen gegenüber dem Park, und Joseph wanderte zusammen mit vielen anderen, die ebenso von Furcht und Neugier befallen waren, in dieser Gegend umher. Er sah, daß einige Familien glücklicher gewesen waren als er, Pferde aufgetrieben hatten und nun in wilder Flucht durch die Straßen davonrasselten; andere dagegen befanden sich in gleicher Verlegenheit wie er und konnten weder durch Geld noch gute Worte die notwendigen Fluchtmittel auftreiben. Unter diesen, die gern fliehen wollten, bemerkte Joseph Lady Bareacres und ihre Tochter im porte cochère 10 ihres Hotels in ihrem Wagen. Alle Koffer waren gepackt, und der einzige Hinderungsgrund für ihre Flucht war wie bei Joseph das Fehlen der bewegenden Kraft.

[458] In diesem Hotel wohnte auch Rebekka Crawley. In der jüngsten Vergangenheit hatte sie mehrmals feindliche Begegnungen mit den Damen der Familie Bareacres gehabt. Lady Bareacres grüßte Mrs. Crawley nicht, wenn sie sich zufällig auf der Treppe trafen, und sie erzählte überall, wo der Name ihrer Nachbarin erwähnt wurde, beharrlich nur Schlechtes von ihr. Die Gräfin war entsetzt über die Vertraulichkeit zwischen General Tufto und der Frau seines Adjutanten. Lady Blanche mied sie wie eine ansteckende Krankheit. Nur Lord Bareacres selbst pflegte heimlich Umgang mit ihr, wenn er sich nicht unter der Aufsicht seiner Damen befand.

Rebekka konnte sich jetzt an ihren unverschämten Feindinnen rächen. Es wurde im Hotel bekannt, daß Hauptmann Crawley seine Pferde zurückgelassen hatte. Als daher die Panik begann, ließ sich Lady Bareacres herab, ihr Kammermädchen mit Empfehlungen zu Mrs. Crawley zu schicken und sie nach dem Preis ihrer Pferde zu fragen. Mrs. Crawley schickte ein Billett zurück, worin sie sich empfahl und zu verstehen gab, daß sie nicht gewohnt sei, mit Kammerjungfern Geschäfte abzuschließen.

Diese kurze Antwort brachte den Grafen höchstpersönlich in Rebekkas Zimmer; er hatte jedoch nicht mehr Erfolg als die erste Abgesandte.

»Mir eine Kammerjungfer zu schicken!« rief Mrs. Crawley sehr erzürnt, »warum verlangte Lady Bareacres nicht auch, daß ich ihr die Pferde satteln sollte? Ist sie es, die fliehen will, oder ihre Kammerjungfer?« Das war die ganze Antwort, die der Graf seiner Gemahlin brachte.

Was lehrt die Not aber nicht alles! Nach dem Mißerfolg ihres zweiten Abgesandten machte die Gräfin tatsächlich selbst ihre Aufwartung bei Mrs. Crawley. Sie bat sie, irgendeinen Preis zu nennen, und erbot sich sogar, Becky nach Haus Bareacres einzuladen, wenn die junge Frau ihr nur ermöglichte, dorthin zurückzukehren. Mrs. Crawleys Antwort war ganz Hohn.

[459] »Ich will mir nicht von Gerichtsdienern in Livree aufwarten lassen, obgleich Sie höchstwahrscheinlich nicht zurückgelangen werden, wenigstens nicht Sie zusammen mit Ihren Diamanten. Die werden die Franzosen schon bekommen. In zwei Stunden sind sie hier, und ich habe dann schon die halbe Strecke nach Gent hinter mir. Ich werde Ihnen meine Pferde um keinen Preis verkaufen, nein, nicht einmal für die zwei größten Diamanten, die Euer Gnaden auf dem Ball getragen haben.« Lady Bareacres zitterte vor Wut und Schrecken. Die Diamanten waren in ihr Kleid eingenäht und in der Wattierung und den Stiefeln des gnädigen Herrn versteckt. »Weib, die Diamanten sind in der Bank, und ich will und will die Pferde haben«, rief sie. Rebekka lachte ihr ins Gesicht. Die wütende Gräfin ging hinunter und setzte sich in die Kutsche. Das Kammermädchen, den Diener und ihren Gatten schickte sie noch einmal in die Stadt nach Pferden, und wehe dem, der zuletzt zurückkam! Die Lady war entschlossen sofort abzureisen, wenn die Pferde von irgendwoher ankommen würden, mit ihrem Mann oder ohne ihn.

Rebekka hatte das Vergnügen, Lady Bareacres in dem unbespannten Wagen sitzen zu sehen. Sie behielt sie ständig im Auge und bejammerte so laut sie konnte die Verlegenheit der Gräfin. »Keine Pferde zu bekommen!« rief sie, »und alle Diamanten in den Wagenkissen eingenäht! Was für eine Beute für die Franzosen, wenn sie kommen! Ich meine die Kutsche und die Diamanten, nicht die Dame!« Sie erzählte das dem Wirt, den Dienern, den Gästen und den zahllosen Müßiggängern im Hof. Lady Bareacres hätte sie am liebsten vom Wagenfenster aus abgeschossen.

Während sie sich noch an der Demütigung ihrer Feindin labte, erblickte Rebekka Joseph, der geradewegs auf sie zueilte.

Sein verändertes, schreckensbleiches, dickes Gesicht verriet sein Geheimnis deutlich. Auch er wollte fliehen und sah [460] sich nach den Fluchtmitteln um. »Der soll meine Pferde kaufen, dachte Rebekka, und ich werde die Stute reiten.«

Joseph trat zu seiner Freundin und stellte die in der letzten Stunde wohl hundertmal wiederholte Frage, ob sie wisse, wo man Pferde bekommen könne.

»Was, Sie fliehen?« lachte Rebekka. »Ich dachte, Sie seien der Beschützer aller Damen, Mr. Sedley.«

»Ich – ich bin kein Soldat«, keuchte er.

»Und Amelia? Wer soll Ihr armes Schwesterchen beschützen?« fragte Rebekka. »Sie wollen sie doch nicht etwas verlassen?«

»Was kann ich ihr nützen, wenn – wenn der Feind kommt«, erwiderte Joseph. »Die Frauen werden sie verschonen, aber mein Diener hat mir erzählt, sie hätten geschworen, keinem Mann Pardon zu geben – die elenden Feiglinge.«

»Entsetzlich!« rief Rebekka und weidete sich an seiner Verlegenheit.

»Übrigens will ich sie ja gar nicht verlassen«, schrie der Bruder, »sie soll nicht zurückbleiben. Ich habe einen Platz für Amelia in meinem Wagen, und auch einen für Sie, liebe Mrs. Crawley, wenn Sie mitkommen wollen – und falls wir Pferde auftreiben«, setzte er seufzend hinzu.

»Ich habe zwei zu verkaufen«, sagte die Dame. Joseph hätte sie bei dieser Nachricht umarmen mögen. »Hol den Wagen, Isidor«, rief er. »Wir haben welche – wir haben welche.«

»Meine Pferde sind noch nie im Geschirr gegangen«, fügte Mrs. Crawley hinzu, »Dompfaff würde den Wagen in Stücke schlagen, wenn Sie ihn einspannen wollten.«

»Er läßt sich aber ruhig reiten?« fragte der Zivilist.

»Ruhig wie ein Lamm und schnell wie ein Hase«, antwortete die Dame.

»Glauben Sie, daß er mein Gewicht aushält?« fragte Joseph.

Er saß in Gedanken schon auf dem Pferde, ohne auch nur [461] einen Augenblick an die arme Amelia zu denken. Welcher Mensch, der Pferdegeschäfte liebt, könnte auch einer solchen Versuchung widerstehen?

Rebekka antwortete nicht, sondern bat ihn, auf ihr Zimmer zu kommen. Er folgte ihr in atemloser Hast, um den Handel abzuschließen. Joseph hatte selten eine halbe Stunde erlebt, die ihn so viel Geld kostete. Rebekka, die den Wert ihrer Ware nach Josephs Kaufeifer und nach der Seltenheit des Artikels maß, verlangte einen so ungeheuren Preis für die Pferde, daß sogar der Zivilist zurückschreckte. Sie wolle beide verkaufen oder keins, sagte sie entschlossen. Rawdon habe ihr befohlen, sich nicht unter dem angegebenen Preis von ihnen zu trennen. Lord Bareacres unten würde ihr die gleiche Summe geben, und bei all ihrer Liebe und Achtung für die Familie Sedley müsse ihr lieber Mr. Joseph doch einsehen, daß arme Leute leben müßten – kurz, es gab niemanden, der freundschaftlicher, aber zugleich auch entschlossener in Geschäftsangelegenheiten gehandelt hätte.

Joseph willigte schließlich, wie zu erwarten gewesen war, in den Preis ein. Die Summe, die er ihr zu zahlen hatte, war so groß, daß er um Zeit bitten mußte; so groß, daß sie ein kleines Vermögen für Rebekka bedeutete. Sie hatte schnell überschlagen, daß sie mit dieser Summe und dem, was beim Verkauf von Rawdons übrigen Sachen herausspringen würde, und ihrer Witwenpension, falls er fiel, absolut unabhängig von der Welt sein würde und dem Witwenstand mit Ruhe entgegensehen könne.

Ein paarmal im Laufe des Tages hatte sie aller dings auch an Flucht gedacht. Ihr Verstand gab ihr aber besseren Rat. Angenommen, die Franzosen kommen, dachte sie, was können sie dann schon einer armen Offizierswitwe tun! Pah, die Zeiten der Belagerungen und Plünderungen sind vorüber, man wird uns ruhig nach Hause gehen lassen, oder ich kann auch mit meinem hübschen kleinen Einkommen angenehm im Ausland leben.

[462] Inzwischen waren Joseph und Isidor zum Stall gegangen, um die neugekauften Pferde zu besichtigen. Joseph befahl seinem Diener, sofort zu satteln, denn er wollte noch in derselben Nacht, noch zur selben Stunde fortreiten. Er ließ daher den Diener zurück, damit der die Pferde fertigmache, während er selbst nach Hause ging, um sich für die Abreise vorzubereiten. Sie mußte geheim bleiben. Er wollte durch die Hintertür auf sein Zimmer gehen. Es lag ihm nichts daran, der Majorin und Amelia zu begegnen und gestehen zu müssen, daß er davonlaufen wollte.

Josephs Handel mit Rebekka war nun abgeschlossen, er hatte die Pferde besichtigt, und der neue Tag war angebrochen; obwohl jedoch Mitternacht schon lange vorüber war, hatte die Stadt noch keine Ruhe gefunden. Die Leute waren wach, in den Häusern brannten Lichter, vor den Türen standen noch immer Menschengruppen, und auf den Straßen herrschte ein reges Leben. Noch immer wanderten die verschiedensten Gerüchte von Mund zu Mund; das eine behauptete, die Preußen hätten eine vollständige Niederlage erlitten; ein anderes, es seien die Engländer gewesen, die angegriffen und besiegt wurden; ein drittes, daß die Engländer das Feld behauptet hätten. Dieses letzte Gerücht gewann allmählich die Oberhand; noch kein Franzose hatte sich blicken lassen. Einzelne Zurückkehrende brachten immer günstigere Nachrichten; endlich kam sogar ein Adjutant nach Brüssel mit Depeschen für den Kommandanten der Stadt, und dieser ließ bald darauf ein Plakat mit der offiziellen Mitteilung vom Triumph der Alliierten bei Quatre-Bras und dem Rückzug der Franzosen unter Ney nach sechsstündiger Schlacht in der Stadt anschlagen. Der Adjutant mußte in der Zeit, als Joseph und Rebekka ihren Handel abgeschlossen oder beim Besichtigen der Pferde waren, angekommen sein. Als Joseph sein Hotel erreichte, fand er mehr als ein Dutzend der zahlreichen Bewohner vor der Tür im Gespräch über die Neuigkeit, an deren Wahrheit nicht zu [463] rütteln war. Er ging also hinauf, um sie den unter seiner Obhut befindlichen Damen mitzuteilen. Er hielt es nicht für nötig, ihnen zu erklären, daß er beabsichtigt hatte, sie zu verlassen, daß er bereits Pferde gekauft hatte und welchen Preis er dafür hatte zahlen müssen.

Sieg oder Niederlage war jedoch für diejenigen, die nur um die Sicherheit ihrer geliebten Männer bangten, von geringerer Bedeutung. Amelia wurde bei der Siegesnachricht sogar noch aufgeregter als vorher. Sie wollte unverzüglich zur Armee gehen und flehte ihren Bruder unter Tränen an, sie dorthin zu begleiten. Zweifel und Schrecken erreichten bei ihr den Höhepunkt, und das arme Mädchen, das viele Stunden lang in dumpfem Brüten verbracht hatte, lief in wahnsinniger Hysterie hin und her – ein erbarmungswürdiger Anblick! Kein Mann, der sich fünfzehn Meilen entfernt auf dem schwerumkämpften Schlachtfeld vor Schmerzen krümmte – und es lagen viele Tapfere dort –, litt mehr als dieses arme, unschuldige Opfer des Krieges. Joseph konnte den Anblick ihrer Qual nicht ertragen. Er ließ seine Schwester unter der Obhut ihrer härteren Gefährtin zurück und stieg von neuem zur Hoteltür hinunter, wo noch alles schwatzend herumlungerte und auf weitere Nachrichten wartete.

Während sie dort standen, wurde es völlig hell, und Männer, die auf dem Kriegsschauplatz mitgewirkt hatten, brachten neue Nachrichten. Leiterwagen und lange Bauernkarren, mit Verwundeten beladen, rollten in die Stadt; schauriges Ächzen erscholl daraus, und abgekämpfte Gesichter schauten traurig aus dem Stroh. Joseph Sedley blickte mit schmerzlicher Neugier auf einen dieser Wagen – das Stöhnen der darin Liegenden war entsetzlich. Die müden Pferde konnten ihn kaum noch ziehen. »Halt, halt!« rief eine schwache Stimme aus dem Stroh, und das Fuhrwerk hielt gegenüber von Mr. Sedleys Hotel an.

»Es ist George, ich weiß es ganz genau«, schrie Amelia und stürzte augenblicklich mit bleichem Gesicht und wirrem Haar [464] auf den Balkon. Es war jedoch nicht George, aber das Nächstbeste, was kommen konnte: Nachricht von ihm.

Es war der arme Tom Stubble, der vierundzwanzig Stunden vorher so mutig von Brüssel losmarschiert war, mit der Regimentsfahne in der Hand, die er auf dem Schlachtfeld so tapfer verteidigt hatte. Ein französischer Ulan hatte den jungen Fähnrich am Bein verwundet, und der fiel hin, hielt aber tapfer die Fahne fest. Nach Beendigung des Gefechts hatte man in einem Karren für den armen Burschen Platz gefunden und ihn nach Brüssel zurückgebracht.

»Mr. Sedley, Mr. Sedley!« rief der Junge mit schwacher Stimme, und Joseph trat erschrocken zu ihm heran. Er hatte anfangs nicht unterscheiden können, wer ihn gerufen hatte.

Der kleine Tom Stubble hielt ihm seine heiße, kraftlose Hand hin. »Ich soll hierhergebracht werden«, flüsterte er, »Osborne – und – und Dobbin haben es gesagt; und Sie sollen dem Mann zwei Napoleons geben; meine Mutter wird sie Ihnen zurückzahlen.« Die Gedanken des jungen Burschen waren während der langen Stunden im Wagen zum väterlichen Pfarrhaus, das er erst vor ein paar Monaten verlassen hatte, zurückgewandert, und zuweilen hatte er in diesem Fiebertraum sogar seine Schmerzen vergessen.

Das Hotel war groß und die Bewohner freundlich. Alle vom Karren wurden hineingebracht und auf die verschiedensten Lager gebettet. Der junge Fähnrich kam in Osbornes Räume hinauf. Sobald die Majorin ihn vom Balkon aus erkannt hatte, waren sie und Amelia hinuntergestürzt. Man kann sich die Gefühle der beiden Frauen vorstellen, als sie hörten, die Schlacht sei vorüber und beide Gatten seien unverletzt. In stummem Entzücken fiel Amelia ihrer teuren Freundin um den Hals und umarmte sie; und in leidenschaftlicher Dankbarkeit sank sie auf die Knie und pries die Macht, die ihren Mann gerettet hatte.

Kein Arzt hätte unserer jungen Frau in ihrem fieberhaften und nervösen Zustand eine heilsamere Arznei verschreiben [465] können als die, welche ihr der Zufall bot. Sie wachte mit Mrs. O'Dowd unablässig bei dem verwundeten Jüngling, der große Schmerzen litt. Diese ihr auferlegte Pflicht ließ keine Zeit mehr, über ihren persönlichen Sorgen zu brüten oder sich ihren gewohnten Befürchtungen und Ahnungen hinzugeben. Der junge Patient schilderte mit einfachen Worten die Ereignisse des Tages und die Taten unserer Freunde vom tapferen ...ten Regiment. Sie hatten schwer gelitten und sehr viele Offiziere und Soldaten verloren. Als sie angriffen, war das Pferd unter dem Major erschossen worden, und sie hatten alle geglaubt, O'Dowd sei tot und Dobbin würde nun Major. Aber bei ihrer Rückkehr nach dem Angriff zu ihrer alten Stellung hatten sie entdeckt, daß der Major auf Pyramus' Leichnam saß und sich aus seiner Feldflasche erfrischte. Hauptmann Osborne hatte den französischen Ulan, der den Fähnrich verwundet hatte, niedergehauen. Amelia wurde bei dem bloßen Gedanken daran so bleich, daß Mrs. O'Dowd den jungen Fähnrich in seiner Erzählung innehalten ließ. Und Hauptmann Dobbin war es gewesen, der nach Beendigung der Schlacht, obwohl selbst verwundet, den Jüngling auf die Arme genommen und zum Wundarzt und von da zu dem Karren geschleppt hatte, der ihn nach Brüssel zurückbringen sollte, und er war es auch, der dem Fuhrmann zwei Louisdor versprochen hatte, wenn er zu Mr. Sedleys Hotel in Brüssel fahren würde und Mrs. Osborne sagen wolle, daß die Schlacht vorbei und ihr Mann unverletzt und wohlauf sei.

»Er hat wirklich ein gutes Herz, dieser William Dobbin, wenn er auch immer über mich lacht«, sagte Mrs. O'Dowd.

Der junge Stubble beteuerte, daß es keinen zweiten Offizier wie ihn im ganzen Heer gebe und konnte kein Ende finden, seine Bescheidenheit, Güte und bewundernswerte Kaltblütigkeit im Felde zu preisen. Diesem Teil des Gesprächs widmete Amelia indes nur schwache Aufmerksamkeit; sie hörte nur dann zu, wenn von George gesprochen wurde, und [466] auch solange man seinen Namen nicht erwähnte, dachte sie an ihn.

Bei der Pflege ihres Patienten und dem Nachdenken über die wunderbaren Ereignisse des gestrigen Tages verging Amelia der zweite Tag ziemlich schnell. Für sie gab es nur einen Mann in der Armee, und solange er wohlauf war, interessierten sie die Truppenbewegungen nur wenig, wie wir zugeben müssen. Alle Gerüchte, die Joseph von der Straße mitbrachte, hörte sie nur verschwommen, obwohl sie ausreichten, um diesen furchtsamen Herrn, und mit ihm viele andere Leute in Brüssel, tief zu beunruhigen. Die Franzosen waren zwar zurückgeschlagen worden, aber erst nach hartem, zweifelhaftem Kampf, und es war nur ein Teil der französischen Armee. Der Kaiser war mit der Hauptmasse in Ligny, wo er die Preußen gänzlich vernichtet hatte, und nun hatte er freie Hand, seine ganze Kraft auf die Alliierten zu richten. Der Herzog von Wellington zog sich zur Hauptstadt zurück, und höchstwahrscheinlich würde es unter ihren Mauern eine große Schlacht geben, deren Ausgang mehr als zweifelhaft war. Der Herzog von Wellington hatte nur zwanzigtausend Mann englische Truppen, auf die er bauen konnte, denn die Deutschen waren rohe Miliz, die Belgier unzuverlässig; und mit dieser Handvoll hatte Seine Hoheit hundertundfünfzigtausend Mann Widerstand zu leisten, die unter Napoleon in Belgien eingedrungen waren. Unter Napoleon! Welcher Heerführer, mochte er noch so berühmt und geschickt sein, konnte mit einer ungleichen Macht gegen ihn kämpfen?

All das überlegte sich Joseph und zitterte. So ging es auch den meisten anderen Bewohnern Brüssels, denn die Leute spürten, daß das gestrige Gefecht nur das Vorspiel zu dem drohenden größeren Kampf gewesen war. Eine der Armeen, die sich dem Kaiser entgegengestellt hatte, war bereits in alle Winde zerstreut. Die wenigen Engländer, die zum Widerstand gegen ihn aufgebracht werden konnten, würden auf[467] ihren Posten fallen, und der Eroberer würde über ihre Leichen in die Stadt ziehen. Wehe denen, die er dort fand! Ansprachen wurden bereits ausgearbeitet, Beamte versammelten sich und berieten im geheimen, Zimmer wurden vorbereitet und Trikoloren und Siegesembleme verfertigt, um die Ankunft Seiner Majestät des Kaisers und Königs zu begrüßen.

Die Fluchtbewegung dauerte noch immer an, und alle Familien, die Mittel und Wege finden konnten, flohen. Als Joseph am Nachmittag des siebzehnten Juni in Rebekkas Hotel ging, entdeckte er, daß die große Bareacressche Kutsche schließlich doch aus dem porte cochère verschwunden war. Der Graf hatte Mrs. Crawley zum Trotz irgendwie ein Paar Pferde verschaffen können und rollte nun auf dem Wege nach Gent. Ludwig der Ersehnte packte in dieser Stadt auch schon seine Reisetasche. Es schien, als ob das Unglück nie müde würde, diesen schwerfälligen Verbannten weiterzutreiben.

Joseph fühlte, daß der gestrige Sieg nur eine Gnadenfrist gewesen war und daß er seine teuer gekauften Pferde doch noch brauchen würde. Seine Angst war den ganzen Tag über entsetzlich. Solange noch eine englische Armee zwischen Brüssel und Napoleon stand, war sofortige Flucht nicht notwendig; er ließ jedoch seine Pferde aus ihrem entfernten Stall in den seines Hotels bringen, damit er sie stets unter Augen hatte und sie ihm nicht gewaltsam entführt werden konnten. Isidor beobachtete die Stalltür ständig. Die Pferde hatte er gesattelt und alles für die Abreise vorbereitet. Er wartete sehnsüchtig auf dieses Ereignis.

Nach dem gestrigen Empfang hatte Rebekka keine Lust, sich wieder ihrer lieben Amelia zu nähern. Sie beschnitt den Blumenstrauß, den sie von George bekommen hatte, gab ihm frisches Wasser und las noch einmal das Billett durch, das er ihr zugesteckt hatte. »Das arme Geschöpf«, sagte sie und drehte das Stückchen Papier zwischen den Fingern, »wie ich [468] sie damit zerschmettern könnte! Und um so ein Wesen muß sie sich nun das Herz brechen – um so einen Dummkopf, einen Hanswurst, der sich nichts aus ihr macht. Mein armer guter Rawdon ist zehnmal mehr wert als so einer.« Und dann dachte sie darüber nach, was sie tun sollte, wenn – wenn dem armen guten Rawdon etwas zustieße, und was für ein Glück es gewesen sei, daß er seine Pferde zurückgelassen hatte.

Mrs. Crawley, die nicht ohne Ärger die Familie Bareacres hatte wegfahren sehen, dachte im Laufe des Tages auch an die Vorsichtsmaßregeln, die die Gräfin getroffen hatte, und machte ein paar Handarbeiten für sich. Sie nähte den größten Teil ihrer Schmucksachen, Wechsel und Banknoten in ihre Kleider ein, und so vorbereitet, war sie für alle Fälle gerüstet – entweder zu fliehen, wenn sie es für angemessen hielt, oder zu bleiben und den Sieger zu begrüßen, mochte er nun Engländer oder Franzose sein. Ich bin nicht sicher, ob sie nicht in jener Nacht davon träumte, Herzogin oder Madame la maréchale 11 zu werden, während Rawdon in seinen Mantel gehüllt am Mont Saint-Jean 12 im strömenden Regen biwakierte und mit aller Kraft seines Herzens an die kleine Frau dachte, die er in Brüssel zurückgelassen hatte.

Der nächste Tag war ein Sonntag, und Mrs. O'Dowd sah mit Befriedigung, daß die Nachtruhe ihre beiden Patienten körperlich und geistig gestärkt hatte. Sie selbst hatte in einem Lehnstuhl in Amelias Zimmer geschlafen, bereit, ihrer armen Freundin oder dem Fähnrich zu Diensten zu stehen, wenn einer von ihnen ihre Fürsorge brauchte. Bei Anbruch des Tages ging die tapfere Frau in das Haus, wo sie und der Major einquartiert waren, und machte dort sorgfältig Toilette, wie es sich für den Tag gehörte. Und während sie allein in dem Zimmer war, das ihr Mann bewohnt hatte, wo seine Nachtmütze noch auf dem Kissen lag und sein Stock in der Ecke stand, wurde höchstwahrscheinlich ein Gebet für das Wohlergehen des tapferen Soldaten Michael O'Dowd gen Himmel geschickt.

[469] Als sie zurückkehrte, brachte sie ihr Gebetbuch und die berühmten Predigten ihres Onkels, des Dekans, mit, aus denen sie regelmäßig am Sonntag zu lesen pflegte; wenn sie auch nicht alles verstand, und vielleicht manche der langen und komplizierten Wörter nicht richtig aussprach – denn der Dekan war ein gelehrter Mann und liebte lange lateinische Wörter –, so las sie doch mit großem Ernst, viel Gefühl und im allgemeinen leidlich richtig. Wie oft hat Mick diesen Predigten gelauscht, dachte sie, wenn ich sie bei Windstille in der Kajüte las. Auch heute beabsichtigte sie diese geistliche Übung vorzunehmen, und Amelia und der verwundete Fähnrich sollten die Gemeinde sein. Der gleiche Gottesdienst wurde an jenem Tag zur gleichen Stunde in zwanzigtausend Kirchen abgehalten, und Millionen britischer Männer und Frauen flehten auf den Knien den Vater aller Dinge um Schutz an.

Sie alle hörten den Lärm nicht, der unsere kleine Gemeinde in Brüssel störte. Als Mrs. O'Dowd mit ihrer schönsten Stimme die Predigt las, begannen die Kanonen von Waterloo aufs neue zu dröhnen – lauter als zwei Tage zuvor.

Als Joseph dieses entsetzliche Geräusch vernahm, faßte er den Entschluß, diese unaufhörliche Wiederkehr des Schreckens nicht länger zu ertragen und sofort zu fliehen. Er stürzte in das Krankenzimmer, wo unsere drei Freunde im Gebet innegehalten hatten, und störte sie auf, indem er sich heftig an Amelia wandte:

»Ich kann es nicht länger aushalten, Emmy«, sagte er, »ich will es nicht mehr aushalten, und du mußt mit mir mitkommen. Ich habe ein Pferd für dich gekauft – zu welchem Preis ist ganz gleichgültig –, und du mußt dich anziehen und mit mir mitkommen und dich hinter Isidor setzen.«

»Gott verzeih mir, Mr. Sedley, aber Sie sind nichts anderes als ein Feigling«, sagte Mrs. O'Dowd und legte das Buch hin.

[470] »Ich sage dir, komm, Amelia«, fuhr der Zivilist fort, »kümmere dich nicht darum, was sie sagt; warum sollen wir hierbleiben und uns von den Franzosen abschlachten lassen?«

»Sie vergessen das ...te Regiment, mein Junge«, rief der kleine Stubble, der verwundete Held, von seinem Bett, »und – und Sie werden mich doch nicht verlassen, nicht wahr, Mrs. O'Dowd?«

»Nein, mein liebes Kerlchen«, sagte sie, ging zu dem Jungen und gab ihm einen Kuß. »Niemand soll Ihnen etwas tun, solange ich bei Ihnen bin. Ich weiche nicht, bis Mick mir den Befehl dazu erteilt. Würde ich nicht eine hübsche Figur abgeben auf einem Reitkissen hinter dem Kerl da?«

Über dieses Bild brach der junge Patient in seinem Bett in Gelächter aus, und selbst Amelia mußte lächeln. »Ich frage ja nicht sie, ob sie mitkommt«, schrie Joseph. »Ich frage ja nicht die – die Irin da, sondern dich, Amelia; ein für allemal, kommst du mit?«

»Ohne meinen Mann, Joseph?« fragte Amelia mit verwundertem Blick und ergriff die Hand der Majorin. Josephs Geduld war jetzt erschöpft.

»Also dann, auf Wiedersehen«, sagte er, schüttelte wütend die Faust und warf die Tür beim Hinausgehen hinter sich zu. Dieses Mal gab er wirklich den Marschbefehl und bestieg auf dem Hof das Pferd. Mrs. O'Dowd hörte das Klappern der Hufe, als die Pferde aus dem Tor sprengten; sie machte allerlei höhnische Bemerkungen über den armen Joseph, als sie ihn die Straße hinabreiten sah, gefolgt von Isidor mit der goldbebänderten Mütze. Die Pferde, die ein paar Tage lang keine Bewegung gehabt hatten, waren lebhaft und machten frohe Sprünge auf der Straße. Joseph war ein ungeschickter, ängstlicher Reiter und wirkte im Sattel sehr unvorteilhaft. »Sehen Sie nur, liebe Amelia, er reitet geradezu in das Fenster dort hinein. So einen Elefanten im Porzellanladen habe ich noch nie gesehen.« Sie verfolgte die beiden Reiter mit [471] einer Kanonade von sarkastischen Bemerkungen, bis sie um die Ecke in Richtung der Straße nach Gent verschwanden.

Den ganzen Tag lang, vom Morgen bis nach Sonnenuntergang, hörte das Dröhnen der Geschütze nicht auf. Es war schon dunkel, als das Feuer plötzlich abbrach.

Wir alle haben gelesen, was sich während dieser Zeitspanne zutrug. Diese Geschichte ist im Munde eines jeden Engländers; und du und ich, die wir noch Kinder waren, als die große Schlacht gewonnen und verloren wurde, können nicht müde werden, von diesem berühmten Kampf zu hören und zu erzählen. Die Erinnerung daran nagt noch immer am Herzen von Millionen Landsleuten jener tapferen Männer, die diese Schlacht verloren. Sie brennen darauf, die Demütigung bei Gelegenheit zu rächen. Wenn nun ein Kampf siegreich für sie enden sollte, so würden die anderen ihrerseits sich erheben und uns ein verfluchtes Erbe von Haß und Rachsucht hinterlassen, und so wäre kein Ende dieser sogenannten Ehre und Schande und des jeweiligen erfolgreichen und erfolglosen Mordens abzusehen, in das die beiden stolzen Nationen verwickelt würden. Noch nach Jahrhunderten würden Engländer und Franzosen voreinander prahlen und sich gegenseitig umbringen, um den Ehrenkodex des Teufels tapfer zu befolgen.

Alle unsere Freunde nahmen an der Schlacht teil und standen ihren Mann. Den ganzen Tag lang hielt die unerschrockene englische Infanterie den wütenden Angriffen der französischen Kavallerie stand und erwiderte sie, während die Frauen, zehn Meilen entfernt, beteten. Die Geschütze, die man bis nach Brüssel hörte, zerrissen ihre Reihen. Kameraden fielen, und die beherzten Überlebenden schlossen die Reihen wieder. Gegen Abend ließ die Heftigkeit der vielen so tapfer zurückgeschlagenen französischen Angriffe nach. Die Franzosen hatten wohl außer mit den Briten noch mit anderen Feinden zu tun, oder sie rüsteten sich auf einen [472] letzten Ansturm. Der kam schließlich auch. Die Kolonnen der kaiserlichen Garde marschierten den Mont Saint-Jean hinauf, um mit einem Male die Engländer von der Höhe zu fegen, die sie den ganzen Tag behauptet hatten; ungeachtet des Geschützfeuers der Engländer, das den Tod in ihre Reihen schleuderte, drängten die dunklen, wogenden Kolonnen näher den Hügel hinauf. Sie schienen den Gipfel fast erreicht zu haben, als sie zu wanken begannen. Dann blieben sie stehen, immer noch das Gesicht zum Feind gerichtet. Nun endlich stürzten die englischen Truppen aus ihren Stellungen, aus denen sie kein Feind hatte verdrängen können, und die Garde wandte sich und floh.

Man hörte in Brüssel kein Schießen mehr – die Verfolger entfernten sich meilenweit. Dunkelheit senkte sich über Schlachtfeld und Stadt herab, und Amelia betete für George, der auf dem Gesicht lag, tot, von einer Kugel ins Herz getroffen.

Fußnoten

1 (franz.) ihren Mann.

2 (franz.) Keine Pferde, zum Teufel!

3 In der Ballade »Lenore« von Gottfried August Bürger (1747-1794) erscheint der in der Schlacht gefallene Geliebte der Titelheldin nachts, um sie zur Hochzeit auf dem Friedhof abzuholen.

4 (franz.) Zusammenbruch.

5 (franz.) meine gute kleine Herrin.

6 (franz.) Schneiden Sie mich ... schnell! Schneiden Sie mich!

7 (franz.) Den Schnurrbart ... schneiden, rasieren, schnell!

8 (franz.) Nicht mehr tragen – Uniform – Mütze – sie Ihnen geben, nehmen Sie weg.

9 (franz.) Kommen Sie jetzt, folgen Sie – machen Sie – gehen Sie – auf die Straße!

10 (franz.) Torweg.

11 (franz.) Frau Marschallin.

12 Hügel auf dem Schlachtfeld bei Waterloo.

33. Kapitel
In dem Miss Crawleys Verwandte sehr besorgt um sie sind

Während die Armee aus Flandern abmarschiert, um nach den dort vollbrachten Heldentaten die französischen Grenzfestungen zu erobern und dann das ganze Land zu besetzen, wird sich der geneigte Leser erinnern, daß eine Anzahl von Personen friedlich in England leben, die etwas mit unserer Geschichte zu tun haben und denen wir einen Anteil an unserer Chronik zugestehen müssen. Die alte Miss Crawley war in der Zeit dieser Kämpfe und Gefahren in Brighton geblieben und war von den großen Ereignissen nur wenig berührt worden. Die großen Ereignisse machten allerdings die Zeitungen ausgesprochen interessant. Eines Tages las ihr die Briggs aus der »Gazette« vor, wo Rawdon Crawleys Tapferkeit [473] ehrenvolle Erwähnung fand und seine Beförderung zum Oberstleutnant berichtet wurde.

»Wie schade, daß der junge Mann einen so unwiderruflichen Schritt in die Welt getan hat«, sagte die Tante. »Bei seinem Rang und diesen Auszeichnungen hätte er eine Brauerstochter mit einer Viertelmillion heiraten können – zum Beispiel Miss Grains, oder er hätte zusehen können, sich mit den besten Familien Englands zu verbinden. Irgendwann hätte er mein Geld bekommen oder seine Kinder – denn ich habe es nicht so eilig, zu sterben, Miss Briggs, wenn Sie es wahrscheinlich auch eilig haben, mich loszuwerden; aber statt dessen ist er nun zur Armut verdammt mit einem Ballettmädchen als Frau.«

»Will meine liebe Miss Crawley nicht ein mitleidiges Auge auf den heldenmütigen Krieger werfen, dessen Name in den Ruhmesannalen seines Vaterlandes verzeichnet ist?« fragte Miss Briggs, die durch die Ereignisse bei Waterloo sehr erregt war und die jede Gelegenheit ergriff, sich romantisch auszudrücken. »Hat nicht der Hauptmann – oder der Oberst, wie ich ihn jetzt nennen darf, Taten vollbracht, die dem Namen Crawley zu Glanz und Ruhm verhelfen?«

»Briggs, Sie sind eine Närrin«, sagte Miss Crawley. »Oberst Crawley hat den Namen Crawley in den Schmutz gezerrt, Miss Briggs. Eine Zeichenlehrerstochter zu heiraten, nein, wirklich! Eine Gesellschafterin zu heiraten – denn etwas Besseres war sie nicht, Briggs – ja, sie war dasselbe wie Sie, nur jünger und bedeutend hübscher und klüger. Ich möchte wissen, ob Sie mit der abscheulichen Kreatur, deren niederträchtigen Winkelzügen er zum Opfer fiel, unter einer Decke gesteckt haben, da Sie sie doch so bewunderten. Ja, ich möchte behaupten, Sie haben mit ihr unter einer Decke gesteckt. Aber von meinem Testament werden Sie enttäuscht sein. Sie sind bitte so gut und schreiben Mr. Waxy, daß ich ihn sofort zu sprechen wünsche.« Miss Crawley hatte es sich jetzt angewöhnt, fast täglich ihrem Rechtsanwalt, Mr. Waxy, [474] zu schreiben, denn sie hatte alle ihre Anordnungen hinsichtlich ihres Eigentums widerrufen, und sie war in großer Verlegenheit, was mit ihrem Geld später einmal werden sollte.

Wie die zunehmende Schärfe und Häufigkeit ihres Spottes gegenüber Miss Briggs bewies, hatte sich der Gesundheitszustand der alten Jungfer beträchtlich gebessert. Die arme Gesellschafterin trug all diese Angriffe demütig und feige, mit einer halb großmütigen, halb heuchlerischen Resignation, mit einem Wort, mit der sklavischen Unterwürfigkeit, die Frauen ihrer Bestimmung und ihres Charakters zeigen müssen. Wer hat noch nicht erlebt, wie eine Frau eine andere tyrannisieren kann? Was sind schon die Qualen, die Männer zu erdulden haben, im Vergleich zu den täglich abgeschossenen Pfeilen von Hohn und Grausamkeit, mit denen arme Frauen von den Tyrannen ihres eigenen Geschlechts durchbohrt werden? Arme Opfer! Aber wir schweifen vom Thema ab, und dazu gehört nur, daß Miss Crawley stets besonders unerträglich und wild war, wenn sie sich von einer Krankheit erholte – etwa wie man sagt, daß heilende Wunden am meisten schmerzen.

Während sie nun, wie alle hofften, der Genesung zuging, war Miss Briggs das einzige Opfer, das die Kranke vorließ. Miss Crawleys Verwandte in der Ferne vergaßen jedoch ihr geliebtes Familienmitglied nicht und versuchten, sich durch eine Menge von Liebesgaben, Geschenken und liebevollen Briefen in ihrem Gedächtnis lebendig zu erhalten.

Als ersten wollen wir ihren Neffen Rawdon Crawley erwähnen. Einige Wochen nach der berühmten Schlacht bei Waterloo, als Miss Crawley in der »Gazette« von der Beförderung und der Tapferkeit des hervorragenden Offiziers gelesen hatte, brachte ihr das Paketboot von Dieppe ein Kästchen voller Geschenke und einen ehrerbietigen Brief von ihrem Neffen, dem Oberst, nach Brighton. In dem Kästchen befanden sich ein Paar französische Epauletten – ein[475] Kreuz der Ehrenlegion und der Griff eines Degens – Reliquien vom Schlachtfeld. Der Brief berichtete humorvoll, daß der Degengriff einem hohen Offizier der Garde gehört habe. Als er gerade geschworen hatte, »die Garde kann zwar fallen, wird sich aber niemals ergeben«, wurde er von einem einfachen Soldaten gefangengenommen, der den Degen des Franzosen mit seinem Musketenkolben zerbrochen hatte. Rawdon hatte sich darauf der zertrümmerten Waffe bemächtigt. Das Kreuz und die Epauletten stammten von einem französischen Kavallerieoberst, der in der Schlacht unter den Streichen des Adjutanten gefallen war. Rawdon Crawley nun wußte nichts Besseres mit der Beute anzufangen, als sie seiner gütigsten und liebevollsten alten Freundin zu schicken. Sollte er ihr auch von Paris aus schreiben, wohin die Armee jetzt marschierte? Es wäre ihm vielleicht möglich, ihr Interessantes aus der Hauptstadt und von ein paar ihrer alten Freunde aus der Zeit der Emigration zu berichten, denen sie in ihrer Not so viel Güte bewiesen hatte.

Die alte Jungfer veranlaßte die Briggs, dem Oberst einen gnädigen Brief voller Komplimente zu schreiben und ihn aufzufordern, seine Korrespondenz fortzusetzen. Sein erster Brief sei so ausnehmend lebhaft und amüsant gewesen, daß sie den nachfolgenden mit Vergnügen entgegensehe. – »Ich weiß natürlich«, erklärte sie der Briggs, »daß Rawdon ebensowenig imstande ist, einen derartigen Brief zu schreiben wie Sie, meine arme Briggs, und daß ihm dieses schlaue Teufelchen Rebekka jedes Wort diktiert; das ist aber noch lange kein Grund, daß mein Neffe mich nicht unterhalten sollte, und deshalb will ich ihm zu verstehen geben, daß ich in der besten Laune bin.«

Ich möchte gern erfahren, ob sie auch wußte, daß Becky nicht nur die Briefe schrieb, sondern daß Mrs. Rawdon sich auch die Trophäen verschafft und sie nach England geschickt hatte. Sie hatte sie für ein paar Francs von einem der unzähligen Hausierer gekauft, die sofort mit Kriegsandenken zu [476] handeln begannen. Der Verfasser, der alles weiß, weiß auch das. Wie dem aber auch sei, Miss Crawleys gnädige Antwort ermutigte unsere jungen Freunde, Rawdon und seine Gemahlin, sehr. Sie erhofften das Beste von der offenbar besänftigten Laune ihrer Tante und gaben sich alle Mühe, sie durch viele höchst köstliche Briefe aus Paris zu unterhalten, wohin sie das Glück, wie Rawdon sagte, auf den Spuren der siegreichen Armee führte.

Die Briefe der alten Jungfer an die Pfarrersfrau, die abgereist war, um das gebrochene Schlüsselbein ihres Gatten im Pfarrhaus in Queen's Crawley zu pflegen, waren bei weitem nicht so gnädig. Die energische, ränkevolle, lebhafte, tyrannische Mrs. Bute hatte gegenüber ihrer Schwägerin einen großen Fehler begangen. Sie hatte die Alte und deren Hausstand nicht nur unterdrückt – sie hatte Miss Crawley auch gelangweilt, und wenn die arme Miss Briggs auch nur ein bißchen Temperament und Charakter besessen hätte, so hätte der Auftrag, den ihr ihre Herrin gab, sie glücklich gemacht. Sie sollte nämlich an Mrs. Bute schreiben, Miss Crawleys Zustand habe sich seit der Abreise von Mrs. Bute Crawley bedeutend gebessert, und Miss Crawley bittet sie, sich unter keinen Um ständen zu beunruhigen oder ihre Familie um Miss Crawleys willen allein zu lassen. Dieser Triumph über eine Dame, die sich gegenüber Miss Briggs so hochmütig und grausam benommen hatte, hätte die meisten Frauen entzückt; aber um die Wahrheit zu gestehen, war die Briggs eine Frau ohne jegliche Charakterstärke, und in dem Augenblick, wo ihre Feindin besiegt war, begann sie Mitleid für sie zu empfinden.

Wie töricht ich doch war, dachte Mrs. Bute, und damit hatte sie recht, Miss Crawley in dem dummen Brief, den wir ihr mit den Truthühnern schickten, anzudeuten, daß ich kommen würde; ich hätte ohne ein Wort zu der armen geistesschwachen Alten fahren und sie aus den Händen der närrischen Briggs und dieser Harpyie von einer Kammerfrau [477] reißen müssen. O Bute, Bute! Warum hast du dir bloß das Schlüsselbein gebrochen!

Ja, warum! Wir haben gesehen, daß Mrs. Bute, als sie das Spiel noch in der Hand hatte, ihre Karten zu gut ausgespielt hatte. Sie hatte in Miss Crawleys Haus völlig geherrscht und wurde völlig geschlagen, als sich eine günstige Gelegenheit zur Rebellion bot. Sie und ihre Familie glaubten jedoch, daß sie das Opfer schrecklicher Selbstsucht und gemeinen Verrates sei und daß man ihre Aufopferung für Miss Crawley mit dem schändlichsten Undank belohnt habe. Rawdons Beförderung und die ehrenvolle Erwähnung seines Namens in der »Gazette« beunruhigten die gute christliche Dame ebenfalls. Würde seine Tante sich jetzt erweichen lassen, da er nun Oberst und Träger des Bathordens geworden war, und diese verhaßte Rebekka wieder in Gnaden aufgenommen werden? Die Pfarrersfrau verfaßte für ihren Mann eine Predigt über die Eitelkeit des militärischen Ruhmes und das Glück der Gottlosen, die der würdige Pfarrer mit seiner salbungsvollsten Stimme ablas, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Einer seiner Zuhörer war Pitt Crawley – Pitt, der mit seinen beiden Halbschwestern zum Gottesdienst gekommen war. Der alte Baronet ließ sich durch nichts mehr bewegen, zur Kirche zu gehen.

Seit Rebekka Sharps Abreise hatte sich der alte Bösewicht zum großen Ärgernis der Grafschaft und zum stummen Abscheu des Sohnes ganz und gar seinem schlechten Lebenswandel ergeben. Die Bänder an Miss Horrocks Haube wurden immer prächtiger. Die anständigen Familien flohen das Schloß und seinen Besitzer entsetzt. Sir Pitt ging in die Häuser seiner Pächter zum Saufen, und an Markttagen trank er mit den Bauern in Mudbury oder anderen Nachbarorten Grog. Er fuhr mit Miss Horrocks vierspännig in der Familienkutsche nach Southampton, und die Leute aus der Grafschaft erwarteten jede Woche, daß seine Trauung mit ihr in der Provinzzeitung angezeigt würde, und auch sein [478] Sohn erwartete das in sprachloser Angst. Für Mr. Crawley war es in der Tat eine schwere Last; seine Beredsamkeit bei Missionstreffen und anderen religiösen Versammlungen in der Nachbarschaft, wo er immer den Vorsitz geführt und stundenlang gesprochen hatte, war gelähmt; denn sobald er aufstand, fühlte er, daß die Versammlung sagte: »Dies ist der Sohn von dem verworfenen Sir Pitt, der höchstwahrscheinlich jetzt gerade im Wirtshaus sitzt und trinkt.« Einmal, als er von dem unerleuchteten König von Timbuktu und seinen vielen Frauen, die ebenfalls in Finsternis wandelten, sprach, fragte ein angetrunkener Schurke aus der Menge: »Wie viele von der Sorte gibt's denn in Queen's Crawley, Sie junger Pedant Sie?« – zur Bestürzung des Vorstandes und zum Ruin von Mr. Pitts Rede. Die beiden Töchter des Hauses wären vollkommen verwildert (denn Sir Pitt schwor, daß nie wieder eine Gouvernante seine Schwelle betreten dürfe), wenn nicht Mr. Crawley den alten Herrn durch Drohungen gezwungen hätte, sie zur Schule zu schicken.

Welche persönlichen Differenzen aber auch zwischen allen bestanden – Miss Crawleys liebe Neffen und Nichten waren sich einig in der Liebe zu ihrer Tante, wie wir bereits erwähnten, und sandten ihr viele Beweise ihrer Zuneigung. Mrs. Bute zum Beispiel schickte ihr Truthühner und besonders schönen Blumenkohl und eine hübsche Börse oder ein Nadelkissen von ihren lieben Töchtern gearbeitet, die um ein kleines Plätzchen im Herzen ihrer teuren Tante baten, während Mr. Pitt Pfirsiche, Trauben und Wildbret aus dem Schloß schickte. Die Southamptoner Postkutsche pflegte diese Liebeszeichen zu Miss Crawley nach Brighton zu bringen; zuweilen beförderte sie auch Mr. Pitt dorthin, denn seine Zwistigkeiten mit Sir Pitt veranlaßten Mr. Crawley, sich jetzt häufig von zu Hause fernzuhalten. Außerdem besaß Brighton eine Anziehungskraft für ihn in der Person der Lady Jane Sheepshanks, deren Verlobung mit Mr. Crawley in dieser Geschichte schon erwähnt wurde. Lady Jane und ihre Schwestern [479] wohnten in Brighton bei der Mama, der Gräfin Southdown, einer strengen Dame, die in religiösen Kreisen sehr geschätzt war.

Wir müssen einige Worte über Lady Southdown und ihre adlige Familie sagen, die jetzt und in Zukunft durch verwandtschaftliche Bande mit dem Hause Crawley verknüpft ist. Vom Haupt der Familie Southdown, Clemens William, dem vierten Grafen Southdown, ist wenig zu sagen, höchstens daß Seine Lordschaft (als Lord Wolsey) durch den Beistand von Mr. Wilberforce ins Parlament kam, dort eine Zeitlang seinem politischen Paten alle Ehre machte und zweifellos ein ernsthafter junger Mann war. Worte aber können nicht die Gefühle seiner trefflichen Mutter beschreiben, als diese kurz nach dem Ableben ihres edlen Gatten erfuhr, daß ihr Sohn Mitglied mehrerer weltlicher Klubs sei, große Summen bei Wattiers und im »Kakaobaum« verloren, Geld auf ihren Tod aufgenommen und den Familienbesitz schwer belastet habe, daß er vierspännig fahre, Preisboxer fördere und sogar eine Loge in der Oper habe, wo er sich mit einer sehr gefährlichen Gruppe von Junggesellen eingelassen habe. Sein Name wurde im Kreise der verwitweten Gräfin nur noch unter Stöhnen erwähnt.

Lady Emily war um viele Jahre älter als ihr Bruder. In der frommen Welt nahm sie als Verfasserin einiger der schon früher erwähnten anmutigen Traktate und vieler Hymnen und geistlichen Lieder eine bedeutende Stellung ein. Eine reife Jungfrau, die alle Gedanken an eine Ehe aufgegeben hatte, konzentrierte sie fast alle ihre Gefühle auf die Liebe zu den Negern. Wenn ich mich nicht täusche, so verdanken wir ihr, soviel ich weiß, auch das schöne Gedicht:


Führ uns im atlant'schen Meere
zu den sonnenumglänzten Inseln,
wo der Himmel ewig lächelt
und die Schwarzen ewig winseln etc.

[480] Sie stand in Briefwechsel mit vielen geistlichen Herren in fast allen englischen Besitzungen in Ost- und Westindien, und das Gerücht geht, sie habe einst eine Neigung zu Ehrwürden Silas Hornblower gehegt, der auf einer Südseeinsel tätowiert worden war.

Lady Jane, der, wie bereits erwähnt, Mr. Crawleys Liebe galt, war ein sanftes, stilles, scheues Mädchen, das leicht errötete. Trotz seiner Abtrünnigkeit weinte sie um ihren Bruder und schämte sich, daß sie ihn noch liebte. Selbst jetzt noch schmuggelte sie ihm kleine eilige Briefchen zu, die sie verstohlen zur Post brachte. Ein einziges entsetzliches Geheimnis lastete auf ihrem Gewissen: Zusammen mit der alten Haushälterin hatte sie ihrem Bruder einen heimlichen Besuch in seiner Wohnung im Albany 1 abgestattet und ihn – den unartigen, verworfenen, lieben Tunichtgut – bei einer Zigarre und einer Flasche Curaçao gefunden. Sie bewunderte ihre Schwester, vergötterte ihre Mutter, hielt Mr. Crawley nächst dem gefallenen Engel Southdown für den besten und fähigsten aller Männer. Mutter und Schwester, sehr überlegene Damen, erledigten alles für sie und betrachteten sie mit dem liebenswürdigen Mitleid, das wahrhaft überlegene Frauen stets aus einem großen Vorrat zu verschenken haben. Ihre Mama schrieb ihr die Kleider, Bücher, Hüte und Gedanken vor. Sie mußte auf dem Pony reiten, Klavierstunden nehmen und alle möglichen anderen Mittel zur körperlichen Ertüchtigung anwenden, wie es Lady Southdown für angemessen hielt. Die Gräfin hätte ihre Tochter wohl bis zu ihrem gegen wärtigen sechsundzwanzigsten Lebensjahr mit einem Kinderschürzchen herumlaufen lassen, wenn Lady Jane das nicht hätte ablegen müssen, als sie der Königin Charlotte vorgestellt wurde.

In der ersten Zeit ihres Aufenthalts in Brighton stattete Mr. Crawley nur ihnen seine persönlichen Besuche ab, während er sich damit begnügte, im Hause seiner Tante nur seine Karte abzugeben und sich bei Mr. Bowls oder dessen Gehilfen [481] nach der Gesundheit der Patientin zu erkundigen. Wenn Mr. Crawley Miss Briggs auf ihrem Heimweg von der Bibliothek mit einer Ladung Romane unter dem Arm traf und der Gesellschafterin von Miss Crawley die Hand schüttelte, so errötete er, was bei ihm sonst gar nicht üblich war. Er stellte Miss Briggs der Dame, mit der er spazierenging (es war Lady Jane Sheepshanks), vor mit den Worten: »Lady Jane, erlauben Sie mir, Ihnen die beste Freundin und liebevollste Gefährtin meiner Tante, Miss Briggs, vorzustellen, die Sie unter einem anderen Namen bereits kennen, nämlich als Verfasserin der entzückenden ›Lyrik des Herzens‹, die Sie doch so sehr lieben.« Lady Jane errötete ebenfalls, als sie Miss Briggs freundlich das Händchen reichte. Dabei sagte sie höflich und unzusammenhängend etwas über die Mama und ihre Absicht, Miss Crawley ihre Aufwartung zu machen, und wie froh sie sei, die Freunde und Verwandten von Mr. Crawley kennenzulernen. Mit sanften Taubenaugen verabschiedete sie sich von Miss Briggs, während Pitt Crawley sie mit einer tiefen höflichen Verbeugung beehrte, wie er sie der Großherzogin von Pumpernickel gemacht hatte, als er noch Attaché am Hofe dort war.

Dieser gerissene Diplomat und echte Schüler des machiavellistischen Binkie! Er war es, der Lady Jane das Exemplar von Miss Briggs' frühen Gedichten gegeben hatte, da er sich erinnerte, es mit einer Widmung der Dichterin an die verstorbene Frau seines Vaters in Queen's Crawley gesehen zu haben; und er hatte den Band nach Brighton mitgebracht. Ehe er ihn der sanften Lady Jane überreichte, hatte er ihn in der Southamptoner Postkutsche gelesen und mit Bleistift verschiedene Stellen angestrichen.

Er war es auch, der Lady Southdown die großen Vorteile auseinandergesetzt hatte, die sich aus der Freundschaft zwischen ihrer Familie und Miss Crawley ergeben könnten – Vorteile weltlicher als auch geistlicher Art, wie er sagte; denn Miss Crawley sei jetzt ganz allein; die gräßliche Verschwendungssucht[482] und die Heirat seines Bruders Rawdon hätte diesem verworfenen jungen Mann ihre Zuneigung völlig verscherzt, und die habgierige Tyrannei und der Geiz von Mrs. Bute Crawley hätten die alte Dame dazu gebracht, sich gegen die unverschämten Ansprüche dieses Familienzweiges aufzulehnen. Obwohl er sich sein ganzes Leben hindurch, vielleicht in ungebührlichem Stolz, zurückgehalten habe, ihre Freundschaft zu erwerben, so glaube er jetzt doch, daß man alle schicklichen Mittel ergreifen müsse, um ihre Seele vor dem Verderben zu retten und ihr Vermögen ihm, als dem Haupt des Hauses Crawley, zu sichern.

Die gestrenge Lady Southdown zollte den beiden Vorschlägen ihres Schwiegersohns Beifall und war dafür, Miss Crawley unverzüglich zu bekehren. Dort, wo sie zu Hause war, in Southdown und in Schloß Trottermore, fuhr diese große und furchtbare Missionarin der Wahrheit in ihrer Kutsche mit Vorreitern auf dem Lande umher und verteilte Pakete von Traktaten unter die Dorfbewohner und Pächter. Sie befahl dem Gevatter Jones, sich bekehren zu lassen, wie sie der Muhme Hicks anordnete, eine Dosis Bittersalz zu nehmen, und sie beachtete weder Bitten noch Widerstand und kannte keine Gnade. Lord Southdown, ihr seliger Gemahl, ein epileptischer und einfältiger Edelmann, hatte gewöhnlich allem, was seine Matilda tat oder dachte, zugestimmt. Sie empfand bei allen Wandlungen in ihrem Glauben (und der hatte sich schon einer ganzen Anzahl verschiedener Meinungen von allen möglichen Geistlichen unter den Dissenters 2 angepaßt) keine Skrupel, ihren Pächtern und Untergebenen zu befehlen, ihr im Glauben zu folgen. Ob sie nun Ehrwürden Saunders McNitre, den schottischen Geistlichen, empfing oder Ehrwürden Luke Waters, den milden Wesleyaner 3, oder Ehrwürden Giles Jowls, den erleuchteten Schuhflicker, der sich selbst zum Geistlichen ernannt hatte, wie Napoleon sich zum Kaiser krönte – Lady Southdown verlangte von ihrem Dienstpersonal, ihren Kindern und [483] Pächtern, mit ihr auf die Knie zu fallen und amen zu den jeweiligen Gebeten eines jeden dieser Geistlichen zu sagen. Während dieser geistlichen Übungen durfte der alte Southdown, mit Rücksicht auf seine Krankheit, in seinem Zimmer bleiben, Glühwein trinken und sich die Zeitung vorlesen lassen. Lady Jane war die Lieblingstochter des alten Grafen. Sie liebte ihn herzlich und behütete ihn. Lady Emily dagegen, die Verfasserin der »Apfelfrau von Finchley«, stellte die künftigen Strafen so entsetzlich dar (zu jener Zeit zumindest, denn ihre Ansichten milderten sich später), daß sie den furchtsamen alten Herrn in großen Schrecken versetzte. Die Ärzte erklärten, daß seine Anfälle stets nach den Predigten der Lady aufträten.

»Ich werde ihr auf jeden Fall einen Besuch abstatten«, erwiderte Lady Southdown auf das Zureden von ihrer Tochter prétendu 4. Mr. Pitt Crawley. »Wer ist Miss Crawleys Arzt?«

Mr. Crawley nannte Mr. Creamer.

»Ein höchst gefährlicher und unwissender Mensch, mein lieber Pitt. Die Vorsehung hat mich ein paarmal zum Werkzeug gemacht, ihn aus verschiedenen Häusern zu vertreiben; in ein oder zwei Fällen kam ich allerdings zu spät. Ich konnte den armen lieben General Glanders nicht retten, der diesem unwissenden Menschen unter den Händen starb – ja, starb. Er erholte sich ein wenig infolge von Podgers' Pillen, die ich ihm verordnete, aber leider, es war zu spät. Er hatte jedoch einen schönen Tod, und der Wechsel war nur zu seinem Besten. Creamer, mein teurer Pitt, muß von Ihrer Tante weg.«

Pitt stimmte durchaus zu; er war von der Energie seiner künftigen Schwiegermutter und edlen Verwandten beeinflußt und hatte Saunders McNitre, Luke Waters, Giles Jowls, Podgers' Pillen Rodgers' Pillen, Pokeys Elixier, kurz, alle geistlichen und weltlichen Heilmittel der Lady akzeptieren müssen. Er verließ ihr Haus nie ohne ganze Ladungen von [484] Quacksalbertheologie und -medizin. Oh, meine teuren Brüder und Genossen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit! Wer von euch hat nicht auch unter solchen wohlwollenden Despoten zu leiden? Umsonst sagt man ihnen: »Liebe gnädige Frau, auf Ihre Empfehlung hin habe ich im vergangenen Jahr Podgers' Arznei eingenommen und glaube daran. Warum, warum soll ich jetzt widerrufen und Rodgers' Artikel nehmen?« Man kann nichts dagegen tun. Wenn die treue Proselytenmacherin einen nicht mehr mit Argumenten überzeugen kann, dann beginnt sie zu weinen, bis der Widerspenstige am Ende des Streites die Pille schluckt und sagt: »Nun gut, dann also Rodgers' Pillen.«

»Auch um ihren Seelenzustand«, fuhr die Dame fort, »müssen wir uns sofort kümmern; wenn Creamer um sie ist, kann sie jeden Tag sterben, und in welcher Verfassung, mein lieber Pitt, in welcher entsetzlichen Verfassung! Ich werde ihr sofort Ehrwürden Irons schicken. Jane, schreib eine Zeile an Ehrwürden Bartholomew Irons, in der dritten Person, und sage ihm, daß ich mir das Vergnügen seiner Gesellschaft heute abend halb sieben Uhr zum Tee erbitte. Er kann andere sehr gut erwecken, und er muß sich Miss Crawley ansehen, ehe sie heute abend zur Ruhe geht. Und Emily, mein Herz, mach ein Paket Bücher für Miss Crawley fertig. Nimm ›Eine Stimme aus den Flammen‹, ›Ein warnender Trompetenstoß für Jericho‹ und ›Die zerbrochenen Fleischtöpfe oder Der bekehrte Kannibale‹.«

»Und ›Die Apfelfrau von Finchley‹, Mama«, fügte sie hinzu. »Es wird das beste sein, sanft anzufangen.«

»Halt, meine lieben Damen«, fiel Pitt, der Diplomat, ein. »Bei aller Achtung für die Ansicht meiner geliebten und hochverehrten Lady Southdown halte ich es nicht für ratsam, Miss Crawley so früh mit religiösen Themen zu kommen. Denken Sie an ihre zarte Gesundheit und wie wenig, wie äußerst wenig sie bis her gewohnt war, Betrachtungen über ihr ewiges Seelenheil anzustellen.«

[485] »Können wir denn zu zeitig anfangen?« fragte Lady Emily, die schon mit sechs Broschüren in der Hand aufstand.

»Wenn Sie zu plötzlich damit anfangen, werden Sie sie nur erschrecken. Ich kenne die weltliche Natur meiner Tante sehr gut und bin überzeugt, jeder plötzliche Bekehrungsversuch würde ein sehr schlechtes Mittel sein, das Seelenheil dieser unglücklichen Dame zu gewinnen. Man kann sie damit nur ängstigen und ärgern. Sie wird höchstwahrscheinlich die Bücher fortwerfen und die Bekanntschaft mit den Gebern ablehnen.«

»Pitt, Sie sind ebenso weltlich wie Miss Crawley«, sagte Emily und stolzierte mit ihren Büchern aus dem Zimmer.

»Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu erklären, meine liebe Lady Southdown«, fuhr Pitt, ohne die Unterbrechung zu beachten, mit leiser Stimme fort, »wie verhängnisvoll sich auch nur ein kleiner Mangel an Sanftmut und Vorsicht für alle Hoffnungen auf die weltlichen Güter meiner Tante erweisen könnte. Denken Sie daran, daß sie siebzigtausend Pfund besitzt; denken Sie an ihr Alter, ihre Nervosität und ihre zarte Gesundheit überhaupt. Ich weiß, daß sie das Testament, das zugunsten meines Bruders (Oberst Crawley) lautete, vernichtet hat. Nur durch besänftigende Mittel können wir diese verwundete Seele auf den rechten Pfad bringen, nicht aber indem wir sie erschrecken, und deshalb glaube ich, Sie werden mit mir übereinstimmen, daß ... daß ...«

»Natürlich, natürlich«, bemerkte Lady Southdown. »Jane, mein Liebling, du brauchst Mr. Irons das Billett nicht zu schicken. Wenn ihre Gesundheit so schwach ist, daß Diskussionen sie erschöpfen, dann wollen wir warten, bis es ihr besser geht. Ich will Miss Crawley morgen besuchen.«

»Und wenn ich mir einen Vorschlag erlauben dürfte, meine Gnädigste«, fuhr Pitt in einschmeichelndem Ton fort, »so wäre es wohl gut, unsere vortreffliche Emily nicht mitzunehmen, sie ist zu enthusiastisch. Lassen Sie sich lieber von unserer sanften lieben Lady Jane begleiten.«

[486] »Gewiß, Emily würde alles verderben«, sagte Lady Southdown und ließ sich für dieses Mal überreden, von ihrer gewöhnlichen Methode abzugehen. Die bestand, wie wir gesagt haben, darin, daß sie eine Anzahl Traktate auf den abfeuerte, den sie unterwerfen wollte, ehe sie sich persönlich mit dem Bedrohten befaßte (wie die Franzosen ihren Angriff stets mit einer wütenden Kanonade einleiten). Lady Southdown ließ sich herbei, aus Rücksicht auf die Gesundheit der Patientin oder auf ihr ewiges Seelenheil oder auf ihr Geld, sich nicht zu überstürzen.

Am nächsten Tage fuhr die große Familienkutsche der Damen Southdown bei Miss Crawley vor. Am Schlag konnte man die Grafenkrone und das Wappen bewundern, auf dem sich im grünen Feld die drei silbernen springenden Lämmer der Shouthdowns mit dem schwarzgoldenen Schrägbalken und den roten Schnupftabakdosen der Binkies befand. Und der große, ernsthafte Lakai überreichte Mr. Bowls die Karten der Ladys für Miss Crawley und eine für Miss Briggs. Als Ausgleich schickte Lady Emily am Abend ein Paket für Miss Briggs, das ein Exemplar der »Apfelfrau« und andere milde und beliebte Traktate zu Miss Briggs' eigenem Gebrauch und ein paar viel kräftigere für die Dienstboten enthielt, nämlich »Brosamen aus der Speisekammer«, »Bratpfanne und Feuer« und »Die Livree der Sünde«.

Fußnoten

1 Häuser mit Luxuswohnungen für Unverheiratete in London.

2 alle nicht der anglikanischen Kirche, der englischen Staatskirche, Angehörenden.

3 Anhänger der von John Wesley (1703-1791) und Charles Wesley (1707-1788) gegründeten religiösen Erneuerungsbewegung, des Methodismus, dessen Ziel es war, das Christentum zu verinnerlichen.

4 (franz.) Bräutigam.

34. Kapitel
James Crawleys Pfeife wird ausgelöscht

Das liebenswürdige Benehmen Mr. Crawleys und Lady Janes freundliche Begrüßung schmeichelten Miss Briggs sehr, und als die Karten der Familie Southdown Miss Crawley überbracht worden waren, legte sie ein gutes Wort für Lady Jane ein. Daß die Karte einer Gräfin persönlich für sie abgegeben[487] wurde, freute die arme freundlose Gesellschafterin nicht wenig. »Ich möchte wissen, was Lady Southdown damit bezweckte, als sie für Sie auch eine Karte abgab, Miss Briggs«, meinte die republikanische Miss Crawley, worauf ihre Gefährtin bescheiden erwiderte, »sie hoffe, es erwecke keinen Anstoß, daß eine vornehme Lady von einer armen Dame Notiz nähme«. Die Karte legte sie in ihr Arbeitskästchen zu ihren teuersten privaten Schätzen. So erzählte Miss Briggs auch, daß sie tags zuvor Mr. Crawley mit seiner Cousine und langjährigen Braut getroffen habe, und wie freundlich und sanft die Dame ausgesehen habe, und wie schlicht, um nicht zu sagen einfach, ihre Kleidung gewesen sei, deren Bestandteile sie vom Hut bis zu den Stiefelchen mit weiblicher Genauigkeit beschrieb und beurteilte.

Miss Crawley ließ die Briggs ohne große Unterbrechung weiterschwätzen. Sobald ihre Gesundheit sich besserte, sehnte sie sich nach Gesellschaft. Ihr Arzt, Mr. Creamer, wollte nichts davon hören, daß sie zu ihren alten Vergnügungen und Zerstreuungen in London zurückkehrte. Die alte Jungfer war nur zu froh, in Brighton überhaupt Gesellschaft zu finden, und erwiderte nicht nur die Karten schon am nächsten Tag, sondern lud sogar Pitt Crawley sehr gnädig ein, seine Tante zu besuchen. Er kam und brachte Lady Southdown und ihre Tochter mit. Die verwitwete Gräfin verlor kein Wort über Miss Crawleys Seelenheil, sondern sprach mit viel Taktgefühl vom Wetter, dem Krieg und dem Sturz des Ungeheuers Bonaparte, vor allem aber von den Ärzten, Quacksalbern und den besonderen Verdiensten Dr. Podgers', dessen Gönnerin sie gerade war.

Während der Unterhaltung führte Pitt Crawley einen Hauptstreich und bewies damit, daß er ein großer Diplomat hätte werden können, wäre nicht seine Karriere durch anfängliche Nachlässigkeit verhindert worden. Als die verwitwete Gräfin Southdown nach der damaligen Mode über den korsischen Emporkömmling herzog und erklärte, er sei [488] ein Ungeheuer und mit allen möglichen Verbrechen befleckt, ein lebensuntauglicher Feigling und Tyrann, dessen Sturz schon längst prophezeit sei, ergriff Pitt Crawley plötzlich Partei für den Mann des Schicksal. Er beschrieb den Ersten Konsul 1, wie er ihn nach dem Frieden von Amiens 2 in Paris gesehen hatte, als er, Pitt Crawley, das Vergnügen gehabt, die Bekanntschaft des großen und guten Mr. Fox zu machen, eines Staatsmannes, den er trotz verschiedener abweichender Ansichten unbedingt glühend bewundern müsse, eines Staatsmannes, der stets die höchste Meinung vom Kaiser Napoleon gehegt hatte. Er ereiferte sich gegen die treulose Behandlung des entthronten Monarchen durch die Alliierten. Nachdem er sich nämlich edelmütig ihrer Gnade ausgeliefert hätte, sei er in eine unwürdige und grausame Verbannung geschleppt worden, während an seiner Statt ein bigotter päpstlicher Pöbel Frankreich tyrannisierte.

Dieser orthodoxe Abscheu gegen den römischen Aberglauben rettete Pitt Crawley in Lady Southdowns Augen, während seine Bewunderung für Fox und Napoleon ihn unermeßlich in Miss Crawleys Meinung steigen ließ. Ihre Freundschaft mit dem verstorbenen britischen Staatsmann ist bereits erwähnt worden, als wir sie in unserer Geschichte vorstellten. Als ein echter Whig 3 war Miss Crawley während des ganzen Krieges in der Opposition gewesen, und wenn auch der Sturz des Kaisers die alte Dame kaum erregte noch seine schlechte Behandlung ihr das Leben verkürzte oder den Schlaf raubte, so sprach ihr Pitt doch aus dem Herzen, als er ihre beiden Idole lobte, und machte durch diese Bemerkungen allein schon ungeheure Fortschritte in ihrer Gunst.

»Und was denken Sie, meine Liebe?«, fragte Miss Crawley die junge Dame, zu der sie beim ersten Anblick, wie stets für hübsche und bescheidene junge Leute, Zuneigung gefaßt hatte, obgleich man zugeben muß, daß ihre Neigungen stets ebenso schnell abkühlten, wie sie entstanden waren.

[489] Lady Jane errötete tief und meinte, daß sie nichts von Politik verstünde und das lieber klügeren Köpfen überließe. Wenn nun auch zweifellos die Mama im Recht sei, so habe doch Mr. Crawley jedenfalls schön gesprochen. Als sich die Damen entfernten, äußerte Miss Crawley die Hoffnung, Lady Southdown möge die Güte haben, ihr zuweilen Lady Jane zu schicken, wenn sie abkömmlich sei, um eine arme, kranke, einsame alte Frau zu trösten. Diese Versprechen wurde gnädigst gegeben, und sie schieden in bestem Einvernehmen.

»Lady Southdown soll nicht wieder herkommen, Pitt«, sagte die alte Dame. »Sie ist dumm und aufgeblasen wie die ganze Familie deiner Mutter, die ich nie leiden konnte. Aber bring die kleine, nette, gutmütige Lady Jane mit, sooft du Lust hast.« Pitt versprach es. Er sagte der Gräfin Southdown nicht, welche Meinung Miss Crawley von ihr hatte, sondern ließ sie im Gegenteil in dem Glauben, sie habe einen vortrefflichen und ungemein majestätischen Eindruck auf seine Tante gemacht.

So besuchte Lady Jane Miss Crawley recht häufig, begleitete sie auf ihren Spazierfahrten und vertrieb ihr des Abends oftmals die Zeit, denn sie hatte nichts dagegen, einer Kranken beizustehen, und war vielleicht im Innern froh, ab und zu dem langweiligen Gesäusel von Ehrwürden Bartholomew Irons und den frommen Speichelleckern, die sich um die Fußbank der pompösen Gräfin, ihrer Mama, scharten, zu entrinnen. Sie war von Natur aus so gut und weich, daß selbst die Firkin nicht eifersüchtig auf sie war, und die sanfte Briggs glaubte, ihre Freundin sei in Gegenwart der guten Lady Jane weniger grausam zu ihr. Miss Crawley benahm sich gegenüber der Lady reizend. Die alte Jungfer erzählte ihr tausend Anekdoten aus ihrer Jugendzeit und sprach mit ihr ganz anders als früher mit der gottlosen kleinen Rebekka. Lady Janes Unschuld stempelte nämlich lose Reden zu einer Unverschämtheit, und Miss Crawley hatte zu gute Manieren, um[490] eine solche Reinheit zu beleidigen. Die junge Dame selbst hatte von keiner Seite als von dieser alten Jungfer, von ihrem Bruder und ihrem Vater Güte empfangen, und sie vergalt Miss Crawleys engoûment mit schlichter, anmutiger Freundschaft.

An den Herbstabenden (an denen Rebekka als die fröhlichste unter den fröhlichen Siegern in Paris umherflatterte, und unsere Amelia, unsere liebe, verwundete Amelia, ach! wo war sie?) saß Lady Jane gewöhnlich in Miss Crawleys Wohnzimmer und sang ihr in der Dämmerung mit süßer Stimme ihre einfachen Liedchen vor, während die Sonne unterging und die Meereswogen an die Küste donnerten. Die alte Jungfer erwachte stets, wenn das Singen aufhörte und verlangte nach mehr. Die Briggs vergoß Freudentränen, wenn sie auf das glänzende Meer hinausblickte, das langsam dunkel wurde, und auf die Himmelslichter, die immer heller strahlten. Wer kann das Glück und die Gefühle der Briggs beschreiben, die dasaß und vorgab zu stricken?

Inzwischen fand Pitt im Speisezimmer bei einer Broschüre über die Korngesetzte oder einem Missionarregister die Erholung, die romantischen und unromantischen Männern nach dem Essen ansteht. Er schlürfte Madeira, baute Luftschlösser, hielt sich für einen prächtigen Kerl, fühlte sich verliebter in Jane als je zuvor in den sieben Jahren, die ihre Verbindung jetzt schon ohne das geringste Zeichen von Ungeduld auf seiner Seite dauerte, und schlief viel. Wenn es Zeit für den Kaffee war, kam Mr. Bowls lärmend herein, und rief Squire Pitt, der im Dunkeln sehr stark mit seiner Broschüre beschäftigt war.

»Es wäre schön, meine Liebe, wenn ich jemanden auftreiben könnte, der mit mir Pikett spielt«, sagte Miss Crawley eines Abends, als der Butler mit den Kerzen und dem Kaffee erschien. »Die arme Briggs spielt nicht besser als eine Eule. Sie ist so dumm« (die alte Jungfer ergriff jede Gelegenheit, die Briggs vor den Dienstboten schlechtzumachen); »und ich[491] glaube, ich würde besser schlafen, wenn ich mein Spielchen hätte.«

Bei diesen Worten errötete Lady Jane bis hinter die Ohren und bis in ihre hübschen Fingerspitzen. Sobald Mr. Bowls das Zimmer verlassen hatte und die Tür fest hinter sich zugemacht hatte, sagte sie:

»Miss Crawley, ich spiele ein bißchen. Ich habe – habe manchmal mit meinem armen lieben Papa gespielt.«

»Kommen Sie her und geben Sie mir einen Kuß, und zwar augenblicklich, Sie liebes gutes Seelchen«, rief Miss Crawley begeistert, und als Mr. Pitt mit der Broschüre in der Hand heraufkam, fand er die alte und die junge Dame bei dieser malerischen und schönen Beschäftigung. Wie sie an diesem Abend andauernd errötete – die arme Lady Jane!

Man braucht sich nicht einzubilden, daß Mr. Pitts Schliche der Aufmerksamkeit seiner lieben Verwandten im Pfarrhaus von Queen's Crawley entgangen wären. Hampshire und Sussex liegen sehr nahe beieinander, und Mrs. Bute besaß in Sussex Freunde, die dafür sorgten, daß sie alles und noch viel mehr als alles, was in Miss Crawleys Haus in Brighton vorging, erfuhr. Pitt ging immer mehr bei ihr aus und ein. Er kam oft monatelang nicht ins Schloß, wo sich sein abscheulicher Vater vollständig dem Alkohol und der Gesellschaft dieser widerlichen Familie Horrocks ergeben hatte. Pitts Erfolge wurmten die Pfarrersleute, und Mrs. Bute bereute mehr als je (obwohl sie es weniger denn je zugab), daß sie einen großen Fehler begangen hatte. Wie hatte sie nur Miss Briggs so beleidigen und so hochmütig und knauserig gegen Bowls und die Firkin sein können, daß ihr keine Menschenseele in Miss Crawleys Haus geblieben war, die sie von den Vorgängen dort unterrichten könnte. »Butes Schlüsselbein ist an allem schuld«, beharrte sie, »wenn er sich das nicht gebrochen hätte, so hätte ich sie nie verlassen. Ich bin eine Märtyrerin der Pflicht und deiner widerwärtigen Jagdleidenschaft, die sich für einen Pfarrer gar nicht schickt.«

[492] »Jagdleidenschaft? Unsinn! Du bist es, die sie in Furcht versetzt hat, Martha«, unterbrach sie der Geistliche. »Du bist eine gescheite Frau, aber du hast ein teuflisches Temperament und bist ein alter Geizkragen, Martha.«

»Du würdest schon lange im Gefängnis sitzen, Bute, wenn ich dein Geld nicht zusammengehalten hätte.«

»Das weiß ich, meine Liebe«, sagte der Pfarrer gutmütig. »Du bist eben eine gescheite Frau, aber, weißt du, du organisierst alles zu gut«, und der fromme Mann tröstete sich mit einem großen Glase Porter.

»Was zum Teufel kann sie bloß an dem albernen Pitt Crawley finden«, fuhr er fort. »Der Bursche kann doch keine Gans erschrecken. Ich entsinne mich noch, wie Rawdon, der wenigstens ein Mann ist, wenn er auch zum Henker gehen sollte, ihn im Stall umherzuprügeln pflegte, wie einen Kreisel, und wie Pitt heulend zu seiner Mama lief, haha! Jeder von meinen Jungen würde ihn mit einer Hand umwerfen. James sagt, daß man sich in Oxford noch immer seiner als ›Miss Crawley‹ erinnert – der Narr!«

»Du Martha«, fuhr der Pfarrer nach einer Pause fort.

»Was?« fragte Martha, die an den Nägeln kaute und auf dem Tisch trommelte.

»Du, sollten wir nicht James nach Brighton schicken, um zu sehen, ob er mit der Alten etwas anfangen kann? Du weißt, daß er kurz vor dem Examen steht. Er ist erst zweimal durchgefallen – das bin ich ja auch –, aber er ist doch wenigstens in Oxford gewesen und hat eine Universitätsausbildung bekommen. Er kennt einige von den besten Burschen dort. Er ist Schlagmann im Bonifatiusboot. Er ist ein hübscher Kerl, verdammt noch mal, wir wollen ihn auf die Alte hetzen und ihm sagen, er soll Pitt verdreschen, wenn er sich muckst. Hahaha!«

»Na schön, James könnte sie mal besuchen«, meinte die Hausfrau und fügte seufzend hinzu:

»Wenn wir ihr nur eins von den Mädchen schicken könnten, [493] aber sie hat sie nie leiden können, weil sie nicht hübsch sind!«

Die unglücklichen und wohlerzogenen Mädchen ließen sich bei den Worten ihrer Mutter aus dem Nebenzimmer vernehmen, wo sie mit harten Fingern ein sorgfältig einstudiertes Musikstück auf dem Klavier hämmerten. Sie waren tatsächlich den ganzen Tag lang entweder mit Musik oder dem Rückenbrett oder Geographie oder Geschichte beschäftigt. Aber was nützen Mädchen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit alle diese Talente, wenn sie klein gewachsen, arm und unansehnlich sind und einen schlechten Teint haben? Außer dem Hilfsgeistlichen kannte Mrs. Bute keinen Menschen, der ihr eine hätte abnehmen können. In diesem Augenblick kam James aus dem Stall, mit einer kurzen Pfeife und einer Wachstuchmütze auf dem Kopf, und begann mit seinem Vater ein Gespräch über die Wetten beim Sankt-Leger-Rennen, und die Unterredung zwischen dem Pfarrer und seiner Frau war damit beendet.

Mrs. Bute erhoffte sich nicht viel Gutes für ihre Sache, wenn sie ihren Sohn James als Gesandten hinschickte, und hoffnungslos sah sie ihn abfahren. Der junge Bursche versprach sich ebenfalls wenig Freude oder Gewinn, als er erfuhr, wohin die Reise gehen solle. Er tröstete sich aber mit dem Gedanken, daß ihm die alte Dame vielleicht ein hübsches Andenken schenken würde, damit er zu Anfang des nächsten Semesters in Oxford einige seiner drückendsten Schulden bezahlen könne. Er nahm daher seinen Platz in der Southamptoner Postkutsche ein und landete am selben Abend sicher in Brighton mit seiner Reisetasche, seiner Lieblingsbulldogge Towzer und einem riesigen Korb voller Feld- und Gartenfrüchte von den lieben Pfarrersleuten für die liebe Miss Crawley. Da es ihm zu spät schien, die kränkliche Dame gleich am Abend seiner Ankunft zu stören, stieg er in einem Gasthaus ab und machte seine Aufwartung bei Miss Crawley erst am späten Vormittag des nächsten Tages.

[494] Als die Tante James Crawley zuletzt gesehen hatte, war er ein schlaksiger Bursche in dem unglücklichen Alter gewesen, wo die Stimme zwischen einem gräßlichen Diskant und einem unnatürlichen Baß schwankt, wo das Gesicht nicht selten Blüten treibt, für die Rowlands Kalidor ein gutes Heilmittel sein soll, wo man die Jungen ertappt, wie sie sich heimlich mit der Schere ihrer Schwester rasieren, und wo ihnen der Anblick eines anderen jungen Mädchens unerträgliche Schrecken bereitet. Die großen Hände und Handgelenke ragen weit aus den zu eng gewordenen Kleidern, und nach dem Essen ist ihre Gegenwart furchtbar sowohl für die Damen, die in der Dämmerung zusammen im Wohnzimmer flüstern, als auch für die Herren beim Wein, die sich in ihrer freien Unterhaltung und dem Austausch guter Witze durch die Anwesenheit der tapsigen Unschuld behindert fühlen. Der Papa sagt dann nach dem zweiten Glas: »Jack, mein Junge, geh hinaus und sieh zu, ob sich das Wetter heute hält«, und der Jüngling, froh, seine Freiheit zu bekommen, aber doch traurig, noch kein Mann zu sein, verläßt das unvollständige Mahl.

James, damals noch ein linkischer Bursche, war jetzt ein junger Mann geworden, der die Vorteile einer Universitätsbildung genossen und jene unschätzbare Politur erworben hatte, die man erhält, wenn man in flotter Gesellschaft in einem kleinen College lebt, Schulden macht, zeitweise von der Universität ausgeschlossen wird und durch das Examen fällt.

Als er sich seiner Tante in Brighton vorstellte, war er jedoch ein hübscher Bursche, und gutes Aussehen galt bei der wankelmütigen alten Dame stets als Empfehlung. Sein Erröten und seine Verlegenheit schadeten dabei nichts, ihr gefielen diese Anzeichen für die gesunde Unschuld des jungen Mannes.

Er sagte, er sei auf ein paar Tage hergekommen, um einen Studienfreund zu besuchen, und – »und um Ihnen meine [495] Aufwartung zu machen, Madame, und viele Grüße von meinen Eltern auszurichten, die hoffen, daß es Ihnen gut geht.«

Pitt war gerade bei Miss Crawley, als der junge Bursche angemeldet wurde, und blickte sehr bestürzt, als er den Namen hörte. Die alte Dame besaß viel Humor und weidete sich an der Überraschung ihres korrekten Neffen. Sie erkundigte sich interessiert nach der Familie im Pfarrhaus und verkündete, sie besuchen zu wollen. Sie lobte den Jüngling ins Gesicht, erklärte, er sei gutgewachsen und habe sich zu seinem Vorteil verändert und es sei schade, daß seine Schwestern nichts von seinem hübschen Aussehen besäßen. Als sie auf ihre Frage erfahren hatte, daß er sein Quartier im Gasthaus aufgeschlagen hatte, wollte sie nichts davon wissen, daß er dort wohnen bliebe, sondern befahl Mr. Bowls, augenblicklich Mr. James Crawleys Sachen holen zu lassen; »und hören Sie, Bowls«, fügte sie gnädig hinzu, »Sie werden so freundlich sein und Mr. James' Rechnung bezahlen.«

Sie warf Pitt einen schlauen Triumphblick zu, daß der Diplomat vor Neid fast erstickte. So hoch er es auch in der Gunst seiner Tante gebracht hatte, hatte sie ihn doch noch nicht eingeladen, in ihrem Hause zu wohnen, und da kam nun so ein Grünschnabel, der auf den ersten Blick aufgenommen wurde.

»Ich bitte um Verzeihung, mein Herr«, sagte Bowls und trat mit einer tiefen Verbeugung vor, »aus welchem Hotel soll Thomas das Gepäck holen?«

»Oh, verdammt«, rief der junge James und sprang auf, als ob ihn etwas beunruhigte, »ich gehe selbst.«

»Wie!« fragte Miss Crawley.

»In ›Tom Cribbs 4 Wappen‹«, erwiderte James und wurde knallrot.

Als er den Namen nannte, brach Miss Crawley in lautes Gelächter aus. Mr. Bowls als vertrauter Diener der Familie [496] erlaubte sich ein wieherndes Lachen, verschluckte aber den Rest der Salve. Der Diplomat lächelte nur.

»Ich – ich wußte kein besseres«, sagte James mit niedergeschlagenen Augen. »Ich bin noch nie hiergewesen, der Kutscher hat davon gesprochen.« Der junge Lügner! In Wirklichkeit hatte James Crawley tags zuvor in der Southamptoner Postkutsche den Tutbury-Liebling getroffen, der nach Brighton fuhr, um mit dem Rottingdean-Schläger einen Kampf auszutragen. Er war von der Unterhaltung mit dem »Liebling« so entzückt gewesen, daß er den Abend mit diesem technisch begabten Mann und dessen Freunden in dem fraglichen Wirtshaus verbracht hatte.

»Ich – ich gehe am besten selbst und bezahle die Rechnung«, fuhr James fort. »Ich kann das nicht von Ihnen verlangen, Madam«, fügte er großmütig hinzu.

Dieses Taktgefühl versetzte seine Tante in noch größere Heiterkeit.

»Gehen Sie und bezahlen Sie die Rechnung, Bowls«, sagte sie mit einer Handbewegung, »und bringen Sie sie mir.«

Die arme Dame! Sie wußte nicht, was sie getan hatte. »Da ist auch noch – ich habe noch einen kleinen Hund«, sagte James und sah schrecklich schuldbewußt drein. »Ich hole ihn am besten selbst. Er beißt Diener in die Waden.«

Die ganze Gesellschaft schrie vor Lachen bei dieser Beschreibung, sogar die Briggs und Lady Jane, die während des Gesprächs zwischen Miss Crawley und ihrem Neffen stumm dabeigesessen hatten, und Bowls verließ das Zimmer, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Immer noch war Miss Crawley gnädig zu dem jungen Oxforder Studenten, um ihrem älteren Neffen eine Lektion zu erteilen. Wenn sie einmal angefangen hatte, kannten ihre Freundlichkeit und ihre Höflichkeitsbezeigungen keine Grenzen. Sie sagte Pitt, er könne zum Essen kommen, und bestand darauf, daß James sie bei ihrer Spazierfahrt begleite. Er saß auf dem Rücksitz in ihrer Kutsche, und feierlich fuhr sie mit ihm an den Felsenklippen [497] auf und ab. Während des ganzen Weges ließ sie sich herab, ihn mit Höflichkeiten zu überschütten, zitierte dem armen verwirrten Burschen italienische und französische Dichtungen und bestand darauf, daß er ein ausgezeichneter Student sei und sicherlich eine Goldmedaille gewinnen und Erster Disputant 5 werden würde.

»Haha!« lachte James, den diese Komplimente sehr ermutigt hatten. »Erster Disputant, ach wo! Das gibt's bloß in der anderen Bude.«

»Was heißt andere Bude, mein liebes Kind?« fragte die Dame.

»Erste Disputanten gibt es bloß in Cambridge, nicht in Oxford«, sagte der Student mit schlauer Miene und wäre wahrscheinlich noch vertraulicher geworden, wären nicht plötzlich in einem leichten Wagen, der von einem geputzten Pony gezogen wurde, seine Freunde, der Tutbury-Liebling und der Rottingdean-Schläger, in weißen Flanelljacken mit Perlmuttknöpfen und drei von ihren Bekannten aufgetaucht, die alle den armen James in seiner Kutsche grüßten. Dieser Vorfall dämpfte den Mut des aufrichtigen Jünglings, und während der ganzen übrigen Fahrt sagte er weder ja noch nein.

Bei seiner Rückkehr war sein Zimmer für ihn bereit, und seine Reisetasche stand da. Als Mr. Bowls ihn hinaufführte, hätte James auf dessen Gesicht einen Ausdruck von Würde, Verwunderung und Mitleid erblicken können, er dachte jedoch nicht an Mr. Bowls. Er beklagte nur die mißliche Lage, in der er war, in einem Hause voll alter Weiber, die französisch und italienisch plapperten und ihm Verse aufsagten. »Ganz schön in der Patsche, beim Satan«, rief der bescheidene Junge, der der Sanftesten des weiblichen Geschlechts – selbst einer Briggs – nicht ins Auge blicken konnte, wenn sie ihn anredete, während er es in Iffley Lock mit dem Mundwerk des kühnsten Schiffers hätte aufnehmen können.

[498] Beim Essen erschien James in einer hohen weißen Halsbinde, die ihn fast erstickte, und er hatte die Ehre, Lady Jane in das Speisezimmer zu führen, während die Briggs und Mr. Crawley ihnen mit der alten Dame und ihrem Apparat von Bündeln, Schals und Kissen folgten. Die Hälfte der Essenszeit verbrachte die Briggs damit, daß sie es der Kranken bequem machte und für ihren fetten Schoßhund Hühnerfleisch zerkleinerte. James sprach nicht viel, bestand jedoch darauf, mit allen Damen Wein zu trinken, nahm Mr. Crawleys Herausforderung an und trank den größten Teil einer Flasche Champagner, die Mr. Bowls ihm zu Ehren hatte heraufholen müssen. Nachdem sich die Damen zurückgezogen hatten und die beiden Cousins allein geblieben waren, wurde Pitt, der ehemalige Diplomat, äußerst redselig und freundlich. Er erkundigte sich nach James' Laufbahn auf der Universität, nach seinen Zukunftsaussichten, hoffte von Herzen, daß er es zu etwas bringen würde, und war, mit einem Wort, offen und liebenswürdig. Der Portwein löste auch James' Zunge, und er erzählte seinem Vetter von seinem Leben, seinen Aussichten, seinen Schulden, seinen Sorgen um das Vorexamen und seinen Prügeleien mit den Pedellen, während er sich eifrig aus den Flaschen vor ihm einschenkte und fröhlich vom Portwein zum Madeira überging.

»Das größte Vergnügen, das meine Tante kennt«, sagte Mr. Crawley, »ist, daß ein jeder in ihrem Hause sich bewegt, wie es ihm gerade paßt. Das hier ist Schloß Freiheit, James, und du kannst Miss Crawley keinen größeren Gefallen erweisen, als zu tun, was du möchtest, und zu verlangen, was du willst. Ich weiß, ihr auf dem Lande habt mich alle verhöhnt, weil ich Tory 6 bin. Miss Crawley ist tolerant genug, jedermann zu genügen. Sie ist Republikanerin durch und durch und verachtet solche Sachen wie Rang und Titel.«

»Warum heiratest du denn eine Grafentochter?« fragte James.

[499] »Mein lieber Freund, die arme Lady Jane ist ja nicht schuld daran, daß sie hochgeboren ist«, entgegnete Pitt mit höflicher Miene. »Sie kann nichts dafür, daß sie Lady ist. Außerdem weißt du, daß ich Tory bin.«

»Na klar«, sagte James, »es geht nichts über altes Blut, verdamm mich, nichts. Ich bin keiner von diesen Radikalen, ich weiß, was es heißt, ein Gentleman zu sein, verdamm mich. Guck dir bloß die Kerls beim Wettrudern an oder bei einer Prügelei, oder guck dir einen Hund an, wenn er Ratten totbeißt. Wer gewinnt? Die mit edlem Blut. Bringen Sie noch ein bißchen Portwein, Bowls, alter Junge, während ich die Flasche hier alle mache. Wo war ich stehengeblieben?«

»Ich glaube, du sprachst von Hunden, die Ratten totbeißen«, bemerkte Pitt mit sanfter Stimme und reichte seinem Cousin die Flasche zum »Allemachen«.

»Wirklich? Ratten totbeißen? Ach so! Bist du ein Sportsmann, Pitt? Willst du einen Hund sehen, der bombensicher Ratten totbeißen kann? Dann komm mit mir zu Tom Corduroy in die Castle-Street-Ställe, und ich will dir so einen Terrier zeigen, der ... Pah, Quatsch!« rief James und lachte über den Unsinn, den er da verzapfte. »Du interessierst dich doch weder für Hunde noch für Ratten, das ist alles Blödsinn, ich will verdammt sein, wenn ich glaube, daß du den Unterschied zwischen einem Hund und einer Ente kennst.«

»Nein; übrigens sprachst du vom Blut und den persönlichen Vorzügen, die eine edle Geburt mit sich bringen«, fuhr Pitt, immer freundlicher werdend, fort. »Hier ist die neue Flasche.«

»Blut ist das Stichwort«, sagte James und stürzte die rubinrote Flüssigkeit hinunter. »Es geht nichts über das Blut, weder bei Pferden noch Hunden, noch bei Menschen. Erst im letzten Semester, kurz bevor ich rausgeschmissen wurde, das heißt, kurz bevor ich die Masern hatte, haha!, waren ich und Ringwood vom Christchurch College, Bobb Ringwood, Lord Sinqbars Sohn, in der ›Glocke‹ in Blenheim und tranken Bier, [500] als der Schiffer von Banbury sich erbot, mit einem von uns um eine Bowle Punsch zu boxen. Ich konnte nicht. Ich trug den Arm in der Schlinge, so daß ich überhaupt nichts machen konnte – das Biest von meiner Stute war gerade zwei Tage zuvor beim Abingdon-Rennen mit mir gestürzt, und ich dachte, ich hätte mir den Arm gebrochen. Na ja, ich konnte ihn also nicht abfertigen. Bob hatte aber seinen Rock im Nu aus. Er boxte drei Minuten mit dem Kerl von Banbury und hatte ihn in vier Runden erledigt. Gott, wie der umfiel, und woran lag es? Nur am Blut, mein Lieber, an weiter nichts als am guten Blut.«

»Du trinkst ja gar nicht, James«, bemerkte der ehemalige Attaché. »Zu meiner Zeit ließ man in Oxford die Flasche ein bißchen schneller kreisen, als es bei euch jungen Burschen üblich zu sein scheint.«

»Na, na«, sagte James, legte den Finger an die Nase und zwinkerte seinem Cousin mit weinseligen Augen zu. »Mach keine Witze, alter Junge, versuch's nicht mit mir. Du willst mich wohl für dumm verkaufen, aber das wird dir nicht gelingen. In vino veritas, alter Junge. Mars, Bacchus, Apollo vivorum, wie? Ich wollte, meine Tante würde dem Alten so was schicken. Das ist ein famoser Stoff.«

»Das beste wäre doch, du bittest sie darum«, meinte der Machiavelli, »und nutzt deine Zeit jetzt gut aus. Wie sagt doch gleich der Dichter? ›Nunc vino pellite curas, cras ingens iterabimus aequor‹ 7.« Und der Bacchant, der den Ausspruch mit der Miene eines Unterhausabgeordneten zitiert hatte, stürzte mit einem ungeheuren Schwung seines Glases fast einen Fingerhutvoll Wein hinunter.

Wenn im Pfarrhaus nach Tisch die Portweinflasche geöffnet wurde, erhielten die jungen Damen jede ein Glas Johannisbeerwein, Mrs. Bute trank ein Glas Portwein, und der ehrliche James nahm gewöhnlich zwei; da aber sein Vater sehr verdrießlich wurde, wenn er weitere Angriffe auf die Flasche unternahm, so stand der gute Bursche im allgemeinen [501] von weiteren Versuchen ab und begnügte sich entweder mit Johannisbeerwein oder einem heimlichen Glas Schnaps im Stall, das er sich in Gesellschaft des Kutschers und seiner Pferde zu Gemüte zog. In Oxford war die Quantität des Weines unbegrenzt, die Qualität aber sehr schlecht. Wenn sich jedoch Quantität und Qualität vereinigten, wie im Haus seiner Tante, so bewies James, daß er das zu schätzen verstand, und bedurfte kaum der Aufmunterung seines Cousins, um die zweite Flasche, die Mr. Bowls heraufgebracht hatte, zu leeren.

Als jedoch die Kaffeestunde kam und man sich zu den Damen begeben mußte, vor denen der junge Mann große Scheu empfand, verließ ihn seine angenehme Offenheit, und er verfiel wieder in seine gewöhnliche mürrische Schüchternheit. Er begnügte sich den ganzen Abend damit, ja oder nein zu antworten, Lady Jane finster anzublicken und eine einzige Tasse Kaffee umzuwerfen. Wenn er schon nicht sprach, so gähnte er doch mitleiderregend, und seine Gegenwart wirkte sich lähmend auf die sittsamen Vergnügungen des Abends aus, denn Miss Crawley und Lady Jane beim Pikett und Miss Briggs über ihrer Arbeit fühlten, daß er wilde Blicke auf sie warf, und wurden unter seinen weinseligen Augen unruhig.

»Er scheint ein sehr schweigsamer, unbeholfener, scheuer Bursche zu sein«, bemerkte Miss Crawley zu Mr. Pitt.

»Er ist in Männergesellschaft mitteilsamer als bei Damen«, erwiderte Machiavelli trocken, wohl etwas ärgerlich, daß der Portwein James nicht gesprächiger gemacht hatte.

Die frühen Morgenstunden des nächsten Tages verbrachte er damit, seiner Mutter einen schriftlichen Bericht über seine glänzende Aufnahme bei Miss Crawley zu geben. Aber ach, er wußte nicht, welches Unheil ihm der Tag bringen sollte und wie kurz die Zeit der Gnade sein würde. Ein Vorfall, den James vergessen hatte – ein geringfügiger, aber verhängnisvoller Vorfall –, hatte sich am Abend vor dem Besuch [502] bei seiner Tante in »Tom Cribbs Wappen« ereignet. Es war nichts geschehen als dies: James, der stets großzügig und, wenn er etwas getrunken hatte, besonders gastfrei war, hatte im Laufe des Abends dem Preiskämpfer von Tutbury und dem Mann von Rottingdean sowie deren Freunden zwei oder drei Runden Schnaps spendiert, so daß auf Mr. James Crawleys Rechnung nicht weniger als achtzehn Gläser dieses Getränks, jedes zu acht Pence, standen. Es war nicht die Anzahl von acht Pence, sondern die Menge des Schnapses, die verhängnisvoll gegen den Charakter des armen James sprachen, als Mr. Bowls, der Butler der Tante, auf Betreiben seiner Herrin hinunterging, um die Rechnung des jungen Mannes zu begleichen. Der Wirt fürchtete, die Zahlung könnte ganz und gar verweigert werden, und schwor deshalb Stein und Bein, daß der junge Herr den Schnaps bis auf den letzten Tropfen selbst getrunken habe. Schließlich bezahlte Bowls die Rechnung und zeigte sie bei seiner Rückkehr Mrs. Firkin, die über die schreckliche Verschwendung von Schnaps entsetzt war und die Rech nung Miss Briggs, dem Oberbuchhalter, überbrachte. Diese hielt es für ihre Pflicht, den Umstand gegenüber ihrer Prinzipalin, Miss Crawley, zu erwähnen.

Hätte er ein Dutzend Flaschen Rotwein getrunken – die alte Jungfer hätte ihm das verziehen. Mr. Fox und Mr. Sheridan 8 hatten Rotwein getrunken. Gentlemen tranken Rotwein. Aber sich in einer gemeinen Kneipe unter Boxern achtzehn Gläser Schnaps zu Gemüte zu führen – das war ein abscheuliches Verbrechen, das nicht so schnell vergeben werden konnte. Alles verschwor sich heute gegen den jungen Burschen. Nach Stall duftend, kam er von einem Besuch bei seinem Hund Towzer zurück, und als er seinen Freund ein wenig an die frische Luft geführt hatte, hatte er Miss Crawley mit ihrem asthmatischen Wachtelhund getroffen. Towzer hätte das Hündchen aufgefressen, wäre es nicht winselnd unter den Schutz von Miss Briggs geflüchtet, und der [503] abscheuliche Herr der Bulldogge sah dieser entsetzlichen Verfolgung lachend zu.

An diesem Tage hatte den unglücklichen Burschen auch seine gewöhnliche Scheu verlassen. Er war bei Tisch lebhaft und lustig; während des Essens machte er ein paar Witze gegenüber Pitt Crawley; er trank ebensoviel Wein wie tags zuvor und begab sich völlig ahnungslos in den Salon, wo er die Damen mit einigen ausgewählten Oxforder Geschichtchen unterhielt. Er beschrieb die unterschiedlichen boxerischen Fähigkeiten von Molyneux und Dutch Sam. Er bot Lady Jane eine Wette über den Ausgang des Kampfes zwischen dem Tutbury-Liebling und dem Mann von Rottingdean an und überließ es ihr, die Wette zu bestimmen, und krönte den Scherz, indem er seinem Cousin Pitt Crawley anbot, sich mit oder ohne Boxhandschuhe mit ihm zu messen und gleich eine Wette abzuschließen. »Und das ist ein ehrliches Angebot, mein lieber Mann«, sagte er und klopfte Pitt lachend auf die Schulter. »Mein Vater hat mir auch empfohlen, das zu tun, und er will die Hälfte vom Einsatz tragen, haha!« Bei diesen Worten nickte der nette Jüngling der armen Miss Briggs schlau zu und deutete mit dem Daumen scherzhaft und triumphierend über die Schulter auf Pitt Crawley.

Pitt war wahrscheinlich nicht allzu erfreut darüber, aber dennoch im großen ganzen nicht unglücklich. Der arme Jim lachte noch viel, und als die alte Dame aufstand, um sich zurückzuziehen, schwankte er mit der Kerze seiner Tante durch den Raum und bot ihr mit schmeichelndem, angeheitertem Lächeln den Gutenachtgruß. Dann verabschiedete er sich und ging in sein Schlafzimmer hinauf, völlig mit sich zufrieden und mit dem angenehmen Gedanken, daß er das Geld seiner Tante vor seinem Vater und allen anderen Familienmitgliedern erben würde.

Da er nun einmal in seinem Schlafzimmer war, hätte man eigentlich glauben sollen, er könne die Lage nicht noch verschlimmern; [504] und doch gelang das dem unglückseligen Jungen. Der Mond schien sehr schön über das Meer, und James, den der romantische Anblick des Ozeans und des Himmels ans Fenster gelockt hatte, meinte, sein Vergnügen an der herrlichen Aussicht durch den Genuß eines Pfeifchens noch erhöhen zu können. Er glaubte, niemand würde den Tabakgeruch wahrnehmen, wenn er pfiffigerweise das Fenster öffnete und Kopf und Pfeife in die frische Luft hinaushielte. Und so geschah es. Da aber der arme James ziemlich erregt war, hatte er vergessen, daß die ganze Zeit über seine Tür offenstand; der Wind blies ins Zimmer, es entstand ordentlicher Durchzug, so daß die Tabakwolken die Treppe hinabgetrieben wurden und mit unvermindertem Duft bis zu Miss Crawley und Miss Briggs drangen.

Diese Tabakpfeife machte das Maß voll, und die Bute Crawleys erfuhren nie, wie viele tausend Pfund sie das kostete. Die Firkin rannte zu Bowls hinab, der seinem Adjutanten gerade mit lauter und geisterhafter Stimme aus »Bratpfanne und Feuer« vorlas. Die Firkin erzählte ihm das furchtbare Geheimnis mit so entsetzter Miene, daß Mr. Bowls und sein Gehilfe im ersten Augenblick glaubten, es seien Räuber im Hause, deren Beine die Frau wahrscheinlich unter Miss Crawleys Bett entdeckt hatte.

Als er jedoch die wahre Sachlage begriff, war es das Werk einer Minute, die Treppe hinaufzulaufen, wobei er immer drei Stufen auf einmal nahm, in das Zimmer des ahnungslosen James zu stürzen, mit vor Bestürzung halb erstickter Stimme »Mr. James« zu schreien und fortzufahren: »Um Gottes willen, Sir, machen Sie bloß die Pfeife aus!«

»Oh, Mr. James, was haben Sie nur getan«, rief er mit pathetischer Stimme, während er das Gerät aus dem Fenster warf. »Was haben Sie nur getan, Sir; die Gnädigste kann das nicht ausstehen.«

»Die Gnädigste braucht ja nicht zu rauchen«, sagte James mit tollem, unangebrachtem Lachen, da er das Ganze für [505] einen Hauptspaß hielt. Allein am anderen Morgen waren seine Gefühle doch ganz anderer Art, als nämlich Mr. Bowls' Gehilfe kam, um Mr. James' Stiefel zu putzen und ihm warmes Wasser zum Rasieren des Bartes zu bringen, den er so sehnlichst erwartete, und Mr. James dabei ein Billett von Miss Briggs' Hand ins Bett reichte.

»Sehr geehrter Herr«, lautete es, »Miss Crawley hat eine äußerst unruhige Nacht verbracht infolge der abscheulichen Verunreinigung des Hauses mit Tabakqualm. Miss Crawley bittet mich, Ihnen zu sagen, wie sehr sie bedauert, daß es ihr zu schlecht geht, Sie vor Ihrer Abreise noch einmal zu sprechen – und vor allem, daß sie Sie veranlaßt habe, von der Kneipe wegzuziehen, wo Sie sich, nach ihrer festen Überzeugung, während Ihres weiteren Aufenthaltes in Brighton weitaus wohler fühlen werden.«

So endete die Laufbahn des guten James als Bewerber um die Gunst seiner Tante. Er hatte wirklich ohne sein Wissen getan, was er angedroht hatte; er hatte gegen seinen Cousin Pitt mit Boxhandschuhen gekämpft.


Wo war aber inzwischen der, der bei diesem Wettrennen ums Geld einmal die meisten Aussichten gehabt hatte?

Becky und Rawdon hatten sich, wie wir gesehen haben, nach der Schlacht von Waterloo wieder vereinigt und verbrachten den Winter 1815 in Glanz und Fröhlichkeit in Paris. Rebekka konnte gut haushalten, und die Summe, die der arme Joseph Sedley für ihre zwei Pferde gezahlt hatte, reichte allein hin, um ihr kleines Hauswesen mindestens für ein Jahr über Wasser zu halten; es war nicht nötig, »meine Pistolen, dieselben, mit denen ich Hauptmann Marker erschoß«, oder das goldene Toilettennecessaire oder den zobelgefütterten Mantel zu Geld zu machen. Becky ließ sich aus diesem Mantel einen Umhang fertigen, worin sie zur Bewunderung aller im Bois de Boulogne 9 spazierenfuhr: und du, verehrter Leser, hättest die Szene zwischen ihr und ihrem [506] erfreuten Mann erleben sollen, den sie beim Einmarsch der Armee in Cambray wiedertraf, als sie ihre Kleider auftrennte und all diese Uhren, Schmucksachen, Banknoten, Schecks und Wertgegenstände ans Tageslicht beförderte, die sie in Brüssel, vor ihrer beabsichtigten Flucht, im Futter verborgen hatte! Tufto war ganz bezaubert und Rawdon so erfreut, daß er vor Lachen brüllte und schwor, sie sei besser als jedes Theaterstück, das er je gesehen hatte, beim Zeus! Sie beschrieb ihm mit drolligen Worten, wie sie Joseph geprellt hatte, und das steigerte sein Entzücken zu einer wahnsinnigen Begeisterung. Er glaubte so fest an seine Frau wie die französischen Soldaten an Napoleon.

Sie hatte in Paris große Erfolge. Alle französischen Damen fanden sie reizend. Sie sprach deren Sprache ausgezeichnet und hatte im Nu deren Grazie, Lebhaftigkeit und Manieren angenommen. Ihr Mann war offensichtlich dumm – alle Engländer sind dumm –, aber in Paris ist ein einfältiger Ehemann stets ein Attribut zugunsten einer Dame. Er war der Erbe der reichen und geistvollen Miss Crawley, deren Haus während der Emigration für so viele Angehörige des französischen Adels offengestanden hatte. Sie empfingen die Frau des Obersten in ihren Hotels. »Warum«, schrieb eine vornehme Dame an Miss Crawley, die die Spitzen und Schmucksachen der Herzogin zu deren eigenem Preis abgekauft und sie während der schweren Zeit nach der Revolution oft zum Essen eingeladen hatte – »warum kommt nicht unsere teure Miss zu ihrem Neffen und ihrer Nichte und ihren geneigten Freunden nach Paris? Jedermann ist ganz vernarrt in die bezaubernde junge Frau und ihren Schalk und ihre Schönheit. Ja, wir erkennen in ihr die Grazie, den Charm und den Witz unserer lieben Freundin Miss Crawley! Der König nahm gestern in den Tuilerien 10 Notiz von ihr, und wir sind alle ungemein eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die Monsieur ihr erweist. Hätten Sie nur den Ärger einer gewissen dummen Lady Bareacres sehen können [507] (deren Habichtsnase und Federbarett die Köpfe aller Anwesenden überragen), als die Herzogin von Angulême, die erhabene Tochter und Gefährtin von Königen, ausdrücklich wünschte, Mrs. Crawley, da sie Ihre liebe Tochter und Ihr protégée 11 ist, vorgestellt zu werden, und ihr im Namen Frankreichs für alle Wohltaten dankte, die Sie unseren Unglücklichen während ihres Exils erwiesen haben. Sie ist auf allen Gesellschaften, auf allen Bällen – ja, sie kommt zu allen Bällen, aber sie tanzt nicht; und doch, wie interessant und hübsch sieht dieses holde Wesen aus, umgeben von der Huldigung der Männer, sie, die so bald Mutter werden wird! Sie von Ihnen, ihrer Beschützerin und Mutter, sprechen zu hören, könnte Menschenfressern Tränen entlocken. Wie sie Sie liebt! Wie sehr wir alle unsere bewundernswerte, verehrungswürdige Miss Crawley lieben!«

Es steht zu befürchten, daß dieser Brief von der großen Pariser Dame Mrs. Beckys Belange bei ihrer bewundernswerten, verehrungswürdigen Verwandten keineswegs günstig beeinflußten. Im Gegenteil, die Wut der alten Jungfer kannte keine Grenzen, als sie vernahm, in welchen Umständen sich Rebekka befand und wie frech sie sich des Namens von Miss Crawleys bedient hatte, um in der Pariser Gesellschaft Zutritt zu erlangen. Zu sehr erschüttert an Körper und Geist, um einen Antwortbrief auf französisch abzufassen, diktierte sie der Briggs eine wütende Entgegnung in ihrer Muttersprache, worin sie Mrs. Rawdon Crawley ganz und gar verleugnete und die Öffentlichkeit vor ihr warnte, da sie eine ungemein gerissene und gefährliche Person sei.

Da aber die Herzogin von X nur zwanzig Jahre in England gelebt hatte, so verstand sie auch nicht ein Wort von der Sprache und begnügte sich damit, Mrs. Rawdon Crawley bei ihrer nächsten Zusammenkunft mitzuteilen, daß sie einen bezaubernden Brief von der »chère Mies« 12 bekommen habe und daß er nur Liebes und Gutes über Mrs. Crawley enthalte.

[508] Diese begann nun ernstlich zu hoffen, daß die alte Jungfer sich doch noch erweichen lassen würde.

Inzwischen war sie die lustigste und am meisten bewunderte aller Engländerinnen und hatte an ihren Empfangsabenden immer einen kleinen europäischen Kongreß bei sich – Preußen und Kosaken, Spanier und Engländer –, die ganze Welt gab sich während dieses berühmten Winters ein Stelldichein in Paris. Beim Anblick der Sterne und Ordensbänder in Rebekkas bescheidenem Salon wäre wohl die ganze Baker Street 13 vor Neid erblaßt. Berühmte Krieger ritten im Bois neben ihrem Wagen oder drängten sich in ihrer bescheidenen kleinen Loge in der Oper. Rawdon war in der besten Laune. Bis jetzt gab es in Paris noch keine ungestümen Gläubiger; täglich fanden bei Véry oder Beauvilliers Gesellschaften statt; es wurde viel gespielt, und er hatte Glück. Tufto hatte wahrscheinlich schlechte Laune. Mrs. Tufto war nämlich auf ihre eigene Einladung hin nach Paris gekommen, und abgesehen von diesem contretemps 14, umdrängten nun zwanzig Generale Beckys Platz, und sie hatte die Wahl zwischen zwölf Buketts, wenn sie ins Theater ging. Lady Bareacres und die Spitzen der englischen Gesellschaft, dumme, untadelige Frauenzimmer, wanden sich vor Wut über den Erfolg dieses kleinen Emporkömmlings Becky, deren giftige Witze in ihren keuschen Busen nagten und zuckten. Sie hatte aber alle Männer auf ihrer Seite und bekämpfte die Frauen mit unerschütterlichem Mut. Und die konnten nur in ihrer eigenen Sprache über sie herziehen.

So verging Mrs. Rawdon Crawley der Winter 1815/16 mit Festen, Vergnügungen und gutem Leben. Sie paßte sich in die feine Welt so gut ein, als ob ihre Vorfahren seit Jahrhunderten vornehme Leute gewesen wären, und wegen ihres Witzes, ihres Talents und ihrer Energie verdiente sie wirklich einen Ehrenplatz auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit.

Im zeitigen Frühjahr 1816 enthielt »Galignanis Bote« 15 in einer interessanten Ecke folgende Anzeige:

[509] »Am 26. März – die Gemahlin Oberstleutnant Crawleys von der Grünen Leibgarde – von einem Sohn und Erben entbunden.«

Diese Anzeige übernahmen die Londoner Zeitungen, und Miss Briggs las Miss Crawley in Brighton beim Frühstück die Erklärung vor. Wenn solch ein Ereignis auch zu erwarten gewesen war, so rief die Nachricht doch eine Krise in den Familienangelegenheiten der Crawleys hervor. Die Wut der alten Jungfer erreichte ihren Höhepunkt, und sie schickte sofort nach Pitt, ihrem Neffen, und nach Lady Southdown vom Brunswick Square und drang auf eine baldige Heirat, die in beiden Familien schon so lange geplant war. Zugleich verkündete sie ihre Absicht, dem jungen Paar noch zu ihren Lebzeiten jährlich tausend Pfund auszusetzen. Nach ihrem Tod sollte dann die Hauptmasse ihres Vermögens ihrem Neffen und ihrer lieben Nichte, Lady Jane Crawley, zufallen.

Waxy kam von London, um die Dokumente auszufertigen – Lord Southdown gab seine Schwester zur Ehe. Sie wurde von einem Bischof und nicht von Ehrwürden Bartholomew Irons getraut – zum Ärger dieses irregulären Prälaten.

Nach der Hochzeit hätte Pitt gern eine Hochzeitsreise unternommen, wie es sich für Leute seines Standes schickte. Die alte Dame hatte aber eine so starke Neigung für Lady Jane gefaßt, daß sie rundheraus erklärte, sich von ihrem Liebling nicht trennen zu können. Pitt und seine Frau zogen daher zu Miss Crawley, und Lady Southdown herrschte von ihrem benachbarten Haus aus über die ganze Familie – Pitt, Lady Jane, Miss Crawley, die Briggs, die Firkin, Bowls und alle anderen, sehr zum Ärger des armen Pitt, der auf der einen Seite den Launen seiner Tante, auf der anderen denen seiner Schwiegermutter ausgeliefert war und sich sehr unglücklich vorkam. Die Lady verabfolgte ihnen unbarmherzig ihre Traktate und Arzneien; sie entließ Creamer und [510] stellte für ihn Rodgers ein; sie ließ Miss Crawley auch nicht den leisesten Schimmer von Autorität. Die arme Seele wurde so eingeschüchtert, daß sie sogar aufhörte, die Briggs zu tyrannisieren, und sich täglich furchtsamer und liebevoller an ihre Nichte klammerte. Friede über dich, du gütige, egoistische, eitle, großmütige alte Heidin! Wir werden dich nicht wiedersehen. Hoffen wir, daß Lady Jane sie gütig unterstützte und mit sanfter Hand aus dem geschäftigen Treiben des Jahrmarkts der Eitelkeit hinausführte.

Fußnoten

1 Napoleon I. stürzte durch den Staatsstreich vom 18. Brumaire (9. November 1799) die Direktorialregierung und erhielt als Erster Konsul des von ihm errichteten Konsulats absolute Gewalt.

2 Der Frieden von Amiens (1802) beendete die letzte Phase des 2. Koalitionskrieges, den Rußland, Österreich, England, Spanien und die Niederlande gegen Frankreich geführt hatten.

3 Anhänger der Whigpartei. Die Whigs vertraten die Interessen des britischen Bürgertums und setzten sich für eine Parlamentsreform und die Förderung des Handels ein.

4 (1781-1848), englischer Boxer.

5 Student, der das mathematische Examen als Bester bestanden hat.

6 Anhänger der Torypartei. Die Tories vertraten die Interessen der Aristokratie und setzten sich für eine Stärkung der Königsmacht ein.

7 (lat.) Jetzt laßt uns mit Wein die Sorgen vertreiben, denn morgen fahren wir übers gewaltige Meer.

8 Richard Brinsley Sheridan (1751-1816), schottischer Lustspieldichter und Parlamentsabgeordneter; war Staatssekretär unter der Regierung Fox (s. Anm. zu S. 134).

9 Wäldchen zwischen Paris und Boulogne; wurde später in einen Park umgewandelt.

10 ehemaliges Schloß der französischen Könige in Paris.

11 (franz.) Schützling.

12 (franz.) liebes Fräulein. – Mies ist das mit französischem Akzent gesprochene englische Miss.

13 vornehme Straße in London.

14 (franz.) Unannehmlichkeit.

15 »Galignani's Messenger«, 1814 von Giovanni Antonio Galignani (gest. 1821) in Paris gegründete Zeitschrift, die unter den Engländern auf dem Kontinent weite Verbreitung fand.

[512][5]

35. Kapitel
Witwe und Mutter

Die Nachricht von den Schlachten von Quatre-Bras und Waterloo kam zu gleicher Zeit nach England. Die »Gazette« veröffentlichte zuerst das Ergebnis der beiden Schlachten, und ganz England bebte in Triumph und Furcht. Später folgten dann Einzelheiten, und nach der Verkündigung der Siege kam die Liste mit den Verwundeten und Gefallenen. Wer kann die Angst beschreiben, mit der dieses Verzeichnis gelesen wurde! Man stelle sich vor, welche Gefühle von Begeisterung und Dankbarkeit, von Schmerz und Verzweiflung in fast allen Dörfern und Häusern herrschten, als die Siegesbotschaft aus Flandern kam und man die Verlustlisten der Regimenter durchging und erfuhr, ob der teure Freund und Verwandte davongekommen oder gefallen war. Jeder, der sich die Mühe machen will, die damaligen Zeitungen noch einmal durchzugehen, muß selbst jetzt, nach so langer Zeit, dieses atemlose Gefühl der Erwartung haben. Die Verlustliste wird täglich weitergeführt, man unterbricht mittendrin, wie bei einer Erzählung, deren Fortsetzung in der nächsten Nummer erscheint. Man male sich die Gefühle aus, wenn die Zeitungen frisch aus [5] der Druckerpresse einander folgten; und wenn man in England wegen einer Schlacht, in der nur zwanzigtausend unserer Leute kämpften, so außer sich kommen konnte, so halte man sich vor Augen, in welcher Lage sich ganz Europa vor zwanzig Jahren befand, als die Menschen nicht zu Tausenden, sondern zu Millionen kämpften. Jeder, der einen Feind niederstreckte, verwundete ein anderes, unschuldiges Herz in der Ferne furchtbar.

Die Nachricht, die jene berühmte »Gazette« den Osbornes [5] brachte, versetzte der ganzen Familie und ihrem Oberhaupt einen schrecklichen Schlag. Die Mädchen gaben sich rückhaltlos ihrem Schmerz hin. Den gramgebeugten alten Vater machten das Schicksal und der Kummer noch niedergeschlagener. Er bemühte sich, zu denken, daß der Junge für seinen Ungehorsam gestraft worden sei. Er wagte es nicht, zu gestehen, daß ihn die Strenge des Urteils erschreckte und daß sich sein Fluch zu schnell erfüllt hatte. Zuweilen schauderte er vor Entsetzen, als ob er der Urheber des Verhängnisses sei, das er auf seinen Sohn herabbeschworen hatte. Früher hatten wenigstens noch Möglichkeiten zur Aussöhnung bestanden. Die Frau des Jungen hätte sterben oder dieser selbst zurückkommen und sagen können: »Vater, ich habe gesündigt.« Jetzt aber gab es keine Hoffnung mehr. Er stand auf der anderen Seite des unüberwindlichen Abgrundes und verfolgte seinen Vater mit trüben Augen. Dieser erinnerte sich des gleichen Blickes, als sein Sohn einmal im Fieber gelegen hatte und jedermann dachte, daß der Junge sterben würde. Er lag damals stumm im Bett und starrte düster vor sich hin. Guter Gott, wie der Vater sich damals an den Arzt klammerte und mit welch verzweifelter Angst er ihm überallhin gefolgt war; was für eine Last war ihm vom Herzen gefallen, als der Junge die Krisis überwunden hatte und seinen Vater mit erkennenden Augen ansah! Jetzt aber gab es weder Hilfe noch Heilung, noch eine Aussicht auf Versöhnung; vor allem aber keine demütigen Worte, um die wütende gekränkte Eitelkeit zu besänftigen und das vergiftete zornige Blut wieder in seinen natürlichen Fluß zu bringen. Es läßt sich schwer sagen, welcher Schmerz das Herz des stolzen Vaters am meisten zerriß – daß sein Sohn sich jetzt außer Reichweite seiner Verzeihung befand oder daß ihm die Entschuldigung, die sein Stolz erwartet hatte, entgangen war.

Welche Empfindungen der finstere alte Mann auch hegen mochte – er vertraute sich niemandem an. Niemals erwähnte er des Sohnes Namen gegenüber seinen Töchtern; der älteren [6] gab er den Befehl, alle weiblichen Mitglieder des Hauses in Trauer zu kleiden, und den männlichen Dienstboten befahl er, sich ebenfalls in tiefes Schwarz zu kleiden. Alle Gesellschaften und Vergnügungen wurden natürlich abgesagt. Seinem zukünftigen Schwiegersohn, dessen Hochzeitstag schon festgesetzt worden war, machte er keine Mitteilung. Aber in Mr. Osbornes Miene lag etwas, was Mr. Bullock hinderte, Fragen zu stellen oder irgendwie auf die Heirat zu drängen. Er flüsterte zuweilen mit den Damen darüber im Salon, wohin der Vater nie kam. Er hielt sich ständig in seinem Studierzimmer auf, und das Vorderhaus blieb über die normale Trauerzeit hinaus geschlossen.

Etwa drei Wochen nach dem 18. Juni erschien ein Bekannter von Mr. Osborne, Sir William Dobbin, mit sehr blassem und verstörtem Gesicht in Osbornes Haus am Russell Square und bestand darauf, den Herrn sprechen zu müssen. Man führte ihn in das Zimmer des Alten, und nach einigen Worten, die weder der Sprecher noch der Hausherr verstanden, holte er einen Brief mit großem rotem Siegel aus einem Umschlag hervor. »Mein Sohn, Major Dobbin«, sagte der Alderman etwas zögernd, »hat mir durch einen Offizier vom ...ten Regiment, der heute in der Stadt ankam, einen Brief geschickt. Meines Sohnes Brief enthält auch einen für Sie, Osborne.« Der Alderman legte den Brief auf den Tisch, und Osborne starrte den alten Herrn ein paar Sekunden schweigend an. Seine Blicke erschreckten den Abgesandten, und nachdem er den gramgebeugten Mann eine Weile schuldbewußt angesehen hatte, eilte er ohne ein weiteres Wort hinaus.

Der Brief war in Georges wohlbekannter kühner Handschrift verfaßt. Es war der, den er vor Tagesanbruch des 16. Juni kurz vor dem Abschied von Amelia geschrieben hatte. Das große rote Siegel zeigte das angemaßte Wappen mit dem Motto »Pax in bello« 1, das Osborne aus dem Adelskalender entnommen hatte und das dem Herzoghaus gehörte, [7] dem verwandt zu sein der eitle alte Mann sich vergeblich einzureden suchte. Die Hand, die den Brief unterschrieben hatte, würde niemals wieder Feder oder Schwert führen. Das Petschaft, womit er gesiegelt war, hatte man Georges Leichnam auf dem Schlachtfeld geraubt. Der Vater wußte nichts davon, sondern saß da und starrte mit entsetzlicher Leere darauf. Als er ging, um ihn zu öffnen, fiel er beinahe hin.

Hattest du je einen Streit mit einem teuren Freund? Wie dich seine Briefe aus der Zeit der Liebe und des Vertrauens abschrecken und tadeln! Was für eine düstere Trauer rufen dir die feurigen Beteuerungen toter Zuneigung hervor! Was für eine lügnerische Grabinschrift über der Leiche der Liebe sind sie doch! Was für finstere, grausame Kommentare über Leben und Eitelkeit! Die meisten von uns haben Schubladenvoll davon erhalten oder geschrieben. Es sind Gespenster, die wir aufbewahren, aber meiden. Osborne zitterte lange vor dem Brief seines toten Sohnes.

Der Brief des armen Jungen beinhaltete nicht viel. Er war zu stolz gewesen, die Zärtlichkeit, die er im Herzen fühlte, zu zeigen. Er sagte nur, daß er am Vorabend einer großen Schlacht seinem Vater Lebewohl sagen und feierlich dessen Beistand für die Frau – vielleicht auch das Kind –, die er zurückließ, erbitten wolle. Er gestand zerknirscht, daß er durch sein ausschweifendes, verschwenderisches Leben bereits einen großen Teil seines kleinen mütterlichen Vermögens vergeudet habe. Er dankte seinem Vater für den früher bewiesenen Großmut, und er versprach ihm, daß er sich des Namens George Osborne würdig erweisen werde, mochte er nun im Felde fallen oder überleben.

Seine englische Art, sein Stolz, vielleicht auch Verlegenheit, hatten ihn daran gehindert, mehr zu sagen. Sein Vater konnte den Kuß nicht sehen, den George auf die Überschrift seines Briefes gedrückt hatte. Mr. Osborne ließ das Schriftstück mit dem bittersten, tödlichsten Schmerz getäuschter [8] Liebe und Rache fallen. Immer noch liebte er den Sohn und vergab ihm nicht.

Etwa zwei Monate später jedoch bemerkten die jungen Damen, als sie mit ihrem Vater zur Kirche gingen, daß er sich auf einen anderen Platz setzte als sonst, wenn er zum Gottesdienst kam, und von seinem Kissen aus blickte er auf die Mauer über ihnen. Das veranlaßte die jungen Mädchen, ebenfalls in die Richtung zu schauen, in die der düstere Blick des Vaters deutete, und sie erspähten an der Wand ein kunstvolles Denkmal. Darauf war Britannia weinend über einer Urne dargestellt, und ein zerbrochenes Schwert und ein liegender Löwe deuteten an, daß das Bildwerk zu Ehren eines gefallenen Soldaten errichtet worden war. Die Bildhauer jener Zeit hatten immer einen ganzen Vorrat solcher Trauersymbole auf Lager, und man kann noch jetzt auf den Wänden der Sankt-Pauls-Kathedrale Hunderte solcher prahlerischen heidnischen Allegorien sehen. Während der ersten fünfzehn Jahre unseres Jahrhunderts bestand eine große Nachfrage danach.

Unter dem erwähnten Denkmal war das bereits bekannte prunkvolle Osbornesche Wappen angebracht, und wie die Inschrift besagte, war das Denkmal geweiht »dem Andenken von George Osborne, zuletzt Hauptmann in Seiner Majestät ...tem Infanterieregiment, gefallen im Alter von achtundzwanzig Jahren, am 18. Juni 1815 in der siegreichen Schlacht bei Waterloo für König und Vaterland. Dulce et decorum est pro patria mori. 2«

Der Anblick dieses Gedenksteins erregte die Nerven der Schwestern so sehr, daß Miss Maria die Kirche verlassen mußte. Die Gemeinde machte achtungsvoll den tiefschwarzgekleideten, schluchzenden Mädchen Platz und bemitleidete den finsteren alten Vater, der gegenüber dem Monument des toten Soldaten saß. »Ob er Mrs. George vergibt?« fragten sich die Mädchen, sobald der Schmerzensausbruch vorüber war. Auch in Osbornes Bekanntenkreis, wo man den durch die [9] Heirat verursachten Bruch zwischen Vater und Sohn kannte, sprach man viel über die Aussicht einer Versöhnung mit der jungen Witwe. Die Herren am Russell Square und in der City schlossen sogar Wetten darauf ab.

Wenn die Mädchen Befürchtungen hegten, Amelia werde möglicherweise als Tochter der Familie anerkannt werden, so wuchsen diese noch gegen Ende des Herbstes, als ihnen ihr Vater mitteilte, er wolle eine Auslandsreise machen. Er sagte nicht, wohin; sie wußten aber sogleich, daß er seine Schritte nach Belgien lenken würde, und sie hatten erfahren, daß sich Georges Witwe noch in Brüssel befand. Durch Lady Dobbin und deren Töchter waren sie stets ganz gut über das Tun und Treiben der armen Amelia unterrichtet. Durch den Tod des zweiten Majors im Regiment auf dem Schlachtfeld war unser ehrlicher Hauptmann befördert worden; und der tapfere O'Dowd, welcher sich hier sehr ausgezeichnet hatte, wie bei allen Gelegenheiten, wo er seine Kaltblütigkeit und Tapferkeit beweisen konnte, war jetzt Oberst und Träger des Bathordens.

Viele der Tapferen des ...ten Regiments, das an beiden Schlachttagen schwere Verluste erlitten hatte, befanden sich im Herbst noch in Brüssel, um von ihren Wunden zu genesen. Die Stadt war noch Monate nach der großen Schlacht ein riesiges Lazarett, und als die Soldaten und Offiziere sich von ihren Verletzungen zu erholen begannen, füllten sich die Parks und öffentlichen Vergnügungsstätten mit alten und jungen verkrüppelten Soldaten, die, kaum dem Tode entrissen, mit Spiel, Scherz und Liebelei begannen, wie es auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit üblich ist. Mr. Osborne machte bald einige vom ...ten Regiment ausfindig. Er kannte ihre Uniform genau und hatte jede Beförderung, jede Versetzung aufmerksam verfolgt und sprach gern vom Regiment und seinen Offizieren, als ob er selbst dazugehörte. Am Tage nach seiner Ankunft in Brüssel sah er beim Verlassen seines Hotels, das direkt am Park lag, einen Soldaten mit den wohlbekannten [10] Aufschlägen, der sich auf einer Steinbank ausruhte. Er ging auf den Verwundeten zu und setzte sich zitternd neben ihn.

»Waren Sie in Hauptmann Osbornes Kompanie?« fragte er, und nach einer Pause fügte er hinzu: »Er war mein Sohn.«

Der Mann gehörte nicht zur Kompanie des Hauptmanns, aber er erhob den gesunden Arm und legte die Hand an die Mütze, traurig und ehrfürchtig vor dem abgezehrten, niedergebeugten Herrn, welcher ihn gefragt hatte. »Es gab keinen besseren und tüchtigeren Offizier im ganzen Heer«, sagte der Soldat. Der Hauptfeldwebel von der Kompanie des Hauptmanns (sie wurde jetzt von Hauptmann Raymond angeführt) sei jedoch in der Stadt und soeben von einem Schulterschuß genesen. Der Herr könne ihn sprechen, wenn er möge, und alles, was er über die Taten des ...ten Regiments wissen wolle, von ihm erfahren. Aber der Herr habe wohl zweifellos schon Major Dobbin gesprochen, den guten Freund des tapferen Hauptmanns, und Mrs. Osborne, die sich auch in Brüssel aufhalte und der es, wie man erzählte, sehr schlecht gehe. Es heißt, sie sei sechs Wochen oder noch länger geradezu nicht bei Sinnen gewesen. Der Herr werde das alles aber wohl schon wissen, und er bitte also um Entschuldigung, fügte der Soldat hinzu.

Osborne drückte dem Soldaten eine Guinee in die Hand und versprach ihm noch eine, wenn er den Hauptfeldwebel ins Hotel du Parc bringen wollte. Dieses Versprechen brachte den Gewünschten sehr bald zu Mr. Osborne. Der erste Soldat entfernte sich wieder, und nachdem er ein paar Soldaten erzählt hatte, daß Hauptmann Osbornes Vater gekommen sei und was für ein freigebiger, großmütiger Herr er sei, tranken und schmausten sie, solange die Guineen reichten, die aus dem üppigen Geldbeutel des trauern den alten Vaters gekommen waren.

In Begleitung des Hauptfeldwebels, der vor kurzem genesen [11] war, begab sich Osborne nach Waterloo und Quatre-Bras, eine Reise, die damals Tausende seiner Landsleute machten. Unter der Führung des Hauptfeldwebels, den er in seinem Wagen mitgenommen hatte, besuchte er beide Schlachtfelder. Er sah die Stelle der Straße, von wo aus das Regiment am 16. zum Kampf marschiert war, und den Hügel, von dem sie die französische Kavallerie herabgetrieben hatten, nachdem diese den fliehenden Belgiern gefolgt war. Dort war die Stelle, wo der edle Hauptmann den französischen Offizier niedermachte, der mit dem jungen Fähnrich um die Fahne gekämpft hatte, nachdem die Fahnenträger gefallen waren. Auf dieser Straße hatten sie sich am nächsten Tage zurückgezogen, und hier war der Erdwall, an dem das Regiment in der Nacht zum 17. im Regen biwakierte. Dort drüben war die Stellung, die sie eingenommen und den ganzen Tag gehalten hatten, wobei sie sich immer wieder formierten, um den Angriffen der französischen Kavallerie zu begegnen, und sich zum Schutz gegen das wütende französische Geschützfeuer immer wieder hinter dem Erdwall niederwarfen. Und an diesem Hügel geschah es, als am Abend die gesamte englische Linie den Befehl zum Vordringen erhielt und der Feind nach seinem letzten Angriff zurückwich, daß der Hauptmann, degenschwingend und mit einem Hurra auf den Lippen, den Hügel hinabeilte, einen Schuß erhielt und tot niederfiel. »Major Dobbin hat dann den Leichnam des Hauptmanns nach Brüssel zurückgebracht und ihn begraben lassen, wie der Herr ja weiß«, berichtete der Hauptfeldwebel mit leiser Stimme. Während er seine Geschichte erzählte, schrien die Bauern und Reliquienjäger aus der Gegend um die beiden herum und boten allerlei Andenken an die Schlacht, Kreuze und Epauletten, zerschossene Kürasse und Adler, zum Verkauf an.

Osborne gab dem Hauptfeldwebel eine stattliche Belohnung, als er nach dem Besuch der Stätten, die der Schauplatz der letzten Taten seines Sohnes gewesen waren, von ihm [12] schied. Das Grab hatte er bereits gesehen; das hatte er sofort nach seiner Ankunft in Brüssel aufgesucht. George lag auf dem schönen Friedhof von Laeken, nahe bei der Stadt. Bei einem Ausflug dorthin hatte er einmal leichthin den Wunsch geäußert, da begraben zu werden. Hier war nun der junge Offizier von seinem Freund in einem ungeweihten Winkel des Friedhofs bestattet worden, durch eine Hecke von den Tempeln und Türmen, den Blumen und Sträuchern getrennt, unter denen die katholischen Toten ruhen. Der alte Osborne empfand es als eine Demütigung, daß sein Sohn, ein englischer Gentleman, Hauptmann in der berühmten britischen Armee, nicht für würdig befunden worden war, in der Erde zu liegen, in der nichts weiter als Ausländer begraben waren. Wer von uns kann sagen, wieviel Eitelkeit sich in unserer wärmsten Empfindung anderen gegenüber verbirgt und wie selbstsüchtig unsere Liebe ist? Der alte Osborne dachte noch viel über den Zwiespalt seiner Gefühle und den Kampf zwischen seinem Instinkt und seiner Selbstsucht nach. Er glaubte fest daran, daß alles, was er tat, richtig sei und daß es immer nach seinem Willen gehen müsse, und gegen jeden Widerstand erhob sich sein Haß, gewappnet und giftig, wie der Stachel einer Wespe. Er war stolz auf seinen Haß, wie auf alles andere. Stets recht haben, stets vorwärtskommen und nie zweifeln, sind dies nicht die Eigenschaften, mit denen die Dummheit die Welt regiert?

Als sich Mr. Osbornes Wagen nach dem Besuch in Waterloo bei Sonnenuntergang dem Stadttor näherte, begegnete ihm eine andere Kutsche, in der zwei Damen und ein Herr saßen, während ein Offizier nebenherritt. Osborne fuhr zusammen, und der Hauptfeldwebel neben ihm warf seinem Nachbar einen erstaunten Blick zu, während er den Offizier mit der Hand an der Mütze grüßte, der seinerseits den Gruß mechanisch erwiderte. Es war Amelia mit dem lahmen jungen Fähnrich an der Seite und der treuen Freundin Mrs. O'Dowd ihr gegenüber. Es war Amelia, aber wie verschieden [13] von dem frischen munteren Mädchen, das Osborne kannte! Ihr Gesicht war bleich und abgezehrt, ihr hübsches braunes Haar lag gescheitelt unter einer Witwenhaube! Das arme Kind! Ihre Augen waren starr und blickten ins Leere. Sie sah Osborne ausdruckslos ins Gesicht, als die Wagen aneinander vorbeifuhren, erkannte ihn aber nicht, ebensowenig wie er sie erkannte, bis er aufblickte und Dobbin neben ihr reiten sah. Da wußte er, wen er vor sich hatte. Er haßte sie. Er wußte nicht, wie sehr, bis er sie hier gesehen hatte. Als ihr Wagen vorbei war, wandte er sich dem Hauptfeldwebel zu mit einem trotzigen, aufsässigen Blick, dem sein Begleiter nicht ausweichen konnte – als wollte er sagen: wie wagst ausgerechnet du es, mich anzusehen? Verdammt sollst du sein! Ich hasse sie. Sie ist es, die alle meine Hoffnungen und meinen Stolz zunichte gemacht hat. »Sag dem Halunken, er soll schneller fahren«, schrie er fluchend dem Lakai auf dem Bock zu. Eine Minute später kam ein Pferd über das Pflaster hinter Osbornes Wagen galoppiert, und Dobbin ritt heran. Seine Gedanken waren woanders gewesen, als die Wagen sich begegneten, und erst als er ein paar Schritt weiter geritten war, entsann er sich, daß der gerade Vorbeigefahrene Osborne gewesen war. Dann hatte er sich umgedreht, um zu sehen, ob der Anblick ihres Schwiegervaters auf Amelia irgendeinen Eindruck gemacht habe, aber das arme Mädchen hatte gar nicht gemerkt, wer vorbeigekommen war. Hierauf hatte William, der sie täglich bei ihren Fahrten begleitete, seine Uhr herausgezogen, sich mit einer Verabredung, die ihm plötzlich eingefallen war, entschuldigt und war fortgeritten. Sie bemerkte auch das nicht, sondern blickte geradeaus über die Ebene hinweg zu den fernen Wäldern, wohin George marschiert war.

»Mr. Osborne, Mr. Osborne!« rief Dobbin, als er herangekommen war, und hielt ihm die Hand hin. Osborne machte keine Anstalten, sie zu ergreifen, sondern schrie noch einmal fluchend seinem Bedienten zu, schneller zu fahren. Dobbin [14] legte seine Hand auf den Kutschenschlag. »Ich muß Sie sprechen, Sir«, sagte er, »ich habe eine Botschaft für Sie.«

»Von der Frau da?« fragte Osborne grimmig.

»Nein«, entgegnete der andere, »von Ihrem Sohn«, worauf Osborne in die Wagenecke zurücksank. Dobbin ließ ihn weiterfahren und ritt dicht dahinter durch die ganze Stadt, ohne ein Wort zu sprechen, bis sie Osbornes Hotel erreichten. Dort folgte er Osborne zu seinen Zimmern. George war oft in diesen Räumen gewesen. Es waren die, die die Crawleys während ihres Aufenthalts in Brüssel bewohnt hatten.

»Bitte, haben Sie vielleicht irgendwelche Befehle für mich, Hauptmann Dobbin oder, Verzeihung, ich hätte sagen sollen, Major Dobbin, da bessere Männer als Sie tot sind und Sie an deren Platz getreten sind«, sagte Mr. Osborne mit dem sarkastischen Ton, den er zuweilen gern annahm.

»Ja, bessere Männer sind tot«, erwiderte Dobbin, »von einem will ich mit Ihnen sprechen.«

»Machen Sie es kurz, Sir«, sagte der andere mit einem Fluch und blickte den Besucher finster an.

»Ich bin hier als sein engster Freund«, fuhr der Major fort, »und als der Vollstrecker seines letzten Willens. Er hat sein Testament aufgesetzt, ehe wir in die Schlacht zogen. Wissen Sie, wie gering seine Mittel sind und in welcher traurigen Lage sich seine Witwe befindet?«

»Ich kenne seine Witwe nicht«, sagte Osborne. »Soll sie doch zu ihrem Vater zurückkehren.«

Aber der Herr, mit dem er sprach, war entschlossen, seinen Gleichmut zu wahren, und fuhr fort, ohne die Unterbrechung zu beachten:

»Kennen Sie Mrs. Osbornes Lage? Ihr Leben und ihr Verstand sind dem Schlag, der sie getroffen hat, beinahe zum Opfer gefallen. Es ist sehr zweifelhaft, ob sie sich je erholen wird. Es besteht noch eine Möglichkeit für sie, und deshalb komme ich zu Ihnen. Sie wird bald Mutter werden. Wollen Sie die Sünde des Vaters an dem Kind heimsuchen? Oder [15] wollen Sie dem Kind um des armen Georges willen verzeihen?«

Osborne brach in einen Schwall von Eigenlob und Verwünschungen aus. Ersteres, um seine Haltung vor dem eigenen Gewissen zu entschuldigen, letzteres, um Georges Pflichtvergessenheit zu übertreiben. Kein Vater in ganz England hätte sich großzügiger gegenüber einem Sohn verhalten können, der sich bösartig gegen ihn aufgelehnt hatte. Er war gestorben, ohne auch nur andeutungsweise zu bekennen, daß er unrecht gehabt habe. Mochte er nun die Folgen seines Ungehorsams und seiner Torheit tragen. Er selbst, Mr. Osborne, jedoch war ein Mann von Wort. Er hatte geschworen, niemals mit jener Frau zu sprechen oder sie gar als Gattin seines Sohnes anzuerkennen. »Das können Sie ihr sagen«, schloß er mit einem Fluch, »und dazu werde ich bis zum Ende meiner Tage stehen.«

Es gab also von dieser Seite her keine Hoffnung mehr. Die Witwe mußte von dem wenigen leben, was sie hatte, oder von dem, womit Joseph sie unterstützen konnte. Wenn ich es ihr auch erzählte, sie würde es doch nicht beachten, dachte Dobbin traurig; denn die Gedanken des armen Mädchens waren seit der Katastrophe überhaupt nicht mehr hier; betäubt von der Last ihres Kummers, war ihr Gutes ebenso gleichgültig wie Böses, und sie hatte auch keine Empfindung für Freundschaft und Güte. Sie nahm alles klaglos hin und versank wieder in ihrem Kummer.


Nach der obigen Unterredung wollen wir jetzt ein Jahr im Leben der armen Amelia überspringen. Sie hat die ersten Monate davon in so tiefem und mitleiderregendem Schmerz zugebracht, daß wir, die wir einige Regungen dieses schwachen, zarten Herzens beobachtet und beschrieben haben, uns vor dem entsetzlichen Kummer, unter dem es blutet, zurückziehen müssen. Tretet still an das Schmerzenslager der armen geknickten Seele. Schließt leise die Tür des dunklen Zimmers, [16] in dem sie leidet, wie jene guten Menschen, die sie in den ersten Monaten ihre Schmerzes pflegten und sie nicht verließen, bis ihr der Himmel Trost gesendet hatte. Ein Tag kam – ein Tag fast entsetzlicher Freude und Verwunderung, wo das arme verwitwete Wesen ein Kind an die Brust drückte, ein Kind mit den Augen ihres dahingegangenen Georges, einen kleinen engelschönen Knaben. Welch eine Wonne, seinen ersten Schrei zu hören! Wie sie über ihm lachte und weinte! Wie Liebe und Hoffnung und Gebet wieder in ihrer Brust erwachten, als der Säugling sich an sie schmiegte! Sie war gerettet. Die Ärzte, die sie behandelten und für ihr Leben oder ihren Verstand gefürchtet hatten, hatten ängstlich auf diese Krisis gewartet, ehe sie erklären konnten, beides sei gerettet. Es war die langen Monate der Furcht und des Zweifels wert für die, die sich in ihre Pflege geteilt hatten, ihre Augen noch einmal zärtlich strahlend auf sie gerichtet zu sehen.

Unser Freund Dobbin war einer von ihnen. Er war es, der sie nach England in das Haus ihrer Mutter zurückgebracht hatte, als Mrs. O'Dowd auf den entschiedenen Befehl ihres Mannes hin die Patientin verlassen hatte. Es wäre eine Herzensweide für jeden gefühlvollen Menschen gewesen, zu sehen, wie Dobbin das Kind hielt, und zu hören, wie Amelia bei diesem Anblick frohlockend lachte. William hatte das Kind aus der Taufe gehoben und bot seinen ganzen Scharfsinn auf, um Tassen, Löffel, Becher, Schüsselchen und Beißkorallen für seinen kleinen Paten einzukaufen.

Wir brauchen hier nicht zu erzählen, wie ihn seine Mutter pflegte und kleidete und nur für ihn lebte, wie sie alle Kinderwärterinnen fortjagte und kaum jemandem anders gestattete, ihn zu berühren, wie sie glaubte, die größte Gunst, die sie seinem Paten, Major Dobbin, erweisen könne, sei, ihn zuweilen mit dem Kleinen spielen zu lassen. Das Kind war ihr ganzes Leben. Ihr ganzes Dasein war eine einzige mütterliche Liebkosung. Sie umhüllte das schwache und unwissende [17] Geschöpf mit Liebe und Anbetung. Es war ihr Leben, was der Säugling von ihrer Brust trank. Nachts und wenn sie allein war, brach ihre Mutterliebe heimlich und gewaltig in Entzücken aus, wie Gottes wunderbare Güte sie dem weiblichen Instinkt gewährt – Freuden, die höher und tiefer sind als die Vernunft, eine blinde, schöne Hingabe, die nur Frauenherzen kennen. William Dobbins Aufgabe war es, über diese Regungen Amelias nachzudenken und ihr Herz zu beobachten, und wenn er in seiner Liebe fast alle Gefühle ahnen konnte, die Amelias Herz bewegten, so sah er leider auch mit unheilvoller Deutlichkeit, daß darin kein Platz für ihn geblieben war. Und so ertrug er sanft sein Schicksal. Er kannte es und war zufrieden damit.

Wahrscheinlich durchschauten Amelias Eltern die Absichten des Majors und waren nicht abgeneigt, ihn zu ermutigen, denn Dobbin kam täglich in ihr Haus und blieb stundenlang bei ihnen, bei Amelia oder dem ehrlichen Mr. Clapp, ihrem Wirt, und seiner Familie. Er brachte unter irgendeinem Vorwand fast täglich Geschenke für jeden mit, und bei dem kleinen Mädchen des Hauswirtes, das Amelias Liebling war, hieß er nur »Major Zuckererbse«. Dies kleine Mädchen spielte gewöhnlich die Zeremonienmeisterin und führte ihn bei Mrs. Osborne ein. Eines Tages mußte sie doch lachen, als Major Zuckererbse im Wagen nach Fulham gefahren kam und mit einem Holzpferd, einer Trommel und Trompete und anderem Kriegsspielzeug für den kleinen George ausstieg, der kaum ein halbes Jahr alt war und für den die besagten Gegenstände wohl doch etwas verfrüht kamen.

Das Kind schlief. »Pst!« machte Amelia, vielleicht etwas ungehalten über die knarrenden Stiefel des Majors. Sie hielt ihm die Hand hin und lächelte, weil er sie erst ergreifen konnte, als er sich seiner Spielwarenlast entledigt hatte. »Geh hinunter, Klein Mary«, sagte er dann zu dem Kind, »ich muß mit Mrs. Osborne etwas besprechen.« Sie blickte erstaunt auf und legte den Kleinen ins Bett.

[18] »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden, Amelia«, sagte er, während er sanft ihr zartes, weißes Händchen ergriff.

»Verabschieden? Und wohin soll die Reise gehen?« fragte sie lächelnd.

»Schicken Sie Ihre Briefe an meine Beauftragten, man wird sie mir nachsenden, denn Sie werden mir doch schreiben, nicht wahr? Ich werde lange Zeit wegbleiben.«

»Ich werde Ihnen über Georgy schreiben«, sagte sie. »Lieber William, wie gut Sie zu ihm und mir sind. Sehen Sie ihn nur an! Ist er nicht wie ein Engel?«

Die rosigen Händchen des Kindes schlossen sich mechanisch um den Finger des ehrlichen Soldaten, und Amelia blickte ihm strahlend vor Mutterglück ins Gesicht. Die grausamsten Blicke hätten ihn nicht mehr verwunden können, als dieser Ausdruck hoffnungsloser Freundlichkeit. Er beugte sich über Mutter und Kind. Einen Augenblick lang konnte er nicht sprechen, und nur mit äußerster Kraftanstrengung konnte er ein: »Gott segne Sie!« hervorbringen. – »Gott segne Sie!« erwiderte Amelia, wandte ihm das Gesicht zu und küßte ihn.

»Pst! Wecken Sie Georgy nicht auf«, fügte sie hinzu, als William Dobbin mit schweren Schritten zur Tür stapfte. Sie hörte nicht das Geräusch des davonrollenden Wagens – sie blickte auf das Kind, das im Schlaf lächelte.

Fußnoten

1 (lat.) »Frieden im Krieg«.

2 (lat.) »Süß ist und ehrenwert der Tod für das Vaterland.« – Zitat aus den Oden des Horaz (III, 2, 13).

36. Kapitel
Wie man von nichts gut leben kann

Ich nehme an, auf unserem Jahrmarkt der Eitelkeit gibt es keinen, der nicht aufmerksam genug ist, sich zuweilen über die weltlichen Angelegenheiten seiner Bekannten den Kopf zu zerbrechen; auch wird wohl keiner so nachsichtig sein und [19] sich nicht zuweilen wundern, wie sein Nachbar Jones oder sein Nachbar Smith bis zum Jahresende mit seinem Geld auskommt. Ich muß zum Beispiel bei aller Achtung für die Jenkins (denn ich speise ein paarmal in jeder Saison bei ihnen) zugeben, daß mich das Auftreten der Familie im Park in der großen Kutsche mit den stattlichen Lakaien bis an mein Lebensende verwundern und täuschen wird; denn obwohl ich weiß, daß die Equipage nur gemietet ist und sämtliche Dienstboten auf Kostgeld stehen, so müssen doch diese drei Menschen und der Wagen wenigstens sechshundert Pfund pro Jahr kosten – und dazu kommen dann noch die glänzenden Diners, die beide Jungen in Eton, die hervorragende Gouvernante und die Lehrer für die Mädchen, die Reise ins Ausland oder nach Eastbourne oder Worthing im Herbst, der jährliche Ball mit dem Souper aus Günthers Restaurant (aus dem, beiläufig erwähnt, die Speisen meistens dann geliefert werden, wenn Jenkins vornehme Gäste bewirtet. Das weiß ich sehr gut, da ich einmal dazu eingeladen war, um einen leeren Platz zu füllen. Ich sah sogleich, daß diese Mahlzeiten bedeutend besser sind als die gewöhnlichen, zu denen Jenkins seinen weniger vornehmen Bekannten Einladungskarten schickt).

Wer wundert sich also nicht, wie Jenkins wohl auskommen mag.

Was ist Jenkins eigentlich? Wir wissen es alle, er ist Geheimrat im Schnur- und Siegellackamt mit einem Einkommen von zwölfhundert Pfund pro Jahr. Hatte seine Frau Privatvermögen? Pah! Miss Flint, eins von elf Kindern eines kleinen Gutsbesitzers in Buckinghamshire. Alles, was sie von ihrer Familie erhält, ist ein Truthahn zu Weihnachten, und dafür muß sie ein paar von ihren Schwestern in der toten Saison ernähren und ihre Brüder aufnehmen und verpflegen, wenn sie in die Stadt kommen.

Wie reicht also Jenkins mit seinen Einkünften? Ich frage mit jedem seiner Freunde: Warum ist er nicht längst gerichtlich [20] belangt und warum ist er im vergangenen Jahr zu jedermanns Erstaunen von Boulogne wieder zurückgekommen?

»Ich«, das ist hier die Welt im allgemeinen, die Mrs. Grundy 1 aus jedes Lesers Privatkreis, denn jeder von uns kann auf einige Familien seiner Bekanntschaft deuten, bei denen niemand weiß, wovon sie eigentlich leben. Jeder von uns hat schon mit seinem freundlichen Gastgeber angestoßen und sich gewundert, wovon, zum Teufel, dieser das Glas Wein bezahlt hat.

Als sich Rawdon Crawley drei bis vier Jahre nach seinem Pariser Aufenthalt mit seiner Frau in einem kleinen, aber hübschen Haus in der Curzon Street in Mayfair eingerichtet hatte, gab es kaum einen unter den zahlreichen Freunden, die sie darin bewirteten, der sich nicht die obige Frage vorgelegt hätte. Der Romanschreiber weiß, wie schon gesagt, alles. Und da ich in der Lage bin, dem Publikum erzählen zu können, wie Crawley und seine Frau ohne Einkommen lebten, so bitte ich nur die Zeitschriften, die die Angewohnheit haben, Auszüge aus den verschiedenen, gerade erschienenen Werken zu veröffentlichen, die folgende genaue Darstellung und Berechnung nicht abzudrucken, da mir als dem Entdecker der Sache (noch dazu mit einigen Kosten) auch die alleinige Nutznießung davon gebührt. Mein Sohn – würde ich sagen, wenn ich mit einem Kind gesegnet wäre –, du kannst durch eifrige Forschung und beständigen Verkehr mit ihm lernen, wie ein Mensch bequem von nichts leben kann. Am besten ist es aber, dich nicht zu sehr mit Leuten dieses Gewerbes einzulassen, sondern die Berechnungen aus zweiter Hand zu entnehmen, wie etwa Logarithmen, da die eigne Berechnung, das kannst du glauben, dir bedeutende Geldkosten verursachen wird.

Crawley und Frau lebten also ein paar Jahre, die wir nur ganz kurz streifen können, von nichts sehr glücklich und bequem in Paris. In dieser Zeit verließ er die Leibgarde und verkaufte sein Offizierspatent. Wenn wir ihn wiedertreffen, [21] sind der Schnurrbart und der Titel Oberst auf seiner Karte die einzigen Überbleibsel seines Militärberufs.

Es ist bereits erwähnt worden, daß Rebekka bald nach ihrer Ankunft in Paris eine führende Stellung in der Pariser Gesellschaft einnahm und in den ersten Häusern des restaurierten französischen Adels empfangen wurde. Die Engländer von Welt, die sich in Paris aufhielten, machten ihr ebenfalls den Hof, sehr zum Ärger ihrer Gemahlinnen, die den Emporkömmling nicht ausstehen konnten.

Einige Monate lang war Mrs. Crawley von den Salons des Faubourg Saint-Germain, wo sie eine gesicherte Stellung hatte, und dem Glanz des neuen Hofes, wo sie mit großer Auszeichnung empfangen wurde, entzückt und vielleicht auch ein bißchen berauscht. Während dieser Zeit der Triumphe vernachlässigte sie wahrscheinlich die Leute, mit denen ihr Mann hauptsächlich verkehrte – meist ehrliche junge Militärs.

Der Oberst gähnte gelangweilt unter den Herzoginnen und vornehmen Damen bei Hofe. Die alten Frauen, die Ecarté spielten, veranstalteten so einen Lärm um ein Fünffrancsstück, daß es sich für Oberst Crawley nicht lohnte, sich an einen Spieltisch zu setzen. Den Witz ihrer Unterhaltung konnte er nicht erfassen, da er die Sprache nicht verstand. Was nützte es seiner Frau, fragte er sich, wenn sie jeden Abend vor einem ganzen Kreis von Prinzessinnen knickste? Er ließ seine Frau bald allein zu diesen Gesellschaften gehen und nahm seine früheren, einfachen Beschäftigungen und Vergnügungen unter den liebenswürdigen Freunden seiner eigenen Wahl wieder auf.

Wenn wir sagen, ein Mann lebt elegant von nichts, so gebrauchen wir das Wort »nichts«, um eine unbekannte Größe zu bezeichnen, und meinen damit einfach, daß wir nicht wissen, wie der fragliche Mensch die Kosten seines Haushalts bestreitet. Unser Freund, der Oberst, besaß ein großes Talent für alle Arten von Glücksspiel; und da er sich beständig mit den Karten, dem Würfelbecher und dem Billardqueue [22] übte, so kann man sich natürlich vorstellen, daß er in der Anwendung dieser Gegenstände eine größere Geschicklichkeit erlangte als Menschen, die sie nur gelegentlich gebrauchen. Der Umgang mit einem Billardqueue gleicht dem mit einem Bleistift, einer Flöte und einem Degen – man meistert diese Instrumente nicht auf Anhieb und bringt es nur durch Ausdauer und fortwährendes Studium, verbunden mit einem natürlichen Talent, dahin, sich darin auszuzeichnen. Crawley nun hatte sich von einem glänzenden Dilettanten zu einem unübertrefflichen Meister des Billardspiels entwickelt. Wie bei einem großen General pflegte sein Genie erst in der Gefahr hervorzutreten, und wenn ihm das Glück während des ganzen Spiels nicht hold war und die Wetten gegen ihn standen, so machte er mit nicht zu überbietender Geschicklichkeit und Kühnheit einige wundervolle Vorstöße, die das Gleichgewicht der Schlacht wiederherstellten, und am Ende wurde er Sieger zum Erstaunen aller – das heißt aller, die sein Spiel nicht kannten. Diejenigen, die daran gewöhnt waren, hüteten sich, ihr Geld gegen einen Mann zu setzen, der plötzlich so reich an Fähigkeiten und an so glänzender und überwältigender Geschicklichkeit war.

Im Kartenspiel war er ebenso geschickt, denn obgleich er am Anfang des Abends ständig Geld verlor, so gleichgültig und fehlerhaft spielte, daß Neulinge oft geneigt waren, sein Talent gering einzuschätzen, so bemerkte man doch, daß Crawleys Spiel ganz anders wurde, sobald wiederholte kleine Verluste ihn zur Vorsicht gemahnten, und daß er noch vor Ende der Nacht seinen Gegner völlig schlagen würde. Es konnten in der Tat nur sehr wenige Menschen behaupten, ihn besiegt zu haben.

Seine Triumphe wiederholten sich so häufig, daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn seine Neider und Verlierer zuweilen mit Bitterkeit davon sprachen. Wie die Franzosen meinten, der Herzog von Wellington habe nur deshalb nie eine Schlacht verloren, weil er durch eine erstaunliche Reihe [23] glücklicher Zufälle stets Sieger geblieben sei, und bei Waterloo habe er nur durch Betrug den letzten großen Stich gemacht, so deutete man auch im englischen Hauptquartier an, daß nur Falschspiel die ständigen Erfolge von Oberst Crawley erklären könnten.

Obwohl zu jener Zeit Frascati 2 und der »Salon« 3 in Paris geöffnet waren, hatte doch die Spielleidenschaft so um sich gegriffen, daß die öffentlichen Spiellokale für das allgemeine Bedürfnis nicht ausreichten. Deshalb wurde in den Privathäusern so eifrig gespielt, als ob es keine öffentlichen Einrichtungen zur Befriedigung dieser Leidenschaft gäbe. Bei Crawleys bezaubernden kleinen abendlichen réunions 4 ging man diesen verhängnisvollen Vergnügungen nach – zum großen Verdruß der gutmütigen kleinen Mrs. Crawley. Tief bekümmert sprach Rebekka über die Leidenschaft ihres Gatten für die Würfel und klagte gegenüber allen, die ihr Haus betraten. Sie beschwor die jungen Leute, nie, niemals einen Würfelbecher anzufassen, und als der junge Green von den Schützen einst eine beträchtliche Summe verloren hatte, hatte Rebekka eine tränenreiche Nacht, wie der Diener dem unglücklichen jungen Herrn erzählte, und sie fiel sogar vor ihrem Gatten auf die Knie und bat ihn, die Schuld zu erlassen und den Schuldschein zu verbrennen. Aber wie konnte er das! Er selbst hatte ebensoviel an Blackstone von den Husaren und Graf Punter von der Hannoverschen Kavallerie verloren. Green konnte sich einigermaßen Zeit lassen; aber bezahlen? – natürlich, bezahlen mußte er. Es war kindisch, zu verlangen, daß er einen Schuldschein verbrennen sollte.

Andere Offiziere, hauptsächlich junge – denn die jungen Leute drängten sich um Mrs. Crawley –, kamen mit langen Gesichtern von ihren Gesellschaften, wo sie stets mehr oder weniger Geld an ihren verhängnisvollen Spieltischen zurückgelassen hatten. Ihr Haus kam langsam in einen schlechten Ruf. Die alten Hasen warnten die weniger Erfahrenen vor der Gefahr. Oberst O'Dowd vom ...ten Regiment, einem [24] von denen, die damals in Paris standen, warnte Leutnant Spooney von seinem Korps. Ein lauter, heftiger Streit entbrannte zwischen dem Infanterieoberst und seiner Gemahlin, die im Café de Paris speisten, und Oberst und Mrs. Crawley, die ebenfalls dort aßen. Die Damen auf beiden Seiten griffen ein. Mrs. O'Dowd schnippte mit den Fingern Mrs. Crawley ins Gesicht und nannte deren Mann »nichts Besseres als einen Schwindler«. Oberst Crawley forderte Oberst O'Dowd; aber als der Oberbefehlshaber von dem Streit hörte, ließ er Oberst Crawley kommen, der gerade die Pistolen, »mit denen er Hauptmann Marker erschossen hatte« bereitmachte, und seine Unterredung mit ihm bewirkte, daß kein Duell stattfand. Wäre Rebekka nicht vor General Tufto auf die Knie gefallen, hätte man Crawley nach England zurückgeschickt. Von da an spielte Rawdon ein paar Wochen nur mit Zivilisten.

Trotz Rawdons zweifelloser Geschicklichkeit und seines steten Erfolges wurde es seiner Frau bei Betrachtung dieser Dinge doch bald klar, daß ihre Lage recht unsicher war, und wenn sie auch selten etwas bezahlten, so würde ihr kleines Kapital doch eines Tages gleich Null werden. »Das Spiel, Liebster«, pflegte sie zu sagen, »ist gut, das Einkommen etwas aufzubessern, aber es taugt nicht als alleinige Einkommensquelle. Eines Tages haben die Menschen es satt zu spielen, und wo bleiben wir dann?« Rawdon meinte, daß ihre Bemerkung berechtigt sei, hatte er doch selbst bemerkt, daß die Leute nach einigen Abendveranstaltungen bei ihm wirklich des Spiels müde waren und sich trotz der Reize Rebekkas selten sehen ließen.

So angenehm und leicht ihr Leben in Paris auch war, so war es doch letzten Endes nur Zeitvergeudung und liebenswürdige Spielerei, und Rebekka sah ein, daß sie Rawdons Glück im eigenen Lande erreichen müsse. Sie mußte ihm eine Stellung oder ein Amt in England oder in den Kolonien verschaffen, und sie beschloß, nach England zu gehen, sobald [25] der Weg dahin für sie geebnet war. Als ersten Schritt hatte sie Crawley veranlaßt, sein Patent in der Garde zu verkaufen und sich auf halben Sold setzen zu lassen. Sein Dienst als Adjutant bei General Tufto hatte schon früher aufgehört. Rebekka machte sich in allen Gesellschaften über diesen Offizier lustig, lachte über sein Toupet (das er sich hatte machen lassen, als er nach Paris kam), seinen Hosenbund, seine falschen Zähne und vor allem über seine anmaßende Einbildung, als Herzensbrecher zu gelten und eitel zu glauben, jede Dame, mit der er zusammentraf, sei in ihn verliebt. Der General hatte nun seine Aufmerksamkeit Mrs. Brent, der Frau von Kommissar Brent, die so buschige Augenbrauen hatte, zugewendet. Sie kam nun in den Genuß seiner Bukette, seiner Diners im Restaurant, seiner Opernlogen und seiner Nippsachen. Die arme Mrs. Tufto war nicht glücklicher als zuvor und mußte noch immer lange Abende allein mit ihren Töchtern verbringen, während sie wußte, daß ihr General parfümiert und frisiert fortgegangen war, um im Theater hinter Mrs. Brents Stuhl zu stehen. Becky hatte statt seiner zwar ein Dutzend anderer Bewunderer, und sie konnte ihre Rivalin mit ihrem Witz in Stücke reißen, aber wie gesagt, begann sie dieses untätigen geselligen Lebens müde zu werden; Opernlogen und Diners im Restaurant hatten ihren Reiz für sie verloren; die Blumensträuße ließen sich nicht als Reserve für später aufbewahren, und von allerlei Tand, Spitzentüchlein und Glacêhandschuhen konnte sie nicht leben. Sie fühlte die Leichtfertigkeit all dieser Vergnügungen und sehnte sich nach inhaltsreicheren Genüssen.

Zu dieser Zeit traf eine Nachricht ein, die sich unter den zahlreichen Gläubigern vom Oberst in Paris schnell herumsprach und sie mit Befriedigung erfüllte. Miss Crawley, die reiche Tante, von der er eine riesige Erbschaft erwartete, lag im Sterben, und der Oberst mußte an ihr Bett eilen. Mrs. Crawley sollte mit dem Kind zurückbleiben, bis er kam, sie zu holen. Er reiste nach Calais ab, und dort sicher angekommen, [26] hätte er eigentlich nach Dover gehen müssen; statt dessen bestieg er jedoch die Postkutsche nach Dünkirchen und reiste von da nach Brüssel, für das er von früher her eine Vorliebe hatte. Er hatte nämlich in London mehr Schulden als in Paris und zog daher die kleine ruhige belgische Stadt den beiden geräuschvolleren Hauptstädten vor.

Die Tante war tot. Mrs. Crawley bestellte für sich und den kleinen Rawdon Trauerkleidung. Der Oberst war mit dem Ordnen der Erbschaftsangelegenheiten beschäftigt. Sie konnten nun im Hotel den ersten Stock nehmen statt des kleinen Zwischenstockwerks, das sie bewohnten. Mrs. Crawley hatte mit dem Hauswirt eine Besprechung über neue Vorhänge, einen freundschaftlichen Wortwechsel über die Teppiche, kam aber schließlich zu einer Einigung über alles, mit Ausnahme der Rechnung. Sie fuhr in einem seiner Wagen ab, an ihrer Seite die französische Bonne mit dem Kind, während ihr der freundliche Wirt und seine Frau vom Tore aus zum Abschied nachlächelten. General Tufto war wütend, als er hörte, sie sei fort, und Mrs. Brent war wütend auf ihn, weil er wütend war. Leutnant Spooney war tief ins Herz getroffen, und der Wirt bereitete seine besten Zimmer für die Rückkehr der bezaubernden kleinen Frau und ihres Mannes vor. Er hütete die Koffer, die sie zurückgelassen hatten, wie seinen Augapfel. Madame Crawley hatte sie ihm besonders ans Herz gelegt. Als man sie jedoch nach geraumer Zeit öffnete, erwies sich ihr Inhalt als nicht besonders wertvoll.

Bevor Mrs. Crawley sich jedoch zu ihrem Mann in die belgische Hauptstadt begab, machte sie einen Abstecher nach England. Ihren kleinen Sohn ließ sie unter der Obhut ihres französischen Mädchens auf dem Kontinent zurück. Der Abschied zwischen Rebekka und dem kleinen Rawdon bereitete keinem von beiden großen Schmerz. Um die Wahrheit zu gestehen, hatte sie von dem jungen Herrn seit seiner Geburt nicht viel zu Gesicht bekommen.

Nach der liebreichen Sitte französischer Mütter hatte sie [27] ihn zu einer Amme in einem Dorf nahe Paris gegeben, wo der kleine Rawdon die ersten Monate seines Lebens nicht unglücklich mit einer zahlreichen Familie von Pflegebrüdern in Holzschuhen zugebracht hatte. Der Vater ritt oft hinaus, um ihn zu besuchen, und sein Herz erglühte, wenn er den rosigen, schmutzigen kleinen Kerl lustig kreischen hörte und zusah, wie er unter der Aufsicht der Gärtnersfrau, seiner Pflegemutter, glückstrahlend im Schlamm saß und Kuchen fabrizierte.

Rebekka zeigte nie große Lust, ihren Sohn und Erben zu besuchen. Er hatte ihr einmal einen neuen taubenblauen Umhang verdorben. Die Liebkosungen seiner Amme zog er denen seiner Mutter vor, und als er die lustige Wärterin, die beinahe seine Mutter war, schließlich verließ, brüllte er stundenlang. Er ließ sich erst durch das Versprechen seiner Mutter beruhigen, daß er am nächsten Tag zu seiner Amme zurück dürfe. Auch der Amme, die sich sonst wahrscheinlich über sein Scheiden gegrämt hätte, erzählte man, daß ihr das Kind bald zurückgebracht werde, und eine Zeitlang wartete sie ängstlich auf seine Rückkehr.

Unsere Freunde gehörten wirklich zu den ersten jenes Geschlechtes kühner englischer Abenteurer, die später den Kontinent überschwemmten und in allen europäischen Hauptstädten ihre Schwindeleien vollbrachten. Die Achtung vor dem Reichtum und der Ehre der Engländer war in jenen glücklichen Tagen von 1817/18 noch sehr groß. Sie hatten, wie man erzählt, damals noch nicht gelernt, mit der Hartnäckigkeit, die sie jetzt auszeichnet, zu feilschen. Europas große Städte waren damals noch nicht dem Unternehmungsgeist englischer Schurken geöffnet; während es jetzt kaum eine Stadt in Frankreich oder Italien gibt, wo nicht einige unserer edlen Landsleute mit ihrem protzigen, anmaßenden Benehmen, das wir überall zur Schau stellen, Gastwirte beschwindeln, leichtgläubige Bankiers mit gefälschten Wechseln betrügen und Wagenbauer um ihre Wagen, Goldschmiede um [28] ihre Juwelen, unvorsichtige Reisende um ihr Geld und sogar öffentliche Bibliotheken um ihre Bücher bringen. Vor dreißig Jahren dagegen brauchte man nur der gnädige Herr aus England zu sein und in einem eigenen Wagen zu reisen, um überall Kredit zu bekommen, wo man ihn suchte. Damals betrogen die Gentlemen nicht, sondern wurden betrogen. Erst ein paar Wochen nach der Abreise der Crawleys bemerkte der Wirt des Hotels, worin sie während ihres Pariser Aufenthalts gewohnt hatten, seinen Verlust, nämlich erst nachdem Madame Marabou, die Putzmacherin, wiederholt mit einer kleinen Rechnung für Sachen, die sie Madame Crawley geliefert hatte, aufgetaucht war und erst als Monsieur Didelot von der Boule d'Or 5 im Palais-Royal ein halbes dutzendmal gefragt hatte, ob cette charmante 6 Milady, die Uhren und Armbänder bei ihm gekauft hatte, de retour 7 sei. Tatsächlich war nicht einmal die arme Gärtnersfrau, die Madames Kind gestillt hatte, nach den ersten sechs Monaten für die Milch der Menschenfreundlichkeit, die sie dem lebhaften und gesunden kleinen Rawdon gespendet hatte, bezahlt worden. Nein, nicht einmal die Amme war bezahlt worden – die Crawleys hatten zu große Eile gehabt, um an diese unbedeutende Schuld zu denken. Der Hotelwirt fluchte bis an sein Ende auf die englische Nation. Er fragte jeden Reisenden, ob er einen gewissen Oberst Lord Crawley kenne – avec sa femme – une petite dame, très spirituelle 8. »Ah, Monsieur«, setzte er dann stets hinzu, »ils m'ont affreusement volé.« Es war traurig, seine Stimme zu hören, wenn er von dieser Katastrophe sprach.

Rebekkas Ziel bei ihrer Reise nach London war, eine Art Vergleich mit den zahlreichen Gläubigern ihres Mannes zu treffen, um ihnen einen Anteil von neun Pence bis zu einem Shilling pro Pfund zu bieten und damit ihrem Mann die Rückkehr in sein Vaterland zu sichern. Es ziemt uns nicht, alle ihre Schritte bei diesen schwierigen Verhandlungen zu verfolgen; als sie die Leute jedoch zu ihrer Zufriedenheit [29] darauf aufmerksam machte, daß die Summe, die sie ihnen hier bieten könne, das gesamte verfügbare Kapital ihres Mannes sei, und sie überzeugt hatte, daß Oberst Crawley lieber auf dem Kontinent bleiben als nach England zu seinen unbezahlten Schulden zurückkehren würde, als sie ihnen bewiesen hatte, daß ihm unmöglich von anderer Seite Geld zufallen würde und daß sie auf Erden keine Aussicht mehr hätten, einen größeren Teil zu erhalten, als sie jetzt bieten konnte, brachte sie die Gläubiger des Obersten dahin, ihre Vorschläge einmütig anzunehmen, und sie kaufte mit fünfzehnhundert Pfund bar mehr als den zehnfachen Schuldbetrag.

Mrs. Crawley nahm bei diesem Geschäft keinen Rechtsanwalt. Die Sache war so einfach, »tun oder es bleiben lassen«, wie sie ganz treffend bemerkte, daß sie die Gläubiger veranlaßte, durch ihre Anwälte den Handel abzuschließen. Mr. Lewis, der Mr. Davids vom Lion Square vertrat, und Mr. Moss, der für Mr. Manasseh von der Cursitor Street arbeitete (beides waren Hauptgläubiger des Obersten), machten der Dame Komplimente darüber, wie glänzend sie ihr Geschäft betrieb, und beteuerten, daß keiner ihrer Berufskollegen sie übertreffen könnte.

Rebekka nahm die Gratulationen mit der größten Bescheidenheit entgegen. Sie ließ eine Flasche Sherry und ein Kuchenbrot in die schmutzige kleine Wohnung kommen, in der sie während ihrer Geschäfte wohnte, und bewirtete damit die Rechtsanwälte ihrer Gegner. Sie drückte ihnen beim Scheiden gutgelaunt die Hand und kehrte direkt nach dem Kontinent zu Mann und Sohn zurück, um dem älteren Rawdon die frohe Botschaft von seiner völligen Freiheit zu bringen. Der jüngere Rawdon war während der Abwesenheit seiner Mutter von Mademoiselle Geneviève, ihrem französischen Mädchen, stark vernachlässigt worden. Das junge Ding hatte eine Liebschaft mit einem Soldaten der Garnison von Calais angefangen und ihren Schützling in der Gesellschaft [30] dieses Militärs vergessen. Der kleine Rawdon war um ein Haar dem Ertrinken entgangen, als ihn die zerstreute Geneviève am Strand von Calais verlassen und verloren hatte.

So kamen also Oberst Crawley und Frau nach London, und in ihrem Haus in der Curzon Street in Mayfair zeigten sie, welche Geschicklichkeit diejenigen besitzen müssen, die von den obenerwähnten Mitteln leben wollen.

Fußnoten

1 Gestalt aus einer Komödie des englischen Dramatikers Thomas Morton (1764-1838); wurde in England zum Inbegriff für die vorgefaßte öffentliche Meinung.

2 Pariser Spielsalon.

3 Pariser Spielsalon.

4 (franz.) Zusammenkunft.

5 Juweliergeschäft im Pariser Palais-Royal, in dessen Galerien neben eleganten Cafés auch Luxusgeschäfte untergebracht waren.

6 (franz.) diese bezaubernde.

7 (franz.) zurück.

8 (franz.) mit seiner Frau – einer kleinen, sehr geistreichen Dame. Ach, mein Herr, sie haben mich abscheulich bestohlen.

37. Kapitel
Fortsetzung

Zuallererst müssen wir unbedingt berichten, wie man ein Haus umsonst mieten kann. Diese Häuser sind entweder unmöbliert zu haben, und dann kann man sie nach eigenem Geschmack prächtig einrichten und ausstatten lassen, wenn man bei Gillow oder Banting Kredit hat. Oder man mietet sie möbliert, was für die meisten nicht so mühsam und kompliziert ist. Crawley und seine Frau zogen es vor, ihr Haus so zu mieten.

Ehe Mr. Bowls die Herrschaft über Miss Crawleys Haus und Keller in der Park Lane übernahm, hatte die Dame einen Mr. Raggles als Butler gehabt. Er war auf dem Familiengut in Queen's Crawley geboren und der jüngere Sohn eines dortigen Gärtners. Durch gute Führung, nettes Äußeres und hübsche Waden und eine ernste Haltung hatte sich Raggles vom Messerputzbrett zum Bedientensitz auf der Kutsche und vom Bedientensitz zum Butleramt emporgeschwungen. Nachdem er eine gewisse Anzahl von Jahren Miss Crawleys Haushalt geführt hatte, wo er guten Lohn, fette Nebeneinkünfte und reichlich Gelegenheit zum Sparen gehabt hatte, teilte er mit, daß er mit einer früheren Köchin von Miss Crawley, die sich mit einer Wäschemangel und einem kleinen Gemüseladen in der Nachbarschaft ehrlich ernährte, die Ehe eingehen[31] wolle. In Wirklichkeit hatte die Trauung schon vor mehreren Jahren heimlich stattgefunden, obwohl Miss Crawley die Neuigkeit von Mr. Raggles' Ehe erst durch einen kleinen Jungen und ein Mädchen von sieben und acht Jahren erfahren hatte, deren beständige Anwesenheit in der Küche Miss Briggs' Aufmerksamkeit erregt hatte.

Mr. Raggles zog sich also zurück und übernahm persönlich die Herrschaft über den kleinen Laden und das Gemüse. Er fügte seinen Vorräten noch Milch und Sahne, Eier und Speck vom Lande zu, und während andere ehemalige Butler in Wirtshäusern Alkoholitäten ausschenkten, war er zufrieden beim Handel mit den einfachen Landerzeugnissen. Da er viele Bekannte unter den Butlern der Nachbarschaft hatte und er und Mrs. Raggles sie in ihrem hübschen Hinterzimmer bewirteten, so fanden Milch, Sahne und Eier bei vielen Kollegen Absatz, und seine Einkünfte wuchsen mit jedem Jahr. Ein Jahr nach dem anderen häufte er ruhig und bescheiden Geld an, und als schließlich die hübsche und vollständig eingerichtete Junggesellenbehausung in der Curzon Street Nr. 201 in Mayfair, zuletzt bewohnt von dem ehrenwerten Mr. Frederick Deuceace, der ins Ausland gegangen war, mit ihren reichen, prächtigen Möbeln bester Fabrikation unter den Hammer kam – wer anders ging hin und kaufte Mietvertrag und Einrichtung des Hauses als Charles Raggles? Zwar mußte er einen Teil des Geldes zu recht hohen Zinsen von einem anderen Butler borgen, den Hauptteil jedoch bezahlte er bar, und Mrs. Raggles schlief nicht wenig stolz zum ersten Male in einem geschnitzten Mahagonibett mit seidenen Vorhängen, einem riesigen Drehspiegel gegenüber und einer Garderobe, die sie und ihren Mann und die ganze Familie aufnehmen konnte.

Sie hatten natürlich nicht die Absicht, ein so prächtiges Haus auf die Dauer selbst zu bewohnen. Raggles hatte das Haus gekauft, um es wieder zu vermieten. Sobald sich ein Mieter fand, versank er wieder in seinem Gemüseladen; es [32] war aber ein glückliches Gefühl für ihn, aus seiner Behausung herauszukommen und nach der Curzon Street zu wandern; dort konnte er sein Haus – sein eignes Haus – mit Geranien im Fenster und einem verzierten Bronzetürklopfer betrachten. Der Bediente, der mitunter am Vorplatzgitter herumlungerte, behandelte ihn mit Respekt; die Köchin kaufte das Gemüse bei ihm und nannte ihn Herr Wirt. Es gab nichts, was die Mieter taten, und kein Gericht, das auf ihren Tisch kam, worüber Raggles nicht unterrichtet war, wenn er es wollte.

Er war ein guter Mann, gut und glücklich. Das Haus brachte ihm ein so hübsches jährliches Einkommen, daß er sich entschloß, seine Kinder in gute Schulen zu schicken, und ungeachtet der Kosten kam Charles zu Doktor Swishtail ins Zuckerrohrstockhaus und die kleine Matilda zu Miss Peckover ins Laurentinumhaus in Clapham. Raggles liebte und betete die Familie Crawley als die Urheber all seines Lebensglückes an. Er hatte in seinem Hinterzimmer eine Silhouette seiner Herrin und eine Sepiazeichnung vom Portierhaus in Queen's Crawley, von der alten Jungfer selbst ausgeführt. Das einzige, was er der Einrichtung des Hauses in der Curzon Street hinzufügte, war ein Druck mit der Ansicht von Queen's Crawley in Hampshire, dem Landsitz von Sir Walpole, Baronet. Dieser fuhr in einer vergoldeten Kutsche mit sechs Schimmeln an einem See vorbei, auf dem Schwäne schwammen und eine Barke voller Damen in Reifröcken und Musikanten mit Perücken und Fähnchen. Raggles glaubte wirklich, es gäbe auf der ganzen Welt nur einen solchen Palast wie diesen und nur eine so erlauchte Familie.

Das Glück wollte es, daß Raggles' Haus in der Curzon Street zu vermieten war, als Rawdon und seine Frau nach London zurückkehrten. Der Oberst kannte das Gebäude und seinen Besitzer recht gut, da Raggles stets mit der Familie Crawley in Verbindung geblieben war. Wenn Miss Crawley Gäste hatte, half er Mr. Bowls. Der alte Mann vermietete [33] dem Oberst nicht nur sein Haus, sondern trat auch als Butler auf, wenn er Gesellschaft hatte, während Mrs. Raggles in der Küche wirtschaftete und Speisen hinaufschickte, mit denen selbst Miss Crawley zufrieden gewesen wäre. Auf diese Weise bekam Crawley also das Haus umsonst. Raggles mußte zwar Steuern und die Hypothekenzinsen an den anderen Butler und die Lebensversicherung und das Schulgeld für seine Kinder und Essen und Trinken für seine eigene Familie und eine Zeitlang auch für Oberst Crawley bezahlen. Zwar wurde der arme Teufel durch das Geschäft völlig ruiniert, seine Kinder warf man auf die Straße und ihn selbst ins Schuldgefängnis, aber schließlich muß doch immer einer für die Herren bezahlen, die von nichts leben, und so kam es, daß der unglückliche Raggles zum Repräsentanten von Oberst Crawleys fehlendem Kapital wurde.

Ich möchte wissen, wie viele Familien durch große Meister von Crawleys Art zum Bankrott und Vagabundenleben getrieben werden – wie viele hohe Adlige ihre kleinen Kaufleute bestehlen, sich herablassen, ihre armen Diener um erbärmlich kleine Summen zu beschwindeln und um ein paar Shilling zu betrügen. Wenn wir lesen, daß ein edler Adliger nach dem Kontinent gegangen ist oder ein anderer edler Adliger in seinem Haus eine Versteigerung hat – und daß der eine oder andere sechs oder sieben Millionen Schulden hat, so erscheint uns selbst die Niederlage noch glorreich, und wir achten das Opfer in der Großartigkeit seines Ruins. Wer aber bemitleidet einen armen Friseur, der das Geld für das Pudern der Köpfe der Diener nicht erhält, oder einen armen Zimmermann, der sich ruiniert hat, als er in dem déjeuner 1 der Lady Verzierungen anbrachte und Pavillons errichtete; oder den armen Teufel von Schneider, den der Verwalter begönnerte und der alles, was er besaß, und vielleicht noch mehr, verpfändet hat, um die Livreen anfertigen zu können, die bei ihm zu bestellen der Lord ihm die Ehre erwies? Wenn das große Haus einstürzt, so fallen alle diese armen Teufel [34] unbemerkt mit. Es heißt ja in den alten Legenden, bevor ein Mensch zum Teufel geht, schickte er diesem erst einmal einen Haufen anderer Seelen.

Rawdon und seine Frau begünstigten großmütig all die von Miss Crawleys Geschäftsleuten, die ihnen dienen wollten. Einige, besonders die Armen, waren dazu bereit genug. Es war wunderbar, die Ausdauer zu beobachten, mit der die Waschfrau von Tooting Woche für Woche jeden Sonnabend mit dem Wäschekarren und der Rechnung kam. Mr. Raggles selbst hatte das Gemüse zu liefern. Die Rechnung für den Porter der Dienstboten im »Wirtshaus zum Kriegsglück« ist eine Kuriosität in den Annalen der Biergeschichte. Allen Dienstboten war man den größten Teil des Lohnes schuldig und erhielt somit zwangsläufig ein Interesse am Haus wach. Tatsächlich wurde niemand und nichts bezahlt, weder der Schlosser, der das Schloß öffnete, noch der Glaser, der eine neue Scheibe einsetzte, noch der Wagenverleiher, von dem man die Kutsche gemietet hatte, noch der Kutscher, der sie lenkte, noch der Fleischer, der die Hammelkeule lieferte, noch die Kohlen, mit denen sie gebraten wurde, noch die Köchin, die sie mit Fett begoß, noch die Dienstboten, die sie aßen. Das ist, wie man mir erzählte, nicht selten die Art, in der Leute elegant von nichts leben.

In einer kleinen Stadt können derartige Dinge nicht unbemerkt geschehen. Wir wissen dort, wieviel Milch unser Nachbar holt, und erspähen die Keule oder das Geflügel, das für sein Mittagessen ins Haus gebracht wird. So wußten wahrscheinlich die Curzon Street Nr. 200 und 202, was in dem Haus zwischen ihnen vorging, da die Dienstboten durch den Zaun miteinander verkehrten. Aber Crawley und seine Frau und auch seine Freunde wußten nichts von 200 und 202. Wenn man nach 201 kam, so gab es ein herzliches Willkommen, ein freundliches Lächeln, ein gutes Mittagessen und einen munteren Händedruck vom Gastgeber und seiner Frau, und es schien der Welt, als ob sie jährlich drei- bis viertausend [35] hätten. Das hatten sie allerdings auch, zwar nicht an Geld, aber an Waren und Arbeit. Wenn sie den Hammelbraten auch nicht bezahlten, so hatten sie ihn doch – wenn sie kein Gold und Silber für ihren Wein ausgaben, wie sollten wir das wissen? Kein Mensch hatte besseren Rotwein auf der Tafel als der ehrliche Rawdon, keiner gab fröhlichere Diners, und nirgends wurde hübscher serviert. Seine Salons waren die nettesten, kleinsten, bescheidensten, die man sich denken kann. Rebekka hatte sie mit dem feinsten Geschmack und tausend Pariser Kleinigkeiten ausgestattet, und wenn sie am Klavier saß und fröhlichen Herzens ihre Lieder trällerte, so glaubte sich der Fremde in ein kleines Paradies häuslicher Behaglichkeit versetzt und gestand, daß zwar der Mann recht dumm sei, die Frau aber bezaubernd und die Diners die reizendsten von der Welt.

Rebekka kam durch ihren Witz, ihre Klugheit und ihre Schlagfertigkeit bei einer gewissen Klasse Londoner bald in Mode. Man sah an ihrer Tür ehrbare Kutschen, denen Menschen vornehmsten Ranges entstiegen. Man sah ihren Wagen im Park von berühmten Stutzern umringt. Ihre kleine Loge im dritten Rang der Oper war von ständig wechselnden Gesichtern bevölkert. Wir müssen allerdings gestehen, daß sich die Damen von ihr fernhielten und ihre Türen unserer kleinen Abenteuerin verschlossen blieben.

Über die vornehme Welt der Damen und ihre Sitten kann der Verfasser unserer Geschichte natürlich nur vom Hörensagen berichten. Ein Mann kann diese Geheimnisse ebensowenig durchschauen oder verstehen, wie er weiß, worüber sich die Damen unterhalten, wenn sie sich nach dem Essen in die oberen Gemächer zurückziehen. Nur durch mühsame, ausdauernde Nachforschungen kann man zuweilen eine Andeutung über diese Geheimnisse erhalten. Durch ebensolche Emsigkeit weiß jeder, der auf dem Pflaster der Pall Mall wandelt und die Londoner Klubs besucht, entweder aus eigener Erfahrung oder von einem Bekannten, mit dem er Billard [36] spielt oder speist, etwas über die vornehme Londoner Welt. Er merkt, daß es Männer gibt (wie zum Beispiel Rawdon Crawley, dessen Lage wir schon beschrieben haben), die, weil sie mit den berühmtesten Stutzern im Park verkehren, in den Augen der unwissenden Welt und der Lehrlinge dort eine gute Figur machen. Ebenso gibt es aber auch Damen, die man als Typ der Männer bezeichnen könnte, da sie von allen Herren begrüßt und von ihren Ehefrauen geschnitten oder mit Geringschätzung betrachtet werden. Zu dieser Art gehört Mrs. Firebrace, die Dame mit den schönen blonden Locken, die man täglich, umringt von den größten und bekanntesten Stutzern des Königreiches, im Hyde Park sehen kann. Eine andere von ihnen ist Mrs. Rockwood, deren Gesellschaften ausführlich in allen Zeitungen der vor nehmen Welt beschrieben werden und bei der eine Menge von Gesandten und hohen Adligen zu speisen pflegen. Die Reihe ließe sich noch beliebig erweitern, wenn es etwas mit unserer Geschichte zu tun hätte. Während nun aber einfache Menschen, die die Welt nicht kennen, oder Leute vom Lande mit einem Hang zum Vornehmen diese Damen an öffentlichen Orten in ihrer scheinbaren Glorie beobachten oder sie aus der Ferne beneiden, so könnten besser Unterrichtete ihnen klarmachen, daß die beneideten Damen ebenso geringe Aussichten auf eine Stellung in der »Gesellschaft« besitzen wie die unwissende kleine Gutsbesitzersfrau in Somersetshire, die in der »Morning Post« von ihrem Leben und Treiben liest. Die in London Lebenden kennen diese schrecklichen Wahrheiten. Man hört, wie unbarmherzig viele Damen von scheinbarem Rang und Reichtum von dieser »Gesellschaft« ausgeschlossen sind. Die verzweifelten Anstrengungen, mit denen sie in diesen Kreis zu gelangen suchen, die Demütigungen, denen sie sich aussetzen, die Beleidigungen, die sie einstecken, sind sehr verwunderlich für diejenigen, die sich das Studium der Menschen oder Frauen zur Aufgabe gemacht haben.

Die wenigen Freundinnen nun, die Mrs. Crawley auf dem [37] Kontinent gehabt hatte, lehnten es nicht nur ab, sie zu besuchen, als sie den Kanal wieder überquert hatte, sondern schnitten sie völlig, als ob sie sie nie gesehen hätten, wenn sie ihr in der Öffentlichkeit begegneten. Es war merkwürdig, wie die großen Damen sie vergessen hatten, und zweifellos war das für Rebekka keine angenehme Erkenntnis. Wenn Lady Bareacres in der Vorhalle der Oper ihrer ansichtig wurde, so sammelte sie ihre Töchter um sich, als ob diese durch eine Berührung mit Becky angesteckt würden. Dann zog sie sich ein paar Schritte weit zurück, stellte sich vor ihre Töchter und starrte ihre kleine Feindin an. Um Becky durch Anstarren aus der Fassung zu bringen, bedurfte es allerdings eines strengeren Blickes als dessen, den die eisige alte Bareacres aus ihren schrecklichen Augen schießen konnte. Wenn Lady de la Mole, die in Brüssel ein dutzendmal neben Becky geritten war, jetzt Mrs. Crawleys offenen Wagen im Hyde Park traf, dann war sie vollkommen blind und nicht imstande, ihre frühere Freundin wiederzuerkennen. Selbst Mrs. Blenkinsop, die Bankiersfrau, schnitt sie in der Kirche. Becky ging jetzt regelmäßig zur Kirche, und es war höchst erbaulich, zu sehen, wie sie und Rawdon mit großen vergoldeten Gebetbüchern eintraten und dem Gottesdienst mit hingebendem Ernst folgten.

Rawdon litt anfangs sehr unter der Mißachtung, die man seiner Frau zollte, und wurde düster und wild. Er sprach davon, die Männer oder Brüder all der unverschämten Weiber, die seiner Frau nicht den gehörigen Respekt erwiesen, zu fordern, und ließ sich nur durch Rebekkas strenge Befehle und Bitten dazu bewegen, sich anständig zu benehmen. »Du kannst mich nicht in die Gesellschaft schießen«, sagte sie gutmütig. »Denke daran, mein Lieber, daß ich nur eine Gouvernante gewesen bin und daß du, armer dummer Alter, hinsichtlich Schuldenmachen, Spielen und allen möglichen anderen Lastern in schlimmem Ruf stehst. Nach und nach werden wir schon so viele Freunde bekommen, wie wir brauchen, [38] und inzwischen mußt du ein braver Junge sein und alles tun, was deine Lehrerin dir sagt. Weißt du noch, wie wütend du warst, als wir hörten, daß deine Tante fast alles Pitt und seiner Frau vermacht hatte? Am liebsten hättest du ganz Paris davon in Kenntnis gesetzt, wenn ich dich nicht zurückgehalten hätte, und wo würdest du jetzt sein? Im Schuldgefängnis von Saint-Pélagie und nicht in London in einem hübschen Haus mit allem Komfort. Du warst so erbost, daß du am liebsten deinen Bruder ermordet hättest, du gottloser Kain, du! Und was hätten wir davon gehabt, wenn wir böse geblieben wären? Aller Zorn der Welt wird uns das Geld deiner Tante nicht verschaffen, und es ist auf alle Fälle besser, mit der Familie deines Bruders in Eintracht zu leben, als daß wir mit ihnen verfeindet sind wie die einfältigen Butes. Wenn dein Vater stirbt, so wird Queen's Crawley für uns beide eine ganz angenehme Winterresidenz sein. Sollte es aussein mit uns, dann werden wir es schon zustande bringen, daß du die Aufsicht über die Ställe übernimmst, und ich kann Gouvernante bei Lady Janes Kindern werden. Aussein? Unsinn! Ehe es dazu kommt, werde ich dir eine gute Stelle verschaffen, oder Pitt und sein kleiner Junge sind gestorben – und wir werden Sir Rawdon und Lady sein. Solange man lebt, solange kann man auch hoffen, mein Lieber, und ich habe vor, aus dir noch einen Mann zu machen. Wer hat deine Pferde verkauft? Wer hat deine Schulden bezahlt?« Rawdon mußte bekennen, daß er all diese Wohltaten seiner Frau zu verdanken habe, und versprach, sich auch in Zukunft ihrer Führung zu unterwerfen.

Als Miss Crawley die Welt verließ und das Geld, um das all ihre Verwandten so hart gekämpft hatten, Pitt zufiel, war Bute Crawley bei der Feststellung, daß er statt der erwarteten zwanzigtausend Pfund nur fünftausend bekam, in seiner Enttäuschung so wütend geworden, daß er sich in wildesten Schmähungen über seinen Neffen Luft machen mußte. Die schon seit jeher zwischen ihnen herrschenden Streitigkeiten [39] endeten mit einem völligen Abbruch der Beziehungen. Rawdon Crawley dagegen, der nur hundert Pfund erhalten hatte, zeigte sich von einer Seite, die seinen Bruder in Erstaunen und seine Schwägerin, die allen Mitgliedern der Familie ihres Gatten freundlich gesinnt war, in Entzücken versetzte. Er schrieb seinem Bruder von Paris aus einen aufrichtigen, männlichen, gutmütigen Brief. Er wisse, sagte er darin, daß er durch seine Heirat die Gunst seiner Tante verscherzt habe, und wenn er auch seine Enttäuschung darüber, daß sie so hart zu ihm gewesen sei, nicht verbergen könne, so sei er doch froh, daß das Geld in ihrem Zweig der Familie geblieben sei, und gratuliere dem Bruder von Herzen zu seinem Glück. Er sandte seiner Schwägerin liebevolle Grüße und hoffte, ihre Zuneigung für Mrs. Crawley zu erwerben. Der Brief schloß mit einem Postskriptum an Pitt in Rebekkas Handschrift. Sie schloß sich den Glückwünschen ihres Mannes an und schrieb, sie werde stets mit Dankbarkeit an Mr. Crawleys Freundlichkeit für sie in jener Zeit denken, als sie eine freundlose Waise und die Lehrerin seiner kleinen Schwestern war, an deren Wohlergehen sie noch immer den zärtlichsten Anteil nehme. Sie wünschte ihm viel Glück zu seiner Ehe, bat um Erlaubnis, sich Lady Jane (von deren Güte alle Welt sprach) empfehlen zu dürfen, hoffte, daß es ihr eines Tages vergönnt sein möge, ihren kleinen Jungen seinem Onkel und seiner Tante vorzustellen, und bat für ihn um Schutz und Freundschaft.

Pitt Crawley nahm diesen Brief sehr gnädig auf – gnädiger, als Miss Crawley einige frühere Werke Rebekkas in Rawdons Handschrift aufgenommen hatte, und Lady Jane war so bezaubert, daß sie von ihrem Mann erwartete, er werde sofort die Erbschaft seiner Tante in zwei gleiche Teile teilen und eine Hälfte seinem Bruder nach Paris schicken.

Zur Überraschung der Lady lehnte es Pitt jedoch ab, seinem Bruder einen Scheck auf dreißigtausend Pfund zu überweisen. Er bot ihm jedoch seine Hilfe an, falls er nach England [40] kommen und sie annehmen wolle, dann dankte er Mrs. Crawley für ihre gute Meinung über ihn und Lady Jane und erklärte sich bereit, jede Gelegenheit zu benutzen, um ihrem kleinen Jungen dienlich zu sein.

So war fast eine völlige Aussöhnung zwischen den Brüdern zustande gebracht worden. Als Rebekka nach London kam, waren Pitt und seine Frau nicht in der Stadt. Sie fuhr oft an der alten Tür in der Park Lane vorüber, um zu sehen, ob sie Miss Crawleys Haus bezogen hätten. Die neue Familie erschien jedoch nicht, und Rebekka erfuhr nur durch Raggles, was los war: Miss Crawleys Dienstboten waren mit anständigen Geschenken entlassen worden, und Mr. Pitt sei nur einmal in London gewesen und einige Tage im Haus geblieben. Er mußte Geschäfte mit seinen Rechtsanwälten abwickeln und hatte alle französischen Romane von Miss Crawley an einen Buchhändler in der Bond Street verkauft. Becky hatte ihre Gründe, weshalb sie so sehnsüchtig auf die Ankunft ihrer neuen Verwandten wartete. Wenn Lady Jane kommt, dachte sie, so muß sie mich in die Londoner Gesellschaft einführen, und was die Frauen betrifft, pah! – die werden mich schon einladen, wenn sie merken, daß die Männer mich sehen wollen.


Ein Gegenstand, den eine Dame in Beckys Stellung ebenso benötigte wie Wagen oder Bukett, ist ihre Gesellschafterin. Ich habe oft bewundernd mit angesehen, wie die sanften Geschöpfe, die nicht ohne Mitgefühl existieren können, eine unbeschreiblich häßliche Freundin mieten, von der sie fast unzertrennlich sind. Der Anblick dieses unvermeidlichen Frauenzimmers im verblichenen Kleid, hinter ihrer teuren Freundin in der Opernloge oder auf dem Rücksitz der Kutsche ist mir stets eine gesunde moralische Genugtuung gewesen, ein ebenso ausgezeichnetes Erinnerungsmittel wie der Totenkopf bei den Gastmählern der ägyptischen Bonvivants – ein seltsames, hämisches Denkmal auf dem Jahrmarkt der [41] Eitelkeit. Ja, was denn, selbst die unverschämte, ausschweifende, schöne, gewissenlose – und herzlose Mrs. Firebrace, deren Vater an ihrer Schande starb, selbst die hübsche, kühne Mrs. Mantrap, die mit jedem Reiter in England um die Wette über die Zäune sprengt und ihre Grauschimmel im Park spazierenfährt, während ihre Mutter in Bath noch eine Hökerbude hat – selbst jene, die so dreist sind, daß man denken könnte, sie scheuten vor nichts zurück, wagen es nicht, ohne eine Freundin vor die Welt zu treten. Sie müssen stets jemand haben, an den sie sich hängen können, die gefühlvollen Wesen! Man wird sie kaum je in der Öffentlichkeit sehen, ohne daß eine schäbige Gesellschafterin im verschossenen Seidenkleid in ihrem Schatten dicht hinter ihnen sitzt.

»Rawdon«, sagte Becky eines Abends sehr spät, als eine Herrengesellschaft um ihr prasselndes Kaminfeuer versammelt war (denn die Männer kamen oft, um den Rest eines Abends bei ihnen zu verbringen, und sie bot ihnen Eis und Kaffee an, den besten, den man in London bekommen konnte). »Ich muß einen Schäferhund haben.«

»Einen was?« fragte Rawdon und blickte vom Ecarté auf.

»Einen Schäferhund!« sagte der junge Lord Southdown. »Was für ein Einfall, meine liebe Mrs. Crawley! Warum nicht lieber eine Dänische Dogge, ich weiß eine, fast so groß wie eine Giraffe, beim Zeus. Sie könnte fast Ihren Wagen ziehen. Oder einen persischen Windhund, wenn ich etwas vorschlagen darf! Oder einen kleinen Mops, der in eine von Lord Steynes Schnupftabaksdosen passen würde. Ein Mann in Bayswater hat einen mit einer Nase, daß Sie – ich nehme den König und spiele – daß Sie ihren Hut daran aufhängen könnten.«

»Ich nehme Stich«, sagte Rawdon ernsthaft. Er gab gewöhnlich nur auf sein Spiel acht und mischte sich nur dann ins Gespräch, wenn es sich um Pferde und Wetten drehte.

»Wozu brauchen denn Sie einen Schäferhund?« fuhr der lebhafte kleine Southdown fort.

[42] »Ich meine einen moralischen Schäferhund«, sagte Becky lachend und sah zu Lord Steyne hin.

»Was zum Teufel ist das?« fragte Seine Lordschaft.

»Einen Hund, um die Wölfe von mir abzuhalten«, fuhr Rebekka fort. »Eine Gesellschafterin.«

»Sie gutes, unschuldiges Lämmchen, ja, Sie brauchen eine«, sagte der Marquis.

Sein Kiefer fiel herab und verzog sich zu einem häßlichen Grinsen, während seine kleinen Augen Rebekka lüstern anblinzelten.

Der große Lord Steyne stand am Feuer und schlüfte Kaffee. Das Feuer prasselte und loderte prächtig. Auf dem Kaminsims flackerten mehr als ein Dutzend Lichter in altmodischen Leuchtern, vergoldet, aus Bronze oder Porzellan. Rebekkas Gestalt auf dem großgeblümten Sofa wurde durch dieses Licht wundervoll beleuchtet. Sie trug ein rosa Kleid, das so frisch wie eine Rose aussah; ihre blendendweißen Arme und Schultern waren halb bedeckt von einem dünnen wolkigen Schal, der alles durchschimmern ließ; das Haar hing ihr lockig in den Nacken; ein Füßchen lugte aus den frischen knisternden Seidenfalten hervor – es war das hübscheste kleine Füßchen in der hübschesten kleinen Sandale und den feinsten Seidenstrümpfen der Welt.

Die Kerzen beleuchteten Lord Steynes glänzenden, von roten Haaren umrahmten Kahlkopf. Er hatte dicke, buschige Augenbrauen über kleinen, zwinkernden, geröteten Augen, die von tausend Fältchen umgeben waren. Sein Kiefer war weit vorgeschoben, und wenn er lachte, zeigte er zwei große, weiße, vorstehende Zähne, die raubtierhaft durch das Grinsen funkelten. Er hatte mit königlichen Herrschaften gespeist und trug den Hosenbandorden mit dem breiten Band. Seine Lordschaft war von kleiner Statur, mit breiter Brust und Säbelbeinen, war aber stolz auf seine schönen Füße und Fesseln. Er hatte die Gewohnheit, das Knie, an dem er den Orden trug, zu streicheln.

[43] »Der Schäfer genügt also nicht, um sein Lämmchen zu beschützen?« fragte er.

»Der Schäfer spielt zu gern Karten und geht zu gern in die Klubs«, erwiderte Becky lachend.

»Gott, was für ein Wüstling von Corydon 2«, rief der Lord. »Welcher Mund für eine Hirtenflöte!«

»Ich nehme Ihre Wette drei gegen zwei an«, sagte Rawdon am Spieltisch.

»Hören Sie nur den Meliböus 3«, knurrte der Marquis; »er ist ganz schäferlich beschäftigt; er schert einen Southdown. Was für ein unschuldiges Schäfchen, nicht wahr? Verdammt, was für ein schneeiges Vlies 4

Aus Rebekkas Augen schossen höhnische Blitze.

»Mein Herr«, sagte sie, »auch Sie sind ein Ritter dieses Ordens 5.« Er trug wirklich das Goldene Vlies um den Hals, das er von dem wieder eingesetzten König von Spanien 6 erhalten hatte.

Lord Steyne war in früheren Jahren wegen seines kühnen und glücklichen Spieles bekannt gewesen. Er hatte mit Mr. Fox zwei Tage und Nächte beim Hasardspiel gesessen. Den erlauchtesten Persönlichkeiten im Reich hatte er Geld abgewonnen und seine Marquiswürde, so hieß es, am Spieltisch gewonnen. Er liebte aber keine Anspielungen auf diese fredaines 7. Rebekka sah, daß sich ein Unwetter auf seiner Stirn zusammenbraute. Sie stand von ihrem Sofa auf und nahm ihm mit einem kleinen Knicks die Kaffeetasse aus der Hand. »Ja«, sagte sie, »ich muß mir einen Wachhund anschaffen, aber Sie wird er nicht anbellen.«

Damit ging sie in den anderen Salon, setzte sich ans Klavier und fing an, mit so bezaubernder und ergreifender Stimme französische Liedchen zu singen, daß ihr der besänftigte Edelmann eilig in das Zimmer folgte, und schon konnte man ihn sehen, wie er, über sie geneigt, mit dem Kopf den Takt nickte.

Unterdessen spielte Rawdon mit seinem Freund Ecarté, [44] bis sie genug hatten. Der Oberst gewann. Aber wenn er auch noch so viel und häufig gewann, so mußten doch Nächte wie diese, die es mehrmals in der Woche gab, für den ehemaligen Gardisten recht langweilig sein, denn seiner Frau allein galt alle Unterhaltung und Bewunderung, während er schweigend außerhalb des Kreises saß und von den Scherzen, Anspielungen und mystischen Äußerungen nichts verstand.

»Wie geht es Mrs. Crawleys Mann?« pflegte Lord Steyne ihn zu fragen, wenn sie sich trafen, und das war jetzt sein Lebensberuf. Er war nicht mehr Oberst Crawley. Er war Mrs. Crawleys Ehemann.


Wenn bis jetzt noch nichts über den kleinen Rawdon gesagt worden ist, so nur deshalb, weil er sich irgendwo in einer Bodenkammer verborgen hat oder die Treppe hinab in die Küche gekrochen kam, um Gesellschaft zu suchen. Seine Mutter nahm fast nie Notiz von ihm. Er verbrachte die Tage mit seiner französischen Bonne, solange diese bei Familie Crawley blieb, und als die Französin fortging, erbarmte sich in der Kammer nebenan ein Dienstmädchen des in der Einsamkeit der Nacht weinenden kleinen Burschen, holte ihn aus dem abgeschiedenen Kinderzimmer in ihr Bett und tröstete ihn.

Rebekka, Lord Steyne und ein paar andere Herren tranken eines Abends nach der Oper im Salon Tee, als sein Weinen sich oben vernehmen ließ. »Es ist mein Cherub, der nach seiner Amme schreit«, sagte sie, machte aber keine Anstalten, nach dem Kinde zu sehen. »Beunruhigen Sie Ihre Gefühle nur nicht und sehen Sie etwa nach ihm!« sagte Lord Steyne höhnisch. »Pah!« erwiderte sie mit einer Spur von Erröten, »er wird sich schon in den Schlaf schreien«, und sie fuhren in ihrem Gespräch über die Oper fort.

Rawdon hatte sich jedoch hinaufgeschlichen, um nach seinem Sohn und Erben zu sehen, und kam zu der Gesellschaft zurück, als er feststellte, daß die gute Dolly das Kind tröstete. Das Ankleidezimmer des Obersten befand sich in diesen [45] oberen Regionen, und dort traf er den Knaben heimlich. Sie unterhielten sich jeden Morgen, wenn er sich rasierte, und Rawdon junior saß dann auf einem Kasten neben seinem Vater und sah der Handlung mit nie enden wollender Freude zu. Sie waren beide gute Freunde. Der Vater brachte ihm oft Konfekt vom Dessert hoch und versteckte es in einem bestimmten alten Epaulettenkasten. Dort suchte das Kind die Süßigkeiten und lachte vor Vergnügen, wenn es den Schatz entdeckte – lachte aber nicht zu laut, denn Mama schlief unten und durfte nicht gestört werden. Sie ging erst sehr spät zu Bett und stand selten vor Mittag auf.

Rawdon kaufte dem Jungen eine Menge Bilderbücher und stopfte das Kinderzimmer mit Spielzeug voll. Die Wände waren mit Bildern bedeckt, die sein Vater mit barem Geld gekauft und eigenhändig aufgeklebt hatte. Wenn er nicht Mrs. Rawdon in den Park begleiten mußte, saß er hier stundenlang bei seinem Sohn, der dann auf seiner Brust ritt und an seinem großen Schnurrbart riß, als wären es Zügel. Ganze Tage brachte er in unermüdlichem Spiel mit ihm zu. Das Zimmer war niedrig, und einmal, als das Kind noch nicht fünf Jahre alt war, warf der Vater es so wild in die Höhe, daß der arme kleine Bursche heftig mit dem Kopf gegen die Decke stieß, worauf ihn der Vater vor Schreck über das Unglück fast fallen ließ.

Rawdon junior hatte das Gesicht schon zu einem entsetzlichen Gebrüll verzogen, und die Heftigkeit des Stoßes berechtigte ihn auch dazu. Als er aber gerade anfangen wollte, unterbrach ihn der Vater: »Um Gottes willen, Rawdy, weck die Mama bloß nicht!« Hierauf blickte das Kind seinen Vater scharf und mitleidig an, biß sich auf die Lippen, ballte die Hände und gab keinen Laut von sich. Rawdon erzählte diese Geschichte jedermann in den Klubs, in der Offiziersmesse und in der ganzen Stadt. »Bei Gott, Sir«, erklärte er allgemein seinem Publikum, »was für ein mutiger Bursche mein Junge ist, was für ein Prachtkerl! Ich habe ihn mit dem [46] Kopfe fast durch die Decke gestoßen, bei Gott, aber er hat nicht geschrien, weil er die Mutter nicht wecken wollte.«

Manchmal, etwa ein- oder zweimal in der Woche, besuchte die Dame die oberen Regionen, wo das Kind wohnte. Sie kam wie eine lebendige Gestalt aus dem »Magazin des Modes«, freundlich lächelnd, in den schönsten neuen Kleidern, Handschuhen und Stiefelchen. Wundervolle Schärpen, Spitzen und Juwelen glänzten an ihr. Stets hatte sie einen neuen Hut auf, auf dem ewig Blumen blühten oder prächtige Straußenfedern, weich und weiß wie Kamelien, schaukelten. Sie nickte dem kleinen Jungen, der von seinem Essen oder den Soldaten aufblickte, die er gerade malte, ein paarmal gnädig zu. Wenn sie das Zimmer verließ, so schwebte darin ein Hauch von Rosen oder irgendein anderer zauberischer Duft. In seinen Augen war sie ein überirdisches Wesen, höher als sein Vater und die ganze Welt, das nur aus der Ferne angebetet und bewundert werden durfte. Es war für ihn ein schauerliches Glück, mit dieser Dame im Wagen auszufahren. Er saß dann auf dem Rücksitz und wagte kein Wort zu sprechen, sondern starrte nur mit großen Augen auf die wundervoll geputzte Prinzessin ihm gegenüber. Herren auf glänzenden stolzen Pferden sprengten heran und lächelten und sprachen mit ihr. Wie ihre Augen sie alle anstrahlten. Mit bebender Hand winkte sie ihnen graziös zu, wenn sie vorüberritten. Wenn er mit ihr ausfuhr, so hatte er seinen neuen roten Anzug an; zu Hause war sein alter brauner Leinenkittel gut genug. Zuweilen, wenn sie fort war und Dolly das Bett machte, ging er in das Zimmer seiner Mutter; dieses erschien ihm wie die Wohnstätte einer Fee, ein geheimnisvoller Ort der Pracht und des Entzückens. Dort, in der Garderobe, hingen jene wundervollen Kleider – blaue, rosa und bunte. Da, auf dem Toilettentisch, standen der Schmuckkasten mit dem silbernen Schloß und die geheimnisvolle Bronzehand, über und über funkelnd von hundert Ringen. Hier war der Drehspiegel, dieses Wunderwerk der Kunst, in dem er gerade [47] sein eigenes erstauntes Gesicht erblicken konnte und Dollys Bild (seltsam verzerrt und als ob es von der Decke käme), wie sie die Kissen aufschüttelte und glattstrich. O du armer, einsamer, unwissender Knabe! Auf den Lippen und im Herzen von kleinen Kindern ist Mutter der Name für Gott, und hier war einer, der einen Stein anbetete!

Rawdon Crawley nun war zwar ein lockerer Vogel, trug aber männliche Gefühle der Zuneigung im Herzen und war noch in der Lage, ein Kind und eine Frau zu lieben. Er fühlte für Rawdon junior eine große geheime Zärtlichkeit, was Rebekka nicht entging, obwohl sie es ihm gegenüber nie erwähnte. Sie ärgerte sich nicht darüber, denn dazu war sie zu gutmütig. Aber sie verachtete ihn deswegen noch gründlicher. Er schämte sich irgendwie wegen dieser väterlichen Weichherzigkeit und verbarg sie vor seiner Frau. Nur wenn er mit dem Knaben allein war, überließ er sich dieser Empfindung.

Oft ging er morgens mit ihm in die Ställe und in den Park. Der kleine Lord Southdown, ein sehr gutmütiger Mensch, der seinen Hut vom Kopf verschenkt haben würde und dessen Hauptbeschäftigung im Leben darin bestand, Kleinigkeiten zu kaufen und sie später wieder zu verschenken, kaufte dem kleinen Burschen ein Pony, nicht viel größer als eine ausgewachsene Ratte, wie der Geber sagte, und dem großen Vater des jungen Rawdon machte es Spaß, den Knaben auf diesen kleinen schwarzen Shetlandzwerg zu setzen und neben ihm her im Park spazierenzugehen. Es machte ihm auch Spaß, sein altes Quartier und seine alten Kameraden von der Garde in Knightsbridge zu sehen, denn er hatte angefangen, mit etwas wie Bedauern an seine Junggesellenzeit zurückzudenken. Die alten Soldaten freuten sich, ihren früheren Offizier wiederzusehen und den kleinen Oberst hätscheln zu können. Oberst Crawley fand das Speisen in der Offiziersmesse mit seinen Kameraden sehr vergnüglich. »Zum Henker«, pflegte er zu sagen, »ich bin nicht gescheit genug für sie, das weiß [48] ich. Sie wird mich schon nicht vermissen.« Und er hatte recht, seine Frau vermißte ihn nicht.

Rebekka hatte ihren Mann gern, sie war stets freundlich und gutgelaunt gegen ihn, sie zeigte ihm nicht einmal deutlich ihre Verachtung und hatte ihn wahrscheinlich um so lieber, weil er ein Narr war. Er war ihr erster Diener und maître d'hôtel. Er besorgte ihre Aufträge, gehorchte, ohne zu fragen, ihren Befehlen, fuhr sie ohne Widerrede in den Park, brachte sie in ihre Opernloge, entschädigte sich während der Vorstellung in seinem Klub und holte sie pünktlich wieder ab. Es hätte ihn gefreut, wenn sie den Knaben ein bißchen mehr geliebt hätte, aber selbst damit söhnte er sich aus. »Zum Henker, wissen Sie, sie ist so klug«, sagte er, »und ich bin nicht literarisch beschlagen und all so was.« Wie schon gesagt, gehört nicht große Weisheit dazu, beim Kartenspiel und Billard zu gewinnen, und Rawdon erhob keinen Anspruch auf Fertigkeiten anderer Art.

Als die Gesellschafterin kam, wurden seine häuslichen Pflichten leichter. Seine Frau ermunterte ihn, auswärts zu speisen, und erließ ihm auch den Operndienst. »Bleibe heute abend nicht zu Hause und langweile dich, mein Lieber«, pflegte sie zu sagen. »Es werden ein paar Männer kommen, die dich bloß anöden werden. Ich würde sie nicht einladen, aber du weißt, es ist nur zu deinem Besten, jetzt, wo ich einen Schäferhund habe, brauche ich mich nicht mehr zu ängstigen, wenn ich allein bin.«

Ein Schäferhund, eine Gesellschafterin! Becky Sharp mit einer Gesellschafterin! Ist das nicht ein guter Witz? dachte Mrs. Crawley im Innern. Der Gedanke kitzelte ihren Sinn für das Komische ungemein.


An einem Sonntagmorgen, als Rawdon Crawley, sein kleiner Sohn und das Pony ihren üblichen Spaziergang im Park machten, trafen sie einen alten Bekannten des Obersten, Korporal Clink vom Regiment, der sich mit einem Freund, [49] einem alten Herrn, unterhielt. Dieser Herr trug einen Knaben ungefähr im Alter des kleinen Rawdon auf den Armen. Der Knabe hatte die Waterloomedaille, die der Korporal trug, ergriffen und untersuchte sie mit Entzücken.

»Guten Morgen, Euer Gnaden«, antwortete Clink auf die Begrüßung des Obersten. »Dieser junge Herr hier muß wohl im gleichen Alter sein wie der kleine Oberst«, fuhr der Korporal fort.

»Sein Vater hat ebenfalls bei Waterloo gekämpft«, sagte der alte Herr, der den Knaben trug, »nicht wahr, Georgy?« – »Ja«, bestätigte Georgy. Er und der kleine Bursche auf dem Pony blickten einander mit großen Augen an und schätzten einander ernsthaft ab, wie Kinder es gewöhnlich tun.

»In einem Linienregiment«, sagte Clink mit Gönnermiene.

»Er war Hauptmann im ...ten Regiment«, verkündete der alte Herr stolz. »Hauptmann George Osborne, vielleicht haben Sie ihn gekannt. Er starb den Heldentod im Kampf gegen den korsischen Tyrannen.«

Oberst Crawley errötete bis unter die Haarwurzeln.

»Ich kannte ihn sehr gut«, sagte er, »und seine Frau, seine liebe kleine Frau, wie geht es ihr?«

»Sie ist meine Tochter, Sir«, sagte der alte Herr, setzte den Knaben ab und zog feierlich eine Karte heraus, die er dem Oberst übergab. Darauf stand zu lesen: »Mr. Sedley, alleiniger Vertreter für die Schwarze Diamant- und Aschenkohlen-Gesellschaft, Bunker's Wharf, Thames Street und Anna-Maria Cottages, Fulham Road West.«

Der kleine Georgy trat heran und schaute sich das Shetlandpony an.

»Möchtest du mal reiten?« fragte Rawdon junior vom Sattel herunter.

»Ja«, antwortete Georgy.

Der Oberst, der den Knaben mit Interesse betrachtet hatte, hob ihn hoch und setzte ihn hinter Rawdon junior auf das Pony.

[50] »Halt dich fest, Georgy«, sagte er, »faß meinen kleinen Knaben um, er heißt Rawdon.«

Beide Kinder fingen an zu lachen.

»Man kann, glaube ich, an diesem Sommertag kein hübscheres Pärchen zu Gesicht bekommen«, sagte der gutmütige Korporal, und der Oberst, der Korporal und der alte Mr. Sedley mit seinem Regenschirm spazierten neben den Kindern weiter.

Fußnoten

1 (franz.) Frühstückszimmer.

2 der seit den Hirtendichtungen von Theokrit (um 324 v.u.Z.) und von Vergil (70-19 v.u.Z.) gebräuchliche Name für den Schäfer.

3 Name eines Hirten in Vergils »Eclogae«.

4 Schaffell.

5 Der Orden vom Goldenen Vlies wurde 1429 von Philipp III. (1396-1467), Herzog von Burgund, anläßlich seiner Vermählung mit Isabella von Portugal gestiftet »zum Lob und Ruhm des Erlösers ... wie zum Schutz und zur Förderung des christlichen Glaubens und der heiligen Kirche, zur Tugend und Vermehrung guter Sitte«.

6 Gemeint ist Ferdinand VII. (1784-1833), König von Spanien von 1814 bis 1833. 1808 kam es in Spanien zu einem Volksaufstand gegen Karl IV. Napoleon griff in die spanischen Wirren ein und zwang Karl IV. und Kronprinz Ferdinand zum Verzicht auf die Krone. 1813 besiegten die Spanier und Engländer Napoleon in Spanien und setzten Ferdinand als König ein.

7 (franz.) leichtsinnige Streiche.

38. Kapitel
Eine Familie in bescheidenen Verhältnissen

Wir dürfen nun annehmen, daß der kleine George Osborne von Knightsbridge nach Fulham geritten ist, und wollen in diesem Dorf anhalten und uns nach ein paar Freunden, die wir hier zurückgelassen haben, erkundigen. Wie geht es Mrs. Amelia nach dem Sturm von Waterloo? Lebt sie und geht es ihr einigermaßen gut? Was ist aus Major Dobbin geworden, dessen Wagen sich stets in der Nähe ihrer Wohnung herumtrieb? Und gibt es Nachrichten über den Steuereinnehmer von Boggley Wollah? Das, was wir von diesem wissen, ist kurz folgendes:

Unser würdiger dicker Freund Joseph Sedley kehrte nicht lange nach seiner Flucht von Brüssel nach Indien zurück. Entweder war sein Urlaub abgelaufen, oder er befürchtete, Zeugen seiner Waterlooflucht zu treffen. Wie dem auch sei, er kehrte bald nach Bengalen zu seinen Berufspflichten zurück, nachdem Napoleon seine Residenz auf Sankt Helena aufgeschlagen hatte, wo Joseph den Exkaiser sah. Nach dem, was Mr. Sedley auf dem Schiff verlauten ließ, hätte man glauben können, daß es nicht das erstemal war, daß er und der Korse einander getroffen hatten, und daß der Zivilist dem französischen Kaiser schon am Mont Saint-Jean Trotz geboten habe. Er wußte tausend Anekdoten über die berühmten Schlachten, [51] er kannte die Aufstellung eines jeden Regiments und die Verluste, die sie erlitten hatten. Er leugnete nicht, an den Siegen beteiligt gewesen zu sein, daß er bei der Armee gewesen sei und Depeschen für den Herzog von Wellington überbracht habe. Was der Herzog in jedem erdenklichen Augenblick am Tag von Waterloo getan und gesagt hatte, beschrieb er mit so genauer Kenntnis von den Gefühlen und Handlungen Seiner Hoheit, daß es für alle offensichtlich war: den ganzen Tag über hatte er sich an der Seite des Siegers befunden. Dabei war sein Name als der eines Nichtkämpfers in den öffentlichen Dokumenten über die Schlacht nicht erwähnt worden. Vielleicht glaubte er am Ende selbst, daß er etwas mit der Armee zu tun gehabt hatte; gewiß ist wenigstens, daß er in Kalkutta eine Zeitlang ungeheueres Aufsehen erregte und während seines ganzen Aufenthalts in Bengalen Waterloo-Sedley genannt wurde.

Die Wechsel, die Joseph für jene unglückseligen Pferde ausgestellt hatte, wurden von ihm und seinen Beauftragten ohne Widerrede bezahlt. Niemals hörte man ihn auf den Handel anspielen, und niemand kann mit Gewißheit sagen, was aus den Pferden geworden ist und wie er sie und Isidor, seinen belgischen Diener, los wurde. Man weiß nur, daß dieser einen Grauschimmel, der dem sehr ähnelte, auf dem Joseph geritten war, im Herbst 1815 in Valenciennes verkaufte.

Josephs Beauftragte in London mußten seinen Eltern in Fulham jährlich hundertundzwanzig Pfund auszahlen. Das waren die Hauptmittel des alten Paares, denn Mr. Sedleys Spekulationen nach seinem Bankrott verhalfen dem alten Herrn auf keinen Fall wieder zu Vermögen. Er versuchte sich im Weinhandel, im Kohlenhandel, als Lotterieeinnehmer auf Kommission und so weiter und so fort. Jedesmal, wenn er ein neues Geschäft anfing, schickte er Prospekte an seine Freunde, bestellte eine neue Messingplatte für seine Tür und versicherte großsprecherisch, daß er doch noch sein Glück machen werde. Aber Fortuna kam nie zu dem schwachen, gebeugten [52] Greis zurück. Seine Freunde waren müde, teure Kohlen und schlechten Wein von ihm zu kaufen, und fielen einer nach dem anderen von ihm ab. Und wenn er morgens mit schwankenden Schritten in die City ging, war seine Frau die einzige auf der Welt, die glaubte, er mache dort Geschäfte. Abends schleppte er sich langsam nach Hause und ging dann in einen kleinen Klub in einem Wirtshaus, wo er die Finanzen des Staates lenkte. Es war wunderbar, ihn über Millionen und Börsengeschäfte und Diskonti und über das, was Rothschild 1 und die Gebrüder Baring 2 unternahmen, reden zu hören. Er sprach von so ungeheuren Summen, daß die Herren im Klub (der Apotheker, der Begräbnisunternehmer, der große Zimmermann und Baumeister, der Gemeindeschreiber, der die Erlaubnis hatte, den Klub zu besuchen, und unser alter Bekannter, Mr. Clapp) Respekt vor dem Alten hatten. »Ich habe einst bessere Verhältnisse gesehen«, erklärte er unweigerlich allen Stammgästen. »Mein Sohn ist jetzt erster Beamter von Ramgunge in der Präsidentschaft Bengalen und bekommt monatlich seine viertausend Rupien. Meine Tochter könnte einen Oberst heiraten, wenn sie nur wollte. Ich könnte morgen auf meinen Sohn, den ersten Beamten, einen Wechsel von zweitausend Pfund ausstellen, und Alexander würde ihn mir auf der Stelle einlösen, auf der Stelle. Aber die Sedleys sind schon immer eine stolze Familie gewesen.« Du und ich, lieber Leser, auch wir können eines Tages in diesen Zustand hinabsinken, denn ist es nicht vielen unserer Freunde so gegangen? Unser Glück kann sich abwenden, unsere Kräfte uns verlassen, unsere Partie auf der Bühne von besseren und jüngeren Schauspielern übernommen werden – das Leben kann uns überrollen und uns zerschmettert und gestrandet zurücklassen. Die Menschen werden dann bei deinem Anblick auf die andere Straßenseite gehen oder, noch schlimmer, dir ein paar Finger hinhalten und dich mitleidig begönnern. Aber du weißt, daß deine Freunde, sobald du den Rücken gewendet hast, sagen: »Der arme Teufel; was für Torheiten [53] er doch begangen hat – welche Vorteile der Mensch sich doch hat entgehen lassen!« – Nun, eine Kutsche und dreitausend pro Jahr sind nicht der höchste Lohn noch das letzte Zeichen von Gottes Urteil über den Menschen. Solange Scharlatane ebensooft Glück haben, wie sie scheitern, solange Spaßmacher Erfolg haben und Schurken zu Vermögen kommen, und umgekehrt, und solange sie ihren Anteil an Glück und Unglück nicht mehr und nicht weniger zugemessen bekommen wie die Besten und Fähigsten unter uns – solange, Bruder, können wir kein großes Gewicht auf die Gaben und Freuden des Jahrmarkts der Eitelkeit legen, und wahrscheinlich ... doch wir schweifen von unserer Geschichte ab.

Wenn Mrs. Sedley eine tatkräftige Frau gewesen wäre, so hätte sie das nach dem Ruin ihres Mannes bewiesen. Sie hätte ein großes Haus gemietet und Kostgänger aufgenommen. Der gebrochene Sedley hätte sich ganz gut als Mann der Pensionsmutter ausgenommen und den Munoz des Privatlebens, dem Titel nach den Herrn und Meister, den Vorschneider, Verwalter und bescheidenen Ehemann der Herrscherin gespielt. Ich kenne kluge Männer mit guter Erziehung, die einstmals gute Aussichten und viele Kräfte besaßen und in ihrer Jugend Lords bewirteten und Jagdpferde hielten und die jetzt zänkischen alten Weibern bescheiden Hammelkeulen vorschneiden und vorgeben, den Vorsitz an ihrem traurigen Tisch zu führen. Aber Mrs. Sedley hatte, wie gesagt, nicht die Energie, sich um »auserlesene Hausgenossen für eine heitere musikalische Familie« zu bemühen, wie man es in der »Times« lesen kann. Sie blieb auf dem Strand, wohin sie das Unglück geworfen hatte, liegen, und es war deutlich, daß die Laufbahn des alten Paares beendet war.

Ich glaube nicht, daß sie unglücklich waren. Vielleicht waren sie nach ihrem Sturz etwas stolzer als früher im Glück. Für ihre Hauswirtin, Mrs. Clapp, war Mrs. Sedley immer noch eine große Persönlichkeit, wenn sie zu ihr in die Küche herabkam und dort stundenlang mit ihr plauderte. Die Hüte [54] und Bänder des irischen Dienstmädchens Betty Flanagan, ihr Widerspruchsgeist, ihre Trägheit, ihre ungeheure Verschwendung an Küchenkerzen, ihr Verbrauch an Tee und Zucker und so weiter beschäftigten und unterhielten die alte Dame fast ebensosehr wie das Treiben in ihrer früheren Haushaltung, wo sie Sambo und den Kutscher, einen Reitknecht, einen Lakaien und eine Haushälterin mit einem Regiment weiblicher Dienstboten hielt – in ihrem früheren Haushalt, über den die gute Dame täglich hundertmal sprach. Und außer auf Betty Flanagan hatte Mrs. Sedley auch noch auf alle anderen Hausmädchen der Straße aufzupassen.

Sie wußte, ob jeder Mieter seine kleine Miete bezahlte oder schuldig blieb. Sie trat zur Seite, wenn Mrs. Rougemont, die Schauspielerin, mit ihrer zweifelhaften Familie an ihr vorüberkam. Sie warf den Kopf in den Nacken, wenn Mrs. Pestler, die Apothekersfrau, in ihres Mannes Einspänner vorbeifuhr. Sie führte lange Gespräche mit dem Gemüsehändler über die Rüben, die Mr. Sedley gern aß. Sie hatte ein Auge auf den Milchmann und den Bäckerjungen und machte Besuche beim Fleischer, und es wurde dort wahrscheinlich um hundert Ochsen weniger Lärm veranstaltet als um Mrs. Sedleys einzelne Hammelkeule. Am Sonntag zählte sie dann die Kartoffeln zum Fleisch nach; an diesem Tag ging sie übrigens in ihrem besten Kleid zweimal in die Kirche und las abends in »Blairs Predigten«.

An diesem Tag gönnte sich der alte Sedley die Freude – denn an Wochentagen hinderten ihn »die Geschäfte« daran –, seinen kleinen Enkel Georgy in die benachbarten Parks oder in die Kensington Gardens zu führen, um die Soldaten zu sehen oder die Enten zu füttern. Georgy liebte die Rotröcke, und sein Großvater erzählte ihm, daß auch sein Vater ein berühmter Soldat gewesen sei, und machte ihn mit vielen Sergeanten und anderen Soldaten, die Waterloomedaillen auf der Brust trugen, bekannt. Der alte Großvater stellte ihnen das Kind stolz als Sohn des Hauptmanns Osborne vom [55] ...ten Regiment vor, der am ruhmvollen Achtzehnten ruhmvoll gefallen sei. Es hieß sogar, daß er mitunter einige dieser Unteroffiziere zu einem Glas Porter einlud. Bei ihren ersten Sonntagsspaziergängen wollte er den kleinen George verwöhnen und stopfte den Jungen mit Äpfeln und Kuchen voll, sehr zum Nachteil seiner Gesundheit, bis Amelia erklärte, George dürfe nie wieder mit seinem Großpapa ausgehen, wenn dieser nicht feierlich gelobe, dem Kinde künftig keine Kuchen, Bonbons oder anderes Zeug von den Marktbuden zu geben.

Zwischen Mrs. Sedley und ihrer Tochter bestand eine gewisse Kälte und geheime Eifersucht wegen des Knaben, denn eines Abends – George war noch ganz klein – saß Amelia in ihrem Wohnzimmer an der Arbeit und bemerkte kaum, daß die alte Dame das Zimmer verlassen hatte. Plötzlich hörte sie den Knaben, der bis dahin geschlafen hatte, schreien, und sie rannte ahnungsvoll ins Kinderzimmer hinauf. Da ertappte sie Mrs. Sedley gerade dabei, wie sie dem Kind heimlich Daffys Elixier eingab. Amelia, sonst die sanfteste und mildeste aller Sterblichen, zitterte und bebte vor Zorn am ganzen Leibe, als sie diese Einmischung in ihre mütterliche Autorität wahrnahm. Ihre gewöhnlich blassen Wangen verfärbten sich, bis sie so rot waren wie damals, als sie zwölf Jahre alt war. Sie riß das Kind aus den Armen ihrer Mutter, griff nach der Flasche und ließ die alte Dame wütend und mit offenem Mund, den verbrecherischen Teelöffel in der Hand, stehen. Dann warf sie die Flasche in den Kamin, daß sie krachend zersprang. »Ich will mein Kind nicht vergiften lassen, Mama«, rief Emmy, wiegte den Säugling heftig in ihren Armen und blickte ihre Mutter mit funkelnden Augen an.

»Vergiften, Amelia!« sagte die alte Dame. »Diese Worte mir?«

»Er soll keine andere Medizin erhalten, als die, welche Doktor Pestler ihm schickt. Er erklärte mir, Daffys Elixier sei Gift.«

[56] »Sehr gut, dann glaubst du also, ich sei eine Mörderin«, erwiderte Mrs. Sedley. »So redest du mit deiner Mutter? Ich habe Unglück gehabt, ich bin im Leben tief gesunken, ich hatte meinen eigenen Wagen und gehe jetzt zu Fuß, aber daß ich eine Mörderin bin, wußte ich noch nicht. Ich danke dir für die Mitteilung.«

»Mama«, sagte die arme Frau, die stets bereit war, in Tränen auszubrechen, »du sollst nicht hart gegen mich sein. Ich – habe nicht gemeint ... ich meine, ich wollte nicht sagen, daß du meinem lieben Kind Böses antun wolltest, nur ...«

»O nein, meine Liebe – nur daß ich eine Mörderin bin. Deshalb sollte ich wohl am besten ins Gefängnis gehen, obwohl ich dich, als du ein Kind warst, zwar nicht vergiftet, sondern dir die beste Erziehung und die kostspieligsten Lehrer gegeben habe, die man für Geld bekommen kann. Ja, ich habe fünf Kinder gesäugt und drei begraben, und das eine, das ich von allen am meisten geliebt habe und das ich bei der Bräune, beim Zahnen, bei den Masern und beim Keuchhusten gepflegt und ungeachtet der Kosten von ausländischen Lehrern und im Minerva-Haus habe erziehen lassen, sagt, ich sei eine Mörderin. Als ich Mädchen war, habe ich das alles nicht gehabt. Ich war froh, meinen Vater und meine Mutter zu ehren, damit ich lange auf Erden leben und mich nützlich machen könnte – und nicht den ganzen Tag in meinem Zimmer sitzen und die feine Dame spielen würde. Eine Mörderin! Ach, Mrs. Osborne, ich wünsche nur, daß du nie eine Schlange an deinem Busen nähren mögest.«

»Mama! Mama!« rief die entsetzte junge Frau, während das Kind auf ihrem Arm in ein fürchterliches Geschrei ausbrach.

»Eine Mörderin, sehr gut! Fall auf die Knie nieder und bitte Gott, daß er dein böses, undankbares Herz reinigt, Amelia; er möge dir vergeben, wie ich es tue!« Hiermit eilte Mrs. Sedley aus dem Zimmer, während sie noch einmal das Wort Gift zischte, und beschloß so ihren liebevollen Segen.

[57] Bis zum Ende ihres Lebens wurde dieser Bruch zwischen Mrs. Sedley und ihrer Tochter niemals völlig ausgeglichen. Der Streit bot der alten Dame unzählige Vorteile, die sie mit weiblicher Findigkeit und Ausdauer unfehlbar zu benutzen wußte. Wochenlang sprach sie zum Beispiel kein Wort mit Amelia. Sie warnte die Dienstboten, das Kind anzurühren, da es Mrs. Osborne übelnehmen könne. Sie forderte ihre Tochter auf, selbst nachzusehen und sich zu überzeugen, daß in der täglichen Nahrung, die für den kleinen Georgy zubereitet wurde, kein Gift sei. Wenn die Nachbarn sich nach der Gesundheit des Knaben erkundigten, verwies sie sie spitz an Mrs. Osborne. Sie selbst wagte nie, zu fragen, wie es dem Kind gehe. Sie würde das Kind auch nie anrühren, obgleich es ihr Enkel und ihr Herzensliebling war, denn sie sei ja nicht an Kinder gewöhnt und könnte ihn töten. Und jedesmal, wenn Mr. Pestler einen Hausbesuch machte, empfing sie den Arzt mit so sarkastischer und verächtlicher Miene, daß der Doktor erklärte, daß nicht einmal Lady Thistlewood, die zu behandeln er die Ehre habe, sich großspuriger benehme als die alte Mrs. Sedley, von der er nie eine Bezahlung verlangte. Höchstwahrscheinlich war Emmy auch eifersüchtig – und welche Mutter wäre nicht eifersüchtig auf die, die ihre Kinder pflegen oder die auf den ersten Platz in ihrem Herzen Anspruch erheben wollen. Jedenfalls wurde sie stets unruhig, wenn sich jemand mit dem Kinde beschäftigte, und sie erlaubte weder Mrs. Clapp noch dem Dienstmädchen, es anzukleiden oder zu füttern, wie sie ihnen auch nicht gestattet hätte, das Miniaturbild ihres Gatten abzuwischen, das über ihrem Bettchen hing – demselben Bettchen, das das arme Mädchen mit Georges vertauscht hatte und zu dem sie jetzt für viele lange, stille, tränenreiche, aber glückliche Jahre zurückkehrte.

Dieses Zimmer barg Amelias ganzes Herz und alle ihre Schätze. Hier hütete sie ihren Knaben und wachte über ihm während der zahlreichen Kinderkrankheiten mit stets gleichbleibender [58] leidenschaftlicher Liebe. Irgendwie erschien in ihm der ältere George wieder, nur besser und wie vom Himmel zurückgekehrt. In hundert Kleinigkeiten – Tonfall, Blicken und Bewegungen – war der Junge dem Vater so ähnlich, daß das Herz der Witwe erschauerte, wenn sie ihn an sich drückte, und oft fragte er dann nach dem Grund ihrer Tränen. Sie hatte keine Bedenken, ihm zu sagen, das komme, weil er seinem Vater so sehr ähnele; sie erzählte ihm ständig von diesem toten Vater und sprach zu dem unschuldigen und verwunderten Kind über ihre Liebe zu George häufiger, als sie je zu George selbst oder irgendeiner Vertrauten ihrer Jugend gesprochen hatte. Gegenüber ihren Eltern erwähnte sie nichts davon, da sie sich scheute, ihnen ihr Herz zu entdecken. Klein George verstand sie wahrscheinlich nicht besser, aber seinen Ohren vertraute sie rückhaltlos ihre geheimsten Gefühle an, nur seinen. Selbst die Freude dieser Frau war eine Art Schmerz oder wenigstens so zart, daß sie sich in Tränen ausdrückte. Ihre Gefühle waren so schwach und weich, daß man vielleicht in einem Buch gar nicht darüber sprechen sollte. Doktor Pestler (der jetzt ein bekannter Frauenarzt ist, einen teuren dunkelgrünen Wagen fährt, wahrscheinlich bald geadelt wird und ein Haus am Manchester Square bewohnt) erzählte mir, daß ihr Schmerz bei der Entwöhnung des Kindes ein Anblick gewesen sei, der einen Herodes hätte rühren können. Er war vor Jahren sehr weichherzig gewesen, und seine Frau hegte damals und noch lange nachher eine tödliche Eifersucht auf Mrs. Amelia.

Vielleicht war die Eifersucht der Doktorsfrau nicht ganz unbegründet; die meisten Frauen aus Amelias kleinem Bekanntenkreis teilten sie und waren erzürnt über die Begeisterung, mit der das andere Geschlecht sie betrachtete. Fast alle Männer, die ihr nahe kamen, liebten sie, obwohl sie kaum hätten begründen können, warum; sie war weder eine strahlende Erscheinung noch ausgesprochen geistreich oder klug und auch nicht besonders hübsch. Aber wo sie auch erschien, [59] rührte und bezauberte sie stets jedes männliche Wesen, wie sie die Verachtung und den Zweifel ihrer eigenen Geschlechtsgenossinnen erregte. Ich glaube, ihr hauptsächlicher Reiz lag in ihrer Schwäche: eine Art süßer Unterwürfigkeit und Weichheit, die bei jedem Mann, mit dem sie zusammentraf, um Mitgefühl und Schutz zu bitten schien. Wir haben gesehen, wie im Regiment die Degen der jungen Offiziere aus der Scheide gesprungen waren, um für sie zu kämpfen, obwohl sie nur mit wenigen von Georges Kameraden gesprochen hatte. Ebenso war es auch in dem engen kleinen Mietshaus in Fulham und dem Kreise dort – sie gefiel allen. Wenn sie Mrs. Mango aus der großen Firma Mango, Plantain und Co., Crutches Friars, und Besitzerin der Ananastreibhäuser in Fulham, selbst gewesen wäre, zu deren déjeuners im Sommer Herzöge und Grafen kamen und die mit Lakaien in prachtvoller gelber Livree und ein paar Braunen durchs Kirchspiel fuhr, wie sie die königlichen Ställe in Kensington nicht schöner aufweisen konnten – wenn sie also Mrs. Mango selbst oder die Frau ihres Sohnes, Lady Mary Mango, gewesen wäre (die Tochter des Grafen Castlemouldy, die sich herabgelassen hatte, das Haupt der Firma zu heiraten), so hätten die Geschäftsleute der Nachbarschaft ihr nicht mehr Ehre erweisen können als der sanften jungen Witwe, wenn sie an ihren Türen vorüberging oder ihre bescheidenen Einkäufe in ihren Läden tätigte.

So kam es, daß nicht nur Mr. Pestler, der Arzt, sondern auch Mr. Linton, sein junger Assistent, der die Dienstmädchen und kleinen Geschäftsleute behandelte und den man täglich, die »Times« lesend, in der Apotheke sehen konnte, sich öffentlich als Mrs. Osbornes Sklaven erklärte. Er war ein ansehnlicher junger Mann, der in Mrs. Sedleys Haus willkommener war als sein Prinzipal. Wenn Georgy nicht ganz wohl war, kam er täglich ein paarmal, um nach ihm zu sehen, ohne auch nur einen Gedanken an Bezahlung. Er zweigte häufig Pastillen, Tamarinden und andere Dinge aus [60] der Apotheke für den kleinen Georgy ab und mischte ihm Tränke und Mixturen von so wundervoller Süße, daß es dem Kinde geradezu ein Vergnügen war, krank zu sein. Als Georgy die Masern hatte, saßen er und sein Prinzipal Pestler in der gefährlichen entsetzlichen Woche zwei Nächte hindurch bei dem Knaben, und nach dem Schrecken der Mutter zu urteilen, hätte man glauben können, daß es Masern noch nie vorher in der Welt gegeben habe. Hätten sie für andere Leute ebensoviel getan? Hielten sie Nachtwachen bei den Leuten mit den Ananastreibhäusern, als Ralph Plantagenet, Gwendoline und Guinever Mango dieselbe Kinderkrankheit hatten? Wachten sie bei der kleinen Mary Clapp, der Tochter des Hauswirtes, die sich doch bei dem kleinen Georgy angesteckt hatte? Die Wahrheit zwingt uns, nein zu antworten! Sie schliefen ganz ruhig, zumindest bei Marys Masern – bezeichneten ihren Fall als ganz leicht, der fast von selbst heilen würde, schicken ihr ein paar Tränke und taten, als sich das Kind wieder erholte, mit der größten Gleichgültigkeit und nur der Form halber Chinarinde hinein.

Dann war da noch der kleine französische Chevalier von gegenüber, der in mehreren Schulen der Nachbarschaft Unterricht in seiner Muttersprache erteilte und den man nachts in seinem Zimmer auf einer heiseren alten Geige zitternd alte Gavotten und Menuetts spielen hörte. Dieser gepuderte, höfliche Greis, der jeden Sonntag in die Kapelle von Hammersmith ging und sich in jeder Hinsicht – in Gedanken, Benehmen und Haltung – von den bärtigen Wilden seiner Nation unterschied, die heutzutage in den Quadrant-Arkaden das perfide Albion 3 beschimpfen und dich über ihre Zigarren hin finster anstarren – dieser alte Chevalier de Talonrouge pflegte, wenn er von Mrs. Osborne sprach, erst einmal eine Prise zu nehmen, die übriggebliebenen Stäubchen mit graziöser Handbewegung wegzuschnippen, die Finger wieder zusammenzulegen, sie an den Mund zu führen, sie mit einem Kuß auseinanderzublasen und auszurufen: »Ah, la divine [61] créature!« 4 Er schwor und beteuerte, daß Blumen in reicher Fülle unter den Füßen Amelias hervorsprössen, wenn sie in den Straßen von Brompton wandele. Er nannte den kleinen Georgy Cupido und fragte ihn nach Venus 5, seiner Mama. Der erstaunten Betty Flanagan erzählte er, Amelia sei eine der Grazien 6 und die Lieblingsdienerin der Reine des amours 7.

Es ließen sich noch viele Beispiele dieser leicht erworbenen und Amelia unbewußten Beliebtheit anführen. Besuchte nicht Mr. Binny, der milde vornehme Pfarrer der Kapelle des Bezirks, in die die Familie ging, die Witwe eifrig? Ließ er nicht den kleinen Knaben auf seinen Knien reiten und erbot sich, ihn Latein zu lehren – zum Ärger der ältlichen Jungfrau, seiner Schwester, die ihm den Haushalt führte? »Es ist nichts an ihr, Beilby«, sagte sie stets. »Wenn sie zu uns zum Tee kommt, spricht sie den ganzen Abend kein Wort, sie ist ein armes, affektiertes Geschöpf und hat meiner Meinung nach überhaupt kein Herz. Es ist bloß das hübsche Gesicht, das ihr Männer so bewundert. Miss Grits, die fünftausend Pfund besitzt und noch mehr bekommen wird, hat doppelt soviel Charakter und ist für meinen Geschmack tausendmal angenehmer, und wenn sie nur etwas besser aussähe, würdest auch du sie gewiß für die Vollkommenheit selbst halten.«

Höchstwahrscheinlich hatte Miss Binny bis zu einem gewissen Grade recht. Es ist wirklich das hübsche Gesicht, das die Herzen der Männer, dieser bösen Schelme, gewinnt: eine Frau kann die Weisheit und Keuschheit Minervas 8 besitzen, und doch beachtet sie kein Mann, wenn sie häßlich ist. Welche Torheit wird nicht durch ein paar feurige Augen verziehen? Wieviel Dummheit wird nicht durch rote Lippen und eine süße Stimme bemäntelt? So schließen die Damen mit ihrem gewöhnlichen Gerechtigkeitssinn, daß eine Frau dumm sein muß, wenn sie hübsch ist. Meine Damen, es gibt unter Ihnen manch eine, die weder hübsch noch klug ist.

Es sind aus dem Leben unserer Heldin nur belanglose Vorfälle zu berichten. Ihre Geschichte handelt nicht von wunderbaren [62] Ereignissen, wie der geneigte Leser zweifellos schon bemerkt haben wird, und hätte Amelia über die sieben Jahre nach der Geburt ihres Sohnes ein Tagebuch geführt, so wäre darin kaum Interessanteres vorgekommen als die gerade berichtete Maserngeschichte. Aber doch, eines Tages bat sie obenerwähnter Ehrwürden Mr. Binny zu ihrer großen Verwunderung, den Namen Osborne mit dem seinigen zu vertauschen. Tief errötend und mit nassen Augen und tränenerstickter Stimme dankte sie ihm für seine Freundschaft zu ihr und die Aufmerksamkeit, die er ihr und ihrem armen kleinen Knaben erwiesen habe. Dann aber teilte sie ihm mit, daß sie nie an einen anderen als – als ihren verlorenen Gatten denken könne.

Den 25. April und den 18. Juni, ihren Hochzeitstag und den Tag, da sie Witwe wurde, verbrachte sie stets auf ihrem Zimmer und weihte sie dem Andenken ihres dahingegangenen Freundes, während ihr kleiner Junge in den unzähligen Stunden ihrer einsamen Nachtgedanken im Kinderbettchen an ihrer Seite schlummerte. Tagsüber war sie aktiver geworden. Sie mußte George Lesen und Schreiben und etwas Zeichnen beibringen. Sie las Bücher, um ihm daraus Geschichten erzählen zu können; als sich seine Augen für die ihn umgebende Natur öffneten und sein Verstand sich zu entwickeln begann, lehrte sie das Kind, so gut es ihre bescheidenen Kräfte erlaubten, den Schöpfer aller Dinge zu erkennen. Jeden Abend und jeden Morgen beteten sie und er, die Mutter und der kleine Knabe – gemeinsam das Vaterunser; die Mutter flehte aus der Tiefe ihres sanften Herzens, das Kind sprach lallend die Worte nach. Jedesmal beteten sie zu Gott, den lieben Papa zu segnen, als ob er noch lebte und bei ihnen im Zimmer sei.

Viele Stunden des Tages brachte sie damit zu, den jungen Herrn zu waschen und anzukleiden – mit ihm morgens vor dem Frühstück, ehe der Großpapa seinen »Geschäften« nachging, einen kleinen Spaziergang zu machen – ihm mit viel [63] Geschick die wundervollsten Kleider zu fertigen. Zu diesem Zweck zerschnitt und änderte die sparsame Witwe jedes brauchbare Kleidungsstück, das sie noch aus ihrer Ehezeit in ihrer Garderobe besaß. Mrs. Osborne selbst trug zum großen Ärger ihrer Mutter, die besonders seit ihrem Unglück schöne Kleider liebte, stets ein schwarzes Gewand und einen Strohhut mit schwarzem Band. Die übrigen Stunden widmete sie ihrer Mutter und ihrem alten Vater. Sie hatte sich bemüht, Cribbage zu lernen, und spielte es mit dem alten Herrn an den Abenden, wo er nicht in seinen Klub ging. Sie sang ihm vor, wenn ihm der Sinn danach stand, und das war immer ein gutes Zeichen, denn jedesmal während der Musik fiel er in einen ruhigen Schlaf. Sie schrieb seine zahlreichen Auszüge, Briefe, Prospekte und Projekte ab. In ihrer Handschrift wurden die meisten früheren Bekannten des alten Herrn informiert, daß er Vertreter der Schwarzen-Diamanten-und-Anti-Aschenkohlen-Gesellschaft geworden sei und seine Freunde und das Publikum mit den besten Kohlen für soundso viel Shilling pro Sack versorgen könnte. Er setzte nur Unterschrift und Schnörkel unter die Schreiben und schrieb mit zitternder Kaufmannshand die Adressen. Eins dieser Schriftstücke schickte er an Major Dobbin vom ...ten Regiment per Adresse Mr. Cox und Mr. Greenwood. Da der Major sich zu dieser Zeit gerade in Madras befand, hatte er keinen besonderen Bedarf an Kohlen; er kannte jedoch die Hand, die den Prospekt geschrieben hatte. Guter Gott! Was hätte er nicht darum gegeben, sie in seiner halten zu dürfen! Ein zweiter Prospekt kam, der den Major unterrichtete, daß J. Sedley & Co. Agenturen in Oporto, Bordeaux und St. Mary errichtet hatten und damit ihren Freunden und dem Publikum im allgemeinen die besten und berühmtesten Jahrgänge von Portweinen, Sherrys und Claret unter ganz besonderen Vorteilen zu mäßigen Preisen anbieten könnten. Auf diesen Wink hin warb der Major ungestüm bei dem Gouverneur, dem Oberbefehlshaber, den Richtern, Regimentern und bei [64] allen seinen Bekannten in der Präsidentschaft um Aufträge und schickte Bestellungen an Sedley & Co. nach England, daß Mr. Sedley und Mr. Clapp, der Co. in diesem Geschäft, aufs äußerste erstaunt waren. Nach diesem Glücksanfang kamen jedoch keine weiteren Aufträge mehr; und der arme alte Sedley war schon drauf und dran gewesen, ein Haus in der City zu bauen, ein Regiment von Angestellten aufzunehmen, einen Lagerplatz für sich allein zu mieten und Vertreter in der ganzen Welt anzustellen. Der alte Herr war kein Weinkenner mehr. Man überfiel Major Dobbin in der Offiziersmesse mit Flüchen über das schlechte Gesöff, das durch seine Vermittlung nach Madras gekommen war. Eine große Menge des Weines kaufte er zurück und versteigerte ihn öffentlich mit ungeheurem Verlust. Joseph, der jetzt in die Finanzkammer in Kalkutta befördert worden war, bekam einen Wutanfall, als die Post ihm ein Bündel dieser bacchanalischen Prospekte mit einem Privatbrief von seinem Vater brachte, worin dieser dem Sohn mitteilte, daß er bei dem Unternehmen auf ihn rechne, daß er eine Sendung erlesener Weine an ihn geschickt und, laut Rechnung, für den Betrag Wechsel auf ihn ausgestellt habe. Joseph, der es sich ebensowenig hätte träumen lassen, daß sein Vater, der Vater Joseph Sedleys von der Finanzkammer, ein um Aufträge bettelnder Weinhändler sei, wie er sich hatte träumen lassen, daß er Scharfrichter hätte sein können. Er wies die Wechsel verächtlich zurück und schrieb dem alten Herrn sehr hochmütig, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Als die protestierten Wechsel zurückkamen, mußten Sedley und Co. sie mit dem Gewinn aus dem Madrasunternehmen und einem Teil von Emmys Ersparnissen einlösen.

Außer ihrer Pension von jährlich fünfzig Pfund hatte nach Angaben des Testamentsvollstreckers ihres Mannes bei Osbornes Tod sein Beauftragter fünfhundert Pfund in den Händen gehabt. Dobbin als Georges Vormund schlug vor, diese Summe zu acht Prozent in einem ostindischen Geschäftsunternehmen [65] anzulegen. Mr. Sedley, der glaubte, der Major verfolge unredliche Absichten mit dem Geld, widersetzte sich diesem Plan. Er ging persönlich zu dem Beauftragten, um gegen diese Verwendung der fraglichen Summe zu protestieren. Zu seinem Erstaunen erfuhr er jedoch, daß eine solche Summe nie in dessen Händen gewesen war und das Vermögen des verstorbenen Hauptmanns sich auf keine hundert Pfund belaufen habe und daß daher die erwähnten fünfhundert Pfund eine besondere Summe sein müßten, von der nur Major Dobbin Näheres wisse. Mehr als je überzeugt, daß eine Schurkerei im Gange war, verfolgte der alte Sedley den Major. Er verlangte als nächster Anverwandter seiner Tochter entschieden, der Major solle über die Gelder des verstorbenen Hauptmanns Rechenschaft ablegen. Dobbins Stottern, sein Erröten und seine Verlegenheit bestärkten den anderen in seiner Überzeugung, daß er es mit einem Schurken zu tun habe. In majestätischem Ton geigte er dem Offizier seine Meinung, wie er es nannte, und erklärte einfach, er glaube, der Major halte unberechtigterweise das Vermögen seines verstorbenen Schwiegersohnes zurück.

Hier verlor Dobbin aber doch alle Geduld, und wäre sein Ankläger nicht so alt und gebrochen gewesen, so hätte bei Slaughters sehr wohl ein Streit zwischen ihnen entstehen können, denn in einer Abteilung dieser Vergnügungsstätte fand die Unterredung der beiden Herren statt.

»Kommen Sie mit hinauf, Sir«, flüsterte der Major, »ich bestehe darauf, daß Sie mit mir hinaufkommen, und ich werde Ihnen zeigen, wer der Geschädigte ist, der arme George oder ich.« Damit schleppte er den alten Herrn in sein Schlafzimmer und nahm aus seinem Schreibpult Osbornes Abrechnungen sowie ein Bündel von Schuldscheinen, die George ihm gegeben hatte, denn, um die Wahrheit zu sagen, war er stets nur allzu bereit, einen Schuldschein auszustellen. »Seine Schulden in England hat er bezahlt«, fügte Dobbin hinzu, »aber als er fiel, besaß er keine hundert Pfund mehr. Ich und ein [66] paar von seinen Kameraden legten die kleine Summe zusammen. Es war alles, was wir entbehren konnten, und Sie wagen uns zu sagen, wir wollten die Witwe und die Waise betrügen?« Sedley war sehr beschämt und gedemütigt, obwohl William Dobbin dem alten Herrn wirklich eine große Lüge erzählt hatte. Jeder Pfennig des Geldes stammte nämlich von ihm selbst, und er hatte auch seinen Freund begraben und alle Ausgaben, die durch das Unglück und die Heimreise der armen Amelia entstanden waren, beglichen.

Über diese Ausgaben nachzudenken, hatten sich weder der alte Herr noch ein anderer Verwandter Amelias, noch diese selbst sich die Mühe gemacht. Sie verließ sich auf Major Dobbin, ihren Buchhalter, nahm seine etwas konfusen Berechnungen als richtig hin und ahnte niemals, wie tief sie in seiner Schuld stand.

Zwei- oder dreimal jährlich schrieb sie ihm ihrem Versprechen gemäß nach Madras, Briefe, die von Anfang bis Ende von dem kleinen Georgy handelten. Wie er sie als seine teuersten Schätze betrachtete! Wenn Amelia schrieb, so antwortete er ihr, allerdings nur dann. Aber er sandte seinem Patenkind und ihr unzählige Andenken. Er schickte eine Schachtel mit Schärpen und einen großartigen Satz elfenbeinerner Schachfiguren, die er in China bestellt hatte. Die Bauern waren kleine, grünweiße Männer mit richtigen Schwertern und Schilden; die Springer saßen zu Pferde, die Türme wurden von Elefanten getragen. Die Figuren von Mrs. Mango von den Ananastreibhäusern seien nicht so schön, bemerkte Mr. Pestler. Dieses Schachspiel war das ganze Entzücken Georgys, der zum Dank dafür seinen ersten Brief an den Patenonkel zusammenbaute. Dobbin schickte auch Eingemachtes und Mixpickles. Das letztere probierte der Knabe heimlich auf der Anrichte und starb beinahe beim Kosten. Er glaubte, sie seien aus Strafe fürs Stehlen so scharf. Emmy schrieb dem Major einen drolligen Bericht über dieses Mißgeschick, und ihn freute es, zu sehen, daß sich ihr Gemüt erholte [67] und sie jetzt zuweilen fröhlich sein konnte. Er schickte zwei Schals herüber, einen weißen für sie und einen schwarzen mit Palmblättern für ihre Mutter, und ein paar rote Schärpen für den alten Mr. Sedley und George zum Winter. Mrs. Sedley wußte, daß die Schals pro Stück mindestens fünfzig Guineen gekostet hatten. Sie trug ihren, wenn sie in vollem Staat nach Brompton zur Kirche ging, und ihre Freundinnen beglückwünschten sie zu der glänzenden Erwerbung. Auch Emmys paßte gut zu ihrem einfachen schwarzen Gewand.

»Wie schade, daß sie sich nichts aus ihm macht«, bemerkte Mrs. Sedley gegenüber Mrs. Clapp und allen ihren Freundinnen in Brompton. »Joseph hat uns nie solche Geschenke gemacht und gönnt uns nichts. Offensichtlich ist der Major bis über beide Ohren in sie verliebt; wenn ich es aber nur andeute, dann wird sie rot und fängt an zu weinen und geht hinauf und setzt sich mit ihrer Miniatur hin. Diese Miniatur hängt mir schon zum Hals heraus, ich wollte, wir hätten die abscheulichen geldprotzigen Osbornes nie zu Gesicht bekommen.«

In dieser bescheidenen Umgebung unter so einfachen Gefährten verging Georges frühe Kindheit, und der Knabe wuchs heran – zart, sensibel, tyrannisch, ein richtiges Muttersöhnchen. Er beherrschte seine sanfte Mutter, die er leidenschaftlich liebte, und regierte die ganze kleine ihn umgebende Welt. Als er größer wurde, nahmen die Älteren verwundert wahr, daß er sehr hochmütig war und seinem Vater immer ähnlicher wurde. Er fragte nach allem, wie es die wissensdurstige Jugend stets tut. Seine tiefsinnigen Bemerkungen und Fragen setzten den Großvater in Erstaunen, und der Alte langweilte den Wirtshausklub ständig mit Erzählungen von der Gescheitheit und Begabung seines Enkels. Seine Großmutter litt er mit großmütiger Gleichgültigkeit. Der kleine Kreis um ihn glaubte, daß ihm auf Erden kein Junge gleichkomme. Georgy hatte den väterlichen Stolz geerbt und glaubte wahrscheinlich, sie hätten nicht so ganz unrecht.

[68] Als er ungefähr sechs Jahre alt war, begann Dobbin ihm häufig zu schreiben. Der Major wollte wissen, ob Georgy eine Schule besuche, und hoffte, daß er dort Ehre einlege – oder wolle er vielleicht einen guten Hauslehrer haben? Es wurde höchste Zeit, daß er anfing, etwas zu lernen, und sein Pate und Vormund deutete an, er hoffe, man werde ihn die Kosten der Erziehung des Knaben bestreiten lassen, da es der Mutter mit ihrem geringen Einkommen sehr schwerfallen würde. Mit einem Wort, der Major dachte stets an Amelia und ihren kleinen Jungen, und durch Vermittlung seines Beauftragten versorgte er ihn ständig mit Bilderbüchern, Tuschkästen, Schreibutensilien und allen möglichen belustigenden und belehrenden Dingen. Drei Tage vor Georges sechstem Geburtstag fuhr ein Herr in einem Einspänner, begleitet von einem Bedienten, an Mr. Sedleys Hause vor und fragte nach Master George Osborne. Es war Woolsey, der Militärschneider aus der Conduit Street, der im Auftrage des Majors dem jungen Herrn zu einem Anzug maßnehmen sollte. Er hatte früher die Ehre gehabt, für den Hauptmann, den Vater des jungen Herrn, zu arbeiten.

Manchmal, und zweifellos auf den Wunsch des Majors, kamen seine Schwestern, die Misses Dobbin, in der Familienkutsche, um Amelia und den Kleinen zu einer Spazierfahrt abzuholen, falls sie Lust dazu hätten. Die Gönnermiene und Freundlichkeit dieser Damen war Amelia sehr unangenehm, aber sie trug sie mit Sanftmut, denn es lag in ihrer Natur nachzugeben, und außerdem machte die prächtige Kutsche dem kleinen Georgy ungeheures Vergnügen. Gelegentlich baten die Damen, daß das Kind einen Tag bei ihnen verbringen dürfe, und George freute sich stets, die schöne Villa in der Straße Denmark Hill zu besuchen, wo sie wohnten und wo es so schöne Trauben in den Gewächshäusern und Pfirsiche an den Mauern gab.

Eines Tages brachten sie Amelia freundlicherweise eine [69] Nachricht, über die sie sich sicher sehr freuen würde – etwas ungemein Interessantes über ihren lieben William.

»Was ist es, kommt er nach Hause?« fragte sie, und Freude strahlte aus ihren Augen.

O nein, nicht das – aber sie hätten sehr guten Grund, zu glauben, daß der liebe William heiraten würde – und zwar eine Verwandte von einer sehr teuren Freundin Amelias – Miss Glorvina O'Dowd, Michael O'Dowds Schwester, die zu Lady O'Dowd nach Madras gefahren war – ein sehr hübsches, gebildetes Mädchen, wie es hieß.

Amelia sagte: »Oh!« Amelia war wirklich sehr glücklich darüber. Sie glaubte, Glorvina könne ihrer alten Bekannten nicht sehr ähneln, die zwar sehr freundlich ... aber ... aber sie war wirklich sehr glücklich. Aus einer gewissen Regung heraus, deren Bedeutung ich nicht erklären kann, schloß sie George in die Arme und küßte ihn außerordentlich zärtlich. Ihre Augen waren feucht, als sie das Kind niedersetzte, und sie sprach während der ganzen Fahrt kein Wort mehr – obwohl sie wirklich sehr glücklich war.

Fußnoten

1 internationales Bankhaus; gegründet von Meyer Amschel Rothschild (1743-1812).

2 Londoner Bankhaus; gegründet 1770 von Francis Baring (1740-1810).

3 das hinterhältige England.

4 (franz.) Ach, dieses göttliche Geschöpf!

5 römische Liebesgöttin.

6 römische Göttinnen der Anmut.

7 (franz.) Königin der Liebe.

8 römische Göttin der Weisheit.

39. Kapitel
Ein zynisches Kapitel

Die Pflicht führt uns jetzt ein Weilchen zu einigen alten Bekannten zurück, deren Hoffnungen auf das Vermögen ihrer reichen Verwandten so jämmerlich getäuscht worden waren. Für Bute Crawley bedeutete es einen schweren Schlag, nur fünftausend Pfund von seiner Schwester zu erhalten, wo er doch mit dreißigtausend gerechnet hatte. Nachdem er seine Schulden und die seines Sohnes James auf der Universität bezahlt hatte, blieb von dieser Summe nur ein sehr geringer Rest, um seine vier unschönen Töchter auszustatten. Mrs. Bute hatte keine Ahnung oder gab es wenigstens niemals zu, wie [70] sehr ihr tyrannisches Benehmen dazu beigetragen hatte, ihren Mann zu ruinieren. Sie beteuerte und schwor, alles getan zu haben, was eine Frau tun konnte. War es ihre Schuld, wenn sie nicht über die Schmeichelkünste ihres heuchlerischen Neffen Pitt Crawley verfügte? Sie wünschte ihm zu seinem übel erworbenen Vermögen das Glück, das er verdiente. »Wenigstens bleibt das Geld in der Familie«, sagte sie nachsichtig. »Pitt wird es niemals ausgeben, mein Lieber, das steht fest, denn es gibt in England keinen größeren Geizhals, und er ist ebenso abscheulich, wenn auch in einer anderen Art, wie sein verschwenderischer Bruder, der liederliche Rawdon.«

Mrs. Bute begann also, nach dem ersten Anfall von Wut und Enttäuschung, sich, so gut sie konnte, ihrer veränderten Vermögenslage anzupassen und zu sparen und sich einzuschränken, wo es nur immer ging. Sie brachte ihren Töchtern bei, die Armut fröhlich zu ertragen, und erfand tausend bemerkenswerte Methoden, sie zu verbergen oder ihr auszuweichen. Sie schleppte ihre Töchter mit lobenswerter Energie zu allen Bällen und Vergnügungsstätten der Umgegend, ja sie bewirtete ihre Freunde gastfreier und netter im Pfarrhaus und lud sie häufiger ein als zu der Zeit, bevor die Erbschaft der lieben Miss Crawley fällig geworden war. Ihrem äußerlichen Auftreten nach hätte niemand vermuten können, daß die Familie in ihren Erwartungen getäuscht worden war. Ebensowenig hätte man aus ihrem häufigen Erscheinen in der Öffentlichkeit schließen können, wie sie zu Hause darbten und hungerten. Die Mädchen hatten jetzt mehr Putz als je zuvor. Sie erschienen beharrlich bei den Gesellschaften in Winchester und Southampton; sie drangen bis nach Cowes vor, zu den dortigen Rennbällen und Regattavergnügungen, und ihre Kutsche mit den Pferden, die gerade aus dem Pflug kamen, war so viel unterwegs, daß man fast zu glauben begann, die vier Schwestern hätten jede ein Vermögen von ihrer Tante geerbt, deren Namen die Familie in der Öffentlichkeit nur mit der zärtlichsten Dankbarkeit und Achtung erwähnte. [71] Ich kenne auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit keine häufigere Lüge als diese, und man kann feststellen, daß die, die nach ihr leben, sich noch viel auf ihre Heuchelei zugute halten und sich einbilden, sie seien ungeheuer tugendhaft und lobenswert, weil es ihnen gelingt, die Welt über die Größe ihres Vermögens zu täuschen.

Mrs. Bute hielt sich jedenfalls für eine der tugendhaftesten Frauen in England, und der Anblick ihrer glücklichen Familie war rührend für Fremde. Sie waren alle so fröhlich, so liebevoll, so wohlerzogen, so schlicht! Martha malte ausnehmend schöne Blumen und versah damit die Hälfte aller Wohltätigkeitsbasare in der Grafschaft. Emma war die Nachtigall der Grafschaft, und ihre Gedichte in der Dichterecke des »Hampshire Telegraph« waren die Zierde des Blattes. Fanny und Matilda sangen Duette, wobei sie ihre Mutter auf dem Klavier begleitete, während die beiden anderen einander mit den Armen umschlungen hielten und liebevoll lauschten. Niemand sah, wie die armen Mädchen zu Hause die Duette einpaukten, keiner sah, wie die Mama sie stundenlang unerbittlich drillte. Mit einem Wort, Mrs. Bute hielt dem Schicksal ein lächelndes Gesicht entgegen und wahrte den Schein vorzüglich.

Mrs. Bute tat alles, was eine gute, ehrbare Mutter tun kann. Sie lud Yachtbesitzer aus Southampton, Geistliche der Kathedrale von Winchester und Offiziere aus den dortigen Kasernen ein. Sie versuchte die jungen Advokaten aus den Schwurgerichten anzulocken und ermunterte James, Freunde mit nach Hause zu bringen, wenn er mit Seiner Hoheit auf die Jagd ritt. Was tut nicht eine Mutter alles für das Wohl ihrer geliebten Kinder?

Es ist klar, daß solch eine Frau und ihr Schwager, der abscheuliche Baronet im Schloß, nichts gemein hatten. Der Bruch zwischen Bute und seinem Bruder Sir Pitt war vollständig und auch zwischen Sir Pitt und der ganzen Grafschaft, für die der alte Mann ein Skandal war. Seine Abneigung gegen [72] anständige Gesellschaft nahm mit den Jahren zu, und sein Parktor hatte sich niemals wieder dem Wagen eines Gentleman geöffnet, seit Pitt und Lady Jane nach ihrer Heirat einen Anstandsbesuch gemacht hatten.

Das war ein entsetzlicher, unglückseliger Besuch gewesen, dessen sich die Familie nie ohne Schrecken erinnerte. Pitt bat seine Frau mit bleichem Gesicht, nie davon zu sprechen; und daß die näheren Umstände davon, wie Sir Pitt seinen Sohn und seine Schwiegertochter empfing, überhaupt bekannt wurden, war nur Mrs. Bute zu verdanken, die noch immer erfuhr, was im Schloß vorging.

Als sie in ihrem sauberen, gut instand gehaltenen Wagen durch die Parkallee hinauffuhren, bemerkte Pitt mit Wut und Entsetzen große Lücken zwischen den Bäumen – seinen Bäumen –, die der alte Baronet ohne jede Erlaubnis hatte fällen lassen. Der Park bot einen traurigen Anblick des Verfalls. Die Wege waren schlecht gepflegt, und der saubere Wagen arbeitete sich mühsam und spritzend durch die Schlammpfützen auf der Allee vorwärts. Die große Auffahrt vor der Terrasse und der Eingangstreppe war schwarz und moosbewachsen, die einstmals wohlgepflegten Blumenbeete waren verkrautet. Fast an der ganzen Front des Hauses waren die Läden geschlossen; die große Hallentür wurde erst nach langem Läuten geöffnet. Als Horrocks endlich den Erben von Queen's Crawley und seine junge Frau in das Schloß ihrer Vorväter eintreten ließ, sah man ein Geschöpf mit fliegenden Bändern die schwarze Eichentreppe hinaufeilen. Horrocks führte sie in Sir Pitts sogenannte Bibliothek, und je mehr sich Pitt und Lady Jane diesem Raum näherten, desto stärker wurde der Tabaksqualm.

»Sir Pitt fühlt sich nicht ganz wohl«, bemerkte Horrocks entschuldigend und deutete an, sein Herr leide an einem Hexenschuß.

Die Bibliothek lag zum Hauptweg und Park hin. Sir Pitt hatte ein Fenster geöffnet und brüllte zu dem Postillion und [73] Pitts Diener hinunter, die wohl gerade das Gepäck abladen wollten:

»Laßt die Koffer da in Ruhe«, schrie er und wies mit der Pfeife, die er in der Hand hielt, darauf hin. »Es ist doch bloß ein Morgenbesuch, Tucker, du Narr. Mein Gott, was für Risse das rechte Pferd an den Fesseln hat! War denn niemand im ›Königskopf‹ der sie ein bißchen einreiben konnte? Tag, Pitt! Tag, meine Liebe! Wollt den alten Mann besuchen, he? Bei Gott – du hast ein hübsches Gesicht. Bist nicht wie deine Mutter, dieser Stecken. Komm, sei ein gutes kleines Mädchen und gib dem alten Pitt einen Kuß.«

Die Umarmung brachte die Schwiegertochter etwas aus der Fassung, wie man es bei der Liebkosung eines unrasierten tabakduftenden alten Herrn erwarten konnte; es fiel ihr aber ein, daß auch ihr Bruder Southdown einen Schnurrbart trug und Zigarren rauchte, und sie trug das Ansinnen des Baronets mit leidlicher Anmut. »Pitt ist fett geworden«, sagte der Baronet nach diesem Beweis seiner Neigung, »liest er dir lange Predigten vor, meine Liebe? Hundertster Psalm, Abendlied, he, Pitt? Geh und hole ein Glas Malvasier und ein Stück Kuchen für Lady Jane, Horrocks, du großer, dicker Tölpel, und steh da nicht rum und starre wie ein fettes Schwein. – Ich werde dich nicht bitten, dazubleiben, meine Liebe, du würdest es zu langweilig finden, und das würde ich auch bei einem Pitt. Ich bin jetzt ein alter Mann und mache gern, was ich will, und rauche abends meine Pfeife und spiele Puff.«

»Ich kann auch Puffspielen«, sagte Lady Jane lachend. »Ich habe oft mit Papa und mit Miss Crawley gespielt – nicht wahr, Mr. Crawley?«

»Lady Jane kennt das Spiel, das du so gern spielst, wie du erzählst«, sagte Sir Pitt hochmütig.

»Trotzdem wird sie aber nicht dableiben wollen. Nein, nein, fahrt wieder nach Mudbury und gebt Mrs. Rincer etwas zu verdienen, oder geht ins Pfarrhaus und bittet Buty um ein Mittagessen. Ihr wißt, er wird entzückt sein, euch zu sehen. [74] Er ist euch so dankbar, weil er das Geld von der Alten gekriegt hat. Haha! Ein Teil davon wird reichen, das Schloß wieder zurechtzuflicken, wenn ich das Zeitliche gesegnet habe.«

»Ich habe festgestellt«, sagte Pitt mit erhobener Stimme, »daß deine Leute das Holz schlagen.«

»Ja, ja, sehr schönes Wetter und gerade richtig für die Jahreszeit«, entgegnete Sir Pitt, der plötzlich taub geworden war. »Aber ich werde jetzt alt, Pitt. Gott segne dich, du bist selbst nicht mehr weit von den Fünfzig. Aber er hat sich gut gehalten, meine hübsche Lady Jane, nicht wahr? Das kommt von der Frömmigkeit, Mäßigkeit und von dem moralischen Lebenswandel. Seht mich an, ich bin bald achtzig, haha!« lachte er, nahm eine Prise und blinzelte sie an und drückte ihr die Hand.

Pitt brachte die Rede noch einmal auf das Holz; der Baronet war aber plötzlich wieder taub geworden.

»Ich werde jetzt sehr alt und habe in diesem Jahr sehr böse mit dem Hexenschuß zu tun gehabt. Ich werde es nicht mehr lange machen, aber es freut mich, daß du gekommen bist, Schwiegertochter. Dein Gesicht gefällt mir, Lady Jane, es hat nichts von dem verdammten hochnäsigen Binkieschen Ausdruck. Ich will dir etwas Hübsches schenken, meine Liebe, was du bei Hofe tragen kannst.« Hiermit schlurfte er quer durch das Zimmer zu einem Schrank und entnahm ihm ein altes Kästchen mit Juwelen von beträchtlichem Wert. »Nimm das, meine Liebe«, sagte er, »es hat meiner Mutter gehört und später der ersten Lady Binkie. Hübsche Perlen – hab sie nie der Eisenhändlerstochter gegeben. Nein, nein! Nimm sie und steck sie schnell ein«, rief er, drückte seiner Schwiegertochter das Kästchen in die Hand und schlug die Schranktür zu, als Horrocks mit einem Tablett Erfrischungen eintrat.

»Was haben Sie denn Pitts Frau gegeben?« fragte das bebänderte Geschöpf, als Pitt und Lady Jane von dem alten Herrn Abschied genommen hatten. Es war Miss Horrocks, [75] die Tochter des Butlers, die Ursache des Ärgernisses der Grafschaft – die Dame, die jetzt fast uneingeschränkt das Zepter in Queen's Crawley führte.

Der kometenhafte Aufstieg dieser Bänder war von der Grafschaft und der Familie mit Bestürzung bemerkt worden. Die Bänder hatten ein Konto bei der Sparkassenzweigstelle in Mudbury eröffnet. Die Bänder belegten die Ponykutsche völlig mit Beschlag, die den Dienern im Schloß zur Verfügung stand, und fuhren zur Kirche. Die Hausangestellten wurden nach ihrem Gutdünken entlassen. Der schottische Gärtner hatte bisher immer noch auf dem Gute ausgehalten, weil er auf seine Spaliere und Gewächshäuser stolz war und weil die Früchte des Gartens, den er bebaute, ihm durch den Verkauf in Southampton ein leidliches Auskommen brachten. An einem sonnigen Morgen überraschte er die Bänder an der Südwand beim Pfirsichessen, und als er gegen diesen Angriff auf sein Eigentum Einspruch erhob, wurde er noch geohrfeigt. Er, seine schottische Frau und seine schottischen Kinder, die einzigen achtbaren Bewohner von Queen's Crawley, sahen sich also gezwungen, mit Hab und Gut abzuziehen. Sie überließen den stattlichen, hübschen Garten dem Verderben und die Blumenbeete dem Unkraut. Der Rosengarten der armen Lady Crawley wurde eine traurige Wüste. Nur ganz wenige Dienstboten blieben schaudernd in der öden alten Bedientenstube zurück. Die Stallungen und Wirtschaftsgebäude waren leer, verschlossen und halb verfallen. Sir Pitt lebte ganz zurückgezogen und trank abends mit Horrocks, dem Butler oder Hausverwalter, wie man ihn jetzt zu nennen anfing, und den lasterhaften Bändern. Die Zeiten hatten sich sehr geändert, seit sie im offenen Wagen nach Mudbury gefahren war und die kleinen Geschäftsleute mit »Sir« tituliert hatte. War es Scham vor seinem Neffen oder Abneigung gegen sie – jedenfalls kam der alte Zyniker von Queen's Crawley kaum aus seinem Parktor heraus. Wenn er sich mit seinen Agenten zankte oder seine Pächter plagte, so geschah [76] es schriftlich. Seine Tage waren mit Briefeschreiben angefüllt, die Rechtsanwälte und Gutsverwalter, die mit ihm zu tun hatten, gelangten nur durch die Bänder zu ihm. Die Dame empfing sie an der Tür des Haushälterinnenzimmers, die den Hintereingang beherrschte, durch den sie eingelassen wurden. So wuchsen die Schwierigkeiten des Baronets täglich, und immer neue Verwicklungen traten ein.

Man kann sich Pitt Crawleys Entsetzen vorstellen, als dieser musterhafte, korrekte Mann die Gerüchte vom Altersschwachsinn seines Vaters vernahm. Täglich zitterte er vor der Nachricht, daß die Bänder noch seine zweite Stiefmutter würden. Nach diesem ersten und letzten Besuch wurde Sir Pitts Name in dem höflichen, vornehmen Haus seines Sohnes nicht wieder erwähnt. Er war das Familiengespenst, an dem alle erschrocken und stumm vorübergingen. Die Gräfin Southdown reichte weiterhin die aufregendsten Traktate aus ihrer Kutsche in den Pförtnereingang hinein – Traktate, die einem vor Entsetzen die Haare hätten zu Berge treiben müssen. Mrs. Bute im Pfarrhaus blickte allabendlich hinaus, ob der Himmel über den Ulmen, hinter denen das Schloß stand, gerötet sei und das Gutshaus vielleicht brenne. Sir G. Wapshot und Sir H. Fuddleston, alte Freunde des Hauses, wollten bei den Quartalsgerichtstagen nicht mehr auf einer Bank mit Sir Pitt sitzen und schnitten den ruchlosen Alten, als er ihnen in der Hauptstraße von Southampton seine schmutzige Hand hinhielt. Aber nichts beeindruckte ihn; er steckte die Hände wieder in die Taschen und brach in lautes Gelächter aus, als er in seinen Vierspänner kletterte; er lachte auch über Lady Southdowns Traktate, und er lachte über seine Söhne und über die Welt und über die Bänder, wenn sie zornig waren, was nicht selten vorkam.

Miss Horrocks war als Haushälterin in Queen's Crawley angestellt und regierte alle Dienstboten dort mit Hoheit und Strenge. Alle Diener waren gehalten, sie mit »Madame« anzureden, und ein kleines Mädchen, das sich eine Beförderung [77] erschmeicheln wollte, nannte sie beständig »Lady«, ohne von der Haushälterin zurechtgewiesen zu werden. »Es hat schon bessere Ladys gegeben, aber auch schlechtere, Hester«, war Miss Horrocks' Antwort auf dieses Kompliment ihrer Untergebenen. So herrschte sie über alle mit Ausnahme ihres Vaters, den sie jedoch sehr hochmütig behandelte und warnte, sich nicht zu vertraulich zu geben gegen eine, »die die Frau von einem Baronet werden würde«. Sie übte diese erhabene Rolle zu ihrer großen Genugtuung und zur Belustigung des alten Sir Pitt, der über ihre Mienen und Bewegungen kicherte und über ihre angenommene Würde und die Nachahmung des vornehmen Lebensstils stundenlang lachen konnte. Er beteuerte, es sei ein wahres Schauspiel, sie in der Rolle einer feinen Dame zu sehen, und er ließ sie ein Hofgewand der ersten Lady Crawley anlegen. Dabei schwor er, daß es sie wundervoll kleide (was völlig Miss Horrocks' Meinung entsprach), und kündigte an, sie sofort vierspännig an den Hof zu fahren. Sie plünderte die Garderobe der beiden verstorbenen Ladys, änderte deren nachgelassenen Putz nach ihrem eigenen Geschmack und ihrer Figur und trug sie ab. Gern wäre sie auch in den Besitz der Juwelen und Schmucksachen gelangt, aber der alte Baronet hatte sie in seinen Privatschrank eingeschlossen und ließ sich den Schlüssel nicht abschmeicheln oder abschwatzen. Tatsächlich entdeckte man, einige Zeit nachdem diese Dame Queen's Crawley verlassen hatte, ein Schreibheft von ihr, das zeigte, daß sie sich insgeheim große Mühe gegeben hatte, die Kunst des Schreibens im allgemeinen und speziell das Schreiben ihres Namens als Lady Crawley, Lady Betsy Horrocks, Lady Elizabeth Crawley und so weiter zu lernen.

Obwohl die braven Leute aus dem Pfarrhaus nie ins Schloß kamen und den entsetzlichen kindischen Greis, seinen Besitzer, mieden, hielten sie sich doch beständig über alles, was dort geschah, auf dem laufenden und erwarteten täglich die Katastrophe, auf die Miss Horrocks ebenfalls begierig [78] war. Das Schicksal griff jedoch neidisch ein und raubte ihr den Lohn für so makellose Liebe und Tugend.

Eines Tages überraschte der Baronet die »Lady«, wie er sie scherzhaft nannte, an dem alten verstimmten Klavier im Salon, das seit der Zeit, als Becky Sharp Quadrillen darauf gespielt hatte, fast unberührt geblieben war. Sie saß mit viel Würde vor dem Klavier und ahmte mit schriller Stimme nach besten Kräften die Lieder nach, die sie zuweilen gehört hatte. Das kleine beförderungsbeflissene Küchenmädchen stand neben ihrer Herrin, nickte entzückt mit dem Kopf und rief, »Gott, Madame, das ist aber sehr schön!« – genau wie ein vornehmer Schmeichler in einem wirklichen Salon.

Dieser Vorfall veranlaßte den alten Baronet zu seinem üblichen brüllenden Gelächter. Er erzählte es Horrocks im Laufe des Abends ein Dutzendmal, zum Verdruß von Miss Horrocks. Er trommelte auf dem Tisch wie auf einem Musikinstrument und imitierte ihren Gesang mit schriller Stimme. Er beteuerte, daß eine so schöne Stimme ausgebildet werden müßte, und erklärte, sie sollte einen Gesanglehrer bekommen. Sie fand an diesem Vorschlag nichts Lächerliches. Er war an diesem Abend in großartiger Laune und trank mit seinem Freund und Butler eine ungewöhnliche Menge Grog. Erst zu sehr später Stunde brachte der treue Freund und Diener seinen Herrn in sein Schlafzimmer.


Eine halbe Stunde später begann im Haus ein geschäftiges Hin und Her. Lichter wanderten in dem einsamen, öden, alten Schloß von Fenster zu Fenster, wo doch gewöhnlich nur ein paar Räume vom Besitzer bewohnt wurden. Bald darauf galoppierte ein junger Bursche auf einem Pony nach Mudbury zum Doktor. Eine Stunde später wanderte Mrs. Bute Crawley in Holzschuhen und Kapuze mit Ehrwürden Bute Crawley und ihrem Sohn James Crawley vom Pfarrhaus los, durch den Park, und sie betraten das Gutshaus durch den offenen Haupteingang.

[79] Sie durchschritten die Halle und das kleine eichengetäfelte Wohnzimmer, wo auf dem Tisch noch die drei Gläser und die leere Rumflasche von Sir Pitts Gelage standen, und gelangten in Sir Pitts Bibliothek. Dort fanden sie Miss Horrocks von den schuldigen Bändern mit einem Schlüsselbund wie wild an den Schränken und Schreibpulten herumhantieren. Sie ließ es mit einem Schreckensschrei fallen, als sie die Augen der kleinen Mrs. Bute unter der schwarzen Kapuze her anfunkelten.

»Schaut euch das an, James und Mr. Crawley«, rief Mrs. Bute und wies auf das erschrockene Gesicht der schwarzäugigen, schuldbewußten Dirne.

»Er hat sie mir geschenkt; er hat sie mir geschenkt!« schrie diese.

»Dir geschenkt, du verworfenes Geschöpf!« kreischte Mrs. Bute.

»Du bist Zeuge, Mr. Crawley, daß wir dieses nichtsnutzige Weibstück auf frischer Tat ertappt haben, wie sie deines Bruders Eigentum gestohlen hat, und sie wird an den Galgen kommen, wie ich ihr immer schon prophezeit habe.«

Betsy Horrocks, jetzt völlig eingeschüchtert, brach in Tränen aus und warf sich auf die Knie. Wer aber eine wirklich brave Frau kennt, weiß auch, daß sie es mit dem Verzeihen nicht so eilig hat und daß die Demütigung eines Feindes der höchste Triumph für sie ist.

»Läute, James«, sagte Mrs. Bute. »Läute, bis jemand kommt.«

Die paar Dienstboten, die sich in dem öden, alten Hause aufhielten, stellten sich auf das fortwährende Klingeln bald ein.

»Führt das Weibstück in das vergitterte Zimmer«, sagte sie. »Wir haben sie auf frischer Tat ertappt, als sie Sir Pitt bestahl. Mr. Crawley, du wirst den Haftbefehl ausstellen – und Sie, Beddoes, Sie werden sie morgen früh im Wagen ins Southamptoner Gefängnis bringen.«

[80] »Meine Liebe«, wendete der Friedensrichter und Pfarrer ein, »sie hat doch nur ...«

»Sind denn keine Handschellen hier?« fuhr Mrs. Bute fort und stampfte mit den Holzschuhen auf. »Es waren doch sonst immer Handschellen hier. Wo ist der widerwärtige Vater dieser Kreatur?«

»Er hat sie mir aber doch geschenkt«, rief die arme Betsy wieder, »nicht wahr, Hester? Nicht wahr, du hast es gesehen, wie Sir Pitt sie mir geschenkt hat – lange, lange her, am Tag nach dem Jahrmarkt in Mudbury. – Nicht, daß ich sie brauche. Nehmen Sie sie, wenn Sie nicht glauben, daß sie mir gehören.« Mit diesen Worten zog die Unglückselige ein Paar große, mit falschen Steinen besetzte Schuhschnallen aus der Tasche, die ihr in die Augen gestochen hatten und die sie sich gerade aus einem Bücherschrank in der Bibliothek angeeignet hatte.

»Gott, Betsy, wie kannst du nur so eine abscheuliche Geschichte erzählen«, sagte Hester, das kleine, ehemals so beförderungsbeflissene Küchenmädchen, »und noch dazu der Madame Crawley, die so gut und freundlich ist, und Ehrwürden (mit einem Knicks), und meine Kästen können Sie alle durchsuchen, Madame, und hier sind meine Schlüssel, denn ich bin ein ehrliches Mädchen, wenn auch von armen Eltern und im Armenhaus aufgewachsen – und wenn Sie auch nur ein lumpiges Stückchen Spitze oder einen seidenen Strumpf von all den Sachen finden, wo die sich welche rausgesucht hat, so will ich das letztemal zur Kirche gegangen sein.«

»Gib die Schlüssel her, du abgebrühte Hexe«, zischte die tugendsame kleine Dame in der Kapuze.

»Und hier ist eine Kerze, Madame, und wenn Sie wollen, dann kann ich Ihnen ihr Zimmer zeigen und den Schrank im Haushälterinnenzimmer, wo sie die Sachen haufenweise aufgestapelt hat«, schrie die eifrige kleine Hester unter unzähligen Knicksen.

[81] »Halt gefälligst den Mund. Ich kenn das Zimmer, wo die Kreatur wohnt, recht gut. Mrs. Brown, haben Sie die Güte, mit mir zu kommen, und Sie, Beddoes, lassen Sie das Weib nicht aus den Augen«, sagte Mrs. Bute und ergriff die Kerze. »Mr. Crawley, geh du lieber hinauf und paß auf, daß sie deinen unglücklichen Bruder nicht umbringen.« Mit diesen Worten schritt die Kapuze, begleitet von Mrs. Brown, davon, zu dem Zimmer, das sie, wie sie wahrheitsgemäß bemerkt hatte, sehr gut kannte.

Bute ging hinauf und fand dort den Arzt aus Mudbury und den erschrockenen Horrocks, der sich über seinen Herrn im Stuhl beugte. Sie versuchten, Sir Pitt zur Ader zu lassen.


Früh am nächsten Morgen schickte die Pfarrersfrau, die sofort das Kommando an sich gerissen und die ganze Nacht bei dem alten Baronet gewacht hatte, einen Eilbrief an Mr. Pitt. Der Alte war zu einer Art Leben zurückgebracht worden, er konnte nicht sprechen, schien aber die Menschen zu erkennen. Mrs. Bute behauptete entschlossen ihren Posten an seinem Bett. Die kleine Frau schien keinen Schlaf zu brauchen; sie schloß ihre funkelnden schwarzen Augen nicht ein einziges Mal, obgleich der Doktor in seinem Armsessel schnarchte. Horrocks machte einige verzweifelte Anstrengungen, um seine Autorität zu behaupten und seinem Herrn beizustehen. Mrs. Bute nannte ihn jedoch einen betrunkenen alten Halunken und riet ihm, sein Gesicht in diesem Haus nie wieder blicken zu lassen, wenn er nicht deportiert werden wolle wie seine abscheuliche Tochter.

Von ihrem Benehmen in großen Schrecken versetzt, schlich er sich in das eichengetäfelte Zimmer hinab, wo er James antraf. Dieser hatte die Flasche, die dort stand, untersucht und sie leer gefunden, er befahl deshalb Mr. Horrocks, eine neue Flasche und saubere Gläser zu holen. Der Pfarrer und sein Sohn setzten sich an den Tisch und befahlen Horrocks, sofort die Schlüssel hinzulegen und sich nicht wieder blicken zu lassen.

[82] Horrocks, von diesem Benehmen entmutigt, gab die Schlüssel ab, und er und seine Tochter machten sich noch in derselben Nacht heimlich davon und gaben damit alle Besitzerrechte im Schloß von Queen's Crawley auf.

40. Kapitel
In dem Becky von der Familie anerkannt wird

Der Erbe von Crawley kam bald nach dieser Katastrophe nach Hause, und von dieser Zeit an regierte er in Queen's Crawley. Der alte Baronet lebte zwar noch mehrere Monate, gewann aber nie völlig den Gebrauch seines Verstandes oder die Sprache wieder, und die Verwaltung des Besitzes ging auf seinen ältesten Sohn über. Pitt fand ihn in einem merkwürdigen Zustand. Sir Pitt war beständig mit Käufen und Hypotheken beschäftigt gewesen; er hatte zwanzig Anwälte beschäftigt, und mit allen hatte er im Streit gelegen; Streitigkeiten und Prozesse mit seinen Pächtern; Prozesse mit den Advokaten; Prozesse mit den Bergbau-und Hafengesellschaften, deren Mitinhaber er war; Prozesse mit jedermann, der geschäftlich mit ihm zu tun gehabt hatte. Diese verwickelten Verhältnisse aufzuklären und den Besitz in Ordnung zu bringen war eine des genauen und ausdauernden Diplomaten von Pumpernickel würdige Aufgabe, und mit bewundernswertem Fleiß machte er sich an die Arbeit. Natürlich siedelte er seine ganze Familie nach Queen's Crawley um und unter ihnen natürlich Lady Southdown. Sie ging daran, die Gemeinde vor der Nase des Pfarrers zu bekehren, und zum Ärger der wütenden Mrs. Bute brachte sie ihre Pseudogeistlichen mit. Sir Pitt hatte noch keinen Kaufvertrag über die Pfründe von Queen's Crawley abgeschlossen; und Lady Southdown schlug vor, sie wolle selbst das Patronat übernehmen und die Pfarre einem ihrer jugendlichen Schützlinge [83] geben, wenn sie erledigt sein würde. Der diplomatische Pitt erwiderte darauf kein Wort.

Mrs. Butes Absichten in bezug auf Betsy Horrocks kamen nicht zur Ausführung. Betsy stattete dem Southamptoner Gefängnis keinen Besuch ab. Sie verließ mit ihrem Vater das Herrenhaus, und er ergriff Besitz vom Gasthaus »Zum Wappen Crawleys« im Dorf, das er von Sir Pitt gepachtet hatte. Der ehemalige Butler hatte außerdem ein kleines Gütchen erworben, wodurch er Stimmrecht im Wahlflecken bekam. Der Pfarrer war ebenfalls stimmberechtigt, und diese beiden und noch vier andere bildeten die Wählerschaft, die die beiden Vertreter für Queen's Crawley im Parlament ernannten.

Zwischen den Damen im Pfarrhaus und im Schloß wurde zum Schein ein höflicher Verkehr aufrechterhalten, wenigstens zwischen den jüngeren, denn Mrs. Bute und Lady Southdown konnten sich bei ihren Begegnungen nie kampflos trennen, und allmählich hörten sie auf, einander zu besuchen. Die Lady blieb auf ihrem Zimmer, wenn die Damen aus dem Pfarrhaus ihre Verwandten besuchten. Wahrscheinlich mißfiel Mr. Pitt diese gelegentliche Abwesenheit seiner Schwiegermama gar nicht sehr. Er hielt die Familie Binkie für die bedeutendste und weiseste und interessanteste der Welt; die Lady und seine Tante hatten ihn lange unter ihrem Joch gehalten. Zuweilen dachte er aber doch, daß sie ihn zu sehr herumkommandiere. Es war zweifellos schmeichelhaft, für jung zu gelten, aber ihn mit sechsundvierzig Jahren wie einen Knaben zu behandeln war manchmal doch kränkend. Lady Jane dagegen gab ihrer Mutter in allen Stücken nach. Sie zeigte ihren Kindern ihre Liebe nur insgeheim und konnte noch von Glück sagen, daß Lady Southdowns vielfältige Aufgaben, ihre Konferenzen mit Geistlichen und ihr Briefwechsel mit allen Missionaren in Afrika, Asien, Australasien und so weiter die würdige Gräfin so stark beschäftigten, daß sie ihrer Enkelin, der kleinen Matilda, und ihrem Enkel, Master Pitt Crawley, nur einen kleinen Teil ihrer Zeit widmen [84] konnte. Er war ein schwächliches Kind, und Lady Southdown hatte ihn nur durch ungeheure Quantitäten von Kalomel überhaupt am Leben halten können.

Sir Pitt zog sich in dieselben Gemächer zurück, wo einst Lady Crawley verlöscht war. Miss Hester, das beförderungsbeflissene Mädchen, pflegte ihn hier mit fleißiger Sorgfalt. Welche Liebe, welche Treue, wel che Beständigkeit gleicht der einer gut entlohnten Wärterin? Sie glättet das Kopfkissen und bereitet Stärkungsmittel aus Pfeilwurzeln, steht nachts auf, erträgt Klagen und Nörgeleien, verlangt trotz strahlenden Sonnenscheins nicht, ins Freie hinauszugehen; sie schläft im Armstuhl und ißt ganz allein; sie verbringt lange, lange Abende mit Nichtstun und beobachtet nur die Kohlenglut und die im Topf wallenden Tränke des Kranken; sie liest die ganze Woche hindurch die Wochenzeitung; und »Der ernste Ruf des Gesetzes« oder »Die ganze Pflicht des Menschen« genügen ihr als Lektüre für ein ganzes Jahr – und wir schimpfen auch noch, wenn beim wöchentlichen Verwandtenbesuch bei ihr ein Fläschchen Branntwein in den Waschkorb geschmuggelt wird. Meine Damen, wo ist der Mann, dessen Liebe ein Jahr Krankenpflege bei dem geliebten Gegenstand überdauert? Eine Wärterin dagegen tut dies für zehn Pfund im Vierteljahr, und wir glauben noch, sie sei zu hoch bezahlt. Wenigstens murrte Mr. Crawley häufig, daß er Miss Hester halb so viel für die Pflege des Baronets, seines Vaters, zahlen mußte.

An sonnigen Tagen wurde der alte Herr in einem Stuhl auf die Terrasse geschoben – in demselben Stuhl, den Miss Crawley in Brighton gehabt hatte und der mit einem Teil von Lady Southdowns persönlicher Habe nach Queen's Crawley gebracht worden war. Lady Jane ging stets neben dem Alten her, und sie war ganz offensichtlich sein Liebling. Wenn sie hereinkam, nickte er ihr vielmals zu, lächelte, und wenn sie sich wieder entfernte, stieß er unartikulierte, flehende Klagetöne aus. Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, [85] weinte und schluchzte er – worauf sich Hesters Gesicht und Verhalten – in Anwesenheit ihrer Herrin stets sanft und gütig – sofort änderte. Sie schnitt ihm Gesichter, ballte die Faust und schrie: »Halt den Mund, du dummer alter Narr«, dann rollte sie seinen Stuhl vom Feuer weg, in das er so gern blickte, worauf er nur noch mehr weinte. Denn das war alles, was nach mehr als siebzig Jahren List und Kampf, Trinken und Ränkeschmieden, Sünde und Selbstsucht übriggeblieben war – ein weinerlicher idiotischer Alter, der wie ein kleines Kind ins Bett gebracht und herausgenommen und gewaschen und gefüttert werden mußte!

Schließlich kam ein Tag, an dem die Geschäfte der Wärterin ihren Abschluß fanden. Eines frühen Morgens, als Pitt Crawley im Studierzimmer über seinen Rechnungsbüchern saß, klopfte es an die Tür, und Hester trat mit einem Knicks herein und sagte:

»Bitte schön, Sir Pitt, Sir Pitt ist heute morgen gestorben, Sir Pitt. Ich war gerade beim Brotrösten, Sir Pitt, zu seinem Haferbrei, Sir Pitt, den er jeden morgen pünktlich um sechs bekam, Sir Pitt, und – da war es mir, als wenn ich's stöhnen hörte, Sir Pitt – und – und – und ...« Sie knickste von neuem.

Weshalb wurde Pitts bleiches Gesicht plötzlich so rot? War es, weil er endlich Sir Pitt war mit einem Sitz im Parlament und ihm vielleicht künftige Ehrungen in Aussicht standen? Ich werde jetzt den Besitz mit dem Bargeld entlasten, dachte er und überschlug schnell die Hypotheken und die Verbesserungen, welche er anbringen würde. Er hatte das Geld seiner Tante nicht eher anwenden wollen, damit seine Ausgaben nicht umsonst gewesen wären, falls Sir Pitt sich wieder erholt hätte.

Im Schloß und im Pfarrhaus wurden alle Vorhänge herabgelassen, die Kirchenglocke läutete, und die Kanzel wurde schwarz verhängt; Bute Crawley ging nicht zu einer Jagdpartie, sondern ritt zu einem ruhigen Essen nach Fuddleston, wo man sich bei Portwein über seinen verstorbenen Bruder [86] und den jungen Sir Pitt unterhielt. Miss Betsy, die sich inzwischen mit einem Sattler in Mudbury verheiratet hatte, weinte von Herzen. Mr. Glauber, der Arzt, kam mit den besten Empfehlungen und erkundigte sich nach der Gesundheit der Damen. Man sprach über den Todesfall in Mudbury und im »Wappen Crawleys«, dessen Wirt sich seit kurzem mit dem Pfarrer ausgesöhnt hatte; es war bekannt geworden, daß dieser gelegentlich die Gaststube betrat und Mr. Horrocks' Süßbier probierte.

»Soll ich deinem Bruder schreiben – oder tust du es?« fragte Lady Jane ihren Gatten, Sir Pitt.

»Ich natürlich werde ihm schreiben«, sagte Sir Pitt, »und ihn zur Beerdigung einladen; das gehört sich so.«

»Und – und – Mrs. Rawdon«, schlug Lady Jane schüchtern vor.

»Jane!« sagte Lady Southdown. »Wie kannst du nur daran denken?«

»Mrs. Rawdon muß natürlich auch eingeladen werden«, sagte Sir Pitt entschlossen.

»Nicht, solange ich im Hause bin!« rief Lady Southdown.

»Ich möchte Sie bitten, daran zu denken, meine Gnädigste, daß ich das Familienoberhaupt bin«, erwiderte Sir Pitt. »Bitte, Lady Jane, sei so gut, einen Brief an Mrs. Rawdon Crawley zu schreiben und um ihr Erscheinen bei diesem traurigen Ereignis zu bitten.«

»Jane, ich verbiete dir, die Feder zu ergreifen!« schrie die Gräfin.

»Ich glaube, ich bin das Familienoberhaupt«, wiederholte Sir Pitt, »und wie sehr ich auch jeden Umstand bedauern würde, der Sie, meine Gnädige, dazu bringen sollte, dies Haus zu verlassen, so muß ich doch fortfahren, nach meinem Ermessen darin zu herrschen.«

Lady Southdown erhob sich mit der Würde der Siddons 1 als Lady Macbeth 2 und befahl, ihren Wagen anspannen zu lassen. Wenn ihr Sohn und ihre Tochter sie aus dem Hause [87] jagten, so würde sie ihren Kummer irgendwo in der Einsamkeit verbergen und darum beten, daß die beiden zu besseren Gedanken bekehrt würden.

»Wir jagen dich doch nicht aus dem Haus, Mama«, sagte die schüchterne Lady Jane flehend.

»Ihr ladet eine Gesellschaft ein, der keine christliche Dame begegnen sollte, und ich will morgen früh meine Pferde haben.«

»Bitte, Jane, sei so gütig, zu schreiben, was ich diktiere«, sagte Sir Pitt, stand auf und gab sich eine gebieterische Haltung, wie auf dem »Porträt eines Gentleman« in der Ausstellung. »Fang bitte an: Queen's Crawley, 14. September 1822 – Mein lieber Bruder! ...«

Als Lady Macbeth, die auf ein Zeichen der Schwäche oder des Schwankens bei ihrem Schwiegersohn gewartet hatte, diese entschiedenen und schrecklichen Worte hörte, stand sie auf und verließ mit verstörtem Blick die Bibliothek. Lady Jane sah zu ihrem Mann auf, als wolle sie ihrer Mama gern folgen, um sie zu besänftigen, aber Pitt verbot ihr, sich von der Stelle zu rühren.

»Sie wird nicht gehen«, sagte er. »Sie hat ihr Haus in Brighton vermietet und ihr Einkommen vom letzten Halbjahr schon verbraucht. Eine Gräfin, die im Gasthaus lebt, ist so viel wie entehrt. Ich habe schon lange auf eine Gelegenheit gewartet – um diesen – diesen entscheidenden Schritt zu tun, meine Liebe; denn wie du einsehen mußt, es ist unmöglich, daß in einer Familie zwei Häupter regieren. Und nun, wenn du erlaubst, wollen wir mit dem Diktieren fortfahren. Mein lieber Bruder! Die traurige Nachricht, die ich pflichtgemäß meiner Familie mitteilen muß, ist wohl schon lange erwartet worden« und so weiter.

Mit einem Wort, nachdem Pitt zur Regierung gelangt und mit viel Glück oder vielmehr, wie er meinte, durch seine Verdienste fast das gesamte Vermögen erhalten hatte, das seine Verwandten erwartet hatten, entschloß er sich, seine Familie [88] freundlich und achtungsvoll zu behandeln und Queen's Crawley wieder gesellschaftsfähig zu machen. Er gefiel sich in dem Gedanken, Herr des Hauses zu sein. Er nahm sich vor, den großen Einfluß, den ihm seine überragende Fähigkeit und seine Stellung in der Grafschaft schnell erringen mußten, zu benutzen, seinem Bruder eine gute Stelle zu verschaffen und seine Vettern anständig zu versorgen. Vielleicht fühlte er auch leise Gewissensbisse bei dem Gedanken, daß er jetzt der Besitzer all dessen war, worauf sie gehofft hatten. Im Laufe seiner kurzen Regierungszeit hatte sich seine Haltung geändert, und seine Pläne standen fest: er beschloß, gerecht und ehrlich zu herrschen, Lady Southdown abzusetzen und mit all seinen Blutsverwandten auf möglichst gutem Fuß zu stehen.

Er diktierte also einen Brief an seinen Bruder Rawdon – einen feierlichen, kunstvoll abgefaßten Brief mit tiefsinnigen Bemerkungen in verschnörkelter Ausdrucksweise. Die einfache kleine Sekretärin, die ihn auf Befehl ihres Mannes niederschrieb, erfüllte er mit Bewunderung. Was er doch für einen Redner abgeben wird, dachte sie, wenn er erst ins Unterhaus kommt (diesen Punkt wie auch Lady Southdowns Herrschaftsbestrebungen hatte Pitt zuweilen gegenüber seiner Frau im Bett angedeutet); wie weise und gut und was für ein Genie mein Mann ist! Ich bildete mir ein, er sei etwas kühl, aber wie gut er doch ist und was für ein Genie!

In Wirklichkeit hatte Pitt Crawley den Brief Wort für Wort auswendig gelernt und hatte ihn sich mit diplomatischer Heimlichkeit lange gründlich durchdacht, ehe er es für angemessen hielt, ihn seiner erstaunten Frau mitzuteilen.


Diesen Brief, mit breitem Trauerrand und schwarzem Siegel, schickte Pitt an seinen Bruder, den Oberst in London. Rawdon Crawley zeigte sich beim Empfang nicht übermäßig erfreut. Was nützt es, in dieses langweilige Nest zu fahren? dachte er. Ich kann es nicht vertragen, nach dem Essen mit [89] Pitt allein zu sein, und die Pferde hin und zurück kosten uns zwanzig Pfund.

Er trug den Brief, wie alle Schwierigkeiten, in Beckys Schlafzimmer hinauf – mit ihrer Schokolade, die er ihr jeden Morgen zubereitete und hinaufbrachte.

Er stellte das Tablett mit dem Frühstück und dem Brief auf den Toilettentisch, an dem Becky saß und sich ihr blondes Haar kämmte. Sie nahm das schwarzgeränderte Schreiben, las es und sprang mit einem »Hurra« von ihrem Stuhl auf, wobei sie den Brief über ihrem Kopf schwenkte.

»Hurra?« sagte Rawdon fragend und blickte verwundert auf die kleine Gestalt, die im fliegenden Flanellschlafrock, mit aufgelösten goldenen Locken im Zimmer umhersprang. »Er hat uns nichts hinterlassen, Becky. Ich habe doch meinen Teil erhalten, als ich mündig wurde.«

»Du wirst nie mündig werden, du einfältiger alter Mann«, entgegnete Becky. »Lauf jetzt zu Madame Brunoy, denn ich muß ein bißchen Trauerkleidung haben; und kaufe du dir einen Trauerflor für den Hut und eine schwarze Weste – ich glaube, du hast keine –, sorge dafür, daß es uns morgen ins Haus gebracht wird, damit wir am Donnerstag abreisen können.«

»Du willst doch nicht etwa hinfahren«, fiel Rawdon ein.

»Natürlich will ich. Ich will, daß Lady Jane mich nächstes Jahr bei Hofe vorstellt. Ich will, daß dir dein Bruder einen Parlamentssitz verschafft, du dummer Alter. Ich will, daß Lord Steyne deine und seine Stimme erhält, mein lieber, einfältiger Alter, und daß du Staatssekretär für Irland oder Gouverneur in Westindien oder Schatzmeister oder Konsul oder so etwas Ähnliches wirst.«

»Die Postkutsche wird verdammt viel Geld kosten«, brummte Rawdon.

»Wir könnten in Southdowns Wagen fahren, die muß zum Begräbnis ja doch hinaus, da er ja mit der Familie verwandt ist; aber nein – ich denke, wir fahren lieber mit der Postkutsche. [90] Das wird ihnen besser gefallen. Es sieht bescheidener aus ...«

»Rawdon kommt doch natürlich mit?« fragte der Oberst.

»Nichts davon; warum sollten wir noch einen Platz bezahlen? Er ist zu groß, um noch zwischen dir und mir eingezwängt reisen zu können. Er soll ruhig hier im Kinderzimmer bleiben, und die Briggs kann ihm ein schwarzes Kittelchen machen. Geh nun und tu, was ich dir gesagt habe. Am besten erzählst du deinem Diener Sparks, daß der alte Sir Pitt tot ist und daß du ein hübsches Sümmchen bekommen wirst, wenn die Angelegenheit erst geordnet ist. Er wird es Raggles weitererzählen, der ja schon auf Geld gedrängt hat, und das wird den armen Raggles beruhigen.« Nach diesen Worten begann Becky ihre Schokolade zu schlürfen.

Als der treue Lord Steyne am Abend kam, fand er Becky und ihre Gesellschafterin, die niemand anders als unsere Freundin Briggs war, beim Zerschnippeln und Zerschneiden aller Arten von schwarzem Stoff, der sich für den traurigen Anlaß fand.

»Miss Briggs und ich sind in Kummer und Verzweiflung um den Tod unseres Papas versunken«, sagte Rebekka. »Sir Pitt Crawley ist gestorben, Lord. Den ganzen Morgen haben wir uns die Haare ausgerissen, und jetzt zerreißen wir unsere alten Kleider.«

»Oh, Rebekka, wie können Sie nur!« war alles, was die Briggs mit einem Augenaufschlag hervorbringen konnte.

»Oh, Rebekka, wie können Sie nur!« echote Lord Steyne. »So ist der alte Schuft also tot? Er hätte Peer werden können, wenn er seine Karte besser ausgespielt hätte. Mr. Pitt hätte ihn beinahe dazu gemacht, aber er wechselte die Partei immer zur Unzeit. Was für ein alter Silen er doch war.«

»Ich könnte Silens Witwe sein«, sagte Rebekka. »Wissen Sie noch, Miss Briggs, wie Sie durchs Schlüsselloch lugten und den alten Pitt vor mir auf den Knien sahen?« Unsere alte Freundin, Miss Briggs, errötete heftig bei dieser Erinnerung, [91] und sie war froh, als ihr Lord Steyne befahl, hinunterzugehen und ihm eine Tasse Tee zu machen.


Die Briggs war der Hofhund, den sich Rebekka zur Bewachung ihrer Unschuld und ihres guten Rufes angeschafft hatte. Miss Crawley hatte ihr eine kleine Jahresrente ausgesetzt. Sie wäre gern in der Familie Crawley bei Lady Jane geblieben, die gegen sie und jedermann gütig war; aber Lady Southdown entließ die arme Briggs, so schnell es die Schicklichkeit nur gestattete; und Mr. Pitt, der sich durch die unangebrachte Großmut sehr geschädigt vorkam, die seine verstorbene Verwandte gegenüber einer Dame zeigte, welche nur zwanzig Jahre Miss Crawley treu gedient hatte, erhob keine Einwendungen gegen die Autoritätsbeweise der verwitweten Gräfin. Auch Bowls und die Firkin erhielten ihre Erbschaft und ihren Abschied, heirateten und eröffneten eine Pension, wie es Leute ihres Schlages meist tun.

Die Briggs versuchte, bei ihren Verwandten auf dem Lande zu leben. Aber bald fand sie das nach der besseren Gesellschaft, die sie gewöhnt war, unmöglich. Diese Menschen, kleine Geschäftsleute in einem Landstädtchen, zankten sich um Miss Briggs' jähliche vierzig Pfund ebenso erbittert und dabei offener wie die Verwandten von Miss Crawley um deren Erbschaft. Der Bruder der Briggs, ein radikaler Hutmacher und Kolonialwarenhändler, nannte seine Schwester eine geldprotzige Aristokratin, weil sie nicht einen Teil ihres Kapitals zur Ausrüstung seines Ladens leihen wollte. Wahrscheinlich hätte sie das auch getan, aber ihre Schwester, eine pietistische Schuhmachersfrau, lag im Streit mit dem Hutmacher und Kolonialwarenhändler, weil dieser eine andere Kirche besuchte, und sie bewies, daß er dem Bankrott nahe sei, und sie belegte Miss Briggs eine Weile mit Beschlag. Der pietistische Schuhmacher wollte gern, daß Miss Briggs seinen Sohn auf die Universität schicken und einen Gentleman aus ihm machen würde. Die beiden Familien zogen ihr einen bedeutenden [92] Teil ihrer Privatersparnisse aus der Tasche. Schließlich floh sie, von den Verwünschungen beider verfolgt, nach London und beschloß, wieder in Dienste zu treten, die ihr unendlich weniger lästig erschienen als die Freiheit. Sie annoncierte daher in den Zeitungen, daß »eine Dame von angenehmen Manieren, an beste Gesellschaft gewöhnt, gern ...« und so weiter. Sie quartierte sich bei Mr. Bowls in der Half Moon Street ein und wartete auf das Ergebnis ihrer Anzeige.

So kam es, daß sie Rebekka wiedertraf. Mrs. Rawdons prächtige kleine Ponykutsche wirbelte eines Tages die Straße hinab, als Miss Briggs eben müde Mr. Bowls' Tür erreichte. Sie hatte einen Anstrengenden Marsch in die Innenstadt zum Büro der »Times« hinter sich, wo sie ihre Annonce zum sechstenmal aufgegeben hatte. Rebekka kutschierte selbst und erkannte die Dame von angenehmen Manieren sofort, und da sie, wie wir gesehen haben, eine gutmütige kleine Frau war und die Briggs schätzte, ließ sie die Ponys vor der Tür halten, gab die Zügel dem Knecht, sprang heraus und hatte beide Hände der Briggs ergriffen, ehe die mit den angenehmen Manieren sich von dem Schock über das Wiedersehen mit ihrer alten Freundin erholt hatte.

Die Briggs weinte und Becky lachte sehr und küßte die Dame, sobald sie in den Hausflur kamen und von da in Mrs. Bowls' Vorderzimmer mit den roten Moreenvorhängen 3 und dem runden Spiegel mit dem angeketteten Adler darüber, der auf die Rückseite des Zettels im Fenster blickte, worauf man »möblierte Zimmer zu vermieten« lesen konnte.

Die Briggs erzählte ihre ganze Geschichte unter völlig unangebrachten Schluchzern und Ausrufen der Verwunderung, womit Frauen ihrer weichen Natur eine alte Bekannte begrüßen oder eine Begegnung auf der Straße beobachten; denn obwohl die Leute einander täglich treffen, so gibt es doch einige, die unbedingt ein Wunder dabei entdecken wollen. Sogar Frauen, die sich früher gehaßt haben, brechen in Tränen [93] aus, wenn sie sich treffen, und gedenken jammernd der Zeit, wo sie sich zuletzt gezankt haben. Mit einem Wort, die Briggs erzählte ihre ganze Geschichte auf diese Weise, und Becky gab mit ihrer gewöhnlichen harmlosen Offenheit einen Bericht über ihr Leben.

Mrs. Bowls, die ehemalige Firkin, lauschte im Hausflur finster dem hysterischen Geheule und Gekichere, das man im Vorderzimmer vernehmen konnte. Sie hatte Becky nie leiden können. Seitdem sich das Ehepaar in London niedergelassen hatte, hatten sie häufig ihre früheren Freunde Raggles besucht. Der Bericht Raggles' über die Haushaltsführung des Obersten mißfiel ihnen. »Ich für mein Teil würde ihm nicht trauen, Ragg, mein Junge«, hatte Bowls bemerkt. Als daher Mrs. Rawdon aus dem Zimmer trat und darauf bestand, der ehemaligen Kammerfrau die Hand zu schütteln, begrüßte diese sie nur mit einem mürrischen Knicks, und ihre Finger lagen kalt und leblos wie Würstchen in Mrs. Rawdons Hand. Dann wirbelte Rebekka wieder nach Piccadilly, nachdem sie der nickend am Fenster, direkt unter dem Vermietanzeiger, lehnenden Miss Briggs ebenfalls mit süßem Lächeln zugenickt hatte, und im nächsten Augenblick befand sie sich im Park, mit einem halben Dutzend Stutzern zu Pferde hinter ihrem Wagen.

Als Becky entdeckte, wie ihre Freundin gestellt war und daß es ihr bei der hübschen Erbschaft von Miss Crawley nicht auf ein Gehalt ankomme, entwarf sie sofort ein paar menschenfreundliche häusliche Pläne in bezug auf sie. Diese war gerade die Gesellschafterin, die für ihren Haushalt paßte, und sie lud die Briggs noch am gleichen Abend zum Essen ein, wo sie ihr ihren teuren kleinen Liebling Rawdon zeigen wollte.

Mrs. Bowls warnte ihre Mieterin davor, sich in die Höhle des Löwen zu wagen. »Sie werden es bereuen, Miss Briggs – denken Sie an meine Worte –, so wahr ich Bowls heiße.« Die Briggs versprach, sehr vorsichtig zu sein. Das Resultat [94] dieser Vorsicht war, daß sie eine Woche darauf zu Mrs. Rawdon zog und noch vor Ende des ersten halben Jahres Rawdon Crawley sechshundert Pfund auf Zinsen geliehen hatte.

Fußnoten

1 Sarah Siddons (1755-1831), englische Schauspielerin; wurde berühmt durch ihre meisterhafte Darstellung von Tragödienheldinnen.

2 die finstere und mordgierige Gemahlin von Macbeth in Shakespeares Tragödie »Macbeth«.

3 (engl.) eine Art Wolldamast.

41. Kapitel
In dem Becky die Hallen ihrer Väter wieder besucht

Sobald die Trauerkleidung fertig war und Sir Pitt Crawley von ihrem Kommen Kenntnis erhalten hatte, belegten Oberst Crawley und seine Frau zwei Plätze in derselben prachtvollen alten Postkutsche, worin Rebekka in Gesellschaft des seligen Baronets vor nunmehr fast neun Jahren ihre erste Reise in die Welt angetreten hatte. Wie deutlich erinnerte sie sich des Gasthofs und des Stallknechts, dem sie kein Trinkgeld gegeben hatte, und des einschmeichelnden Studenten, der sie während der Fahrt in seinen Überrock gehüllt hatte! Rawdon wählte seinen Platz außen und hätte am liebsten selbst kutschiert, aber dies verbot seine Trauer. Er saß neben dem Kutscher und unterhielt sich mit ihm während der ganzen Fahrt über Pferde und die Straße, und wer der Besitzer der einzelnen Gasthäuser war, und wem die Pferde der Postkutsche gehörten, mit der er und Pitt als Jungen so oft nach Eton gefahren waren. In Mudbury erwartete sie ein Wagen mit zwei Pferden und einem schwarzgekleideten Kutscher. »Es ist das alte Vehikel, Rawdon«, sagte Rebekka, als sie einstiegen. »Der Stoff ist ganz wurmzerfressen – und da ist auch der Fleck, um den Sir Pitt – ha! Dawson, der Eisenhändler, hat seine Fenster ja auch verhängt –, um den Sir Pitt solchen Lärm gemacht hat. Er stammt von einer Flasche Kirschbranntwein, die er zerbrochen hat. Wir hatten sie für deine Tante aus Southampton geholt. Wie die Zeit vergeht, das kann doch wohl nicht Polly Talboys sein, das ausgewachsene Mädchen, das dort bei ihrer Mutter vor dem Häuschen steht. [95] Ich habe sie noch als kleine Rotznase gekannt, die im Garten Unkraut jätete.«

»Hübsches Mädchen«, sagte Rawdon und erwiderte den Gruß von dem Häuschen, indem er zwei Finger an den Trauerflor seines Hutes legte. Becky verneigte sich und grüßte die Leute hier und da gnädig. Dieses Grüßen war ihr äußerst angenehm. Es schien ihr, daß sie keine Schwindlerin mehr sei, sondern in die Heimat ihrer Väter zurückkehrte. Rawdon dagegen war ziemlich beschämt und niedergeschlagen. Was für Erinnerungen an Jugend und Unschuld mochten ihm durch den Kopf gehen? Welche Gefühle von Zweifel, unbestimmter Reue und Scham mochte er empfinden?

»Deine Schwestern müssen jetzt erwachsen sein«, sagte Rebekka, die vielleicht zum erstenmal, seit sie die Mädchen verlassen hatte, an sie dachte.

»Weiß wirklich nicht«, erwiderte der Oberst. »Hallo, da ist ja die alte Mutter Lock. Wie geht's, Mrs. Lock. Kennen Sie mich nicht mehr? Master Rawdon, he? Verdammt, was die alten Weiber für ein zähes Leben haben; sie war hundert, als ich noch ein Junge war.«

Sie fuhren durch das Parktor, das von der alten Mrs. Lock bewacht wurde.

Rebekka mußte ihr unbedingt die Hand schütteln, als sie das kreischende alte Eisentor aufriß, und der Wagen fuhr zwischen den beiden moosbewachsenen Eisenpfeilern mit der Taube und der Schlange hindurch.

»Der Alte hat aber die Bäume gehauen«, sagte Rawdon und sah sich um. Dann verstummte er, und auch Becky schwieg. Beide waren erregt und dachten an alte Zeiten. Er an Eton und seine Mutter, die ihm als kalte, ehrbare Frau in Erinnerung geblieben war, und an eine früh verstorbene Schwester, die er leidenschaftlich geliebt hatte, und daran, wie er Pitt verdroschen hatte, und an den kleinen Rawdy daheim. Und Rebekka an ihre eigene Jugend und die dunklen Geheimnisse jener frühen vergifteten Tage und ihren Eintritt ins [96] Leben durch die Pforte da, und an Miss Pinkerton, und Joseph, und Amelia.

Der Kiesweg und die Terrassen waren gesäubert worden. Über dem Haupteingang hing bereits ein großes gemaltes Trauerwappen, und zwei sehr feierliche, hochgewachsene Gestalten in Schwarz rissen jeder einen Türflügel auf, als der Wagen an der wohlbekannten Treppe vorfuhr. Rawdon wurde rot und Becky etwas bleich, als sie Arm in Arm durch die alte Halle gingen. Sie kniff ihren Mann in den Arm, als sie in das eichengetäfelte Zimmer traten, wo Sir Pitt und seine Frau standen, sie zu empfangen: Sir Pitt in Schwarz, Lady Jane in Schwarz und Lady Southdown mit einem großen schwarzen Kopfputz von Glasperlen und Federn, der auf dem Kopf der Dame wippte wie der Püschel auf einem Leichenwagen.

Sir Pitt hatte richtig vermutet, daß sie das Haus nicht verlassen würde. Sie begnügte sich in Gegenwart von Pitt und seiner rebellischen Frau mit einem feierlichen, frostigen Schweigen und damit, die Kleinen im Kinderzimmer durch ihre gespenstisch düstere Miene zu erschrecken. Nur ein schwaches Nicken mit dem Federbusch begrüßte Rawdon und seine Frau, als diese ungeratenen Kinder in den Schoß der Familie zurückkehrten.

Um die Wahrheit zu sagen, sie ließen sich von dieser Kälte nicht sehr beeindrucken. Seltsamerweise war Lady Southdown in diesem Augenblick nur von zweitrangiger Bedeutung für sie – ihre Aufmerksamkeit richtete sich mehr auf den Empfang, den ihnen der regierende Bruder und die Schwägerin bereiten würden.

Pitt kam mit etwas gerötetem Gesicht seinem Bruder entgegen und schüttelte ihm die Hand. Rebekka begrüßte er mit einem Händedruck und einer sehr tiefen Verbeugung. Lady Jane ergriff jedoch ihre Schwägerin bei den Händen und küßte sie liebevoll. Die Umarmung trieb der kleinen Abenteuerin irgendwie Tränen in die Augen – einen Schmuck, den [97] sie nur selten trug. Dieses arglose Zeichen von Güte und Vertrauen rührte und erfreute sie; und Rawdon, von dieser Demonstration seiner Schwägerin ermutigt, zwirbelte seinen Schnurrbart und erlaubte sich, Lady Jane mit einem Kuß zu begrüßen, wobei die Lady über und über errötete.

»Verteufelt nettes Frauchen, diese Lady Jane«, war sein Urteil, als er mit seiner Frau wieder allein war. »Pitt ist fett geworden und nimmt sich gut aus.« – »Er kann es sich auch leisten«, sagte Rebekka; sie stimmte aber ihrem Gemahl bei, daß die Schwiegermutter eine schreckliche alte Vogelscheuche sei und die Schwestern ganz hübsch aussähen.

Man hatte auch die beiden aus dem Pensionat kommen lassen, damit sie den Beerdigungsfeierlichkeiten beiwohnen könnten. Es schien, als ob Sir Pitt Crawley es um der Würde des Hauses und der Familie willen für angemessen gehalten hätte, so viele Menschen in Schwarz, wie nur aufzubringen waren, in Queen's Crawley zu versammeln. Alle männlichen und weiblichen Dienstboten des Hauses, die alten Frauen im Armenhaus, die Sir Pitt der Ältere um den größten Teil von ihrem Hab und Gut betrogen hatte, die Familie des Küsters und viele andere, die mit dem Schloß oder dem Pfarrhaus zu tun hatten, waren schwarz gekleidet; dazu kamen noch mindestens zwanzig Leute des Beerdigungsunternehmers mit Trauerflor und schwarzem Hutband, die bei dem großen Begräbnisschauspiel einen guten Hintergrund abgaben; aber sie sind stumme Darsteller in unserem Drama, und da sie nichts zu tun oder zu sagen haben, brauchen sie hier nur einen geringen Platz einzunehmen.

Ihren Schwägerinnen gegenüber machte Rebekka keinen Versuch, ihre frühere Stellung als Gouvernante in Vergessenheit zu bringen, sondern sie sprach offenherzig und freundlich mit ihnen darüber, erkundigte sich ernsthaft nach ihren Studien und erzählte ihnen, daß sie oft und oft an sie gedacht habe und sehr begierig gewesen sei, zu erfahren, wie es ihnen ginge. Man hätte tatsächlich glauben können, sie habe seit [98] ihrer Trennung nie aufgehört, stets und ständig an sie zu denken und den zärtlichsten Anteil an ihrem Wohlergehen zu nehmen. So wenigstens glaubten Lady Crawley und ihre jungen Schwägerinnen.

»Sie hat sich in den acht Jahren kaum verändert«, bemerkte Miss Rosalind zu Miss Violet, als sie sich fürs Essen umkleideten.

»Diese rothaarigen Frauen sehen erstaunlich gut aus«, entgegnete die andere.

»Ihr Haar ist jetzt viel dunkler, als es früher war; ich glaube, sie färbt es; sie ist auch stärker geworden und hat in jeder Hinsicht gewonnen«, fügte Miss Rosalind hinzu, die Anlage hatte, sehr dick zu werden.

»Wenigstens ist sie nicht eingebildet und hat nicht vergessen, daß sie einmal unsere Gouvernante gewesen ist«, sagte Miss Violet und deutete damit an, daß es für Gouvernanten angemessen sei, sich in Schranken zu halten. Dabei übersah sie ganz, daß sie nicht nur die Enkelin von Sir Walpole Crawley, sondern auch von Mr. Dawson aus Mudbury war und daher eine Kohlenschaufel im Wappen führte. Es gibt viele wohlmeinende Leute, die man täglich auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit trifft und die ebenso vergeßlich sind.

»Es kann doch wohl nicht wahr sein, was die Mädchen im Pfarrhaus gesagt haben, daß ihre Mutter eine Ballettänzerin war ...«

»Kein Mensch kann für seine Geburt«, entgegnete Rosalind sehr freisinnig. »Ich für mein Teil stimme unserem Bruder bei, daß wir sie natürlich auch beachten müssen, da sie nun einmal in der Familie ist. Tante Bute soll ganz still sein; sie will Kate an den jungen Hooper, den Weinhändler, verheiraten und hat ihn sogar aufgefordert, ins Pfarrhaus zu kommen und Bestellungen entgegenzunehmen.«

»Ich möchte wissen, ob Lady Southdown das Haus verläßt; sie hat Mrs. Rawdon sehr finster angesehen«, sagte die andere.

[99] »Ich wünschte, sie täte es. Ich will die ›Apfelfrau von Finchley‹ nicht lesen«, beteuerte Violet, und mit diesen Worten gingen die beiden Mädchen zum Familienmahl, zu dem die Glocke wie gewöhnlich ertönte. Dabei vermieden sie einen Gang, an dessen Ende ein gewisser Sarg stand, von zwei Wächtern bewacht und beleuchtet von Kerzen, die in dem verschlossenen Zimmer ständig brannten.

Vor dem Essen jedoch führte Lady Jane Rebekka in die für sie bestimmten Gemächer, die wie das ganze übrige Haus unter Pitts Regierung viel ordentlicher und behaglicher geworden waren. Als sie sah, daß Mrs. Rawdons bescheidene Köfferchen angekommen und ins Schlafzimmer und den angrenzenden Ankleideraum gebracht worden waren, half sie ihr, den netten schwarzen Hut und den Mantel abzulegen und fragte ihre Schwägerin, womit sie ihr sonst dienen könnte.

»Am liebsten«, sagte Rebekka, »möchte ich ins Kinderzimmer gehen und Ihre lieben Kinderchen sehen.« Draufhin blickten sich beide Damen sehr freundlich an und gingen Hand in Hand dorthin.

Becky bewunderte die kleine Matilda, die noch nicht ganz vier Jahre alt war, als den bezauberndsten kleinen Engel der Welt und den Knaben, einen kleinen bleichen Burschen von zwei Jahren, mit schweren Augenlidern und großem Kopf, als ein wahres Wunder an Größe, Verstand und Schönheit.

»Ich wünschte nur, Mama wollte ihm nicht unbedingt immer so viel Medizin geben«, sagte Lady Jane mit einem Seufzer. »Ich denke oft, ohne ginge es uns allen viel besser.« Dann führten Lady Jane und ihre neue Freundin eines jener vertraulichen Gespräche über Medizin und Kinder, an denen alle Mütter und, wie ich höre, die meisten Frauen das größte Vergnügen finden. Der Verfasser dieser Geschichte erinnert sich noch gut der Zeit von fünfzig Jahren, als er ein interessanter kleiner Knabe war und nach dem Essen mit den Damen das Zimmer verlassen mußte. Dabei drehten sich deren Gespräche hauptsächlich um ihre Krankheiten, und als [100] er später ein paar von ihnen direkt fragte, wurde ihm bestätigt, daß sich die Zeiten nicht geändert hätten. Meine schönen Leserinnen mögen noch heute abend selbst ihre Beobachtungen anstellen, wenn sie nach dem Dessert die Tafel verlassen und sich versammeln, um den Salondienst abzuhalten. Nun, nach einer halben Stunde jedenfalls waren Becky und Lady Jane vertraute Freundinnen – und im Laufe des Abends äußerte die Lady gegenüber Sir Pitt, daß sie ihre neue Schwägerin für eine freundliche, offene, unaffektierte und liebevolle junge Frau halte.

Nachdem die unermüdliche kleine Frau leicht Lady Janes Zuneigung erworben hatte, machte sie sich daran, die erlauchte Mutter zu gewinnen. Sobald Rebekka Lady Southdown allein traf, überfiel sie sie sofort mit Fragen des Kinderzimmers und erklärte, daß ihr eigener kleiner Knabe durch den reichlichen Gebrauch von Kalomel gerettet, im wahrsten Sinne gerettet worden sei, als alle Pariser Ärzte das liebe Kind schon aufgegeben hatten. Sodann erwähnte sie, wie oft sie durch Ehrwürden Lawrence Grills von Lady Southdown gehört hatte. Dieser vortreffliche Mann sei doch der Prediger der Kapelle in Mayfair, die sie häufig besuchte. Ihre Ansichten hätten sich durch die Verhältnisse und Unglücksfälle sehr geändert, und sie hoffte, daß ihr früheres Leben in Weltlichkeit und Irren sie nicht unfähig gemacht habe, in Zukunft ernsthaftere Gedanken zu hegen. Sie erzählte, wie sie Sir Pitt Crawley für seine einstmaligen religiösen Unterweisungen zu Dank verpflichtet sei, und erwähnte die »Apfelfrau von Finchley«, die sie mit dem größten Nutzen gelesen habe, und erkundigte sich nach Lady Emily, der genialen Verfasserin, jetzt Lady Emily Hornblower in Kapstadt, wo ihr Gemahl beste Aussichten hatte, Bischof von Kaffraria 1 zu werden.

Sie krönte jedoch ihre Bemühungen und sicherte sich Lady Southdowns Gunst dadurch, daß sie sich nach der Beerdigung sehr aufgeregt und unwohl fühlte und den medizinischen Rat [101] der Lady erbat. Die verwitwete Gräfin erteilte ihr nicht nur diesen, sondern kam in der Nacht, in ein Schlafgewand gehüllt, mehr denn je Lady Macbeth gleichend, höchstpersönlich in Rebekkas Schlafzimmer mit einem Paket ihrer Lieblingstraktate und einer eigenhändig zusammengebrauten Medizin, die Mrs. Rawdon unbedingt einnehmen müßte.

Becky nahm zuerst die Traktate, begann sie mit großem Interesse durchzusehen. Dabei verwickelte sie die verwitwete Gräfin in ein Gespräch über die Schriften und ihr eigenes Seelenheil, wodurch sie hoffte, ihren Körper vor der Medizin zu bewahren. Nachdem jedoch das religiöse Thema erschöpft war, wollte Lady Macbeth Beckys Zimmer nicht verlassen, ehe sie nicht auch das Glas mit ihrem Nachttrunk geleert hatte. Die arme Mrs. Rawdon mußte also tatsächlich einen dankbaren Blick zeigen und die Medizin unter der Nase der unerbittlichen alten Gräfin hinunterschlucken, die dann endlich ihr Opfer mit einem Segenswunsch verließ.

Der Trank hatte Mrs. Rawdon nicht sonderlich erquickt. Sie sah recht unwohl aus, als Rawdon eintrat und hörte, was geschehen war; seine Lachsalve ertönte so laut wie gewöhnlich, als Becky mit dem ihr angeborenen Humor, wenn auch auf ihre eigenen Kosten, davon berichtete, wie sie Lady Southdown zum Opfer gefallen war. Lord Steyne und der Sohn der Lady in London lachten noch oft über die Geschichte, nachdem Rawdon und seine Frau zu ihrer Wohnung in Mayfair zurückgekehrt waren. Becky spielte ihnen die ganze Szene vor, sie setzte eine Nachthaube auf und zog ein Nachthemd an, hielt eine lange Predigt in echt pietistischer Manier und ließ sich über die Vortrefflichkeit der Arznei aus, die sie scheinbar verordnete, mit einem so gut nachgeahmten Ernst, daß man wirklich hätte glauben können, es sei die römische Nase der Gräfin, durch die sie schnüffelte. »Spielen Sie doch bitte Gräfin Southdown und das Abführmittel«, war der ewige Schlachtruf der Gesellschaft in Beckys kleinem [102] Salon in Mayfair, und zum erstenmal in ihrem Leben trug die verwitwete Gräfin Southdown etwas zur Unterhaltung bei.

Sir Pitt, der die Achtung und Ehrerbietung, die ihm Rebekka in früherer Zeit entgegenbrachte, nicht vergessen hatte, war ihr ganz wohlgesinnt. Die Heirat, so unbesonnen sie auch war, hatte auf Rawdon doch einen guten Einfluß ausgeübt. Das merkte man deutlich an dem veränderten Benehmen und der neuen Lebensweise des Obersten – und hatte die Verbindung nicht letzten Endes Pitts Glück bewirkt? Der schlaue Diplomat lächelte in sich hinein, wenn er sich gestand, daß er ihr sein Vermögen verdankte und daß er eigentlich nichts dagegen sagen dürfte. Seine Befriedigung wurde weder durch Rebekkas Bemerkungen noch durch ihr Benehmen oder ihre Unterhaltung beeinträchtigt.

Sie verdoppelte die Ehrerbietung, die ihn früher bezaubert hatte, und stellte seine Redegabe in ein so günstiges Licht, daß Pitt selbst darüber erstaunt war. Stets geneigt, seine eigenen Talente wertzuschätzen, bewunderte er sie um so mehr, wenn Rebekka ihn darauf aufmerksam machte. Ihrer Schwägerin konnte Rebekka sehr leicht beweisen, daß Mrs. Bute Crawley die Heirat zustande gebracht hatte, die sie später so sehr verleumdete, und daß Mrs. Butes Habsucht alle die gottlosen Gerüchte über Rebekka erfand, weil sie hoffte, damit Miss Crawleys gesamtes Vermögen zu erhalten und Rawdon der Gunst seiner Tante zu berauben. »Es ist ihr gelungen, uns arm zu machen«, sagte Rebekka mit einer Miene engelhafter Ergebung, »wie könnte ich aber einer Frau böse sein, die mir einen der besten Männer der Welt verschafft hat? Und ist nicht ihre Habgier genügend bestraft worden durch das Scheitern ihrer eigenen Hoffnungen und den Verlust des Vermögens, worauf sie so großen Wert legte? Arm!« rief sie. »Teuerste Lady Jane, was kümmert uns die Armut! Ich bin von Kindheit auf daran gewöhnt und bin dankbar, daß Miss Crawleys Geld dazu verwendet wurde, den Glanz der edlen alten Familie wiederherzustellen, zu [103] der zu gehören ich so stolz bin. Ich bin überzeugt, daß Sir Pitt einen viel besseren Gebrauch davon machen wird, als Rawdon es getan hätte.«

All diese Reden wurden Pitt von der treuesten aller Gemahlinnen hinterbracht und erhöhten noch den günstigen Eindruck, den Rebekka gemacht hatte. Es ging sogar so gut, daß Sir Pitt drei Tage nach dem Begräbnis, als die Familie beim Essen saß und er als Oberhaupt das Geflügel zerlegte, zu Mrs. Rawdon sagte: »E-hm! Rebekka, darf ich Ihnen einen Flügel geben?« – Worte, die die Augen der kleinen Frau vor Freude funkeln ließen.


Während Rebekka die obenerwähnten Pläne und Hoffnungen verfolgte und Pitt Crawley die Begräbnisfeierlichkeiten und andere Angelegenheiten seiner künftigen Größe und Würde ordnete, während Lady Jane im Kinderzimmer beschäftigt war, soweit es ihre Mutter zuließ, während die Sonne auf- und unterging und die Turmglocke des Schlosses wie gewöhnlich zum Essen und Beten rief, lag der Leichnam des ehemaligen Besitzers von Queen's Crawley in dem Zimmer, das er bewohnt hatte, und bei ihm wachten ständig die zu diesem Zweck gemieteten Leute. Ein oder zwei Frauen und ein paar Männer des Beerdigungsunternehmers – die, die man in Southampton auftreiben konnte, ganz in Schwarz und mit der angemessenen geräuschlosen und tragischen Haltung, versahen diese Pflicht, abwechselnd an den sterblichen Überresten des Baronets zu wachen, und wenn sie abgelöst wurden, versammelten sie sich im Zimmer der Haushälterin, wo sie ungestört Karten spielten und ihr Bier tranken.

Die Familienmitglieder und die Dienerschaft des Hauses mieden den düsteren Ort, wo die Gebeine des Abkömmlings einer langen Reihe von Rittern und Edelleuten ihrer endgültigen Übersiedelung in die Familiengruft harrten. Niemand betrauerte den alten Mann außer der armen Frau, die gehofft hatte, Sir Pitts Gemahlin und Witwe zu werden, und [104] die in Schande aus dem Schloß geflohen war, das sie fast schon regiert hatte. Außer ihr und einem alten Jagdhund, dessen Zuneigung er sich in der Zeit seines Schwachsinns erworben hatte, besaß der Alte keinen einzigen Freund, der ihn betrauert hätte. Er hatte sich aber auch in seinem ganzen Leben nie die geringste Mühe gegeben, einen Freund zu erringen. Hätten die Besten und Gütigsten von uns nach ihrem Scheiden von der Erde die Möglichkeit, sie wieder zu besuchen, so würden sie, wenn es in den Sphären, wohin wir reisen, überhaupt noch die Gefühle des Jahrmarkts der Eitelkeit gibt, sicherlich tief betrübt sein, zu sehen, wie bald sich die Überlebenden getröstet haben. So war also Sir Pitt vergessen – wie die Besten und Gütigsten von uns – nur ein paar Wochen früher.

Diejenigen, die Lust dazu verspüren, mögen seinen sterblichen Überresten zum Grabe folgen, wohin sie am festgesetzten Tag in geziemender Weise gebracht wurden. Die Familie begleitete sie in schwarzen Kutschen, mit den Taschentüchern vor der Nase, bereit für die Tränen, die nicht kamen; der Begräbnisunternehmer und seine Leute waren sehr betrübt. Die größeren Pächter trauerten aus Rücksicht auf ihren neuen Herrn. Die Kutschen der benachbarten Gutsbesitzer kamen aus drei Meilen im Umkreis leer in tiefer Trauer. Der Pfarrer sagte seine Formel über »unseren lieben verschiedenen Bruder« her. Solange wir noch im Besitz eines menschlichen Körpers sind, machen wir ihn zum Spielball unserer Eitelkeit, veranstalten um ihn hohle Zeremonien, bahren ihn auf, umgeben ihn mit vergoldeten Nägeln und Samt und beenden unsere Pflichten gegen ihn dadurch, daß wir einen Stein, vollgeschrieben mit Lügen, darüberlegen.

Butes Unterpfarrer, ein eleganter Bursche von Oxford, und Sir Pitt Crawley verfaßten gemeinsam eine passende lateinische Grabinschrift für den seligen Baronet, und der Unterpfarrer hielt eine klassische Predigt, in der er die Überlebenden ermahnte, sich nicht vom Kummer überwältigen [105] zu lassen, und sie ehrerbietig darauf hinwies, daß man auch sie eines Tages auffordern würde, durch die düstere und geheimnisvolle Pforte zu gehen, die sich hinter den sterblichen Überresten ihres vielbeweinten Bruders geschlossen habe. Dann stiegen die Pächter wieder aufs Pferd oder blieben und erquickten sich bei einem Trunk im »Wappen Crawleys«. Nach einem Frühstück in der Gesindestube von Queen's Crawley rollten die Kutschen der Gutsbesitzer wieder in die verschiedensten Richtungen davon; dann packten die Leute des Begräbnisunternehmers die Seile, die Bahrtücher, Samtbehänge, Straußenfedern und anderen Begräbnisrequisiten wieder ein, kletterten auf das Dach des Leichenwagens und fuhren ab nach Southampton. Ihre Gesichter entspannten sich wieder zu einem natürlichen Ausdruck, als die Pferde das Parktor hinter sich gelassen hatten und auf der offenen Straße in einen lebhaften Trab fielen, und man hätte dann sehen können, wie der ganze Haufen die Wirtshaustüren verdunkelte, und dazwischen Zinnkrüge, die im Sonnenschein blitzten. Sir Pitts Krankenstuhl wurde in einen Geräteschuppen im Garten gerollt; der alte Jagdhund heulte in der ersten Zeit ein paarmal, aber das waren auch die einzigen kummervollen Laute, die man in dem Schloß hörte, dessen Besitzer Sir Pitt Crawley, Baronet, mehr als sechzig Jahre lang gewesen war.

Da es Rebhühner in Massen gab und die Jagd gewissermaßen zu den Pflichten eines englischen Gentleman gehört, der eine Neigung zum Staatsdienst hat, so nahm Sir Pitt, nachdem die erste schmerzliche Erschütterung vorüber war, in einem weißen Hut mit Trauerflor ein wenig an dieser Zerstreuung teil. Der Anblick dieser Stoppel- und Rübenfelder, die jetzt ihm gehörten, bereitete ihm eine geheime Freude. Zuweilen nahm er mit ausgesuchter Demut keine Flinte, sondern nur einen friedlichen Bambusstock mit, während sein großer Bruder Rawdon und die Wildhüter neben ihm drauflosfeuerten. Pitts Geld und Landbesitz machten auf seinen [106] Bruder einen tiefen Eindruck. Der mittellose Oberst wurde direkt unterwürfig und ehrerbietig gegenüber dem Oberhaupt des Hauses und verachtete den Milchbart Pitt nicht mehr. Rawdon lauschte interessiert den Pflanzungs- und Bewässerungsplänen seines älteren Bruders, gab seine Ratschläge über die Ställe und das Vieh, ritt nach Mudbury, um eine Stute anzusehen, die ihm als Reitpferd für Lady Jane geeignet schien, und erbot sich, sie zuzureiten. Der rebellische Dragoner war jetzt ganz bescheiden und demütig und ein höchst verständiger jüngerer Bruder geworden. Er erhielt laufend Berichte von Miss Briggs aus London über den kleinen Rawdon, der dort zurückgeblieben war. Mitunter schrieb der Junge auch selbst. »Mir geht es gut«, schrieb er. »Ich hoffe, Dir geht es sehr gut. Ich hoffe, der Mama geht es sehr gut. Dem Pony geht es sehr gut. Grey nimmt mich zum Reiten mit in den Park. Ich kann Trab reiten. Ich habe den kleinen Jungen wiedergetroffen, der schon einmal geritten ist. Er hat geweint, als er Trab geritten ist. Ich weine nicht.« Rawdon las diese Briefe seinem Bruder und Lady Jane vor, die davon entzückt war; der Baronet versprach, für die Ausbildung des Knaben zu sorgen, und seine gutherzige Frau gab Rebekka eine Banknote und bat sie, dafür ein Geschenk für ihren kleinen Neffen zu kaufen.

Ein Tag folgte dem anderen, und die Damen des Hauses verbrachten ihre Zeit mit jenen ruhigen Beschäftigungen und Unterhaltungen, mit denen sich die Damen vom Lande zufriedengeben. Die Glocke rief zum Essen und zum Beten. Die jungen Damen übten täglich nach dem Frühstück auf dem Klavier, wobei Rebekka so gütig war, sie zu unterweisen; dann zogen sie derbe Schuhe an und streiften durch den Park oder die Büsche oder gingen jenseits der Parkumfassung in die Dörfer und fielen mit Lady Southdowns Arzneien und Traktaten in die Hütten ein, wo sich Kranke befanden. Lady Southdown fuhr in einem Ponywagen aus und hatte dabei oft Rebekka neben sich, die mit dem größten [107] Interesse den feierlichen Reden der verwitweten Gräfin zuhörte. Abends sang Mrs. Rawdon der Familie Stücke von Händel und Haydn vor und begann mit einer großen Strickarbeit, als ob sie dazu geboren wäre und diese Lebensweise fortsetzen sollte, bis sie in glänzendem hohem Alter ins Grab sinken und Trauer und eine große Menge Staatspapiere hinterlassen würde – als ob keine Sorgen und Gläubiger, keine Pläne, Ausflüchte und Armut außerhalb des Parktores auf sie warteten, um sich auf sie zu stürzen, sobald sie wieder in die Welt hinaustrat.

Es ist nicht schwer, die Frau eines Landedelmannes zu sein, dachte Rebekka. Ich glaube, ich könnte mit fünftausend Pfund jährlich auch eine gute Frau werden. Ich könnte meine Zeit im Kinderzimmer totschlagen und die Aprikosen am Spalier zählen. Ich könnte die Pflanzen im Gewächshaus begießen und die abgestorbenen Blätter von den Geranien abknipsen. Ich könnte mich bei alten Frauen nach ihrem Rheumatismus erkundigen und den Armen für eine halbe Krone Suppe kochen lassen. Bei fünftausend pro Jahr würde ich das kaum merken. Ich könnte sogar zehn Meilen weit zu einem Nachbarn zum Essen fahren und mich nach der Mode des vorletzten Jahres kleiden. Ich könnte zur Kirche gehen und mich in dem großen Familienstuhl wach halten oder hinter den Vorhängen bei herabgelassenem Schleier schlafen, wenn ich erst ein bißchen Übung hätte. Ich könnte alle bezahlen, wenn ich nur das Geld hätte. Dies ist es, worauf die Taschenspieler hier so stolz sind. Sie blicken mitleidig auf uns arme Sünder herab, die keins haben. Sie halten sich für großzügig, wenn sie unseren Kindern eine Fünfpfundnote schenken, und verachten uns, weil wir nichts haben.

Wer weiß, vielleicht hatte Rebekka mit ihren Gedanken recht, und es war bloß eine Geld- und Vermögensfrage, die den Unterschied zwischen ihr und einer ehrbaren Frau ausmachte. Wer kann behaupten, er sei besser als sein Nachbar, wenn er die Versuchung in Betracht zieht? Wenn bequemes [108] Wohlleben den Menschen nicht ehrlich macht, so hält es ihn doch wenigstens auf der Bahn des Rechts. Ein vom Schildkrötenmahl kommender Alderman wird nicht aus der Kutsche steigen, um eine Hammelkeule zu stehlen; aber man lasse ihn hungern und warte ab, ob er nicht einen Laib Brot mitgehen heißt. Becky tröstete sich damit, daß sie auf diese Weise die Glücksfälle gegeneinander abwog und die Verteilung des Guten und Bösen in der Welt ausglich.

Sie suchte die alten Spazierwege, die alten Felder und Wälder, die Wäldchen, Teiche und Gärten und die Zimmer des alten Hauses, wo sie vor sieben Jahren viele Monate zugebracht hatte, alle wieder auf. Sie war damals jung gewesen oder doch vergleichsweise, denn sie konnte sich keiner Zeit entsinnen, wo sie richtig jung gewesen war – aber sie gedachte ihrer Gefühle und Gedanken vor sieben Jahren und verglich sie mit ihren jetzigen, nun, da sie die Welt gesehen hatte und mit vornehmen Leuten lebte und weit über ihre ursprüngliche bescheidene Stellung hinausgewachsen war.

Ich habe mich hochgearbeitet, weil ich Verstand besitze und fast die ganze Welt sonst aus Narren besteht, dachte Rebekka. Jetzt könnte ich gar nicht mehr zurück zu jenen Leuten, die ich in meines Vaters Atelier traf. Jetzt erscheinen Lords mit Orden und Sternen an meiner Tür statt armer Künstler mit Tabakspäckchen in der Tasche. Ich habe einen Gentleman zum Mann und eine Grafentochter zur Schwägerin in demselben Haus, wo ich noch vor ein paar Jahren kaum etwas Höheres als ein Dienstbote war. Stehe ich aber jetzt besser in der Welt als damals, da ich die Tochter des armen Malers war und den Krämer an der Ecke um Zucker und Tee beschwatzte? Angenommen, ich hätte Francis geheiratet, der mich so liebte, wäre ich dann ärmer gewesen als jetzt? Ich wollte, ich könnte meine Stellung in der Welt und alle meine Verwandten gegen eine hübsche Summe in dreiprozentigen Staatspapieren vertauschen. Becky empfand die Eitelkeit aller menschlichen Beziehungen so stark, daß sie[109] ihren Anker lieber in diesen sicheren Gründen ausgeworfen hätte.

Es mag ihr vielleicht auch einmal durch den Kopf gegangen sein, daß Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Pflichterfüllung auf geradem Wege sie dem Glück wohl ebenso nahegebracht hätten wie der Pfad, den sie beschritt, um es zu erreichen. Aber es ging ihr wie den Kindern in Queen's Crawley, die einen Bogen um das Zimmer machten, worin der Leichnam ihres Vaters lag. Wenn Becky überhaupt jemals diese Gedanken gekommen waren, so ging sie stets darum herum und blickte nicht hin. Sie wich ihnen aus und verachtete sie – oder wandelte wenigstens schon auf dem anderen Pfad, auf dem es kein Zurück mehr gab. Ich für mein Teil glaube, daß die Reue die untätigste menschliche Moralempfindung ist und daher am leichtesten unterdrückt werden kann, wenn sie schon einmal erwacht, aber in den meisten Fällen erwacht sie gar nicht erst. Uns bekümmert das Entdecktwerden und die Vorstellung von Schande und Strafe, aber das Bewußtsein des Unrechts allein macht sehr wenige Menschen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit unglücklich.

Rebekka verschaffte sich also während ihres Aufenthaltes in Queen's Crawley so viele Freunde unter den Anhängern des ungerechten Mammon, als sie nur zusammenbringen konnte. Lady Jane und ihr Mann nahmen mit den wärmsten Freundschaftsbeteuerungen von ihr Abschied. Sie freuten sich schon auf die Zeit, wo das Familienhaus in der Gaunt Street überholt und verschönert sein würde und sie sich in London treffen könnten. Lady Southdown machte ihr ein Paket voll Medizin zurecht und gab ihr einen Brief an Ehrwürden Lawrence Grills mit, worin sie diesen beschwor, den »Brand«, der das Schreiben überbrachte, »aus dem Feuer zu reißen« 2. Pitt brachte sie vierspännig bis Mudbury. Dorthin hatte er schon ihr Gepäck nebst einer wahren Wagenladung von Wildbret vorausgeschickt.

»Wie glücklich wirst du sein, wenn du deinen lieben kleinen [110] Jungen wiedersiehst«, sagte Lady Crawley beim Abschied zu ihrer Verwandten.

»Oh, so glücklich!« erwiderte Rebekka und schlug ihre grünen Augen zum Himmel auf. Sie war ungeheuer froh, den Ort zu verlassen, und ging doch ungern. Queen's Crawley war zwar entsetzlich langweilig, aber die Luft war doch etwas reiner als die, die sie sonst atmete. Alle waren zwar fade, aber in ihrer Art doch freundlich gewesen. »Das ist alles nur die Folge eines jahrelangen Besitzes von Dreiprozentigen«, sagte sich Becky und hatte damit wahrscheinlich recht.

Die Londoner Lampen strahlten aber doch fröhlich, als die Postkutsche in Piccadilly einfuhr, die Briggs hatte in der Curzon Street ein schönes Feuer angezündet, und der kleine Rawdon war noch wach, um seinen Papa und seine Mama zu begrüßen.

Fußnoten

1 Provinz in Südafrika; wurde erst 1847 gegründet.

2 Nach biblischer Überlieferung strafte Gott die hartherzigen und ungläubigen Israeliten, so daß sie waren »wie ein Brand, der aus dem Feuer gerissen wird« (Amos 4, 11).

42. Kapitel
Das von der Familie Osborne handelt

Seit wir unseren ehrenwerten Freund, den alten Mr. Osborne vom Russell Square, zum letztenmal gesehen haben, ist eine geraume Zeit verflossen. Er ist inzwischen nicht eben der glücklichste Mensch gewesen. Ereignisse sind eingetreten, die seine Laune nicht gebessert haben, und in verschiedenem ist es nicht nach seinem Kopf gegangen. Wenn ihm dieses billige Verlangen nicht erfüllt wurde, stand es immer schlimm um den alten Herrn, und Widerstand strengte ihn immer mehr an, je stärker ihn die Gicht, das Alter, die Einsamkeit und das Gewicht mancher Enttäuschung gemeinsam niederdrückten. Sein borstiges schwarzes Haar wurde bald nach seines Sohnes Tod weiß, sein Gesicht wurde röter, und seine Hände zitterten immer heftiger, wenn er sich sein Glas Portwein einschenkte. Seine Angestellten in der City hatten ein schreckliches Leben bei ihm, und seine Familie zu Hause war nicht[111] viel glücklicher. Ich bezweifle, daß Rebekka, die wir beobachteten, als sie so fromm um Staatspapiere betete, ihre Armut und die tollen Aufregungen und Aussichten ihres Lebens gegen Osbornes Geld und die düstere Langeweile, die ihn umgab, vertauscht hätte. Er hatte Miss Swartz einen Heiratsantrag gemacht. Die Freunde der jungen Dame wiesen ihn aber verächtlich ab und verheirateten sie an einen jungen Sproß einer schottischen Adelsfamilie. Osborne war der Mann, eine Frau aus dem niedrigsten Stand zu heiraten und sie später entsetzlich zu quälen; aber er fand keine, die seinem Geschmack entsprochen hätte, und begnügte sich daher damit, seine unverheiratete Tochter zu Hause zu tyrannisieren. Sie hatte einen schönen Wagen und schöne Pferde und führte den Vorsitz an einem mit dem glänzendsten Silbergeschirr beladenen Tisch. Sie hatte ein Scheckbuch, einen kräftigen Lakai, der ihr folgte, wenn sie ausging, unbegrenzten Kredit, Verbeugungen und Komplimente von allen Geschäftsleuten, kurz, es fehlte ihr nichts, was einer reichen Erbin gebührte, und trotzdem führte sie ein erbarmungswürdiges Leben. Die kleinen Gemeindemädchen im Findelhaus, die Straßenfegerinnen an der Kreuzung, das niedrigste Küchenmädchen unter den Dienstboten konnte zufrieden sein im Vergleich mit der unglücklichen, jetzt bereits nicht mehr sehr jungen Dame.

Frederick Bullock vom Hause Bullock, Hulker und Bullock hatte Maria Osborne geheiratet, aber nicht ohne Schwierigkeiten und Murren auf seiten Mr. Bullocks. Da George tot war und sein Vater ihn enterbt hatte, bestand Frederick darauf, daß Mr. Osborne die Hälfte seines Vermögens seiner Maria überschreiben solle, und tatsächlich weigerte er sich »anzubeißen« (das war Mr. Fredericks eigener Ausdruck), wenn nicht unter dieser Bedingung. Osborne sagte dagegen, Fred sei einverstanden gewesen, seine Tochter mit zwanzigtausend zu nehmen, und er werde sich zu nichts weiter bereit erklären. Fred möge sie nehmen und sei willkommen oder [112] es bleiben lassen und zum Henker gehen. Fred, dessen Hoffnungen bei Georges Enterbung beträchtlich gestiegen waren, fühlte sich von dem alten Kaufmann schändlich betrogen und tat eine Weile so, als wollte er die Verbindung ganz abbrechen. Osborne löste sein Konto bei Hulker und Bullock auf, ging mit einer Reitpeitsche auf die Börse, die er einem gewissen Schurken, den er nicht nennen wollte, über den Rücken zu ziehen schwor, und benahm sich so ungebärdig wie stets. Jane Osborne sprach während dieser Familienfehde ihrer Schwester ihr Beileid aus. »Ich habe es dir immer gesagt, Maria, daß er dein Geld liebte und nicht dich«, sagte sie tröstend.

»Auf alle Fälle hat er aber mich und mein Geld erwählt und nicht dich und das deine«, entgegnete Maria und warf den Kopf in den Nacken.

Der Bruch war jedoch nur vorübergehend. Freds Vater und die älteren Geschäftsteilhaber rieten ihm, Maria auch mit zwanzigtausend Pfund zu nehmen – die Hälfte sofort, die andere Hälfte beim Tode von Mr. Osborne, da ja Aussichten bestanden, daß das Vermögen noch weiter geteilt würde. Er ließ sich also »breitschlagen«, um wieder seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, und schickte den alten Hulker mit Friedensvorschlägen zu Osborne. Sein Vater sei es gewesen, der nichts von der Verbindung habe hören wollen und Schwierigkeiten gemacht habe, während er selbst immer bestrebt gewesen sei, sein Versprechen zu halten. Mr. Osborne nahm die Entschuldigung mürrisch an. Hulker und Bullock waren eine bedeutende Familie der Geldaristokratie und mit den Vornehmen von West End verwandt. Es bedeutete etwas für den alten Mann, sagen zu können: »Mein Sohn vom Hause Hulker, Bullock und Co., die Kusine meiner Tochter, Lady Mary Mango, Tochter Seiner Gnaden des Grafen Castlemouldy.« Er sah im Geiste sein Haus bereits von diesen Vornehmen bevölkert. So verzieh er dem jungen Bullock und gab seine Zustimmung zur Hochzeit.

Es war eine großartige Angelegenheit – die Verwandten [113] des Bräutigams gaben das Frühstück, da sie in der Nähe der Sankt-Georgs-Kirche am Hanover Square wohnten, wo das Geschäft abgeschlossen wurde. Die »Vornehmen von West End« waren geladen, und viele von ihnen trugen sich ins Kirchenbuch ein. Mr. Mango und Lady Mary Mango waren zugegen mit ihren lieben jungen Töchtern Gwendoline und Guinever Mango als Brautjungfern, Oberst Bludyer von den Gardedragonern (ältester Sohn des Hauses Gebrüder Bludyer, Mincing Lane), ein anderer Vetter des Bräutigams, und die ehrenwerte Mrs. Bludyer; der ehrenwerte George Boulter, Sohn Lord Levants, mit seiner Gemahlin, der früheren Miss Mango; Lord Viscount Castletoddy; der ehrenwerte James McMull und Mrs. McMull (ehemals Miss Swartz) und noch eine Menge anderer Leute von Welt, die alle in die Lombard Street geheiratet und so zur Veredlung von Cornhill beigetragen hatten.

Das junge Paar hatte ein Haus in der Nähe vom Berkeley Square und eine kleine Villa in Roehampton in der Bankierskolonie dort. Fred hatte eine Mesalliance geschlossen. Das meinten jedenfalls die Damen seiner Familie, deren Großvater die Armenschule besucht hatte, die aber durch ihre Männer mit dem besten Blut Englands verwandt waren; Maria war also genötigt, die Mängel ihrer Geburt durch erhabenen Stolz und äußerste Sorgfalt in der Abfassung ihres Besuchsbuches auszugleichen, und hielt es für ihre Pflicht, Vater und Schwester so selten wie möglich zu sehen.

Es wäre absurd gewesen, anzunehmen, sie wollte mit dem alten Manne, der noch so manchen Tausender zu vergeben hatte, völlig brechen. Fred Bullock hätte dies nie gestattet. Sie war aber noch jung und unfähig, ihre Gefühle zu verbergen; wenn sie also ihren Vater und ihre Schwester zu drittrangigen Gesellschaften einlud, wenn sie sich ihnen gegenüber dann kühl benahm, wenn sie den Russell Square mied und ihren Vater unüberlegt bat, doch von diesem häßlichen, gemeinen Platz wegzuziehen, dann richtete sie mehr [114] Schaden an, als alle Diplomatie Fredericks wiedergutmachen konnte, und gedankenlos und unbedacht, wie sie war, gefährdete sie ihre Aussichten auf eine Erbschaft.

»Russell Square ist also nicht gut genug für Mrs. Maria, he?« rief der alte Herr und zog krachend die Kutschenfenster herauf, als er und seine Tochter eines Abends vom Essen bei Mrs. Bullock nach Hause fuhren. »Sie ladet also Vater und Schwester zu einem aufgewärmten Essen ein (denn wenn diese Vorspeisen oder Angtrös, wie sie es nennt, nicht schon gestern auf dem Tisch gestanden haben, will ich verdammt sein), mit Cityleuten und Federfuchsern; und die Grafen und Ladys und Lordsöhne behält sie für sich! Lordsöhne? Zum Teufel mit den Lordsöhnen. Ich bin ein einfacher britischer Kaufmann, jawohl, das bin ich, aber ich könnte dieses Bettlerpack auskaufen. Lords, das ist gut! – einen von denen habe ich auf einer Soaröh gesehen, wie er mit einem verdammten Fiedler gesprochen hat – einem Kerl, den ich verachte. Und sie wollen also nicht zum Russell Square kommen? Ich will mich hängen lassen, wenn ich nicht ein besseres Glas Wein habe und eine größere Summe dafür bezahle und schöneres Silbergeschirr besitze und ein besseres Essen auf meinen Mahagonitisch bringe, als die jemals auf ihrem zu sehen kriegen – diese kriechenden, niederträchtigen, aufgedonnerten Narren. Fahr zu, James, ich will zum Russell Square zurück – haha!« Und er sank mit wütendem Lachen in die Wagenecke zurück. Mit solchen Betrachtungen über seine eigenen, größeren Verdienste pflegte sich der alte Herr nicht selten zu trösten.

Jane Osborne konnte diese Ansichten über das Benehmen ihrer Schwester nur teilen. Als Mrs. Fredericks erster Sohn, Frederick Augustus Howard Stanley Devereux Bullock geboren wurde, begnügte sich der alte Osborne, der als Pate zur Taufe geladen war, damit, dem Kind einen goldenen Becher mit zwanzig Guineen für die Amme zu schicken. »Das ist mehr, als einer von euern Lords schenken wird, dafür [115] stehe ich«, sagte er und schlug es ab, an den Feierlichkeiten teilzunehmen.

Das großartige Geschenk rief jedoch große Zufriedenheit im Hause der Bullocks hervor. Maria glaubte, daß ihr Vater sehr zufrieden mit ihr sei, und Frederick phrophezeite das Beste für seinen kleinen Sohn und Erben.

Man kann sich die Qualen vorstellen, mit denen Miss Osborne in ihrer Einsamkeit am Russell Square die »Morning Post« las, wo in den Artikeln mit der Überschrift »Vornehme Gesellschaften« mitunter der Name ihrer Schwester erschien und wo sie Gelegenheit hatte, eine Beschreibung von Mrs. F. Bullocks Kleid zu lesen, das die Dame trug, als sie von Lady Frederica Bullock bei Hofe vorgestellt wurde. Janes Leben kannte nichts von dieser Großartigkeit, wie wir schon gesagt haben. Sie führte ein entsetzliches Dasein. Sie mußte an den dunklen Wintertagen zeitig aufstehen, um das Frühstück für ihren finsteren alten Vater zu bereiten, der das ganze Haus hinausgeworfen hätte, wenn sein Tee nicht um halb neun fertig gewesen wäre. Sie saß ihm schweigend gegenüber, lauschte dem Zischen des Teekessels und zitterte, während der Vater die Zeitung las und seine gewohnte Portion Brötchen und Tee zu sich nahm. Um halb zehn Uhr stand er auf und ging in die City. Sie war nun bis zum Essen fast frei und konnte die Küche aufsuchen und die Dienstboten schelten, ausfahren und bei den Kaufleuten vorsprechen, die äußerst respektvoll waren, sie konnte ihre und ihres Papas Karten in den großen, düsteren, angesehenen Häusern ihrer Geschäftsfreunde abgeben oder allein in dem großen Salon auf dem Sofa am Feuer sitzen und auf Besuch warten, während sie an einer großen Wolldecke arbeitete. Dicht neben ihr tickte und schlug die große Iphigenienuhr laut und traurig in dem öden Raum. Der große Spiegel über dem Kamin, gegenüber dem anderen großen Konsolenspiegel, reflektierte und vervielfältigte den braunen Leinensack, in dem der Kronleuchter hing, bis man eine endlose Reihe von braunen [116] Leinensäcken sah, und Miss Osbornes Zimmer das Zentrum einer Flucht von Salons zu sein schien. Wenn sie die Saffianlederdecke vom Flügel nahm und ein paar Takte darauf zu spielen wagte, klang es wie eine verzweifelte Klage und schreckte die traurigen Echos im Hause hoch. Georges Bild hatte man entfernt, es lag auf dem Dachboden in einer Rumpelkammer. Obwohl jedoch sein Geist zugegen war und Vater und Tochter häufig instinktiv wußten, daß sie an ihn dachten, so wurde der tapfere, einst geliebte Sohn nie erwähnt.

Um fünf Uhr kam Mr. Osborne zum Essen zurück, das er und seine Tochter schweigend einnahmen, höchstens unterbrochen von einem wilden Fluchen, wenn ihm ein Gericht nicht zusagte. Zweimal im Monat hatten sie dabei die trübselige Gesellschaft der Freunde von Osbornes Rang und Alter: den alten Dr. Gulp und Frau vom Bloomsbury Square; den alten Mr. Frowser, Rechtsanwalt von der Bedford Row, einen sehr bedeutenden Mann, der geschäftlich mit den Vornehmen von West End auf vertrautem Fuße stand; den alten Oberst Livermore von der Bombay- Armee und Mrs. Livermore vom Upper Bedford Place; den alten Polizeirat Toffy und Mrs. Toffy und manchmal Sir Thomas Coffin und Lady Coffin vom Bedford Square. Sir Thomas war berühmt als Richter, der manchen an den Galgen gebracht hatte, und wenn er bei Mr. Osborne speiste, kam ein besonderer goldbrauner Portwein auf den Tisch.

Diese Leute und ihresgleichen gaben dem protzigen Kaufmann vom Russell Square wiederum protzige Diners. Sie spielten feierliche Whistpartien, wenn sie sich nach dem Trinken wieder in den Salon hinaufbegaben, und ihre Kutschen fuhren um halb elf vor. Viele reiche Leute, die wir armen Teufel gewöhnlich so beneiden, führen zufrieden ein Leben wie das oben beschriebene. Jane Osborne sah selten einen Mann unter sechzig, und fast der einzige Junggeselle, der in ihrer Gesellschaft verkehrte, war Mr. Smirk, der berühmte Frauenarzt.

[117] Ich kann nicht behaupten, daß sich niemals etwas zugetragen hätte, was die Einförmigkeit dieses schrecklichen Daseins unterbrach. Im Leben der armen Jane gab es nämlich ein Geheimnis, das ihren Vater wilder und mürrischer gemacht hatte, als er von Natur aus durch Stolz und übermäßiges Essen sowieso schon war; dieses Geheimnis stand in Zusammenhang mit Miss Wirt, deren Vetter Maler war. Mr. Smee, der inzwischen als Porträtmaler Berühmtheit erlangt hatte und Mitglied der Königlichen Akademie geworden war, war jedoch einst froh, vornehmen jungen Damen Zeichenunterricht geben zu dürfen. Mr. Smee hat jetzt vergessen, wo der Russell Square liegt, aber im Jahre 1818 ging er nur zu gern dahin, um Miss Osborne zu unterweisen.

Smee war ein ehemaliger Schüler von Sharpe in der Frith Street, einem ausschweifenden, unordentlichen Mann, der zwar keinen Erfolg gehabt hatte, aber große künstlerische Fähigkeiten besaß. Nachdem der Vetter von Miss Wirt bei Miss Osborne, deren Hand und Herz nach verschiedenen erfolglosen Liebesaffären noch frei war, eingeführt worden war, faßte er eine große Zuneigung zu der Dame, und wahrscheinlich hatte er auch in ihrem Busen etwas Derartiges erweckt. Miss Wirt war die Vertraute dieses Liebeshandels. Ich weiß nicht, ob sie das Zimmer verließ, wo der Lehrer und die Schülerin malten, um ihnen Gelegenheit zu geben, die Schwüre und Gefühle auszutauschen, die sich in Gegenwart eines Dritten nicht gut aussprechen lassen. Ich weiß nicht, ob Miss Wirt glaubte, ihr Vetter würde ihr, wenn es ihm gelänge, die reiche Kaufmannstochter heimzuführen, etwas von dem Reichtum abtreten, den zu erlangen sie ihm geholfen hatte. Fest steht nur, daß Mr. Osborne Wind von der Sache bekam und eines Tages unvermutet aus der City zurückkehrte. Er trat mit seinem Bambusstock in den Salon und fand den Lehrer, die Schülerin und die Gesellschafterin mit ungemein bleichen Gesichtern vor. Er warf den Maler mit der Drohung hinaus, er werde ihm alle Knochen im Leibe zerbrechen, und [118] entließ eine halbe Stunde später Miss Wirt ebenfalls. Ihre Koffer stieß er mit dem Fuß die Treppe hinab, trampelte auf ihren Hutschachteln herum, schüttelte der Droschke, die sie davontrug, drohend die Faust hinterher.

Jane Osborne blieb tagelang in ihrem Schlafzimmer. Sie durfte niemals wieder eine Gesellschafterin haben. Der Vater schwor ihr, sie werde keinen Shilling von seinem Vermögen erhalten, wenn sie ohne seine Einwilligung eine Ehe eingehe, und da er eine Frau brauchte, die seinen Haushalt führte, so war er dagegen, daß sie heiratete. Sie sah sich also gezwungen, alle Pläne, an denen Cupido beteiligt war, aufzugeben. Solange der Vater lebte, fand sie sich mit dem hier beschriebenen Dasein ab und wurde wohl oder übel eine alte Jungfer. Inzwischen gebar ihre Schwester jährlich ein Kind mit immer feineren Namen, und der Verkehr zwischen beiden wurde immer seltener. »Jane und ich bewegen uns nicht in der gleichen Lebenssphäre«, sagte Mrs. Bullock. »Natürlich betrachte ich sie trotzdem als meine Schwester« – das heißt – ja, was heißt es eigentlich, wenn eine vornehme Dame sagt, sie betrachte Jane als ihre Schwester?

Wir haben bereits berichtet, wie die Misses Dobbin mit ihrem Vater in einer eleganten Villa an der Straße Denmark Hill lebten, wo es schöne Weinspaliere und Pfirsichbäume gab, die den kleinen George Osborne entzückten. Die Misses Dobbin, die oft nach Brompton zu unserer lieben Amelia fuhren, besuchten zuweilen ihre alte Bekannte Miss Osborne am Russell Square. Ich glaube, ihre Aufmerksamkeit gegenüber Mrs. George entstand aus den Befehlen ihres Bruders, des Majors in Indien (vor dem ihr Papa ungeheueren Respekt hatte), denn der Major, der Pate und Vormund von Amelias kleinem Jungen, hoffte noch immer, daß der Großvater des Kindes sich erweichen lassen könnte, es um seines Sohnes willen anzuerkennen. Die Misses Dobbin hielten Miss Osborne über Amelias Angelegenheiten auf dem laufenden: daß sie bei ihren Eltern lebte; daß sie arm waren; daß sie [119] sich wunderten, was die Männer, und dazu noch solche Männer wie ihr Bruder und der teure Hauptmann Osborne, an einem so nichtssagenden kleinen Ding finden konnten; daß sie noch immer wie früher ein affektiertes sentimentales zimperliches Geschöpf sei. Der Knabe allerdings sei wirklich der schönste Junge, den sie je gesehen hätten. Die Herzen aller Frauen erwärmen sich eben für Kinder, und die versauertste alte Jungfer ist freundlich zu ihnen.

Eines Tages, nachdem die Misses Dobbin lange darum gebeten hatten, erlaubte Amelia dem kleinen George, einen Tag bei ihnen in der Straße Denmark Hill zu verbringen. Sie selbst benutzte einen Teil des Tages, an den Major nach Indien zu schreiben. Sie gratulierte ihm zu der glücklichen Nachricht, die seine Schwestern ihr gerade überbracht hatten. Sie bete für sein Wohlergehen und das der Braut, die er erwählt habe; sie dankte ihm für die tausend und aber tausend Dienste und Beweise seiner festen Freundschaft in ihrem Kummer. Sie berichtete ihm die letzten Neuigkeiten über den kleinen Georgy und daß er diesen Tag mit seinen Schwestern auf dem Lande verbringe. Sie unterstrich viele Worte in ihrem Briefe und unterzeichnete als seine liebevolle Freundin Amelia Osborne. Sie vergaß ihre gewohnten freundlichen Grüße an Lady O'Dowd und erwähnte Glorvina nicht namentlich, sondern sprach nur von seiner Braut (unterstrichen), für die sie Segen erflehe. Aber die Nachricht von seiner Heirat hatte die Zurückhaltung, die sie bisher gegen ihn beobachtete, verdrängt. Sie freute sich, gestehen zu dürfen, welche Wärme und Dankbarkeit sie für ihn empfinde – und den Gedanken, sie könne eifersüchtig auf Glorvina sein (man stelle sich vor, Glorvina!), hätte Amelia verächtlich von sich gewiesen, auch wenn es ihr ein Engel vom Himmel angedeutet hätte.

Als an jenem Abend Georgy in der Ponykutsche, die sein ganzes Entzücken war, von Sir Williams altem Kutscher nach Hause gefahren wurde, trug er eine feine goldene Kette mit [120] Uhr um den Hals. Er sagte, eine alte Dame, nicht hübsch, habe sie ihm geschenkt und dabei sehr geweint und ihn geküßt. Aber er möge sie nicht. Trauben möge er sehr, aber seine Mama habe er am liebsten. Amelia fuhr erschrocken hoch; die furchtsame Seele hatte eine schreckliche Ahnung, als sie hörte, die Verwandten seines Vaters hätten ihn gesehen.

Miss Osborne kehrte zurück, um ihrem Vater das Essen zu bereiten. Er hatte in der City ein gutes Geschäft abgeschlossen und war an jenem Tage bei verhältnismäßig guter Laune. Zufällig bemerkte er die Aufregung, die sie bedrängte. »Was ist denn los, Miss Osborne?« geruhte er zu fragen.

Das Mädchen brach in Tränen aus. »Ach, Sir«, antwortete sie, »ich habe den kleinen George gesehen. Er ist schön wie ein Engel – und ihm so ähnlich!« Der alte Mann ihr gegenüber sagte kein Wort, wurde aber knallrot und begann an allen Gliedern zu zittern.

43. Kapitel
In dem der Leser das Kap der Guten Hoffnung umschiffen muß

Wir müssen den erstaunten Leser auffordern, sich zweitausend Meilen weit nach der Militärstation Bundlegunge in der Präsidentschaft Madras in Indien zu begeben, wo unsere tapferen alten Freunde vom ...ten Regiment unter dem Kommando des braven Obersten Sir Michael O'Dowd einquartiert sind. Die Zeit ist sanft umgegangen mit dem ehrlichen Offizier, wie gewöhnlich mit Menschen, die einen guten Magen und ein gutes Gemüt besitzen und ihr Gehirn nicht übermäßig anstrengen. Der Oberst führt ein gutes Messer und eine gute Gabel beim Frühstück und bedient sich dieser Waffen wiederum mit dem besten Erfolg beim Mittagessen. Nach dem Essen raucht er stets seine Wasserpfeife und [121] pafft unter dem Schimpfen seiner Frau ebenso gelassen wie unter dem Feuer der Franzosen bei Waterloo. Alter und Hitze haben weder der Lebhaftigkeit noch der Beredsamkeit des Abkömmlings der Malonys und Molloys etwas anhaben können. Lady O'Dowd, unsere alte Bekannte, ist in Madras ebenso zu Hause wie in Brüssel, im Winterquartier ebenso wie im Zelt. Auf dem Marsch sah man sie an der Spitze des Regiments auf einem königlichen Elefanten reiten – ein herrlicher Anblick! Auf diesem Tiere sitzend, hat sie im Dschungel mit Tigern gekämpft. Sie ist von eingeborenen Fürsten empfangen worden, die sie und Glorvina in den Tiefen der Frauengemächer begrüßten und ihnen Schals und Juwelen boten, die sie nur mit blutendem Herzen ausschlagen konnte. Die Schildwachen aller Waffengattungen salutieren, wenn sie sich zeigt, und sie legt als Erwiderung ernsthaft die Hand an den Hut. Lady O'Dowd ist eine der bedeutendsten Damen in der Präsidentschaft Madras. Ihr Streit mit Lady Smith, der Frau von Sir Minos Smith, dem Unterrichter, lebt noch im Gedächtnis einiger in Madras. Die Obristin schnippte der Richtersfrau mit dem Finger ins Gesicht und sagte, sie würde nicht einen Fuß vor einem lumpigen Zivilisten weichen. Selbst jetzt noch, nach fünfundzwanzig Jahren, erinnert man sich, wie Lady O'Dowd einen Gigue im Gouverneurspalast tanzte, wobei sie zwei Adjutanten, einen Major von der Madraskavallerie und zwei Herren vom Zivildienst außer Atem tanzte, und nur durch die Überredungskünste Major Dobbins, Trägers des Bath-Ordens und des Zweithöchsten des ...ten Regiments, ließ sie sich überreden, in den Speiseraum zu kommen. Lassate, nondum satiate recessit. 1

Peggy O'Dowd ist in der Tat noch ganz die alte: gütig in Wort und Tat; hitzig im Temperament, begierig aufs Kommandieren, eine Tyrannin für ihren Michael, ein Drache unter allen Frauen ihres Regiments, eine Mutter für die jungen Offiziere, die sie in Krankheiten pflegt und denen sie aus der Klemme hilft. Und bei ihnen ist Lady Peggy ungemein beliebt. [122] Die Unteroffiziers- und Hauptmannsfrauen (der Major ist unverheiratet) verschwören sich jedoch häufig gegen sie. Sie sagen, Glorvina sei schrecklich eingebildet und Peggy selbst unerträglich befehlshaberisch. Sie mischte sich in eine kleine Gemeinde ein, die Mrs. Kirk zusammengebracht hatte, spottete die jungen Männer von den Predigten der Dame weg und erklärte, einer Soldatenfrau komme es nicht zu, ein Pfaffe zu sein; Mrs. Kirk solle lieber ihrem Mann die Kleider flicken, und wenn das Regiment Predigten brauche, so habe sie selbst die schönsten der Welt – die ihres Onkels, des Dekans. Sie bereitete einer Liebschaft, die Leutnant Stubble vom Regiment mit der Frau eines Arztes angefangen hatte, ein plötzliches Ende, indem sie dem Leutnant drohte, das Geld zurückzufordern, das sie ihm geliehen hatte, wenn er nicht sogleich Schluß mache und auf Krankenurlaub zum Kap ginge (der junge Bursche war nämlich immer noch sehr verschwenderisch). Auf der anderen Seite gewährte sie Mrs. Posky Schutz und Obdach, als diese eines Abends aus ihrem Bungalow floh, verfolgt von ihrem wütenden Ehemann, der seine zweite Flasche Branntwein in der Hand schwang. Sie brachte Posky tatsächlich durch das Delirium tremens und gewöhnte ihm das Trinken ab, das diesen Offizier in seine Macht bekommen hatte wie alle schlimmen Gewohnheiten die Menschen. Mit einem Wort: Im Unglück war sie die beste Trösterin, im Glück die lästigste Freundin, sie hegte stets die beste Meinung von sich und eine unbesiegbare Entschlossenheit, in allem ihren Willen zu bekommen.

Unter anderem hatte sie beschlossen, daß Glorvina unseren alten Freund Dobbin heiraten sollte. Mrs. O'Dowd kannte die Aussichten des Majors und würdigte seine guten Eigenschaften und die hohe Wertschätzung, deren er sich in seinem Beruf erfreute. Glorvina, eine sehr hübsche, rotwangige, schwarzhaarige, blauäugige junge Dame, die es mit jedem Mädchen der Grafschaft Cork im Reiten und Sonatenspielen aufnehmen konnte, schien ihr gerade die Richtige zu sein, um [123] Dobbin glücklich zu machen – viel mehr als die arme, brave, mutlose kleine Amelia, die ihm so sehr am Herzen lag.

»Schauen Sie Glorvina an, wenn sie ins Zimmer tritt«, pflegte Mrs. O'Dowd zu sagen, »und vergleichen Sie sie mit der armen Mrs. Osborne, die keine Gans erschrecken kann. Sie ist Ihrer würdig, Major – Sie selbst sind ein ruhiger Mann und brauchen jemanden, der für Sie spricht. Und wenn sie auch nicht von so gutem Blute ist wie die Malonys oder die Molloys, so kann ich Ihnen doch sagen, daß sie aus einer alten Familie ist, in die hineinzuheiraten jeder Edelmann stolz sein könnte.«

Ehe jedoch Glorvina zu dem Entschluß gekommen war, Major Dobbin durch ihre Reize zu unterjochen, hatte sie, wie wir gestehen müssen, ihre Künste schon an anderen Orten ausgiebig erprobt. Sie hatte eine Saison in Dublin mitgemacht und wer weiß wie viele in Cork, Killarney und Mallow. Sie hatte mit allen heiratsfähigen Offizieren geflirtet, die die Garnisonen ihres Vaterlandes aufweisen konnten, und mit allen unverheirateten Landedelleuten, die eine gute Partie schienen. Außer mit dem Geistlichen in Bath, der sie so schlecht behandelt hatte, war sie schon in Irland ein dutzendmal verlobt gewesen. Auf der ganzen Überfahrt nach Madras hatte sie mit dem Kapitän und ersten Offizier des Ostindienfahrers »Ramchunder« geflirtet und eine Saison in der Präsidentschaft mitgemacht, mit ihrem Bruder und Mrs. O'Dowd, während der Major das Regiment kommandierte. Jedermann hatte sie dort bewundert, jedermann hatte mit ihr getanzt, aber es machte ihr niemand, bei dem die Heirat gelohnt hätte, einen Antrag. Ein paar sehr junge Unteroffiziere und einige bartlose Zivilisten himmelten sie an, aber die wies sie zurück, da sie ihren Ansprüchen nicht genügten; und andere jüngere Jungfrauen verheirateten sich vor ihr. Es gibt Frauen, und noch dazu hübsche Frauen, denen ein solches Los im Leben zufällt. Sie verlieben sich mit der größten Bereitwilligkeit, reiten und gehen mit der halben Rangliste der [124] Armee aus, bis sie nahe an die Vierzig kommen und bringen es doch nicht zu einem Mann. Glorvina behauptete, sie hätte in Madras eine gute Partie machen können, wäre nicht Lady O'Dowds unglückseliger Streit mit der Richtersfrau dazwischengekommen. Der alte Mr. Chutney, das Oberhaupt des Zivildienstes, sei nämlich im Begriff gewesen, ihr einen Antrag zu machen (später heiratete er Miss Dolby, eine junge Dame von dreizehn Jahren, die gerade aus Europa von der Schule gekommen war).

Lady O'Dowd und Glorvina zankten sich täglich unzählige Male und um alle möglichen Angelegenheiten, und hätte Michael O'Dowd nicht eine Engelsgeduld besessen – zwei solche Frauen beständig um sich herum hätten ihn verrückt gemacht. Die beiden Damen waren sich aber in einem einig, nämlich daß Glorvina Major Dobbin heiraten solle, und sie waren entschlossen, ihm nicht eher Ruhe zu lassen, als bis die Sache zustande gebracht sei. Von vierzig bis fünfzig früheren Niederlagen nicht abgeschreckt, eröffnete Glorvina die Belagerung. Unaufhörlich sang sie ihm irische Melodien vor. Sie fragte ihn so häufig und gefühlvoll: »Kommst du in mein Kämmerlein?«, daß es ein Wunder ist, wie ein Mann von Gefühl der Einladung widerstehen konnte. Sie ermüdete nie, zu fragen: »Trübt Kummer deine jungen Tage?« und war bereit, wie Desdemona den Geschichten seiner Gefahren und Feldzüge zu lauschen 2 und darüber zu weinen. Wir haben erzählt, daß unser ehrlicher lieber alter Freund in seinem Zimmer oft Flöte spielte; Glorvina bestand darauf, Duette mit ihm zu spielen, und Lady O'Dowd stand stets auf und verließ harmlos das Zimmer, wenn das junge Paar so beschäftigt war. Glorvina zwang den Major, morgens mit ihr auszureiten, und die ganze Station sah die beiden aufbrechen und zurückkehren. Sie schrieb ihm täglich Briefchen in sein Quartier, borgte seine Bücher und unterstrich sentimentale oder humoristische Stellen, die ihr gefielen, dick mit Bleistift. Sie borgte seine Pferde, seine Diener, seine Löffel und seine [125] Sänfte. Kein Wunder also, daß das Gerücht sie ihm zuwies und daß des Majors Schwestern in England sich einbildeten, bald eine Schwägerin zu bekommen.

Der so tapfer belagerte Dobbin nahm das alles inzwischen abscheulich gelassen hin. Er lachte bloß, wenn die jungen Burschen des Regiments ihn mit Glorvinas augenscheinlicher Aufmerksamkeit ihm gegenüber neckten. »Pah«, sagte er, »sie will nur nicht aus der Übung kommen – sie übt sich bei mir wie auf Mrs. Tozers Klavier, weil es das beste Instrument auf der Station ist. Ich bin viel zu abgenutzt und alt für eine so schöne junge Dame wie Glorvina.« Und so ritt er weiter mit ihr aus und schrieb Noten und Verse für ihr Album ab und spielte unterwürfig Schach mit ihr, denn mit diesen einfachen Vergnügungen füllen viele Offiziere in Ostindien ihre Freizeit aus, während andere von nicht so häuslichem Charakter auf die Wildschweinjagd gehen oder Schnepfen schießen oder spielen und Zigarren rauchen und sich der Branntweinflasche ergeben. Sir Michael O'Dowd wurde zwar von seiner Gemahlin und seiner Schwester täglich gedrängt, den Major aufzufordern, daß er sich erklären und ein armes unschuldiges Mädchen nicht fortwährend so schändlich quälen solle, aber der alte Soldat weigerte sich rundweg. Sir Michael wollte mit dieser Verschwörung nichts zu tun haben und sagte: »Meiner Treu, der Major ist alt genug, für sich selbst zu wählen. Wenn er dich haben will, wird er dich schon fragen.« Oder er versuchte die Sache mit einem Scherz abzutun und meinte: »Dobbin ist noch zu jung zum Heiraten; er hat nach Hause geschrieben, um seine Mutter um Erlaubnis zu fragen.« Ja, er ging noch weiter, und in Gesprächen unter vier Augen mit seinem Major warnte er ihn scherzhaft: »Sehen Sie sich vor, mein Junge, die Weiber haben Unheil im Sinne – meine Frau hat eben eine Kiste voll Kleider aus Europa erhalten, und es ist ein Rosaseidenes für Glorvina dabei, das Ihnen den Rest geben wird, Dob, wenn es in der Macht einer Frau oder eines Seidenkleides steht, Sie zu rühren.«

[126] In Wirklichkeit konnten Dob weder Schönheit noch Eleganz erobern. Unser ehrlicher Freund hatte nur ein Frauenideal im Kopf, und dem entsprach Miss Glorvina O'Dowd in rosa Seide nicht im geringsten. Eine sanfte kleine Frau in Schwarz mit großen Augen und braunem Haar, die nur dann sprach, wenn man sie anredete, und dann mit einer Stimme, die gar nicht der von Miss Glorvina glich – eine sanfte junge Mutter, die ein Kind wiegte und den Major lächelnd aufforderte, es zu betrachten – ein rotwangiges Mädchen, das singend in das Zimmer am Russell Square kommt oder glücklich und liebevoll an George Osbornes Arm hängt – nur dieses Bild erfüllte den Sinn unseres ehrlichen Majors bei Tag und bei Nacht und beherrschte ihn ständig. Höchstwahrscheinlich glich Amelia gar nicht dem Bild, das der Major von ihr entworfen hatte; in einem Modejournal seiner Schwestern in England gab es ein Bild, das William heimlich herausgerissen und im Deckel seines Koffers eingeklebt hatte. Er bildete sich ein, in dem Druck eine Ähnlichkeit mit Mrs. Osborne zu erblicken. Ich habe dieses Bild gesehen und kann beschwören, daß es nur die Abbildung eines hochtaillierten Kleides war, über dem ein unmögliches Puppengesicht geziert lächelte – und vielleicht ähnelte Mr. Dobbins sentimentale Amelia sowenig der echten wie der lächerliche kleine Druck, den er wie einen Schatz bewahrte. Aber welcher Verliebte ist da besser unterrichtet? Ist er etwa glücklicher, wenn er seine Verblendung einsieht und zugibt? Dobbin stand unter diesem Zauber. Er belästigte seine Freunde und die Öffentlichkeit nicht groß mit seinen Gefühlen und verlor weder sein Wohlbehagen noch den Appetit deswegen. Sein Kopf ist etwas ergraut, seit wir ihn zuletzt gesehen haben, hin und wieder ziehen sich durch das weiche braune Haar ein paar silberne Fäden. Aber seine Gefühle sind nicht im geringsten verändert oder gealtert, seine Liebe ist so frisch geblieben wie die Erinnerungen eines Mannes an seine Kindheit.

Wir haben erzählt, daß die beiden Miss Dobbin und [127] Amelia, die Korrespondentinnen des Majors in Europa, ihm von England schrieben. Mrs. Osborne gratulierte ihm aufrichtig und herzlich zu seiner bevorstehenden Hochzeit mit Miss O'Dowd.

Amelia schrieb in ihrem Brief: Ihre Schwester hat mich soeben freundlicherweise besucht und mich von einem, interessanten Ereignis unterrichtet, zu dem ich meine aufrichtigsten Glückwünsche darbringe. Ich hoffe, daß sich die junge Dame, mit der Sie sich, wie ich höre, verbinden wollen, in jeder Hinsicht eines Mannes würdig erweist, der selbst nur Güte und Freundlichkeit ist. Die arme Witwe hat nur ihre Gebete und ihre herzlichsten Wünsche für Ihr Wohlergehen zu bieten! Georgy läßt seinen lieben Patenonkel grüßen und hofft, daß Sie ihn nicht vergessen werden. Ich habe ihm erzählt, daß Sie im Begriff stehen, andere Bindungen einzugehen mit jemandem, der nach meiner Überzeugung Ihre ganze Zuneigung verdient. Aber obgleich solche Bande natürlich die stärksten und heiligsten sein müssen und alle anderen verdrängen werden, bin ich doch überzeugt, daß für die Witwe und das Kind, die Sie stets beschützt und geliebt haben, stets ein Plätzchen bleiben wird.

Der Brief, den wir schon früher erwähnt haben, ging in dieser Tonart weiter und tat von Anfang bis Ende die vollkommene Zufriedenheit der Schreiberin kund.

Dieser Brief, der mit demselben Schiff ankam, das Lady O'Dowds Kleiderkiste mit Putz aus London brachte (man kann überzeugt sein, daß ihn Dobbin vor allen anderen Paketen, die ihm die Post brachte, öffnete), versetzte den Empfänger in einen solchen Seelenzustand, daß ihm Glorvina und ihr Rosaseidenes und alles, was sie betraf, geradezu verhaßt wurde. Der Major verfluchte das Weibergeschwätz und das ganze Geschlecht. An jenem Tage ärgerte ihn alles – die Parade war unerträglich heiß und langweilig. Gütiger Himmel! Sollte ein Mann von Verstand sein Leben Tag für Tag damit verschwenden, daß er Schulterriemen besichtigte und [128] Narren exerzieren ließ? Das sinnlose Gewäsch der jungen Leute in der Offiziersmesse war ihm mehr zuwider als je. Was kümmerte es ihn, einen Mann nahe der Vierzig, wie viele Schnepfen Leutnant Smith geschossen hatte oder was Fähnrich Browns Stute leistete. Die Witze der Tischrunde erfüllten ihn mit Scham. Er war zu alt, um den Scherzen des Assistenzarztes oder den Gemeinheiten der jungen Leute zuzuhören, über die der kahlköpfige, rotgesichtige alte O'Dowd von Herzen lachte. Der alte Mann hatte diesen Späßen seit dreißig Jahren andauern gelauscht – Dobbin selbst sie fünfzehn Jahre lang gehört. Und nach der geräuschvollen Langeweile der Offizierstafel die Streitigkeiten und Skandale der Damen des Regiments. Es war unerträglich, schändlich! Oh, Amelia, Amelia, dachte er, du, der ich so lange treu geblieben bin – du machst mir Vorwürfe! Nur, weil du kein Gefühl für mich hast, schleppe ich dieses langweilige Leben hier weiter. Und du belohnst mich nach jahrelanger Ergebenheit mit deinen Segenswünschen zu meiner Heirat mit dem aufgeputzten irischen Frauenzimmer, wahrhaftig! Dem armen William war übel und weh, er fühlte sich elender und einsamer als jemals. Er wünschte, er hätte das Leben mit all seinen Eitelkeiten hinter sich, so nutzlos und ziellos schien ihm der Kampf, so traurig und freudlos die Aussicht auf die Zukunft. Er verbrachte die Nacht schlaflos voller Sehnsucht nach der Heimat. Amelias Brief hatte ihm einen Dämpfer aufgesetzt. Keine Treue, keine wahre, beständige Liebe vermochte sie zu erwärmen. Sie wollte nicht sehen, daß er sie liebte. Er warf sich in seinem Bett hin und her und sprach laut zu ihr: »Guter Gott, Amelia, weißt du nicht, daß ich auf der Welt nur dich liebe? Dich, die wie ein Stein zu mir ist, dich, die ich in monatelanger Krankheit und Sorge pflegte, die mir mit lächelndem Gesicht Lebewohl sagte und mich vergaß, noch ehe sich die Tür zwischen uns geschlossen hatte!« Die eingeborenen Diener, die außerhalb seiner Veranda lagen, sahen verwundert den sonst so kaltblütigen und ruhigen Major jetzt [129] leidenschaftlich erregt und niedergeschlagen. Hätte sie ihn bemitleidet, wenn sie ihn gesehen hätte? Er las wieder und wieder alle Briefe, welche er je von ihr bekommen hatte: Geschäftliche Briefs über das kleine Vermögen, das ihr angeblich ihr Mann hinterlassen hatte, wie er ihr vorspiegelte, kurze Einladungen – jedes Zettelchen mit ihrer Schrift, das sie ihm geschickt hatte – wie kalt, wie freundlich, wie hoffnungslos, wie selbstsüchtig waren sie!

Hätte es eine gütige sanfte Seele in der Nähe gegeben, die dieses schweigsame, großmütige Herz er kannt und gewürdigt hätte – wer weiß, ob nicht das Reich Amelias vorüber gewesen und die Liebe unseres Freundes William sich in einen zärtlicheren Kanal ergossen hätte. Da war aber nur Glorvina mit den Rabenlocken, die er näher kannte, und dieses glänzende junge Mädchen ging nicht darauf aus, den Major zu lieben, sondern vielmehr ihn dahin zu bringen, sie zu bewundern – ein eitles, hoffnungsloses Bestreben, wenigstens wenn man die Mittel betrachtet, mit denen das arme Mädchen zum Ziel kommen wollte. Sie drehte sich Locken und zeigte ihm ihre Schultern, als wollte sie sagen: Hast du jemals solche rabenschwarzen Locken und solchen Teint gesehen? Sie lachte ihn an, damit er sehen sollte, daß sie gesunde Zähne im Munde hatte – aber er achtete überhaupt nicht auf all diese Reize.

Bald nachdem die Kleiderkiste angekommen war und vielleicht zu deren Ehren, gaben Lady O'Dowd und die Damen des Königlichen Regiments einen Ball für die Regimenter der Ostindischen Kompanie und die Zivilisten der Station. Glorvina trug das unwiderstehliche rosa Kleid, aber der Major, der auch auf der Gesellschaft war und trübselig die Säle durchwanderte, sah das rosa Gewand nicht einmal. Glorvina tanzte mit allen jungen Leutnants der Station wütend an ihm vorüber, aber der Major war nicht im geringsten eifersüchtig auf sie oder ungehalten, weil Hauptmann Bangles von der Kavallerie sie zum Souper führte. Weder [130] Eifersucht noch Kleider, noch Schultern waren imstande, ihn zu bewegen, und etwas anderes besaß Glorvina nicht.

Sie gaben beide ein Beispiel von der Eitelkeit dieses Lebens, da sie sich beide nach dem sehnten, was sie nicht erhalten konnten. Glorvina weinte vor Wut über ihren Mißerfolg. Sie hatte sich den Major in den Kopf gesetzt, »mehr als irgendeinen anderen«, wie sie schluchzend gestand. »Er wird mir noch das Herz brechen, Peggy, ganz bestimmt«, jammerte sie vor ihrer Schwägerin, wenn sie wieder einmal gute Freunde geworden waren, »alle meine Kleider muß ich enger machen lassen. Ich werde noch zu einem richtigen Skelett.« Dick oder mager, lachend oder melancholisch, zu Pferde oder am Klavier – dem Major war alles gleich. Der Oberst, der pfeiferauchend diesen Klagen lauschte, empfahl, Glorvina solle sich mit der nächsten Kiste aus London ein paar schwarze Kleider kommen lassen, und er erzählte eine geheimnisvolle Geschichte von einer Dame in Irland, die vor Kummer über den Verlust ihres Gatten gestorben war, ehe sie überhaupt einen gehabt hatte.

Während der Major sie weiter quälte und sich weder erklärte noch bereit war, sich zu verlieben, kam wieder ein Schiff aus Europa mit Briefen, worunter sich auch ein paar für den herzlosen Mann befanden. Es waren Briefe von zu Hause mit einem früheren Poststempel als die letzten, und Major Dobbin erkannte darunter die Handschrift seiner Schwester. Sie beschrieb die Briefe an ihren Bruder stets kreuz und quer und sammelte alle möglichen schlimmen Nachrichten, die sie nur zusammenbringen konnte, schalt ihn aus und hielt ihm mit schwesterlicher Freimütigkeit Strafpredigten, die ihn, nachdem der »liebste William« eine ihrer Episteln gelesen hatte, für einen Tag elend machten. Um die Wahrheit zu sagen, beeilte sich der »liebste William« nicht, das Siegel auf Miss Dobbins Brief zu erbrechen, sondern wartete auf eine besonders günstige Stunde und Stimmung dazu. Er hatte ihr überdies vor vierzehn Tagen geschrieben und [131] sie gescholten, daß sie Mrs. Osborne so alberne Geschichten erzähle, und er schickte Amelia einen Antwortbrief, worin er sie über die Gerüchte, die von ihm in Umlauf seien, aufklärte und ihr versicherte, daß er gegenwärtig keinerlei Absichten habe, seinen Stand zu ändern.

Ein paar Tage nach der Ankunft des zweiten Briefpäckchens hatte der Major den Abend recht heiter bei Lady O'Dowd verbracht, und Glorvina glaubte, daß er mit mehr als gewöhnlicher Aufmerksamkeit dem Lied »Wo sich die Wasser treffen«, dem »Sängerknaben« und einigen anderen Gesängen lauschte, mit denen sie ihn beglückte. In Wirklichkeit hörte er jedoch ebenso wenig auf Glorvina wie auf das Heulen der Schakale im Mondschein draußen, und sie täuschte sich wie immer. Nachdem er seine Partie Schach mit ihr gespielt hatte (Lady O'Dowds Abendvergnügen bestand im Cribbage 3 mit dem Regimentsarzt), nahm Major Dobbin zur gewohnten Stunde Abschied von der Familie des Obersten und begab sich nach Hause.

Dort lag vorwurfsvoll der Brief seiner Schwester auf dem Tisch. Er ergriff ihn, etwas beschämt über seine Nachlässigkeit, und bereitete sich auf eine unangenehme Stunde in Unterhaltung mit dieser unleserlich kritzelnden abwesenden Verwandten vor ... Es mochte etwa eine Stunde vergangen sein, nachdem der Major das Haus des Obersten verlassen hatte. Sir Michael schlief den Schlaf der Gerechten, Glorvina hatte ihre schwarzen Locken in die unzähligen kleinen Papierstückchen gewickelt, mit denen sie sie abends stets zu fesseln pflegte, auch Lady O'Dowd hatte ihr Bett im ehelichen Schlafzimmer im Erdgeschoß aufgesucht und die Moskitovorhänge um ihr schöne Gestalt gestopft, als die Wache am Tor des Kommandeurgebäudes Major Dobbin im Mondlicht erblickte, wie er mit schnellen Schritten aufgeregt dem Hause zueilte. Er ging an der Schildwache vorüber und trat an die Fenster von O'Dowds Schlafzimmer.

»O'Dowd, Oberst!« schrie Dobbin mehrmals.

[132] »Himmel, Major!« rief Glorvina und steckte den lockenwickelgeschmückten Kopf aus dem Fenster.

»Was ist denn los, Dob, mein Junge?« fragte der Oberst, der erwartete, daß Feuer in der Station ausgebrochen oder Marschbefehl vom Hauptquartier gekommen sei.

»Ich – ich muß Urlaub haben. Ich muß nach England gehen, in den dringendsten Privatangelegenheiten«, sagte Dobbin.

Gütiger Himmel! Was mag bloß geschehen sein, dachte Glorvina und zitterte mit allen Papierröllchen.

»Ich muß abreisen – jetzt – heute nacht noch«, fuhr Dobbin fort. Der Oberst stand auf und kam heraus, um mit ihm zu reden.

In der Nachschrift zu Miss Dobbins kreuz und quer beschriebenem Brief war der Major eben zu einem Absatz gekommen, der folgendermaßen lautete:


Ich bin gestern zu Deiner alten Bekannten, Mrs. Osborne, gefahren. Du kennst die erbärmliche Gegend, in der sie seit dem Bankrott wohnen. Mr. S. ist nach einem Messingschild an der Tür seiner Hütte (anders kann man sie nicht nennen) Kohlenhändler. Der kleine Junge, Dein Patensohn, ist gewiß ein hübsches Kind, aber vorlaut und oft ungezogen und starrköpfig. Wir haben uns aber, wie Du es wünschtest, um ihn gekümmert und ihn seiner Tante, Miss O., vorgestellt, der er ganz gut gefallen hat. Vielleicht ließe sich sein Großpapa – nicht der bankrotte, der ist fast schwachsinnig, sondern Mr. Osborne vom Russell Square – bewegen, sich gegenüber dem Kind Deines Freundes, seines irrenden, starrköpfigen Sohnes, erweichen zu lassen. Amelia wird nicht abgeneigt sein, ihn aufzugeben. Die Witwe hat sich getröstet und wird einen Geistlichen, Ehrwürden Binny, einen der Unterpfarrer von Brompton, heiraten. Eine armselige Partie. Aber Mrs. O. wird alt, ich habe ziemlich viel Grau in ihrem Haar gesehen. Sie war sehr gut gelaunt, und Dein kleiner Patensohn hat sich bei uns übergessen. Mama schickt dir viele Grüße mit denen Deiner Dich liebenden Ann Dobbin.

Fußnoten

1 (lat.) Macht sie müde, sie ist der Sache noch nicht überdrüssig.

2 In Shakespeares Tragödie »Othello« berichtet der Titelheld, wie er durch die Erzählung seiner Abenteuer das Herz Desdemonas gewann (I, 3).

3 englisches Kartenspiel.

[133] 44. Kapitel
Ein weitschweifiges Kapitel
Zwischen London und Hampshire

Das Familienhaus unserer alten Freunde, der Crawleys in der Great Gaunt Street, trug noch immer an der Vorderseite das Leichenwappen, das dort zum Zeichen der Trauer über Sir Pitt Crawleys Ableben angebracht worden war; dieses heraldische Sinnbild war jedoch schon in sich selbst ein äußerst prächtiger, strahlender Einrichtungsgegenstand, und das ganze übrige Haus wurde bald eleganter, als es je unter der Regierung des seligen Baronets gewesen war. Der schwarze Bewurf wurde von den Ziegeln entfernt, und sie boten nun einen munteren Anblick, rot mit weißen Streifen; die alten Türklopfer in Gestalten von Bronzelöwen wurden schön vergoldet, der Zaun gestrichen, und das trübselige Haus in der Great Gaunt Street wurde das hübscheste in der ganzen Gegend, ehe noch die gelben Blätter in Hampshire auf den Bäumen der Allee zu Queen's Crawley, unter denen Sir Pitt Crawley zum letztenmal dahinfuhr, von grünen ersetzt wurden.

Eine kleine Frau mit passendem Wagen wurde ständig in der Nähe dieses Hauses gesehen. Auch eine ältliche Jungfer in Begleitung eines kleinen Knaben konnte man täglich dort bemerken. Es war Miss Briggs mit dem kleinen Rawdon, deren Aufgabe darin bestand, die innere Erneuerung von Sir Pitts Haus zu überwachen, die weibliche Schar zu beaufsichtigen, die mit den Gardinen beschäftigt war, die Schubladen und Schränke zu durchwühlen und zu durchstöbern, die vollgestopft waren mit schmutzigen Reliquien und dem aufgehäuften Flitterkram von zwei Generationen Lady Crawleys, und Verzeichnisse vom Porzellan, dem Glas und anderen Sachen in den Wandschränken und Vorratskammern anzufertigen.

Mrs. Rawdon Crawley hatte den Oberbefehl über all diese Tätigkeit mit Generalvollmacht von Sir Pitt, Möbel zu verkaufen, [134] zu vertauschen, zu beschlagnahmen oder zu kaufen. Sie fand kein geringes Vergnügen an dieser Beschäftigung, bei der sie ihrem Geschmack und ihrer Begabung freien Lauf lassen konnte. Die Renovierung des Hauses war beschlossen worden, als Sir Pitt im November in die Stadt kam, um seine Rechtsanwälte aufzusuchen. Bei dieser Gelegenheit hatte er fast eine Woche unter dem Dach seines liebevollen Bruders und seiner Schwägerin in der Curzon Street gewohnt.

Er war zuerst im Hotel abgestiegen; sobald aber Becky von der Ankunft des Baronets erfuhr, war sie allein hingefahren, um ihn zu begrüßen, und kehrte nach einer Stunde mit Sir Pitt neben sich im Wagen zur Curzon Street zurück. Es war oft unmöglich, sich der Gastfreundschaft dieses unschuldigen, lieben Geschöpfes zu entziehen, so freundlich bestand sie darauf, und so offen und liebenswürdig bot sie sie an. Becky ergriff Pitts Hand begeistert und dankbar, als er zusagte, zu kommen. »Ich danke Ihnen«, sagte sie und sah dem Baronet tief in die Augen, der darauf heftig errötete. »Wie das Rawdon glücklich machen wird.« Sie eilte in Pitts Schlafzimmer hinauf und führte die Diener, die seine Koffer brachten, hinein. Dann kam sie lachend herein, mit einer Kohlenschaufel aus ihrem eigenen Zimmer.

In Pitts Zimmer brannte bereits ein munteres Feuer (es war, nebenbei gesagt, Miss Briggs' Zimmer, die oben bei den Mädchen schlafen mußte). »Ich wußte, daß Sie kommen würden«, sagte Rebekka mit freudestrahlendem Blick. Sie war in der Tat wirklich froh, ihn als Gast bei sich zu haben.

Solange Pitt bei ihnen wohnte, beorderte Becky Rawdon ein paarmal, dienstlich auswärts zu speisen, während der Baronet den glücklichen Abend allein mit ihr und der Briggs verbrachte. Sie ging in die Küche hinunter und bereitete ihm eigenhändig kleine Delikatessen. »Ist das Ragout nicht vortrefflich?« fragte sie. »Ich habe es für Sie zubereitet. Ich kann Ihnen auch noch bessere Gerichte kochen, und das will ich, wenn Sie mich das nächste Mal besuchen.«

[135] »Alles, was Sie anfassen, gelingt Ihnen«, sagte der Baronet galant. »Das Ragout ist in der Tat ausgezeichnet.«

»Wissen Sie, als Frau eines armen Mannes muß man sich nützlich machen«, entgegnete Rebekka munter, worauf ihr Schwager beteuerte, daß sie würdig sei, die Gemahlin eines Kaisers zu sein, und daß eine der bezauberndsten Eigenschaften der Frau jedenfalls Geschick bei Erledigung der häuslichen Pflichten sei. Dabei dachte Sir Pitt mit etwas wie Ärger an Lady Jane daheim und an eine bestimmte Pastete, die sie unbedingt selbst hatte zubereiten und ihm zum Mittagessen servieren wollen – eine abscheuliche Pastete.

Außer dem Ragout, das aus Lord Steynes Fasanen von seinem Landsitz Stillbrook zubereitet worden war, kredenzte Becky ihrem Schwager eine Flasche Weißwein, die Rawdon aus Frankreich mitgebracht und für nichts bekommen hatte, wie die kleine Schwindlerin erzählte, während das Getränk, das auf den bleichen Wangen des Baronets ein Feuer entfachte und eine Glut in seinem schwachen Körper, in Wirklichkeit ein guter Weißwein aus dem berühmten Keller des Marquis von Steyne war.

Nachdem er die Flasche petit vin blanc 1 ausgetrunken hatte, reichte sie ihm die Hand und führte ihn hinauf in den Salon. Dort machte sie es ihm auf dem Sofa am Kamin bequem und setzte sich zu ihm und lauschte mit zärtlichem Interesse seinem Gespräch. Dabei säumte sie ein Hemd für ihren lieben kleinen Knaben. Immer wenn Mrs. Rawdon besonders demütig und tugendhaft erscheinen wollte, dann kam dieses Hemdchen aus ihrem Handarbeitskasten hervor. Es war für Rawdon jedoch, lange bevor es fertig war, zu klein geworden.

Rebekka hörte Pitt also zu, sprach mit ihm, sang ihm vor, schmeichelte ihm und lockte ihn, so daß er täglich lieber von seinen Anwälten in Gray's Inn zu dem lodernden Feuer in der Curzon Street zurückkehrte, eine Freude, an der auch die Männer des Gesetzes teilhatten, denn Pitts bombastische Reden waren schier endlos. Als er abreiste, empfand er direkt [136] Abschiedsschmerz. Wie hübsch sie aussah, als sie ihm von ihrem Wagen aus Kußhändchen zuwarf und ihr Taschentuch schwenkte, als er seinen Platz in der Postkutsche eingenommen hatte! Einmal führte sie das Taschentuch sogar an die Augen. Als die Kutsche abfuhr, zog er die Seehundsmütze über das Gesicht, sank zurück und dachte darüber nach, wie sie ihn achtete und daß er es verdiente und daß Rawdon ein einfältiger, langweiliger Bursche sei, der seine Frau nicht halb zu schätzen wisse, und wie stumm und dumm seine eigene Frau sei, verglichen mit der glänzenden, kleinen Becky. Becky hatte vielleicht selbst all diese Dinge angedeutet, aber so feinfühlig und zart, daß man kaum wußte, wann oder wo. Ehe sie sich trennten, war noch beschlossen worden, daß das Haus in London für die nächste Saison neu instand gesetzt werden sollte und daß sich die Familien der Brüder zu Weihnachten wieder auf dem Lande treffen sollten.

»Ich wünschte, du hättest ihm ein bißchen Geld aus der Tasche gezogen«, sagte Rawdon verstimmt zu seiner Frau, als der Baronet fort war. »Ich würde gern dem armen Raggles etwas geben, zum Henker, wenn es nicht wahr ist. Weißt du, es ist nicht recht, wenn wir dem Alten sein ganzes Geld vorenthalten; es würde vielleicht unangenehm werden, und er könnte sein Haus jemand anders vermieten.«

»Sag ihm«, entgegnete Becky, »daß alle bezahlt werden, sobald Sir Pitts Angelegenheiten geordnet sind, und gib ihm eine Kleinigkeit als Anzahlung. Hier ist ein Scheck, den uns Sir Pitt für den Jungen hiergelassen hat.« Mit diesen Worten nahm sie aus ihrem Beutel ein Papier, das ihr Schwager ihr für den kleinen Sohn und Erben des jüngeren Zweiges der Familie gegeben hatte, und reichte es ihrem Mann.

In Wirklichkeit hatte sie selbst schon sehr vorsichtig das Gelände sondiert, auf das sie sich nach dem Wunsch ihres Mannes wagen sollte, es war ihr aber zu unsicher erschienen. Bei der leisesten Andeutung von Geldschwierigkeiten war Sir Pitt Crawley erschreckt hochgefahren und hatte eine lange [137] Rede gehalten, in der er erklärte, wie bedrängt seine eigene Geldlage sei, daß die Pächter nicht zahlen wollten, daß ihn die Angelegenheiten seines Vaters und die Dinge, die mit dem Ableben des alten Herrn zusammenhingen, sehr viel gekostet hätten und daß er Hypotheken abzahlen wolle und daß die Konten bei seinen Bankiers und Agenten schon überzogen seien. Pitt Crawley endete damit, daß er einen Kompromiß mit seiner Schwägerin schloß und ihr eine sehr geringe Summe für ihren kleinen Jungen gab.

Pitt wußte, wie arm sein Bruder sein mußte. Es konnte der Beobachtung eines so kühlen und erfahrenen alten Diplomaten nicht entgehen, daß Rawdons Familie nichts besaß, wovon sie leben konnte, und daß man Equipagen und Häuser nicht umsonst halten konnte. Er wußte recht gut, daß er das Geld bekommen oder, besser, sich verschafft hatte, das aller Voraussicht nach seinem jüngeren Bruder hätte zufallen sollen, und er empfand ganz sicher geheime Gewissensbisse, die ihn aufforderten, einen Akt der Gerechtigkeit oder, sagen wir, des Ausgleichs gegenüber seinen enttäuschten Verwandten zu vollziehen. Als gerechter, anständiger Mann, nicht ohne Denkvermögen, der seine Gebete sagte und seinen Katechismus kannte und äußerlich seine Pflicht im Leben tat, mußte er fühlen, daß er seinem Bruder etwas zukommen lassen müsse und daß er, moralisch gesehen, Rawdons Schuldner sei.

In den Spalten der »Times« kann man hier und da seltsame Anzeigen lesen, in denen der Schatzkanzler den Empfang von fünfzig Pfund von A.B. oder zehn Pfund von W.T. bestätigt, als Abzahlung für Steuern, die der erwähnte A.B. oder W.T. schuldet. Das in der öffentlichen Presse zu tun, haben die reuigen Schuldner den Schatzkanzler aufgefordert. Aber sowohl der Kanzler als auch der Leser sind sich zweifellos im klaren, daß der ebenerwähnte A.B. und W.T. nur einen sehr kleinen Teil ihrer wahren Schuld bezahlen und daß der, der Zwanzigpfundnote einschickt, höchstwahrscheinlich Hunderte und sogar Tausende zu zahlen hätte. Dies sind wenigstens [138] meine Gefühle, wenn ich A.B.s oder W.T.s unzulängliche Bußhandlung erblicke. Ich zweifle auch nicht daran, daß Pitt Crawleys Zerknirschung oder, wenn man will, Güte gegenüber seinem jüngeren Bruder, durch den er so viel gewonnen hatte, nur eine sehr geringe Dividende von dem Kapital war, das er Rawdon schuldete. Es gibt viele, die nicht einmal gewillt sind, soviel zu zahlen. Sich vom Gelde zu trennen ist ein Opfer, das über die Kräfte der meisten ordnungsliebenden Menschen hinausgeht. Es gibt kaum einen, der es sich nicht hoch anrechnet, wenn er seinem Nächsten fünf Pfund schenkt. Der Verschwender gibt nicht aus wohlwollender Freude am Geben, sondern aus einem trägen Vergnügen, das er am Ausgeben findet. Er würde sich keinen Genuß versagen, weder seine Opernloge noch sein Pferd, noch seine Diener und nicht einmal das Vergnügen, dem Lazarus die fünf Pfund zu geben. Der Sparsame, welcher gut, weise, gerecht ist und keinem Menschen einen Penny schuldet, wendet sich von einem Bettler ab, feilscht mit dem Droschkenkutscher oder versagt einem armen Verwandten seine Hilfe. Ich weiß nicht, welcher von den beiden egoistischer ist. Das Geld hat in ihren Augen nur verschiedenen Wert.

Mit einem Wort: Pitt Crawley dachte, daß er etwas für seinen Bruder tun wolle, und meinte dann, er wolle ein andermal daran denken.

Becky war keine Frau, die zuviel von der Großmut ihrer Nächsten erwartete. Sie war daher mit dem, was Pitt Crawley für sie getan hatte, vollkommen zufrieden. Das Oberhaupt der Familie hatte sie anerkannt. Wenn Pitt ihr nichts geben wollte, so würde er ihr doch eines Tages etwas verschaffen. Wenn sie von ihrem Schwager auch kein Geld bekam, so bekam sie doch etwas, was ebenso gut war wie Geld – Kredit. Raggles beruhigte der Anblick der Einigkeit zwischen den Brüdern, eine kleine Anzahlung und das Versprechen, daß er bald eine größere Summe erhalten würde. Rebekka zahlte Miss Briggs die Weihnachtszinsen für die kleine Summe, die [139] sie von ihr geliehen hatte, mit einer Miene aufrichtiger Freude aus, als ob ihre Kasse von Gold überströmte, und erzählte ihr dabei im tiefsten Vertrauen, daß sie mit Sir Pitt, der als Finanzmann berühmt sei, über Miss Briggs gesprochen habe, und zwar über die vorteilhafte Anlage des restlichen Kapitals von Miss Briggs. Sir Pitt habe nach reiflichen Überlegungen eine Möglichkeit gefunden, wie die Briggs ihr Geld sicher und vorteilhaft anlegen könnte. Er nehme besonderen Anteil an ihr, als einer alten Freundin der seligen Miss Crawley und der ganzen Familie, und lange bevor er die Stadt verlassen habe, habe er empfohlen, sie solle das Geld zur sofortigen Verfügung halten, um die Aktien, die Sir Pitt im Auge habe, bei günstiger Gelegenheit kaufen zu können. Die arme Miss Briggs war für diesen Beweis von Sir Pitts Aufmerksamkeit sehr dankbar. Es kam so unerwartet, sagte sie, sie habe nie daran gedacht, ihr Geld aus den Staatspapieren zu ziehen. Die Freundlichkeit seines Anerbietens wurde noch durch das Taktgefühl, mit dem es gemacht wurde, erhöht; sie versprach, sofort ihren Anwalt aufzusuchen, und ihr kleines Kapital im richtigen Augenblick bereit zu haben.

Diese würdige Dame war Rebekka so dankbar für die Freundlichkeit bei der Angelegenheit und auch ihrem großmütigen Wohltäter, dem Oberst, daß sie ausging und einen großen Teil ihrer Halbjahreszinsen beim Kauf eines schwarzen Samtröckchens für den kleinen Rawdon ausgab, der übrigens jetzt für schwarzen Samt fast zu groß geworden war. Er hatte nun eine Größe und ein Alter erreicht, denen Männerkleidung angemessen war.

Er war ein hübscher Knabe mit offenem Gesicht, blauen Augen, lockigem Flachshaar und starken Gliedern, aber großmütig und weichherzig, liebevoll ergeben allen, die gut zu ihm waren: dem Pony, Lord Southdown, der ihm das Pony geschenkt hatte (er erglühte immer vor Freude, wenn er den freundlichen jungen Edelmann sah), dem Reitknecht, der das Pony pflegte, Mary, der Köchin, die ihn abends mit Gespenstergeschichten [140] und Leckerbissen vom Abendessen vollstopfte, der Briggs, die er quälte und auslachte, und besonders seinem Vater, dessen Liebe zu dem Knaben auch merkwürdig zu beobachten war. Hier endete aber wohl der Kreis seiner Zuneigungen, als er etwa acht Jahre alt geworden war. Das schöne Bild der Mutter war nach einer Weile verblaßt. Fast zwei Jahre lang hatte sie kaum ein Wort mit dem Jungen gesprochen. Sie konnte ihn nicht leiden. Er hatte die Masern und den Keuchhusten. Er langweilte sie. Eines Tages war er, angelockt von der Stimme seiner Mutter, die Lord Steyne vorsang, herabgeschlichen und stand auf dem Treppenabsatz, als sich plötzlich die Tür des Salons öffnete und sie den kleinen Spion entdeckte, der noch vor einem Augenblick verzückt der Musik gelauscht hatte.

Seine Mutter kam heraus und gab ihm ein paar derbe Ohrfeigen. Er hörte drinnen im Zimmer den Marquis lachen (den die freie und offene Schaustellung von Beckys Temperament belustigte) und floh zu seinen Freunden in die Küche hinab und brach dort in kummervolle Tränen aus.

»Es ist ja nicht, weil es weh tut«, schluchzte der kleine Rawdon, »nur – nur ...« Heftiges Schluchzen und ein Strom von Tränen beendeten den Satz. Das Herz des kleinen Jungen blutete. »Warum darf ich sie nicht singen hören? Warum singt sie nicht auch einmal vor mir wie vor dem kahlköpfigen Mann mit den großen Zähnen?«

Diese Äußerungen von Wut und Schmerz stieß er abgerissen hervor. Die Köchin blickte das Hausmädchen an, das Hausmädchen sah schlau den Diener an – die furchtbare Kücheninquisition, die in jedem Hause zu Gericht sitzt und alles weiß, sprach in diesem Augenblick ihr Urteil über Rebekka.

Nach diesem Vorfall wurde die Abneigung der Mutter zum Haß. Der Gedanke, daß das Kind sich im Hause befand, war ihr Vorwurf und Qual zugleich. Sein bloßer Anblick ärgerte sie. Aber auch im Herzen des Knaben erwuchsen [141] Furcht, Zweifel und Wider stand. Vom Tage der Ohrfeigen an waren sie endgültig voneinander getrennt.

Lord Steyne war dem Knaben ebenfalls von Herzen abgeneigt. Wenn sie sich unglücklicherweise begegneten, machte er gegenüber dem Kind sarkastische Verbeugungen oder Bemerkungen oder starrte es wild an. Rawdon starrte ihm dann ebenfalls ins Gesicht und ballte die kleinen Fäuste. Er kannte seinen Feind; von allen Herren, die ins Haus kamen, war dieser es, der ihn am meisten ärgerte. Eines Tages traf ihn der Diener, wie er mit den Fäusten auf Lord Steynes Hut im Vorzimmer einhieb. Der Bediente erzählte dies als einen guten Witz Lord Steynes Kutscher, dieser wiederum Lord Steynes Kammerdiener und dem ganzen Gesindezimmer. Als bald darauf Mrs. Rawdon Crawley im Gaunt-Haus erschien, wußten alle über sie Bescheid oder bildeten sich ein, es zu wissen: der Portier, der das Tor öffnete, die Diener aller Ränge in der Halle und die Lakaien in weißer Weste, die von Treppenabsatz zu Treppenabsatz den Namen des Obersten und Mrs. Rawdon Crawleys ausriefen. Der Mann, der ihr Erfrischungen brachte und hinter ihrem Stuhl stand, hatte ihren Charakter mit dem langen Herrn im buntscheckigen Anzug an seiner Seite besprochen. Bon Dieu! Diese Dienstboteninquisition ist etwas Entsetzliches. Du siehst eine Dame auf einer großen Gesellschaft in einem prächtigen Salon, von treuen Bewunderern umgeben, die funkelnde Blicke austeilt, vollendet gekleidet, frisiert und geschminkt ist und glücklich lächelt. Aber die Entdeckung tritt ihr respektvoll entgegen in Gestalt eines riesigen gepuderten Mannes mit dicken Waden und einem Tablett voll Eis und hinter ihm die Verleumdung (die ebenso verhängnisvoll ist wie die Wahrheit) in Gestalt des unbeholfenen Burschen, der die Waffeln trägt. Madame, Ihr Geheimnis werden diese Männer noch heute abend im Wirtshausklub besprechen. James wird Charles bei einer Pfeife und einem Krug Bier seine Ansichten über Sie mitteilen. Einige Leute auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit sollten [142] Stumme als Diener haben, die nicht schreiben können. Wenn du schuldig bist, so zittere! Der Bursche hinter deinem Stuhl kann ein Janitschar 2 sein, der in der Tasche seiner Plüschhose schon die seidene Schnur zum Erdrosseln für dich trägt. Wenn du nicht schuldig bist, so hüte dich vor dem Schein, der oft ebenso verderblich ist wie die Schuld.

War Rebekka schuldig oder nicht?

Das Femegericht des Bedientenzimmers hatte gegen sie entschieden.

Und ich schäme mich, es zu sagen: Hätte man sie nicht für schuldig gehalten, hätte sie keinen Kredit mehr gehabt. Der Anblick von Lord Steynes Wagenlaternen, die vor ihrer Tür in finsterer Mitternacht leuchteten, hielt Raggles mehr aufrecht, wie er später sagte, als Rebekkas Künste und Schmeicheleien.

So – sehr wahrscheinlich schuldlos – drängte und stieß sie sich vorwärts, hin zu etwas, was man »eine Stellung in der Gesellschaft« nennt; aber schon deuteten die Dienstboten auf sie als verloren und ruiniert. So kann man morgens Molly, das Hausmädchen, sehen, wie sie eine Spinne beobachtet, die ihren Faden am Türpfosten spannt und mühsam daran emporklettert, bis das Mädchen, des Spiels müde, den Besen erhebt und Faden samt Schöpferin hinwegfegt.


Ein paar Tage vor Weihnachten machten sich Becky, ihr Mann und ihr Sohn auf die Reise, um die Feiertage auf dem Sitz ihrer Ahnen, in Queen's Crawley, zu verbringen. Becky hätte den kleinen Balg gern daheimgelassen und hätte es auch getan, wenn nicht Lady Jane den Knaben dringend eingeladen hätte und nicht Zeichen von Unzufriedenheit und Empörung über die Vernachlässigung ihres Sohnes bei Rawdon spürbar geworden wären. »Er ist der feinste Junge in England«, sagte der Vater in vorwurfsvollem Ton zu ihr, »aber du scheinst dir nicht soviel aus ihm zu machen wie aus deinem Schoßhund, Becky. Er soll dich nicht viel stören. Zu [143] Hause wird er weit weg von dir im Kinderzimmer sein, während der Reise kann er außen mit mir fahren.«

»Wo du selbst nur fährst, weil du deine gemeinen Zigarren rauchen willst«, erwiderte Mrs. Rawdon.

»Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, wo sie dir gefielen«, entgegnete ihr Mann.

Becky lachte. Sie war fast immer guter Laune.

»Das war damals, als ich noch auf Beförderung diente, du Dummchen«, sagte sie. »Nimm Rawdon mit auf den Außensitz, und gib ihm auch eine Zigarre, wenn du Lust hast.«

Rawdon wärmte seinen kleinen Sohn nicht auf diese Weise während der Winterreise, sondern er und die Briggs hüllten ihn in Schals und Decken, und er wurde an dem dunklen Morgen unter den Lampen des »Gasthofs zum Weißen Roß« respektvoll auf das Kutschendach gehoben. Mit großem Entzücken sah er den Tag allmählich anbrechen und machte seine erste Reise zu dem Ort, den sein Vater noch immer »zu Hause« nannte. Die Reise bedeutete für den Knaben eine unendliche Freude. Er beobachtete alles mit nimmermüdem Interesse, und sein Vater beantwortete ihm alle Fragen, die damit zusammenhingen. Er erzählte ihm, wer in dem großen weißen Haus rechts wohnte und wem der Park gehörte. Seine Mutter im Wageninneren mit ihrer Kammerjungfer und ihren Pelzen, ihren Schals und Riechfläschchen, machte so viel Wesens, daß man hätte meinen können, sie sei noch nie in einer Postkutsche gefahren, geschweige denn, daß sie einstmals vor mehr als zehn Jahren auf einer gewissen Reise aus derselben Kutsche hinausgewiesen worden war, um einem zahlenden Fahrgast Platz zu machen.

Es war bereits wieder dunkel, als der kleine Rawdon geweckt wurde, um in den Wagen seines Onkels in Mudbury zu steigen. Verwundert blickte er hinaus, als das große Eichentor aufflog und die weißen Stämme der Lindenbäume vorbeistrichen, bis sie schließlich vor den erleuchteten Fenstern des Schlosses hielten, das von weihnachtlichem Glanz strahlte. [144] Die mächtige Eingangstür wurde aufgerissen, in dem großen alten Kamin brannte ein gewaltiges Feuer – über dem schwarzgewürfelten Steinboden lag ein Teppich ausgebreitet. Das ist der alte türkische, der früher in der Damengalerie lag, dachte Rebekka, und im nächsten Augenblick küßte sie Lady Jane.

Sie und Sir Pitt führten dieselbe Begrüßung mit großem Ernst aus, aber Rawdon hielt sich von seiner Schwägerin zurück, weil er geraucht hatte. Ihre beiden Kinder sprangen dem Vetter entgegen. Während Matilda ihm die Hand hinstreckte und ihn küßte, stand Pitt Binkie Southdown, der Sohn und Erbe, ein wenig beiseite und betrachtete ihn prüfend wie ein kleiner Hund einen großen.

Hierauf führte die freundliche Wirtin ihre Gäste in die gemütlichen Zimmer, in denen Kaminfeuer munter prasselten. Später kamen dann die jungen Damen und klopften an Mrs. Rawdons Tür, unter dem Vorwand, sie wollten sich so gern nützlich machen. In Wirklichkeit wollten sie den Inhalt ihrer Bänder- und Hutschachteln begutachten und ihre Kleider besichtigen, die zwar schwarz, aber doch nach der neuesten Londoner Mode waren. Sie erzählten ihr, wie sehr das Schloß sich zu seinem Vorteil verändert habe und daß die alte Lady Southdown fort sei und daß Pitt seine Stellung in der Grafschaft geltend mache, wie es einem Crawley tatsächlich zukam. Dann, als die große Tischglocke ertönte, versammelte sich die Familie zum Essen, wobei der jüngere Rawdon neben seine Tante, die gutherzige Hausherrin, gesetzt wurde. Sir Pitt Crawley erwies der Schwägerin zu seiner Rechten ungewöhnliche Aufmerksamkeit.

Der kleine Rawdon zeigte einen vortrefflichen Appetit und benahm sich sehr anständig.

»Hier macht es mir Spaß zu essen«, sagte er zu seiner Tante, als er seinen Teller leergegessen hatte. Nach Beendigung des Mahles und einem angemessenen Dankgebet wurde der kleine Sohn und Erbe hereingebracht und auf einen hohen [145] Stuhl neben den Baronet gesetzt, während die Tochter sich auf einen Platz neben der Mutter setzte und das kleine Weinglas ergriff, das dort für sie stand. »Hier macht es mir Spaß zu essen«, sagte Rawdon der Jüngere und sah zu dem freundlichen Gesicht der Tante auf.

»Warum?« fragte die gute Lady Jane.

»Zu Hause esse ich in der Küche oder sonst mit der Briggs«, entgegnete Rawdon der Jüngere. Becky war jedoch so mit dem Baronet, ihrem Wirt, beschäftigt und ergoß eine solche Flut von Komplimenten und Bewunderungsrufen über den kleinen Pitt Binkie, den sie als ein außerordentlich schönes, intelligentes, edel aussehendes Geschöpfchen bezeichnete, das seinem Vater so ähnlich sei, daß sie das, was ihr eigenes Fleisch und Blut am anderen Ende der langen glänzenden Tafel äußerte, nicht vernahm.

Da Rawdon der Zweite hier Gast war und da es der erste Abend nach der Ankunft war, durfte er lange aufbleiben. So erlebte er nach der Teestunde, wie ein großes vergoldetes Buch vor Sir Pitt auf den Tisch gelegt wurde und alle Dienstboten des Hauses hereinströmten und Sir Pitt eine Abendandacht abhielt. Es war das erstemal, daß der arme kleine Knabe solch eine feierliche Handlung hörte und sogar daran teilnahm.


Das Haus war in der kurzen Zeit der Regierung des neuen Baronets schon bedeutend schöner geworden, und als Rebekka es in seiner Begleitung besichtigte, nannte sie es vollkommen, bezaubernd und entzückend. Dem kleinen Rawdon, der es unter Führung der Kinder erforschte, erschien es als wahres Zauberschloß voller Wunder. Da gab es lange Galerien, altertümliche Prachtschlafzimmer, Gemälde, altes Porzellan und Waffen. Dann waren da die Zimmer, in denen Großpapa gestorben war und an denen die Kinder mit furchtsamen Blicken vorübergingen. »Wer war Großpapa?« fragte er, und sie erzählten ihm, daß er sehr alt gewesen und [146] in einem Rollstuhl umhergefahrn worden sei. Eines Tages zeigten sie ihm den Rollstuhl, der in einem Geräteschuppen stand und vermoderte, seitdem man den alten Herrn in die Kirche gefahren hatte, deren Turm sie über den Ulmen im Park schimmern sahen.

Die Brüder waren mehrere Vormittage lang damit beschäftigt, die Verbesserungen zu besichtigen, die Sir Pitts Talent und Sparsamkeit bewirkt hatten. Während sie so gingen oder ritten und sich alles ansahen, konnten sie sich unterhalten, ohne einander zu sehr zu langweilen. Pitt trug stets Sorge, seinem Bruder zu erzählen, wieviel Geld diese Verbesserungen verschlungen hätten und daß ein Mann trotz Grundbesitz und Staatspapieren oft um zwanzig Pfund in Verlegenheit geraten könne. »Da ist zum Beispiel das neue Parktor«, sagte Pitt und deutete bescheiden mit dem Bambusstock darauf. »Ich kann es vor den Januarzinsen ebensowenig bezahlen, wie ich fliegen kann.«

»Bis dahin kann ich es dir borgen, Pitt«, antwortete Rawdon recht kläglich. Dann gingen sie und sahen sich das wiederhergestellte Pförtnerhäuschen an, wo das Familienwappen gerade neu in Stein gehauen wurde. Zum erstenmal seit langen Jahren hatte die alte Mrs. Lock dicht schließende Türen, ein festes Dach und unzerbrochene Fenster.

Fußnoten

1 (franz.) leichter Weißwein.

2 Angehöriger der Leibgarde des türkischen Sultans, die wegen ihres politischen und religiösen Fanatismus berüchtigt war.

45. Kapitel
Zwischen Hampshire und London

Sir Pitt Crawley hatte für das Gut Queen's Crawley mehr getan, als Zäune geflickt und verfallene Pförtnerhäuschen wiederhergestellt. Als kluger Mann hatte er sich ans Werk gemacht, um die geschwundene Beliebtheit seines Hauses wieder zu gewinnen und die Löcher und brüchigen Stellen wieder auszubessern, mit denen sein verrufener, verschwenderischer [147] alter Vorgänger den Namen hinterlassen hatte. Er wurde bald nach dem Tode seines Vaters für den Wahlflecken ins Parlament gewählt, und als Friedensrichter, Parlamentsabgeordneter einer vornehmen Grafschaft und Repräsentant einer alten Familie machte er es sich zur Pflicht, sich vor dem Hampshire-Publikum zu zeigen, reichliche Beiträge für die Wohltätigkeitsveranstaltungen der Grafschaft zu zeichnen, fleißig seine Nachbarn zu besuchen und, mit einem Wort, es darauf anzulegen, in Hampshire und später im ganzen Reich die Stellung zu erringen, für die ihn seiner Ansicht nach seine ungewöhnlichen Talente bestimmten. Lady Jane war angehalten, sich freundlich gegen die Fuddlestons, die Wapshots und die anderen bekannten Baronets der Nachbarschaft zu benehmen. Deren Kutschen konnte man jetzt häufig in der Allee von Queen's Crawley erblicken, sie speisten recht oft im Schloß (wo die Küche so gut war, daß Lady Jane offenbar nur selten die Hand im Spiel hatte), und Sir Pitt und seine Frau wiederum ließen sich weder durch Wetter noch Entfernungen abhalten, auswärts zu speisen. Wenn sich Pitt auch selbst nichts aus Gesellschaften machte, da er ein steifer Mensch von schlechter Gesundheit und geringem Appetit war, so meinte er doch, daß es in seiner Stellung unumgänglich nötig sei, gastfreundlich und leutselig aufzutreten, und jedesmal, wenn er vom langen Sitzen nach Tisch Kopfschmerzen bekommen hatte, fühlte er sich als Märtyrer seiner Pflicht. Er unterhielt sich mit den größten Landedelleuten über Ernten, Korngesetze und Politik. Er (der früher in diesen Fragen ein arger Freidenker gewesen war) sprach jetzt mit Feuereifer über Wilddieberei und Wildgehege. Er selbst jagte nicht, er war kein Jäger, sondern ein Mann der Bücher und friedlichen Gewohnheiten, aber er glaubte, daß man sich um die Pferdezucht auf dem Lande kümmern müsse und daß daher auch die Fuchszucht entwickelt werden müsse. Wenn sein Freund, Sir Huddleston Fuddleston, gern auf seinem Grund und Boden Fuchsjagden veranstalten wolle und [148] Queen's Crawley wie in alten Zeiten Sammelplatz von Jägern und Meute sein solle, so schätzte er sich glücklich, ihn und seine Jagdgesellschaft dort zu begrüßen.

Zu Lady Southdowns Entsetzen wurde er täglich orthodoxer. Er gab das öffentliche Predigen und den Besuch von religiösen Versammlungen auf, ging fleißig in die Kirche, besuchte den Bischof und die Geistlichkeit in Winchester und erhob keinen Einwand, wenn ihn der ehrwürdige Archidiakon Trumper zu einer Partie Whist einlud. Was für Qualen empfand wohl Lady Southdown und wie mag sie ihren Schwiegersohn als Verworfenen betrachtet haben, da er einer so gottlosen Zerstreuung frönte! Als der Baronet bei der Rückkehr der Familie von einem Oratorium in Winchester den jungen Damen ankündigte, daß er sie wahrscheinlich nächstes Jahr zu den Grafschaftsbällen mitnehmen werde, vergötterten sie ihn wegen seiner Güte. Lady Jane war nur zu gehorsam und vielleicht selbst froh, daß sie gehen durfte. Die verwitwete Gräfin sandte ihrer Tochter im Kapland, der Verfasserin der »Apfelfrau von Finchley«, die entsetzlichsten Schilderungen vom weltlichen Benehmen ihrer Tochter, und da ihr Haus in Brighton zu dieser Zeit leer stand, kehrte sie in den Badeort zurück, ohne daß ihre Kinder ihre Abwesenheit sehr bedauert hätten. Wir dürfen auch annehmen, daß Rebekka bei ihrem zweiten Besuch in Queen's Crawley nicht sonderlich bekümmert war, die Dame mit dem Arzneikasten nicht anzutreffen, obgleich sie der Lady einen Weihnachtsbrief schrieb, in dem sie sich Lady Southdown ehrerbietig ins Gedächtnis zurückrief, dankbar von der Freude sprach, die ihr die Unterhaltung mit der Lady bei ihrem letzten Besuch bereitet habe, sich über die Güte verbreitete, mit der die Lady sie im Krankenbett überschüttet habe, und erklärte, alles in Queen's Crawley erinnere sie an ihre abwesende Freundin.

Zu einem großen Teil war das veränderte Benehmen und die Beliebtheit Sir Pitt Crawleys auf die Ratschläge der schlauen kleinen Dame von der Curzon Street zurückzuführen. [149] »Sie und Baronet, bloßer Landedelmann bleiben!« hatte sie ihm erklärt, als er in London bei ihr zu Gast war. »Nein, Sir Pitt Crawley, ich kenne Sie besser; ich kenne Ihre Talente und Ihren Ehrgeiz; Sie glauben, daß Sie sie verbergen können, mir gegenüber gelingt Ihnen das aber nicht. Ich habe Lord Steyne Ihre Broschüre über das Malz gezeigt, er kannte sie schon und sagte, sie sei nach Ansicht des ganzen Kabinetts das Beste, was auf diesem Gebiet erschienen sei. Das Ministerium ist auf Sie aufmerksam geworden, und ich kenne Ihr Ziel. Sie wollen sich im Parlament auszeichnen; jeder sagt, Sie seien der fähigste Redner Englands (man erinnert sich nämlich noch Ihrer Reden in Oxford). Sie wollen Parlamentsabgeordneter für die Grafschaft werden, und dann können Sie mit Ihrer eigenen Stimme und Ihrem Wahlflecken hinter sich alles erreichen. Und Sie wollen Baron Crawley von Queen's Crawley werden, und das werden Sie auch, bevor Sie sterben. Ich weiß alles, ich habe es in Ihrem Herzen gelesen, Sir Pitt. Wenn ich einen Mann hätte, der neben Ihrem Namen auch noch Ihren Verstand besäße, dann, denke ich zuweilen, würde ich seiner nicht unwürdig sein – aber – aber jetzt bin ich Ihre Verwandte«, fügte sie lachend hinzu, »und wenn ich auch nur ein kleiner Habenichts bin, so besitze ich doch einigen Einfluß, und wer weiß – vielleicht kann eines Tages die Maus dem Löwen nützlich sein.«

Pitt Crawley war über ihre Worte erstaunt und völlig hingerissen.

»Wie mich diese Frau versteht«, sagte er, »ich habe Jane niemals dazu bewegen können, auch nur drei Seiten in der Malzbroschüre zu lesen. Sie hat keine Ahnung davon, daß ich außerordentliche Talente und geheimen Ehrgeiz besitze. So erinnern sie sich also meiner Reden in Oxford, diese Schufte? Jetzt, wo ich meinen Wahlflecken vertrete und den Parlamentssitz für die ganze Grafschaft erhalten kann, fangen sie an, sich meiner zu entsinnen. Lord Steyne hat mich voriges Jahr beim Empfang ganz einfach geschnitten. Jetzt kommen [150] sie aber endlich langsam darauf, daß Pitt Crawley doch jemand ist. Der Mann, den diese Leute vernachlässigten, ist niemals anders gewesen. Es fehlte nur die günstige Gelegenheit, aber ich will ihnen zeigen, daß ich ebenso gut reden und handeln wie schreiben kann. Achilles offenbarte erst sein wahres Wesen, als man ihm das Schwert gab 1. Ich halte es jetzt, und die Welt soll noch von Pitt Crawley hören.«

Deshalb war also der schlaue Diplomat so gastfreundlich geworden, so freigebig gegen Oratorien und Spitäler, so freundlich gegen Dekane und Geistliche, so großzügig im Geben und Besuchen von Diners, so ungemein gnädig gegen die Landleute an Markttagen und so interessiert an Grafschaftsangelegenheiten, und deshalb war das Weihnachtsfest im Schloß das fröhlichste, das man seit langem dort erlebt hatte.

Am ersten Feiertag fand ein großes Familientreffen statt. Alle Crawleys aus dem Pfarrhaus kamen zum Essen. Rebekka war gegenüber Mrs. Bute so freundlich und offen, als ob diese nie ihre Feindin gewesen wäre. Sie zeigte liebevolles Interesse für die Mädchen, war überrascht über die Fortschritte in der Musik, die sie inzwischen gemacht hatten, und bestand darauf, daß eins der Duette aus den großen Liederbüchern, die James brummend aus dem Pfarrhaus hatte mitschleppen müssen, wiederholt wurde. Mrs. Bute mußte also wohl oder übel gegenüber der kleinen Abenteurerin Anstand bewahren, was sie nicht davon abhielt, später mit ihren Töchtern über die unangebrachte Achtung zu sprechen, die Sir Pitt seiner Schwägerin erwies. James jedoch, der bei Tisch neben ihr gesessen hatte, erklärte, sie sei ein Prachtweib. Aber die ganze Pfarrersfamilie war sich einig, daß der kleine Rawdon ein netter Junge sei. Sie respektierten in dem Knaben den möglichen Baronet, denn zwischen ihm und dem Titel stand nur der kleine, kränkliche, blasse Pitt Binkie.

Die Kinder waren sehr gute Freunde. Pitt Binkie war ein zu kleines Hündchen, als daß ein so großer Hund wie Rawdon [151] mit ihm gespielt hätte, und Matilda, die ja nur ein Mädchen war, gab natürlich keinen passenden Spielgefährten für einen jungen Mann von fast acht Jahren ab, der bald einen Anzug tragen würde. Er übernahm sofort das Kommando über die winzige Abteilung, und der kleine Knabe und das kleine Mädchen folgten ihm ehrerbietig, wenn er sich herabließ, mit ihnen zu spielen. Das Leben auf dem Lande bereitete ihm Glück und Freude. Der Küchengarten gefiel ihm sehr, die Blumen weniger, aber die Tauben und das Geflügel und die Ställe entzückten ihn ungemein, wenn er sie aufsuchen durfte. Von den beiden Miss Crawley ließ er sich nicht küssen, er erlaubte aber Lady Jane zuweilen, ihn zu umarmen. Wenn das Signal für den Salon gegeben war und die Damen die Herren beim Rotwein zurückließen, setzte er sich lieber neben sie als neben seine Mutter. Rebekka, die bemerkt hatte, daß Zärtlichkeit hier Mode war, hatte Rawdon eines abends zu sich gerufen, sich zu ihm gebeugt und ihn in Gegenwart aller Damen geküßt. Nach dieser Tat zitterte er, wurde rot, wie stets, wenn er erregt war, und blickte ihr gerade ins Gesicht. »Zu Hause küßt du mich nie, Mama!« sagte er, worauf ein allgemeines bestürztes Schweigen entstand und Rebekkas Blick einen keineswegs angenehmen Ausdruck bekam.

Rawdon liebte seine Schwägerin wegen ihrer Zuneigung zu seinem Sohn. Lady Jane und Becky vertrugen sich bei diesem Besuch nicht ganz so gut wie bei dem vorherigen, wo es die Frau des Obersten darauf angelegt hatte, zu gefallen. Die Bemerkungen des Kindes hatten sie etwas entfremdet. Vielleicht war Sir Pitt auch etwas zu aufmerksam gegenüber der Schwägerin.

Rawdon war entsprechend seinem Alter und seiner Größe lieber in Männergesellschaft als unter Frauen. Er wurde es nie müde, seinen Vater zu den Ställen zu begleiten, wohin sich der Oberst zurückzog, um seine Zigarre zu rauchen. James, der Pfarrerssohn, schloß sich bei diesen und anderen [152] Vergnügungen zuweilen seinem Vetter an. Er und der Wildhüter des Baronets waren dicke Freunde. Ihre gemeinsame Vorliebe für Hunde hatte sie zusammengebracht. An einem Tag gingen Mr. James, der Oberst und Horn, der Wildhüter, auf die Fasanenjagd und nahmen den kleinen Rawdon mit. An einem anderen schönen Morgen vergnügten sich die vier Herren mit einer Rattenjagd in einer Scheune, und das war die herrlichste Belustigung, die Rawdon je gesehen hatte. Sie verstopften die Ausgänge gewisser Abzugslöcher in der Scheune und steckten in die Öffnungen auf der anderen Seite Frettchen. Dann warteten sie etwas abseits schweigend mit erhobenen Stöcken, während ein eifriger kleiner Terrier (Mr. James' berühmter Hund »Zange«), atemlos vor Aufregung, unbeweglich auf drei Beinen auf das schwache Quieken der Ratten unten lauschte. Mit dem Mut der Verzweiflung stürzten endlich die verfolgten Tiere aus ihren Löchern hervor, der Terrier erledigte eine, der Wildhüter eine andere, Rawdon verfehlte in der Aufregung seine Ratte, tötete dafür aber beinahe ein Frettchen.

Der größte Tag aber war der, an dem Sir Huddleston Fuddlestons Hunde auf dem Rasen in Queen's Crawley zusammenkamen.

Dies war ein packender Anblick für den kleinen Rawdon. Um halb elf sieht man Tom Moody, Sir Huddleston Fuddlestons Jäger, die Allee heraufgaloppieren, hinter ihm die Meute edler Hunde. Den Nachtrab kommandieren zwei Piköre in gefleckten scharlachroten Röcken – leichte Burschen mit harten Gesichtern auf schlanken rassigen Pferden. Sie besitzen eine Geschicklichkeit, mit den Enden ihrer langen schweren Peitschen die dünnste Stelle der Haut eines Hundes zu erreichen, der es wagt, sich von den anderen zu entfernen oder die geringste Notiz, sei es auch nur mit einem Augenzwinkern, von den Hasen und Kaninchen zu nehmen, die vor seiner Nase aufspringen.

Als nächster folgt der kleine Jack, Tom Moodys Sohn, der [153] fünfundsechzig Pfund wiegt und einen Meter und zwanzig mißt und nie größer werden wird. Er thront auf einem großen, grobknochigen Jagdpferd, das von einem mächtigen Sattel beinahe bedeckt wird. Dieses Tier ist Sir Huddleston Fuddlestons Lieblingspferd »Nobel«. Andere Pferde, von anderen kleinen Jungen geritten, kommen nach und nach an und erwarten ihre Herren, die bald heransprengen werden.

Tom Moody reitet an die Schloßpforte und wird dort vom Butler begrüßt, der ihm einen Trunk anbietet. Er lehnt jedoch ab. Er zieht sich sodann mit der Meute zu einer geschützten Ecke des Rasens zurück, wo sich die Hunde auf dem Grase wälzen, spielen oder einander zornig anknurren. Ab und zu entsteht ein wütender Kampf, den Tom mit seiner beim Schelten unvergleichlichen Stimme oder mit der geschmeidigen Peitsche schnell schlichtet.

Nach und nach erscheinen die Jäger, gefolgt von Jungen der Gattung Jack. Die jungen Herren traben auf reinrassigen Gäulen heran, mit Gamaschen bis zu den Knien. Einige treten ins Haus, um einen Cherry Brandy zu trinken oder den Damen ihre Aufwartung zu machen, andere, bescheidener und sportlicher, entledigen sich ihrer Wasserstiefel, wechseln ihre Gäule gegen ihre Jagdpferde aus und machen sie durch einen kleinen vorläufigen Galopp rund um den Rasen warm. Dann versammeln sie sich um die Meute in der Ecke und unterhalten sich mit Tom Moody über frühere Jagden und die Vorzüge von »Schnüffler« und »Diamant« und die Lage im Lande und die elende Fuchszucht.

Bald kommt auch Sir Huddleston auf einem kleinen, kräftigen beweglichen Pferd zum Schloß geritten, tritt ein und begrüßt die Damen höflich. Dann geht er, ein Mann von wenig Worten, zum Geschäftlichen über. Die Hunde werden vor das Schloßtor gebracht, und der kleine Rawdon mischt sich darunter, aufgeregt und etwas ängstlich wegen der Liebkosungen, die sie ihm erweisen, ihrer um ihn herumwedelnden[154] Schwänze und ihrer Hundestreitereien, die Tom Moody mit Zunge und Peitsche kaum eindämmen kann.

Mittlerweile ist Sir Huddleston schwerfällig auf den »Nobel« geklettert. »Wir wollen mal in Sowsters Buschwerk probieren, Tom«, sagt der Baronet, »Pächter Mangle hat mir gesagt, daß da zwei Füchse drin sind.« Tom stößt ins Horn und trabt ab, gefolgt von der Meute, den Pikören, den jungen Herren aus Winchester, den Pächtern aus der Nachbarschaft und den Tagelöhnern der Gemeinde zu Fuße, für die es ein großer Festtag ist. Die Nachhut bilden Sir Huddleston und Oberst Crawley, und die ganze cortège 2 verschwindet durch die Allee.

Ehrwürden Bute Crawley ist zu bescheiden, sich bei dem öffentlichen Treffen unter den Fenstern seines Neffen zu zeigen (Tom Moody erinnert sich noch seiner vor vierzig Jahren, als er ein dünner Theologe war, der die wildesten Pferde ritt, die breitesten Bäche und die neuesten Tore im Lande übersprang). Ehrwürden reitet aber auf seinem mächtigen Rappen zufällig aus dem Weg heraus, der zum Pfarrhaus führt, gerade als Sir Huddleston vorbeikommt, und schließt sich dem würdigen Baronet an. Hunde und Reiter verschwinden, und der kleine Rawdon bleibt staunend und glücklich auf der Türschwelle zurück.

Im Verlauf dieser denkwürdigen Ferien hat der kleine Rawdon die Zuneigung seiner verheirateten und unverheirateten Tanten, der beiden Kleinen im Schloß und die von James aus dem Pfarrershaus gewonnen, wenn er auch keine besondere Vorliebe für seinen furchterregenden kühlen Onkel gefaßt hat, der sich, in Rechtsgeschäfte vertieft oder von Gerichtsdienern und Pächtern umgeben, in seinem Studierzimmer einschloß. Sir Pitt ermuntert James, um eine der beiden jungen Damen zu werben, zweifellos unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß er die Pfründe erhalten solle, sobald sie der alte Fuchsjäger, sein Vater, aufgeben werde. James selbst hat sich von diesem Sport zurückgezogen [155] und begnügt sich während der Weihnachtsfeiertage mit der harmlosen Enten-und Schnepfenjagd oder dieser ruhigen Rattenangelegenheit. Danach will er wieder auf die Universität zurückkehren, um erneut einen Versuch zu machen, nicht durchs Examen zu fallen. Er vermeidet bereits die grünen Röcke und roten Halstücher und anderen weltlichen Schmuck und bereitet sich auf eine Veränderung in seinen Verhältnissen vor. Auf diese billige und sparsame Weise versucht Sir Pitt, seine Schulden an die Familie zu begleichen.


Ehe noch diese fröhliche Weihnachtszeit vorüber war, hatte der Baronet auch Mut gefaßt, seinem Bruder einen zweiten Scheck zu geben, und zwar auf die nicht geringe Summe von hundert Pfund. Diese Tat bereitete ihm anfangs entsetzliche Qualen, später aber glühte er bei dem Gedanken, daß er sich nun als einen der großmütigsten Menschen betrachten konnte. Rawdon und sein Sohn schieden schweren Herzens. Der Abschied zwischen Becky und den Damen verlief jedoch ganz munter. Unsere Freundin kehrte nach London zurück, um die Beschäftigungen wiederaufzunehmen, bei der wir sie am Anfang dieses Kapitels antrafen. Unter ihrer Aufsicht war das Haus der Crawleys in der Great Gaunt Street direkt wieder jung geworden und zur Aufnahme Sir Pitts und seiner Familie bereit. Dann kam der Baronet nach London, um seinen Parlamentspflichten zu genügen und die Stellung im Vaterlande einzunehmen, für die ihn sein großer Genius befähigte.

Während der ersten Sitzungsperiode verhehlte der alte Heuchler seine Pläne und machte den Mund nur auf, um eine Petition von Mudbury vorzubringen. Aber er besuchte fleißig die Sitzungen und machte sich mit den Sitten und dem Geschäftsgang des Hauses vertraut. Daheim widmete er sich ganz und gar dem Studium der Blaubücher 3 – sehr zum Schrecken und zur Bewunderung von Lady Jane, die befürchtete, er werde sich durch spätes Schlafengehen und seinen ungeheuren Fleiß noch umbringen. Er machte sich mit den Ministern und [156] Häuptern seiner Partei bekannt und war fest entschlossen, ehe ein paar Jahre ins Land gegangen waren, einer von ihnen zu sein.

Lady Janes Freundlichkeit und Milde hatten in Rebekka solche Verachtung gegenüber der Lady erweckt, daß es der kleinen Frau direkt schwer wurde, sie zu verbergen. Die gütige und einfache Art von Lady Jane ärgerte unsere Freundin Becky, und zeitweise war es ihr unmöglich, die andere ihre Verachtung nicht wenigstens ahnen zu lassen. Auch Lady Jane war Rebekkas Gegenwart unbehaglich. Ihr Gatte sprach beständig nur mit Becky, sie schienen Zeichen des Einverständnisses auszutauschen, und Pitt besprach mit ihr Themen, die er gegenüber seiner Frau nie auch nur erwähnte. Sie verstand zwar nichts davon, aber es war kränkend, still sein zu müssen, noch kränkender, zu wissen, daß man nichts sagen konnte, und zuzuhören, wie die kecke kleine Mrs. Rawdon von einem Gegenstand zum anderen flatterte, stets Worte fand und einen Scherz zur Hand hatte, und dabei im eigenen Haus allein am Kamin zu sitzen und mit ansehen zu müssen, wie sich alle Männer um die Rivalin drängten.

Wenn Lady Jane in Queen's Crawley den Kindern, die sich um ihre Knie scharten, Märchen erzählte (auch der kleine Rawdon war dabei, der sie sehr liebte) und Becky mit verächtlichem Lächeln und Hohn in den grünen Augen ins Zimmer trat, verstummte die arme Lady Jane sogleich. Ihre einfachen kleinen Phantasiegebilde entwichen zitternd wie die Fee im Märchenbuch vor einem mächtigen bösen Engel. Sie konnte nicht weitererzählen, obwohl Rebekka mit fast unmerklichem Spott in der Stimme bat, doch in der bezaubernden Geschichte fortzufahren. Mrs. Rawdon widerten milde Gedanken und einfache Freuden an, sie stimmten nicht mit ihrem Wesen überein. Sie haßte die Menschen, die Gefallen daran fanden. Kinder und Kinderfreunde wies sie verächtlich von sich. »Ich finde keinen Geschmack an Butterbrot«, pflegte[157] sie zu sagen, wenn sie Lady Jane und ihre Art vor Lord Steyne karikierte.

»Ebensowenig wie eine gewisse Person am Weihwasser«, entgegnete der Lord und verbeugte sich grinsend. Dann lachte er mißtönend auf.

Die beiden Damen sahen also einander nicht oft, abgesehen von den Gelegenheiten, wo die Frau des jüngeren Bruders von der anderen etwas wollte und sie deshalb besuchte. Sie nannten sich weiterhin fleißig »meine Liebe« und »meine Teure«, gingen sich aber gewöhnlich aus dem Wege, während Sir Pitt, trotz seiner vielfältigen Beschäftigungen, doch Zeit fand, seine Schwägerin zu sehen.

Das erste Diner des Unterhauspräsidenten nahm Sir Pitt zum Anlaß, um sich seiner Schwägerin in Uniform vorzustellen – in dem alten Diplomatenanzug, den er als Attaché bei der Gesandtschaft in Pumpernickel getragen hatte.

Becky machte ihm viele Komplimente über diese Kleidung und bewunderte ihn fast ebenso wie seine Frau und die Kinder, denen er sich vor dem Weggang gezeigt hatte. Sie erklärte, nur reiner Adel könne das Hofkleid mit Vorteil tragen und nur denen aus altem Geschlecht stehe die culotte court 4. Pitt blickte selbstgefällig auf seine Beine, die in Wirklichkeit nicht mehr Symmetrie oder Rundungen besaßen als der dünne Hofdegen an seiner Seite; er blickte auf seine Beine und glaubte im Innern, er sei unwiderstehlich.

Als er fort war, zeichnete Mrs. Becky eine Karikatur von ihm und zeigte sie Lord Steyne, als dieser am Abend kam. Der Lord, begeistert von der Ähnlichkeit, nahm die Skizze mit. Er hatte Sir Pitt Crawley die Ehre erwiesen, ihn bei Mrs. Rawdon zu treffen, und war außerordentlich gnädig gegenüber dem neuen Baronet und Parlamentsmitglied gewesen. Pitt war betroffen, wie unterwürfig dieser hohe Adlige seine Schwägerin behandelte, wie leicht und geistvoll sie die Unterhaltung zu führen wußte und wie entzückt die anderen Männer der Gesellschaft ihrem Geplauder lauschten. Lord [158] Steyne zweifelte nicht daran, daß der Baronet erst am Anfang seiner Laufbahn im öffentlichen Leben stehe, und war ungeduldig, ihn als Redner zu hören. Da sie Nachbarn waren (die Great Gaunt Street mündet doch auf den Gaunt Square, und Gaunt-Haus bildet bekanntlich eine Seite davon), so hoffte der Lord, daß Lady Steyne, sobald sie in London ankäme, die Ehre haben werde, Lady Crawleys Bekanntschaft zu machen. Er gab nach ein paar Tagen sogar eine Karte bei seinem Nachbarn ab, diesem Nachbarn, von dem weder er noch seine Vorgänger je Notiz genommen hatten, obgleich sie schon ein Jahrhundert lang nebeneinander gelebt hatten.

Inmitten dieser Intrigen und feinen Gesellschaften und klugen und glänzenden Persönlichkeiten fühlte sich Rawdon täglich einsamer. Er durfte öfter in den Klub gehen, mit befreundeten Junggesellen auswärts speisen und kommen und gehen, wann er wollte, ohne daß jemals eine Frage gestellt wurde. Oft ging er mit dem kleinen Rawdon zur Gaunt Street und besuchte die Lady und die Kinder, während Sir Pitt unterwegs zum Parlament oder auf dem Rückweg bei Rebekka vorsprach.

Der ehemalige Oberst saß oft stundenlang schweigend im Hause seines Bruders und dachte und tat sowenig wie möglich. Er war froh, wenn man ihm etwas zu erledigen gab, zum Beispiel Erkundigungen über ein Pferd oder einen Dienstboten einzuholen oder beim Essen den Kindern den Hammelbraten vorzuschneiden. Er war zur Trägheit und Unterwürfigkeit verschüchtert worden. Delila hatte ihn gefangen und ihm das Haar abgeschnitten. 5 Das kühne und sorglose junge Blut von vor zehn Jahren war unterjocht und in einen trägen, unterwürfigen, beleibten Herrn mittleren Alters verwandelt worden.

Die arme Lady Jane wußte, daß Rebekka ihr den Mann weggefangen hatte, obwohl sie und Mrs. Rawdon immer, wenn sie sich trafen, einander mit »meine Liebe« und »meine Teure« anredeten.

Fußnoten

1 Weil Achilles prophezeit worden war, er werde vor Troja fallen, wurde er, in Frauengewänder gekleidet, am Hofe des Lycomedes verborgen gehalten. Da Troja ohne die Hilfe von Achilles nicht genommen werden konnte, begab sich der als Händler verkleidete Odysseus zu Lycomedes und bot Waffen und Schmuck feil. Achilles verriet sich, als er Waffen wählte.

2 (franz.) Gefolge.

3 nach der Farbe ihres Einbandes genannte amtliche englische Veröffentlichungen zur Außenpolitik und Diplomatie.

4 (franz.) Kniehose. – Kleidungsstück des französischen Adels.

5 Delila (s. Anm. Simson ... Delila zu S. 224 des 1. Bandes), von den Fürsten der Philister aufgefordert, dem unüberwindlichen Simson das Geheimnis seiner Kraft zu entlocken, erhielt von ihm zur Antwort, es sei nie ein Schermesser auf sein Haupt gekommen. Während er schlief, schnitt sie ihm die Haare ab, und seine Kraft war gebrochen. (Richter 16, 4-19)

[159] 46. Kapitel
Kämpfe und Prüfungen

Unsere Freunde in Brompton verbrachten inzwischen Weihnachten auf ihre Weise und keineswegs zu fröhlich.

Von den hundert Pfund, auf die sich das Einkommen der Witwe Osborne ungefähr belief, gab sie fast drei Viertel ihren Eltern, damit sie die Ausgaben für sich und ihren kleinen Knaben bestreiten konnten. Mit weiteren hundertzwanzig Pfund, die Joseph schickte, konnte die vierköpfige Familie leidlich bequem auskommen und den Kopf über Wasser halten. Sie wurden versorgt von einem irischen Dienstmädchen, das auch für Clapp arbeitete. Sie waren trotz aller Stürme und Enttäuschungen ihres früheren Lebens sogar noch immer in der Lage, einem Freund eine Tasse Tee anzubieten. Sedley bewahrte immer noch eine gewisse Überlegenheit in den Augen der Familie von Mr. Clapp, seinem früheren Angestellten. Clapp erinnerte sich noch der Zeit, da er an der reichbesetzten Tafel des Kaufmanns am Russell Square auf der Kante des Stuhls saß und ein Glas auf die Gesundheit von Mrs. Sedley, Miss Emmy und Mr. Joseph in Indien leerte. Die Zeit erhöhte noch den Glanz dieser Erinnerungen im Herzen des ehrlichen alten Angestellten. Jedesmal, wenn er aus seinem Zimmer neben der Küche in das Wohnzimmer heraufkam, um mit Mr. Sedley Tee oder Grog zu trinken, pflegte er zu sagen: »So etwas waren Sie früher nicht gewohnt, Sir«, und er trank auf die Gesundheit der Damen ebenso ernst und ehrfurchtsvoll wie in den Tagen ihres größten Glückes. Er hielt Miss Amelias Klavierspiel für die himmlischste Musik, die je zu hören war, und sie selbst für die feinste Dame. Er setzte sich sogar im Klub nie vor Sedley hin, und kein Mitglied der Gesellschaft durfte den Herrn schmähen. Er habe gesehen, wie die bedeutendsten Männer Londons Mr. Sedley die Hand geschüttelt hätten, sagte er. Er habe ihn in Zeiten gekannt, wo man Rothschild täglich auf[160] der Börse mit ihm hätte erblicken können, und er selbst verdanke ihm alles.

Clapp, mit besten Zeugnissen und einer sehr guten Handschrift, hatte bald nach dem Unglück seines Herrn wieder Beschäftigung gefunden. »So ein kleiner Fisch wie ich kann in jedem Eimer schwimmen«, pflegte er zu sagen, und ein Mitglied der Firma, aus der der alte Sedley ausgeschieden war, nahm Mr. Clapp gern in seine Dienste und entschädigte ihn mit einem anständigen Gehalt. Schließlich waren alle seine reichen Freunde von Sedley abgefallen, und nur der arme ehemalige Untergebene blieb ihm treu.

Die Witwe mußte sehr sorgfältig und sparsam sein, um von dem kleinen Rest ihres Einkommens, den sie für sich behielt, ihren geliebten Jungen so zu kleiden, wie es George Osbornes Kind zukam, und die Kosten der billigen Schule zu bestreiten, in die den Knaben zu schicken sie sich nach langem Widerstreben und unter mancherlei geheimen Schmerzen und Befürchtungen hatte bewegen lassen. Nächtelang war sie Lektionen durchgegangen und hatte unverständliche Grammatiken und verworrene Geographiebücher studiert, um George darin unterrichten zu können. Sie hatte sich sogar die lateinische Formenlehre vorgenommen, in der einfältigen Hoffnung, selbst so weit zu kommen, daß sie ihn in dieser Sprache unterrichten könnte. Sich von ihm den ganzen Tag zu trennen und ihn der Gnade des Rohrstockes der Lehrer und den rauhen Händen seiner Schulkameraden auszuliefern war für die schwache, empfindsame ängstliche Mutter fast ebenso schmerzlich, als ob sie ihn zum zweiten Male entwöhnen müßte. Er dagegen war glücklich, in die Schule gehen zu dürfen; er sehnte sich nach Veränderung. Diese kindliche Freude verletzte seine Mutter, der es so schwerfiel, sich von ihm zu trennen. Sie hätte ihn lieber etwas betrübter gesehen, bereute aber doch wieder tief, daß sie es wagte, so selbstsüchtig zu sein und sich ihren eigenen Sohn unglücklich zu wünschen.

[161] Georgy machte große Fortschritte in der Schule, die ein Freund des treuen Anbeters seiner Mutter, des Ehrwürden Mr. Binny, leitete. Er brachte unzählige Preise und Zeugnisse seines Talents mit nach Hause; jeden Abend erzählte er seiner Mutter viele Geschichten von seinen Schulkameraden: was für ein feiner Kerl Lyons war und was für eine Petze Sniffin und daß Steels Vater doch tatsächlich das Fleisch für die Schule lieferte, während Goldings Mutter ihren Sohn jeden Sonnabend mit einer Kutsche abholte, und daß Neat Riemen an den Hosen hatte – durfte er auch Riemen tragen? – und daß der größere Bull so stark war (obwohl er erst beim Eutropius 1 sei), daß es hieß, er könne sogar den Hilfslehrer, Mr. Ward, besiegen. So kannte Amelia alle Jungen der Schule bald ebenso gut wie Georgy selbst. Abends half sie ihm bei den Übungen und sie zerbrach sich ihr Köpfchen über den Aufgaben, als ob sie selbst am nächsten Morgen vor den Lehrer treten müßte. Einst, nach einer Prügelei mit Master Smith, kam Georgy mit einem blauen Auge nach Hause und prahlte gegenüber seiner Mutter und seinem entzückten alten Großvater mit seiner Tapferkeit im Kampf. In Wirklichkeit hatte er sich nicht besonders heldenmütig aufgeführt und ganz entschieden den kürzeren gezogen. Amelia aber hat diesem Smith bis heute noch nicht vergeben, obwohl er jetzt ein friedlicher Apotheker in der Nähe vom Leicester Square ist.

Unter diesen stillen Bemühungen und harmlosen Sorgen verging das Leben der sanften Witwe. Einige Silberfäden in ihrem Haar zeigten den Flug der Zeit an, und auf ihrer schönen Stirn grub sich eine winzige Linie ein. Sie pflegte über diese Zeichen der Zeit zu lächeln. »Was bedeutet das schon für eine alte Frau wie mich?« meinte sie. Ihre einzige Hoffnung war, zu erleben, daß ihr Sohn groß, berühmt und erhaben würde, wie er es verdiente. Sie hob seine Schreibhefte, Zeichnungen und Aufsätze auf und zeigte sie in ihrem kleinen Kreise herum, als ob sie Wunderwerke eines Genies wären. [162] Sie vertraute einige dieser Arbeiten Miss Dobbin an, damit diese sie Georges Tante, Miss Osborne, zeigen würde, und die wiederum könnte sie dann Mr. Osborne selbst zeigen, damit der alte Mann seine Grausamkeit und Hartherzigkeit dem Verstorbenen gegenüber bereuen sollte. Sie hatte alle Fehler und Schwächen ihres Mannes mit diesem begraben und erinnerte sich nur des Geliebten, der sie unter großen Opfern geheiratet hatte, des tapferen und schönen Ehemannes, in dessen Armen sie an dem Morgen gehangen hatte, an dem er ausgezogen war, um für seinen König zu kämpfen und ruhmvoll zu sterben. Der Held mußte vom Himmel auf dieses Musterbild von einem Knaben herablächeln, den er ihr als Trost und Stütze zurückgelassen hatte.

Wir haben gesehen, wie einer von Georges Großvätern (Mr. Osborne) in seinem Lehnstuhl am Russell Square täglich heftiger und düsterer wurde und seine Tochter, trotz ihrer schönen Kutsche und der prächtigen Pferde und ihres Namens auf der Hälfte aller Wohltätigkeitslisten der Stadt, eine einsame, unglückliche, gequälte alte Jungfer war. Sie dachte immer wieder an den schönen kleinen Knaben, den Sohn ihres Bruders, den sie gesehen hatte. Sie sehnte sich danach, in ihrem schönen Wagen zu dem Haus, in dem er wohnte, fahren zu dürfen, und sah sich bei ihren einsamen Spazierfahrten im Park ständig um, in der Hoffnung, ihn sehen zu können. Ihre Schwester, die Bankiersfrau, ließ sich zuweilen herab, ihrem alten Heim und der Gefährtin am Russell Square einen Besuch abzustatten. Sie brachte zwei kränkliche Kinder mit, die von einer geputzten Amme begleitet wurden und schnatterte mit leiser, vornehmer Stimme zu ihrer Schwester über ihre vornehmen Freunde und kicherte viel. Sie erzählte, daß ihr kleiner Frederick das Ebenbild von Lord Claude Lollypop sei und daß ihre süße Maria von der Baronesse bemerkt worden sei, als sie in Roehampton im Eselwagen gefahren seien. Sie drängte die Schwester, sie solle den Papa dahin bringen, daß er etwas für die lieben Herzchen[163] tue. Frederick, so hatte sie beschlossen, sollte in die Garde eintreten, und wenn sie ihm ein Gut beschafften (Mr. Bullock ruinierte sich schon und würde noch Hungers sterben, um Land kaufen zu können), wie sollten sie dann das liebe Mädchen versorgen?

»Ich erwarte dies von dir, liebe Schwester«, pflegte Mrs. Bullock zu sagen, »denn natürlich geht mein Anteil am Vermögen unseres Papas auf das Haupt des Hauses über, wie du weißt. Die liebe Rhoda McMull will die ganzen Besitzungen von Castletoddy frei machen, sobald der arme liebe Lord Castletoddy stirbt, der schon ganz epileptisch ist, und der kleine Macduff McMull wird dann Viscount Castledoddy. Die beiden Mr. Bludyer aus der Mincing Lane haben ihr Vermögen dem kleinen Sohn von Fanny Bludyer verschrieben. Mein lieber Frederick muß unbedingt ein Gut haben, und – und sei so gut und bitte Papa, daß er wieder sein Konto bei uns in der Lombard Street eröffnet, nicht wahr, Liebste. Es sieht nicht gut aus, wenn er zu Stumpy und Rowdy geht.« Nach derartigen Reden, einem Gemisch aus Klatsch über die vornehme Welt und Geldgier, und nach einem Kuß, der der Berührung einer Auster glich, pflegte dann Mrs. Frederick Bullock ihre gestärkten Treibhauspflänzchen einzusammeln und zu ihrem Wagen zurückzutrippeln.

Jeder Besuch, den diese Modedame ihrer Familie abstattete, war unheilvoller für sie. Ihr Vater zahlte mehr und mehr Geld bei Stumpy und Rowdy ein; ihr gönnerhaftes Wesen wurde von Mal zu Mal unerträglicher. Die arme Witwe, die in dem Häuschen in Brompton ihren Schatz bewachte, hatte keine Ahnung, wie eifrig gewisse Leute danach begehrten.

An dem Abend, als Jane Osborne ihrem Vater erzählt hatte, sie habe seinen Enkel gesehen, hatte der alte Mann ihr nichts geantwortet, aber er war auch nicht zornig geworden. Als er sich in sein Zimmer zurückzog, hatte er ihr nicht unfreundlich eine gute Nacht gewünscht. Er mußte über ihre Worte nachgedacht und bei der Familie Dobbin einige Erkundigungen [164] über ihren Besuch eingezogen haben, denn etwa vierzehn Tage danach fragte er sie, wo ihre kleine französische Uhr mit der Kette sei, die sie immer getragen habe.

»Ich hatte sie von meinem Geld gekauft«, sagte sie sehr erschrocken.

»Geh und bestelle dir so eine oder eine bessere, wenn du sie bekommen kannst«, sagte der alte Herr und fiel wieder in sein Schweigen zurück.

In der letzten Zeit hatten die Misses Dobbin Amelia häufig gebeten, dem kleinen George zu erlauben, daß er sie besuchen dürfe. Seine Tante habe Gefallen an ihm gefunden, vielleicht werde sich auch sein Großvater bewegen lassen, sich mit ihm auszusöhnen, meinten sie. Amelia konnte so vorteilhafte Aussichten für den Knaben wahrhaftig nicht zurückweisen, nein, das konnte sie nicht; aber sie erfüllte die Bitte nur sehr schweren und mißtrauischen Herzens. Während der Abwesenheit des Kindes war sie unruhig und empfing es bei seiner Rückkehr stets, als ob es irgendeiner Gefahr entronnen wäre. Der Knabe brachte Geld und Spielsachen mit, die die Witwe eifersüchtig und furchtsam betrachtete. Sie fragte ihn ständig, ob er einen Herrn gesehen habe. Nur den alten Sir William, antwortete er, der ihn im Vierspänner herumgefahren habe, und Mr. Dobbin, der am Nachmittag auf dem schönen Braunen angeritten gekommen sei, im grünen Rock mit rosa Halstuch und einer goldknaufigen Peitsche, und der versprochen habe, ihm den Londoner Tower zu zeigen und ihn mit den Surreyhunden mit auf die Jagd zu nehmen. Schließlich erzählte er einmal: »Es war ein alter Herr mit dicken Augenbrauen und einem breitkrempigen Hut und einer großen Kette mit vielen Petschaften da. Er kam, als der Kutscher das graue Pony mit mir auf dem Rasen herumführte. Er hat mich lange angesehen und sehr gezittert. Ich habe dann nach dem Essen ›Mein Nam' ist Norval‹ 2 aufgesagt. Meine Tante hat angefangen zu weinen. Sie weint immer.« So lautete an jenem Abend Georges Bericht.

[165] Amelia wußte nun, daß der Knabe seinen Großvater gesehen hatte, und erwartete fieberhaft einen Vorschlag, der ganz sicher folgen mußte und der auch wirklich ein paar Tage später kam. Mr. Osborne erbot sich in aller Form, den Knaben bei sich aufzunehmen und ihn zum Erben des Vermögens zu machen, das sein Vater hätte erhalten sollen. Er würde Mrs. George Osborne eine Summe aussetzen, so daß sie ein anständiges Auskommen hätte. Wenn Mrs. George Osborne die Absicht habe, wieder zu heiraten, wie Mr. O. gehört habe, so werde er die Unterstützung nicht rückgängig machen. Es verstehe sich aber von selbst, daß das Kind ausschließlich bei seinem Großvater am Russell Square oder an einem Ort, den Mr. O. bestimmen würde, leben müsse. Gelegentlich solle es ihm gestattet werden, Mrs. George Osborne in ihrer Wohnung zu besuchen. Dieser Antrag wurde ihr eines Tages in einem Brief gebracht und vorgelesen, als ihre Mutter nicht zu Hause und ihr Vater, wie gewöhnlich, in der City war.

In ihrem ganzen Leben hatte man sie nur zwei-oder dreimal zornig gesehen, und Mr. Osbornes Anwalt hatte das Glück, sie in dieser Stimmung zu erleben. Als Mr. Poe ihr den Brief nach dem Vorlesen überreichte, stand sie zitternd auf, wurde purpurrot, zerriß das Papier in hundert Schnipsel und trat sie mit Füßen. »Ich wieder heiraten! Ich Geld nehmen, damit ich mich von meinem Kind trenne! Wer wagt es, mich durch einen solchen Vorschlag zu beleidigen! Sagen Sie Mr. Osborne, daß es ein gemeiner Brief ist – ein gemeiner Brief, und ich habe nicht die Absicht, darauf zu antworten. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Sir.« – »Und sie entließ mich mit einer Verbeugung, die der Königin in einer Tragödie würdig gewesen wäre«, sagte der Anwalt, als er die Geschichte berichtete.

Ihre Eltern bemerkten ihre Aufregung an jenem Tage nicht, und sie erzählte auch nichts von der Unterredung. Sie hatten ihre eigenen Angelegenheiten im Kopf, Angelegenheiten, die auch die unschuldige, nichtsahnende Amelia betrafen. [166] Der alte Herr, ihr Vater, war stets in Spekulationen verwickelt. Wir haben gesehen, wie ihm die Projekte der Weingesellschaft und der Kohlengesellschaft fehlschlugen. Er streifte aber immer noch ratlos in der City herum, und dabei kam ihm eines Tages ein neuer Plan in den Sinn, von dem er sich so viel versprach, daß er sich trotz der Vorstellungen von Mr. Clapp darauf einließ. Er wagte dem ehemaligen Angestellten nie zu sagen, wie tief er sich hatte hineintreiben lassen, und da es stets Mr. Sedleys Grundsatz gewesen war, vor den Frauen nicht von Geldsachen zu reden, so hatten sie keine Ahnung von dem Unheil, das auf sie zukam. Aber schließlich mußte der unglückliche alte Herr doch allmählich das Geständnis machen.

Zuerst geriet man mit den Rechnungen des kleinen Haushalts, die sonst wöchentlich bezahlt worden waren, in Rückstand. Die Wechsel aus Indien seien nicht angekommen, erzählte Mr. Sedley seiner Frau mit verstörtem Gesicht. Da sie bisher ihre Rechnungen sehr regelmäßig bezahlt hatte, so wurden ein paar von den Geschäftsleuten, die die arme Dame um Aufschub bitten mußte, sehr ungehalten, während sie Verzögerungen bei unregelmäßigeren Kunden gewöhnt waren. Emmy lieferte ihren Beitrag heiter, ohne weitere Bemerkung ab und damit konnte sich die kleine Familie unter großen Einschränkungen über Wasser halten. Die ersten sechs Monate vergingen noch einigermaßen erträglich, und der alte Sedley hoffte noch immer, daß seine Aktien steigen würden und alles gut gehen müsse.

Am Ende des halben Jahres trafen jedoch keine sechzig Pfund ein, um dem Haushalt aufzuhelfen, und er geriet in immer größere Verlegenheit. Mrs. Sedley, deren Gesundheitszustand immer schlechter wurde, schwieg oder weinte sich bei Mrs. Clapp in der Küche aus. Der Fleischer war ungemein mürrisch, der Kolonialwarenhändler grob; ein paarmal schon hatte sich der kleine Georgy über das Essen beklagt; Amelia wäre beim Essen mit einem Stück Brot ausgekommen, [167] sie konnte aber nicht mit ansehen, daß ihr Sohn vernachlässigt wurde, und kaufte ihm Kleinigkeiten aus ihrer eigenen Tasche, damit der Junge gesund bliebe.

Endlich erzählten sie es ihr oder erzählten ihr vielmehr eine so verstümmelte Geschichte, wie sie Leute in Geldverlegenheit eben zu erzählen pflegen. Eines Tages, als Amelia ihr Geld empfangen hatte und es abliefern wollte, schlug sie vor, einen gewissen Teil ihres Einkommens zurückzubehalten, da sie für Georgy einen neuen Anzug bestellt hatte.

Da kam es heraus, daß Joseph keine Unterstützung gezahlt hatte und die Familie sich in Schwierigkeiten befand, die Amelia längst schon hätte sehen müssen, wie die Mutter meinte, aber sie kümmerte sich ja um nichts und niemanden außer Georgy. Darauf schob Amelia wortlos der Mutter ihr ganzes Geld über den Tisch zu und ging auf ihr Zimmer, um sich die Augen auszuweinen. An dem Tage hatte sie noch einen Gefühlsausbruch, als sie die Kleider abbestellen mußte, die schönen Kleider, die sie sich für Weihnachten in den Kopf gesetzt hatte. In vielen Unterredungen mit einer kleinen Putzmacherin, ihrer Freundin, hatte sie schon lange Schnitt und Machart abgesprochen.

Das Schlimmste aber war, daß sie die Sache Georgy beibringen mußte, der ein lautes Geschrei erhob. Alle bekämen zu Weihnachten neue Kleider. Die anderen würden ihn auslachen. Er wollte unbedingt neue Kleider haben, sie habe sie ihm versprochen. Die arme Witwe konnte ihm nur Küsse geben. Unter Tränen flickte sie den alten Anzug. Sie durchkramte ihre wenigen Schmucksachen, um zu sehen, ob sie etwas davon verkaufen und damit die gewünschten neuen Sachen anschaffen könnte. Dabei fiel ihr der Kaschmirschal in die Hände, den Dobbin ihr geschickt hatte. Sie erinnerte sich, daß sie früher mit ihrer Mutter einen schönen indischen Laden in Ludgate Hill aufgesucht hatte, wo die Damen dergleichen Artikel zu kaufen pflegten. Ihre Wangen röteten sich, und ihre Augen glänzten vor Freude, als sie an diese Geldquelle [168] dachte, und sie küßte an jenem Morgen ihren George, ehe er in die Schule ging, und lächelte ihm freundlich nach. Der Knabe fühlte, daß in ihren Blicken gute Nachrichten lagen.

Sie packte also ihren Schal in ein seidenes Tuch (auch ein Geschenk des guten Majors), verbarg ihn unter ihrem Mantel und eilte freudegerötet und munter den ganzen Weg zu Fuß nach Ludgate Hill. Sie trippelte an der Parkmauer entlang und lief über die Kreuzungen, so daß sich mancher Mann, an dem sie vorbeieilte, umdrehte und ihrem rosigen hübschen Gesicht nachsah. Sie rechnete sich aus, wie sie den Erlös des Schals verwenden würde. Sie wollte außer den Kleidern auch die Bücher kaufen, die er sich so sehr wünschte und das Schulgeld für ein halbes Jahr bezahlen und ihrem Vater einen Mantel kaufen an Stelle des alten Überrockes, den er trug. Sie hatte sich über den Wert des Geschenkes, das sie vom Major er halten, nicht getäuscht. Es war ein sehr feines schönes Gewebe, und der Kaufmann machte ein gutes Geschäft, als er ihr zwanzig Guineen für ihren Schal gab.

Verwirrt und erstaunt über ihren Reichtum, eilte sie sogleich zum nächsten Buchhändler und kaufte dort den »Helfer der Eltern« 3 und »Sandford und Merton« 4, die sich George so gewünscht hatte. Mit ihrem Päckchen stieg sie dann in einen Wagen und fuhr frohlockend nach Hause. Glücklich schrieb sie in die Bücher mit ihrer schönsten Schrift: »Für George Osborne; zu Weihnachten von seiner lieben Mutter.« Die Bücher mit der schönen zarten Inschrift sind noch jetzt vorhanden.

Sie ging gerade mit den Büchern in der Hand aus ihrem Zimmer, um sie auf Georges Tisch zu legen, wo er sie bei der Rückkehr von der Schule finden sollte, als sie im Flur ihre Mutter traf. Die vergoldeten Einbände der sieben hübschen kleinen Bände fielen der alten Dame auf.

»Was hast du denn da?« fragte sie.

»Ein paar Bücher für Georgy«, antwortete Amelia errötend. »Ich – ich habe sie ihm zu Weihnachten versprochen.«

[169] »Bücher!« rief die alte Dame zornig. »Bücher, wenn im ganzen Haus kein Brot ist – Bücher, wo ich alle meine Schmucksachen verkaufe und mir den indischen Schal von den Schultern gerissen habe und sogar die Silberlöffel weggeben mußte – um dir und deinem Sohn ein Wohlleben zu sichern und deinen guten Vater vor dem Gefängnis zu bewahren, damit uns die Kaufleute nicht unverschämt behandelten und Mr. Clapp seine Miete erhalten sollte. Darauf hat er nämlich ein Recht, denn er ist kein harter Wirt, sondern ein höflicher Mann und selbst Familienvater. Oh, Amelia, du brichst mir das Herz mit deinen Büchern und deinem Jungen, den du ins Unglück stürzt, denn du willst dich ja nicht von ihm trennen. Ach, Amelia, möge dir Gott ein gehorsameres Kind schenken, als ich es gehabt habe. Joseph verläßt seinen Vater auf seine alten Tage, und George könnte versorgt sein und reich werden und wie ein Lord mit einer goldenen Uhr an der Kette um den Hals in die Schule gehen, während mein lieber, lieber alter Mann keinen Shi-i-illing hat.« Hysterisches Schluchzen und Weinen beendete Mrs. Sedleys Rede. Es drang durch alle Räume des kleinen Hauses, so daß alle übrigen weiblichen Bewohner jedes Wort der Unterhaltung verstehen konnten.

»O Mutter, Mutter!« rief die arme Amelia. »Du hast mir nichts gesagt; ich – ich habe ihm die Bücher versprochen; ich – ich habe auch meinen Schal heute früh verkauft. Nimm das Geld – nimm alles!« Und mit zitternden Händen holte sie ihr Silbergeld und ihre Sovereigns heraus, ihre kostbaren, goldenen Sovereigns, und drückte sie ihrer Mutter in die Hände. Diese konnte gar nicht alles fassen, und die Geldstücke fielen auf den Boden und rollten die Treppe hinunter.

Dann begab sie sich auf ihr Zimmer und sank verzweifelt und unglücklich nieder. Jetzt sah sie alles deutlich. Mit ihrer Selbstsucht opferte sie den Knaben. Wäre sie nicht, so könnte er Reichtum, Rang, Erziehung und den Platz seines Vaters [170] haben, die der ältere George um ihretwillen aufgegeben hatte. Sie brauchte nur ein Wort zu sagen, und ihr Vater hätte wieder sein Auskommen, und ihr Sohn würde sein Glück machen. Oh, wie zerknirscht dies zarte, gebeugte Herz war!

Fußnoten

1 römischer Historiker aus dem 4. Jahrhundert. Sein Werk »Breviarium historiae Romanae« (Übersicht über die Geschichte Roms) war ein vielbenutztes Lehrbuch.

2 Zitat aus der Tragödie »Douglas« des englischen Dichters John Home (1722-1808).

3 »The Parent's Assistant«, didaktisches Werk der englischen Schriftstellerin Maria Edgeworth (1767 bis 1849).

4 didaktischer Roman des englischen Rechtsanwalts Thomas Day (1748-1789).

47. Kapitel
Gaunt-Haus

Die ganze Welt weiß, daß Steynes Stadtwohnung am Gaunt Square liegt. Dort mündet die Great Gaunt Street, wohin wir Rebekka zur Zeit des seligen Pitt Crawley zuerst begleiteten.

Wenn man über das eiserne Gitter und durch die geschwärzten Bäume in den Anlagen auf dem Platz blickt, dann sieht man ein paar ärmliche Gouvernanten mit blassen Schutzbefohlenen rund um den trübseligen Grasfleck gehen, in dessen Mitte sich die Statue von Lord Gaunt erhebt, der bei Minden gekämpft hat und eine Perücke mit drei Schwänzchen trägt, sonst aber wie ein römischer Kaiser gekleidet ist.

Das Gaunt-Haus nimmt fast eine Seite des Platzes ein, die übrigen drei Seiten werden von Häusern begrenzt, deren Eigentümer meist adlige Witwen sind – hohe, düstere Häuser mit steinernen Fensterkreuzen, hinter denen selten Licht brennt, und Türen, von denen die Gastfreundschaft ebenso geflohen zu sein scheint wie die geschnürten Lakaien und Fackeljungen aus der alten Zeit, die ihre Fackeln in den blanken, eisernen Löschhörnern auszulöschen pflegten, die noch immer neben den Lampen über der Treppe hängen. Firmenschilder sind auf den Platz gedrungen: Ärzte – die Diddlesex-Bank, westliche Filiale – die englisch-europäische Reunionsgesellschaft und so weiter. Das bietet alles einen recht trübseligen Anblick, und Lord Steynes Palast sieht nicht weniger trübselig aus. Alles, was ich davon gesehen habe, ist die große [171] Frontmauer – mit den Säulen am Haupttor, durch die zuweilen ein alter Portier mit fettem, düsterem, rotem Gesicht schaute – und über der Mauer die Fenster der Bodenkammern und Schlafzimmer und die Schornsteine, aus denen jetzt selten Rauch aufsteigt, denn der gegenwärtige Lord Steyne lebt in Neapel und zieht die Aussicht auf den Golf und Capri und den Vesuv dem trübseligen Anblick der Mauer am Gaunt Square vor.

Ein paar Dutzend Meter weiter in der New Gaunt Street befindet sich ein kleines, bescheidenes Hinterpförtchen, das in Richtung der Stallgebäude führt und kaum von den übrigen Stalltüren zu unterscheiden ist. Manch ein verschlossener kleiner Wagen hat aber vor dieser Tür gehalten, wie mir mein Berichterstatter, der kleine Tom Eaves, der alles weiß und mir die Stätte gezeigt hat, erzählte.

»Der Prinz 1 und Perdita 2 sind durch diese Tür ein und aus gegangen«, hat er mir oft erzählt; »Mary Ann Clarke 3 ist dort mit dem Herzog von ... gewesen. Die Tür führt zu den berühmten petits appartements 4 von Lord Steyne. Eins ist ganz in Elfenbein und weißem Atlas gehalten, ein anderes in Ebenholz und schwarzem Samt. Es gibt darin ein kleines Bankettzimmerchen nach dem Muster des Hauses von Sallust 5 in Pompeji, von Cosway 6 gemalt, und eine kleine Privatküche, in der jede Bratpfanne aus Silber und alle Spieße aus Gold sind. Hier war es, wo Philippe Egalité von Orléans 7 Rebhühner röstete, an jenem Abend, wo er und der Marquis von Steyne von einer großen Persönlichkeit beim L'hombre 8 hunderttausend Francs gewannen. Ein Teil des Geldes ging zur Französischen Revolution, mit einem weiteren wurde Lord Gaunts Marquiswürde und sein Hosenbandorden gekauft und das übrige ...«

Es liegt jedoch nicht in unserer Absicht, zu berichten, was aus dem übrigen wurde. Der kleine Tom Eaves, der über anderer Leute Angelegenheiten Bescheid weiß, kann vorrechnen, wo jeder Shilling der Summe geblieben ist.

[172] Außer seinem Palast in der Stadt besaß der Marquis Schlösser und Paläste in verschiedenen Gegenden der drei Königreiche. In den Reisehandbüchern kann man die Beschreibung finden: Schloß Strongbow mit seinen Wäldern am Ufer des Shannon, Schloß Gaunt in Carmarthenshire, wo Richard II. 9 gefangengenommen wurde, und Gauntly Hall in Yorkshire, wo es angeblich zweihundert silberne Teekannen für das Frühstück der Gäste des Hauses und allerlei entsprechend prächtige Sachen geben soll, und dann noch Stillbrook in Hampshire, der Privatbesitz des Lords, eine bescheidene Residenz, an deren wundervolle Einrichtung wir uns noch gut erinnern und die nach dem Ableben des Lords von einem berühmten Auktionar versteigert wurde.

Die Marquise von Steyne gehörte zu der berühmten alten Familie der Caerlyons, der Marquis von Camelot, die seit der Bekehrung des ehrwürdigen Druiden 10, ihres ersten Vorfahren, fest an ihrem alten Glauben gehangen haben und deren Stammbaum weit über die Zeit zurückgeht, da König Brutus 11 auf den britischen Inseln landete. Der Titel des ältesten Sohnes des Hauses ist Pendragon. Die Söhne heißen seit undenklichen Zeiten stets Arthur, Uther und Caradoc; ihre Köpfe sind in mancher loyalen Verschwörung gefallen. Elisabeth 12 schlug dem Arthur ihrer Zeit den Kopf ab, der Kammerherr bei Philipp und Maria 13 gewesen war und Briefe zwischen der schottischen Königin 14 und ihren Onkeln, den Guisen 15, hin und her getragen hatte. Ein jüngerer Sohn des Hauses war Offizier des großen Herzogs 16 und zeichnete sich in der berühmten Bartholomäusnacht 17 aus. Während der ganzen Gefangenschaft Maria Stuarts war das Haus Camelot mit ihr verschworen. Sie litten durch ihre Ausgaben für die Rüstung gegen die Spanier zur Zeit der Armada 18 ebensoviel Schaden wie durch die Strafen und Beschlagnahmungen, die Elisabeth über sie verhängte, weil sie katholische Priester verbargen, hartnäckig den Religionseid verweigerten und papistische Vergehen begingen. Ein Renegat zur Zeit Jakobs I. 19 wurde für [173] kurze Zeit durch die Argumente dieses großen Theologen seinem Glauben abtrünnig, und die Vermögenslage der Familie besserte sich durch diese rechtzeitige Schwäche wieder etwas. Aber der Graf von Camelot kehrte unter der Regierung Karls I. 20 wieder zum alten Glauben der Familie zurück, und sie fuhren fort, für diesen Glauben zu kämpfen und sich dafür zugrunde zu richten, solange es noch einen Stuart gab, der eine Rebellion leiten oder anstiften konnte.

Lady Mary Caerlyon war in einem Pariser Kloster erzogen worden; die Dauphine Marie Antoinette 21 war ihre Patin. In der Glanzzeit ihrer Schönheit war sie an Lord Gaunt verheiratet worden – verkauft, sagten manche –, der damals in Paris war und auf Banketten beim Herzog von Orléans dem Bruder der Dame riesige Summen abgewonnen hatte. Das berühmte Duell des Grafen Gaunt mit dem Grafen de la Marche von den Grauen Musketieren führte das Gerücht darauf zurück, daß sich dieser Offizier (er war Page gewesen und ein Liebling der Königin) um die Hand der schönen Lady Mary Caerlyon bemühte. Sie wurde an Lord Gaunt verheiratet, während der Graf noch an seinen Wunden daniederlag, zog ins Gaunt-Haus ein und spielte für kurze Zeit am glänzenden Hof des Prinzen von Wales eine Rolle. Fox trank auf ihre Gesundheit, Morris und Sheridan schrieben Lieder auf sie, Malmesbury machte ihr seine besten Verbeugungen, Walpole erklärte, sie sei bezaubernd, und Devonshire war fast eifersüchtig auf sie. Sie jedoch wurde durch die wilden Freuden und Vergnügungen, in die man sie hineingerissen hatte, abgeschreckt und zog sich nach der Geburt zweier Söhne in ein Leben frommer Abgeschiedenheit zurück. Kein Wunder, daß Lord Steyne, der Vergnügen und Lustigkeit liebte, nach der Heirat nicht oft an der Seite der ängstlichen, schweigsamen, abergläubischen, unglücklichen Lady zu sehen war.

Der obenerwähnte Tom Eaves (der in unserer Geschichte nur auftaucht, weil er alle hohen Persönlichkeiten Londons [174] und die Geschichte und die Geheimnisse jeder Familie kennt) hatte noch ein paar weitere Aufschlüsse über Lady Steyne zu geben, deren Wahrheit nicht verbürgt ist.

»Die Demütigungen«, sagte Tom oftmals, »denen diese Dame in ihrem eigenen Hause ausgesetzt war, sind entsetzlich; Lord Steyne hat sie gezwungen, sich mit Frauen an einen Tisch zu setzen, mit denen ich Mrs. Eaves nicht verkehren ließe, und kostete es mich das Leben: Mit Lady Crackenbury, Mrs. Chippenham, mit Madame de la Cruchecassée, der Frau des französischen Gesandtschaftssekretärs, kurz – mit seiner jeweiligen Geliebten.« Tom Eaves, der seine Frau ermordet hätte, wenn sie diese Damen auch nur gekannt hätte, war nur zu froh, ein Kopfnicken oder eine Einladung zum Essen von ihnen zu erhalten. »Glauben Sie etwa, daß diese Frau aus dieser Familie, die ebenso stolz ist wie die Bourbonen und gegen die die Steynes nur Lakaien, Emporkömmlinge von gestern sind, denn wenn man es recht betrachtet, so stammen sie nicht von den alten Gaunts, sondern von einer jüngeren, zweifelhaften Linie ab, glauben Sie denn etwa« – der Leser muß sich erinnern, daß immer noch Tom Eaves spricht –, »daß die Marquise von Steyne, die hochmütigste Frau Englands, sich ohne Ursache ihrem Mann unterworfen hätte? Pah! Ich sage Ihnen, sie hat geheime Gründe dazu; ich sage Ihnen, daß der Abbé de la Marche, der während der Emigration hier war und in die Quiberon-Affäre 22 mit Puisaye und Tinténiac verwickelt wurde, der Oberst der Grauen Musketiere war, mit dem sich Steyne im Jahre sechsundachtzig duelliert hatte. Er war wieder mit der Marquise zusammengetroffen, und erst als der ehrwürdige Oberst in der Bretagne erschossen worden war, begann Lady Steyne mit den strengen Andachtsübungen, denen sie sich jetzt unterwirft. Sie schließt sich täglich mit ihrem Beichtvater ein und geht jeden Morgen zum Gottesdienst am Spanish Place. Ich habe sie dort beobachtet, das heißt, ich bin zufällig dort vorbeigekommen, und Sie können sich darauf verlassen, daß irgendein [175] Geheimnis dahintersteckt. Die Menschen sind niemals so unglücklich, wenn sie nicht etwas zu bereuen haben«, fügte Tom Eaves mit schlauem Kopfnicken hinzu; »und verlassen Sie sich darauf, diese Frau wäre nicht so unterwürfig, wenn der Marquis nicht ein Schwert über ihrem Haupte hielte.«

Wenn Mr. Eaves recht berichtete, mußte diese Dame in hoher Stellung viele geheime Kränkungen erdulden und manchen stillen Kummer unter einem ruhigen Gesicht verbergen.

Wir aber, meine Brüder, deren Namen nicht im Adelskalender stehen, können uns also mit dem angenehmen Gedanken trösten, wie unglücklich die, die über uns stehen, sein können und daß dem Damokles, der auf Seidenkissen sitzt und von goldenem Geschirr ißt, ein furchtbares Schwert über dem Kopf schwebt, in Gestalt eines Gerichtsdieners, einer Erbkrankheit oder eines Familiengeheimnisses, das von Zeit zu Zeit gespenstisch durch die gestickten Vorhänge blinkt und eines Tages sicher auf die rechte Stelle herabfallen wird.

Wenn der Arme seine Lage mit der des Reichen vergleicht, so findet er (immer nach Mr. Eaves) dabei noch eine andere Trostquelle. Der, der wenig oder kein Vermögen zu hinterlassen oder zu erben hat, kann mit seinem Vater oder Sohn in gutem Einvernehmen leben. Der Erbe eines großen Fürsten wie Lord Steyne dagegen muß ärgerlich sein, wenn er zu lange von seinem Königreich ferngehalten wird, und er wird den derzeitigen Inhaber des Thrones nicht mit ausgesprochen freundlichen Blicken betrachten.

»Sie können es als allgemeine Regel ansehen«, sagte der hämische alte Eaves stets, »daß sich in vornehmen Familien Vater und Erstgeborener stets hassen. Der Kronprinz steht immer in Opposition zur Krone oder strebt danach. Shakespeare kannte die Welt, mein guter Herr, wenn er beschreibt, wie Prinz Heinz 23 (von dessen Familie die Gaunts abzustammen vorgeben, obwohl sie mit Johann von Gaunt 24 ebensowenig verwandt sind wie Sie) die Krone seines Vaters aufsetzt, [176] so gibt er damit eine natürliche Beschreibung aller rechtmäßigen Erben. Oder wollen Sie vielleicht behaupten, daß Sie, wenn Sie ein Herzogtum und ein Einkommen von täglich tausend Pfund erben könnten, sich nicht nach dem Besitze sehnen würden? Pah! Es ist ganz natürlich, daß jeder vornehme Mann, der selbst dieses Gefühl gegen seinen Vater gehegt hat, wissen muß, daß sein Sohn ebenso gegen ihn fühlt und deshalb Verdacht und Feindseligkeit gegen ihn unvermeidlich sind. Und dann die Gefühle der älteren Söhne gegen die jüngeren! Sie wissen, mein Lieber, daß jeder älteste Sohn seine jüngeren Brüder als natürliche Feinde betrachtet, die ihn einer Menge baren Geldes berauben, das ihm von Rechts wegen zukommt. Ich habe gehört, wie George Mac-Turk, Lord Bajazets ältester Sohn, oftmals sagt, wenn es nach ihm ginge, so würde er, sobald er die Regierung anträte, wie die Sultane sein Vermögen dadurch entlasten, daß er allen seinen jüngeren Brüdern die Köpfe abschlagen ließe; und so steht die Sache mehr oder weniger bei allen. Ich sage Ihnen, in ihrem Herzen sind sie alle Türken. Pah, Herr, die kennen die Welt.«

Hier kam zufälligerweise ein vornehmer Herr vorüber, und Tom Eaves' Hut flog vom Kopfe. Er stürzte mit einer Verbeugung und einem Lächeln vorwärts, die bewiesen, daß er die Welt auch kannte, und zwar auf Eavessche Weise. Tom, der jeden Shilling seines Vermögens in Renten angelegt hatte, kann sehr gut seine Neffen und Nichten lieben und gegenüber Höherstehenden kein anderes Gefühl hegen als den steten edelmütigen Wunsch, bei ihnen zu speisen.

Zwischen der Marquise und der natürlichen Liebe einer Mutter zu ihren Kindern erhob sich die grausame Schranke des Glaubensunterschiedes. Die Liebe, die die fromme Dame gegenüber ihren Söhnen fühlte, machte sie nur noch furchtsamer und unglücklicher. Der Abgrund, der sie von ihnen trennte, war verhängnisvoll und unüberwindlich. Sie konnte weder ihre schwachen Arme hinüberstrecken noch ihre Kinder [177] zu ihrer Seite herüberziehen, wo nach ihrem Glauben das alleinige Heil lag. In der Jugendzeit seiner Söhne kannte Lord Steyne, der ein tüchtiger Gelehrter und sehr spitzfindig war, auf dem Lande abends nach dem Essen beim Wein kein größeres Vergnügen, als den Erzieher der Knaben, den ehrwürdigen Trail (jetzt Lordbischof von Ealing), gegen den Beichtvater seiner Gemahlin, Pater Mole, zu hetzen und Oxford 25 gegen Saint-Acheul 26 auszuspielen. Er rief abwechselnd: »Bravo, Latimer 27! Gut gesagt, Loyola 28!« und versprach Mole ein Bistum, wenn er übertreten wolle, und gelobte, allen seinen Einfluß aufzubieten, um Trail einen Kardinalshut zu verschaffen, wenn er abfallen würde. Keiner der Geistlichen gab zu, jemals besiegt worden zu sein, und obwohl die zärtliche Mutter hoffte, daß ihr jüngster und liebster Sohn zu ihrer Kirche – seiner Mutterkirche – übergehen würde, so erwartete die fromme Dame doch eine schreckliche, traurige Enttäuschung – eine Enttäuschung, die die Strafe für die Sünden ihrer Ehe zu sein schien.

Lord Gaunt heiratete, wie jeder, der häufig im Adelskalender blättert, weiß, Lady Blanche Thistlewood, eine Tochter des edlen Hauses Bareacres, das in dieser wahren Geschichte schon einmal erwähnt wurde. Dem jungen Paar war ein Flügel im Gaunt-Haus angewiesen worden. Das Haupt der Familie wollte es, denn solange er regierte, wollte er unumschränkt regieren. Sein Sohn und Erbe war wenig zu Hause, vertrug sich nicht mit seiner Frau und borgte sich Geld über das geringe Einkommen hinaus, das ihm sein Vater gewährte, auf Wechsel, die nach dem Tode des Vaters fällig waren. Der Marquis kannte jeden Shilling von seines Sohnes Schulden, und als er viel betrauert starb, fanden sich bei ihm selbst viele von seines Sohnes Schuldscheinen, die er den Kindern seines jüngsten Sohnes hinterließ.

Da Lady Gaunt zum Kummer des Lords und zur großen Freude seines natürlichen Feindes, seines Vaters, keine Kinder hatte, wurde Lord George Gaunt aus Wien zurückgerufen, [178] wo er mit Walzertanzen und Diplomatie beschäftigt war, und erhielt den Auftrag, ein Ehebündnis mit Joan, der einzigen Tochter von John Jones, dem ersten Baron Helvellyn und Chef der Bankiersfirma Jones, Brown und Robinson in der Threadneedle Street, zu schließen. Aus dieser Verbindung entsprangen mehrere Söhne und Töchter, deren Leben und Taten nicht in unsere Geschichte gehören.

Die Ehe war anfänglich glücklich. Lord George Gaunt konnte nicht nur lesen, sondern auch einigermaßen richtig schreiben. Er sprach geläufig Französisch und war einer der besten Walzertänzer Europas. Bei diesen Talenten und seinem Familieneinfluß in England bestand kein Zweifel, daß der Lord in seinem Beruf zu höchsten Würden aufsteigen würde. Seine Gemahlin fühlte sich an den Höfen zu Hause, und ihr Reichtum ermöglichte es ihr, in den Städten des europäischen Kontinents, wohin sie die diplomatischen Pflichten ihres Mannes brachten, ein glänzendes Haus zu führen. Man sprach schon davon, daß er zum Gesandten ernannt werden würde, und schloß im Klub der Reisenden Wetten ab, daß er in kurzer Zeit Botschafter sein würde, als sich plötzlich dunkle Gerüchte über das außerordentliche Benehmen des Staatsmannes zu verbreiten begannen. Bei einem großen Essen, das sein Vorgesetzter allen Diplomaten gab, war er plötzlich aufgesprungen und hatte erklärt, eine pâté de foie gras 29 sei vergiftet, und einmal war er zu einem Ball im Hotel des bayrischen Gesandten Graf Springbock-Hohenlaufen, mit geschorenem Kopfe und als Kapuzinermönch gekleidet, erschienen. Es war kein Maskenball, wie manche einem einreden wollten. Es sei etwas Seltsames, flüsterten die Leute. Sein Großvater sei auch so gewesen. Es läge in der Familie.

Seine Frau und seine Kinder kehrten nach England zurück und zogen ins Gaunt-Haus. Lord George gab seinen Posten auf dem Kontinent auf und erhielt, wie die Zeitungen berichteten, einen anderen in Brasilien. Man wußte es aber [179] besser; er kehrte nie von Brasilien zurück, starb nicht dort, lebte nicht dort, war überhaupt niemals dort gewesen. Er war nirgends, er war verschollen. »Brasilien«, sagte ein Klatschmaul grinsend zum anderen, »Brasilien ist St. John's Wood, Rio de Janeiro ist ein von vier Mauern umgebenes Haus, und George Gaunt ist bei einem Wärter akkreditiert, der ihm den Zwangsjackenorden verliehen hat.« Das sind die Leichenreden, die die Menschen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit einander halten.

Zwei- bis dreimal wöchentlich suchte in den frühesten Morgenstunden die arme Mutter zur Strafe für ihre Sünden den armen Kranken auf. Zuweilen lachte er sie an (und sein Gelächter war schlimmer, als wenn man ihn weinen hörte), zuweilen fand sie den glänzenden eleganten Diplomaten des Wiener Kongresses, wie er ein Kinderspielzeug herumzog oder die Puppe des Kindes seines Wärters wiegte. Zuweilen erkannte er sie und Pater Mole, ihren Beichtvater und Begleiter, öfter aber erinnerte er sich nicht, wie er sich an Frau, Kinder, Liebe, Ehrgeiz und Eitelkeit nicht erinnerte. Aber niemals vergaß er die Essenszeit und pflegte zu weinen, wenn der Wein nicht stark genug war.

Die arme Mutter hatte einen geheimnisvollen Makel im Blut aus ihrem alten Geschlecht mitgebracht. Das Übel war ein paarmal in der Familie ihres Vaters ausgebrochen, aber lange ehe Lady Steyne gesündigt hatte und mit Fasten, Tränen und Bußübungen ihr Sühneopfer gebracht hatte. Der Stolz ihres Geschlechts war geschlagen wie der erste Sohn Pharaos 30. Das düstere Zeichen von Schicksal und Verdammnis stand an der Tür, an der hohen alten Tür, unter der Krone und dem geschnitzten Wappen.

Inzwischen wuchsen die Kinder des abwesenden Lords lustig auf, ohne zu ahnen, daß auch auf ihnen der Fluch lag. Anfangs sprachen sie viel von ihrem Vater und machten Pläne für seine Rückkehr. Dann verschwand der Name des lebenden Toten allmählich aus ihrem Munde – endlich erwähnten [180] sie ihn gar nicht mehr. Die alte gebeugte Großmutter zitterte jedoch bei dem Gedanken, daß diese die Erben von ihres Vaters Ehre, aber auch von seiner Schande seien, und wartete furchtsam auf den Tag, wo der entsetzliche Fluch ihrer Ahnen auf die Kinder fallen würde.

Diese dunkle Vorahnung verfolgte auch Lord Steyne. Er versuchte das schreckliche Gespenst in einem roten Meer von Wein und Vergnügungen zu ertränken, und manchmal verlor er es inmitten lustiger Gesellschaft auch aus den Augen. Aber wenn er allein war, kehrte es stets zu ihm zurück, und mit den Jahren nahm es immer drohendere Gestalt an. »Ich habe deinen Sohn genommen«, sagte es, »warum nicht auch dich? Eines Tages kann ich auch dich in ein Gefängnis sperren wie deinen Sohn George. Ich kann schon morgen deinen Kopf berühren, und aus ist es mit Vergnügungen und Ehrungen, Festen und Schönheit, Freunden, Schmeichlern, französischen Köchen, schönen Pferden und Häusern – dafür gibt es ein Gefängnis, einen Wärter und einen Strohsack wie bei George Gaunt.«

Dann aber verhöhnte der Lord das Gespenst, das ihn bedrohte, denn er kannte ein Mittel, durch das er seinen Feind um die Beute betrügen konnte.

Es herrschte also Glanz und Reichtum hinter den hohen verzierten Portalen vom Gaunt-Haus mit ihren rauchgeschwärzten Grafenkronen und Jahreszahlen, aber wohl kaum großes Glück. Die Feste, die dort gegeben wurden, gehörten zu den großartigsten von ganz London, schufen aber keine übermäßige Befriedigung, außer bei den Gästen, die am Tische des Lords saßen. Wäre er nicht ein so großer Herr gewesen, so hätten ihn wahrscheinlich nur wenige besucht. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit beurteilt man aber die Sünden sehr hoher Persönlichkeiten mit Nachsicht. »Nous regardons à deux fois« 31, sagte die französische Dame, »ehe wir einen Menschen von des Lords unzweifelhaften Qualitäten verurteilen.« Ein paar notorische Krittler und ängstliche [181] Moralisten hielten sich zwar über Lord Steyne auf, kamen aber nur zu gern, wenn er sie einlud.

»Lord Steyne treibt es wirklich zu arg«, meinte Lady Slingstone, »es geht aber alle Welt hin. Ich muß bloß aufpassen, daß meine Töchter keinen Schaden nehmen.«

»Ich verdanke dem Lord viel, ja alles im Leben«, erklärte Ehrwürden Dr. Trail, und er überlegte, daß der Erzbischof doch schon recht schwächlich sei, und Mrs. Trail und ihre Töchter hätten lieber den Gottesdienst als eine Gesellschaft bei Lord Steyne versäumt.

»Seine Moral ist zwar schlecht, aber, zum Henker, er hat den besten Champagner in ganz Europa«, sagte der kleine Lord Southdown zu seiner Schwester, als sie ihm sanfte Vorstellungen machte.

Sie hatte nämlich vor ihrer Mama entsetzliche Geschichten über die Vorkommnisse im Gaunt-Haus gehört. Und was Sir Pitt Crawley, Baronet, betrifft – Sir Pitt, dieses Muster der Wohlanständigkeit, Sir Pitt, der bei Missionsversammlungen präsidierte –, so dachte er keinen Augenblick daran, nicht hinzugehen.

»Wo du Persönlichkeiten wie den Bischof von Ealing und die Gräfin Slingstone siehst, Jane, kannst du sicher sein, daß wir nicht fehl am Platze sind«, pflegte der Baronet zu sagen. »Der hohe Rang und Stand Lord Steynes erlauben ihm, über Leute in unserer Stellung zu herrschen. Der höchste Beamte einer Grafschaft, meine Liebe, ist ein respektabler Mann. Übrigens waren George Gaunt und ich früher sehr vertraut; als wir Attachés in Pumpernickel waren, war ich sein Vorgesetzter.«

Kurz, jeder machte diesem bedeutenden Mann seine Aufwartung – jeder, der zu Gast gebeten wurde. Auch du, lieber Leser (leugne es nicht), und ich, der Verfasser der Geschichte, würden gehen, wenn wir eingeladen würden.

Fußnoten

1 Gemeint ist der Prinz von Wales, der spätere König Georg IV.

2 Beiname der englischen Schauspielerin Mary Robinson (1758-1800), Geliebte des Prinzen von Wales.

3 (1776-1852), Geliebte des Herzogs Friedrich von York.

4 (franz.) kleine Gemächer.

5 (86-34 v.u.Z.), römischer Historiker und Dichter.

6 Richard Cosway (1742-1821), englischer Miniaturmaler.

7 Louis-Philippe-Joseph Herzog von Orléans, genannt Egalité (1747-1793), Anhänger der Jakobiner; unterstützte die Revolution finanziell; stimmte 1793 für die Hinrichtung von Ludwig XVI. und wurde daraufhin unter dem Verdacht, nach der Krone zu streben, hingerichtet.

8 spanisches Kartenspiel.

9 (1367-1400), König von England von 1377 bis 1399; wurde 1399 von dem späteren König Heinrich IV., der nach der Krone strebte, gefangengenommen und zum Abdanken gezwungen.

10 keltische Priester in Gallien und Britannien.

11 legendärer Gründer des britischen Volkes; soll mit einer Schar Überlebender von Troja nach England gezogen sein und die dort lebenden Riesen vernichtet haben.

12 Elisabeth I. (1533-1603), Königin von England von 1558 bis 1603; förderte die Entwicklung des englischen Bürgertums durch Begünstigung der Schiffahrt, Privilegierung von Handelskompanien, Gründung von Banken usw.; wehrte die Umsturzversuche der feudal-katholischen Reaktion erfolgreich ab, an deren Spitze Maria Stuart (1542-1587), Königin von Schottland von 1542 bis 1567, stand; hielt diese fast 20 Jahre in Gefangenschaft und ließ sie hinrichten.

13 Philipp II. (1527-1598), König von Spanien von 1555 bis 1598, und seine Gemahlin Maria I., die Blutige (1516-1558), Königin von England von 1544 bis 1558; standen an der Spitze der feudal-katholischen Reaktion in Europa.

14 Gemeint ist Maria Stuart (s. Anm. Elisabeth zu ders. S.).

15 Gemeint sind François Herzog von Guise (1519-1563) und Charles Herzog von Guise (1524-1574), die die feudal-katholische Reaktion in Frankreich vertraten.

16 Gemeint ist François Herzog von Guise (s. vorhergehende Anm.).

17 In der Nacht zum 24. 8. (dem Bartholomäustag) 1572 wurde auf Veranlassung der katholischen Königinmutter Katharina von Medici (1519-1589) ein verheerendes Blutbad unter den Protestanten von Paris angerichtet.

18 spanische Flotte, die sog. Unbesiegbare Flotte; wurde 1588, nach der Hinrichtung der Maria Stuart (s. Anm. Elisabeth zu ders. S.), von Philipp II. gegen England eingesetzt und fast völlig vernichtet.

19 (1566-1625), Sohn Maria Stuarts; war Protestant und wurde nach der von den Protestanten erzwungenen Abdankung seiner Mutter König von Schottland (1567), nach dem Tod Königin Elisabeths König von England (1603); verfaßte protestantische Schriften, die vom Papst auf den Index gesetzt wurden.

20 (1600-1649), König von England und Schottland von 1625 bis 1649, Sohn Jakobs I.; versuchte den Absolutismus wieder zu stärken und eine Versöhnung mit dem Katholizismus durchzusetzen. Seine Versuche, das Parlament zu entmachten, führten 1642 zur englischen bürgerlichen Revolution unter Oliver Cromwell (1599-1658). Er wurde 1649 hingerichtet.

21 (1755-1793), Tochter Maria Theresias, Gemahlin Ludwigs XVI.

22 Am 20. Juli 1795 landete bei dem nordfranzösischen Ort Quiberon eine kleine Gruppe bewaffneter französischer Emigranten unter Graf von Puisaye (1755-1827) und Chevalier de Tinténiac (hingerichtet 1795); sie wurde von Anhängern der Französischen Revolution geschlagen, und die Gefangenen wurden hingerichtet.

23 In Shakespeares Drama »König Heinrich IV., Zweiter Teil« setzt sich Prinz Heinz die Krone aufs Haupt, während sein Vater, König Heinrich IV., noch im Sterben liegt (IV, 4).

24 Johann von Gaunt, Herzog von Lancaster (1340-1399), vierter Sohn des englischen Königs Eduard III. und Vater König Heinrichs IV.

25 Stadt in Südengland mit sechs theologischen (meist anglikanischen) Schulen.

26 Ort in Nordfrankreich mit einer Jesuitenschule.

27 Hugh Latimer (1485-1555), führender Protestant während der englischen Reformation; wurde verbrannt.

28 Ignatius von Loyola (1491-1556), Gründer des katholischen Ordens der Jesuiten, eines der Hauptwerkzeuge der katholischen Reaktion gegen die Reformation.

29 (franz.) Gänseleberpastete.

30 Nach dem Alten Testament ließ Gott als Strafe für die ungläubigen Ägypter »alle Erstgeburt ... unter Mensch und Vieh« in einer Nacht sterben, darunter auch den »ersten Sohn Pharaos« (2. Mose 12, 12 u. 29).

31 (franz.) Wir überlegen es uns zweimal.

[182] 48. Kapitel
In dem der Leser in die allerbeste Gesellschaft eingeführt wird

Beckys freundliche Aufmerksamkeit gegenüber dem Haupt der Familie ihres Mannes sollte schließlich großartig belohnt werden. Nach dieser Belohnung, die gar nicht einmal sehr greifbarer Natur war, strebte die kleine Frau begieriger als nach materiellen Vorteilen. Wenn sie schon kein tugendhaftes Leben führen wollte, so wollte sie doch wenigstens im Ruf der Tugend stehen, und wir wissen, daß einer Dame der vornehmen Welt dieser Wunsch erst erfüllt wird, wenn sie in Schleppe und Federn ihrem König bei Hofe vorgestellt worden ist. Von diesem erlauchten Treffen kommen sie, als ehrbare Frauen gestempelt, zurück. Der Oberzeremonienmeister stellt ihnen ein Zeugnis ihrer Tugend aus. Und wie verdächtige Waren und Briefe in der Quarantäne durch einen Ofen geschickt und mit aromatischem Essig besprengt werden, worauf man sie für rein erklärt, so geht auch manche Dame, die in zweifelhaftem Ruf steht und ansteckend wirken könnte, durch die heilsame Feuerprobe der Vorstellung bei Hofe und kommt völlig makellos wieder heraus.

Lady Bareacres, Lady Tufto, Mrs. Bute Crawley auf dem Lande und andere Damen, die mit Mrs. Rawdon Crawley in Berührung gekommen waren, mochten wohl pfui rufen bei dem Gedanken, daß diese abscheuliche kleine Abenteurerin ihren Knicks vor dem König hatte machen dürfen. Sie mochten beteuern, daß die liebe, gute Königin Charlotte 1, wenn sie noch gelebt hätte, nie eine so schlecht angesehene Person in ihren keuschen Salon eingelassen hätte. Wenn wir aber bedenken, daß Mrs. Rawdon in der erhabenen Gegenwart des ersten Gentleman von Europa ihr Examen bestand und gewissermaßen das Diplom eines guten Rufes erhielt, so wäre es einfach Untreue, länger an ihrer Tugend zu zweifeln. Ich für mein Teil blicke mit Liebe und Verehrung auf diese [183] große historische Persönlichkeit zurück. Ach, wie hoch und herrlich muß man auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit dann die Würde eines Gentleman einschätzen, wenn dieses ehrenwerte und erlauchte Wesen durch den einstimmigen Beifall des vornehmen und gebildeten Teils des englischen Reiches mit dem Titel »Erster Gentilhomme des Königreichs« belegt wurde! Erinnerst du dich noch, lieber M., du Freund meiner Jugend, eines seligen Abends vor fünfundzwanzig Jahren, als unter Ellistons 2 Regie der »Heuchler« mit Dowton 3 und Liston 4 gegeben wurde? Zwei Knaben erhielten damals von ihren königstreuen Lehrern der Slaughter-House-Schule, in der sie erzogen wurden, frei, um auf der Bühne des Drury Lane Theaters zu erscheinen, inmitten einer Menge, die sich dort versammelt hatte, um den König zu begrüßen. Der König! Da war er! Vor der königlichen Loge standen Leibgardisten, hinter dem Stuhl, auf dem er saß, stand der Marquis von Steyne (Lord des Haarpuderkabinetts) und andere hohe Staatsbeamte. Da saß er mit blühendem Gesicht, von stattlicher Gestalt, ordenbedeckt, mit reichem, lockigem Haar. Wie wir »Gott schütz den König!« sangen, wie das Haus von dieser herrlichen Melodie widerhallte und erzitterte! Wie sie Hochrufe ausstießen, schrien und mit Taschentüchern winkten! Damen weinten, Mütter preßten ihre Kinder an sich, einige fielen vor Rührung in Ohnmacht. Im Parkett wurden Menschen fast erstickt; Schreien und Stöhnen stieg auf aus der drängenden und rufenden Menge seines Volkes, das bereit war, das Leben für ihn zu lassen und es in einigen Fällen auch fast schon tat. Ja, wir haben ihn gesehen. Das kann uns kein Schicksal mehr rauben! Andere haben Napoleon gesehen. Einige wenige leben noch, die Friedrich den Großen, Dr. Johnson, Marie Antoinette geschaut haben – sei es also unser gerechter Stolz gegenüber unseren Kindern, daß wir Georg, den Guten, den Herrlichen, den Großen, gesehen haben!

Endlich nun kam der glückliche Tag in Mrs. Rawdon [184] Crawleys Leben, an dem dieser Engel in das er sehnte Hofparadies eingelassen wurde. Ihre Schwägerin war dabei Patin. Am festgesetzten Tag fuhren Sir Pitt und seine Frau in der großen Familienkutsche (die gerade neu gebaut worden war für den Amtsantritt des Baronets als Oberrichter seiner Grafschaft) vor dem kleinen Hause in der Curzon Street vor, zur großen Erbauung des armen Raggles. Er beobachtete sie von seinem Gemüseladen aus und erblickte schöne Straußenfedern im Wagen und ungeheure Blumensträuße an den neuen Livreen der Bedienten.

Sir Pitt in schimmernder Uniform stieg aus und betrat das Haus, wobei ihm der Degen ständig zwischen die Beine geriet. Der kleine Rawdon drückte sein lächelndes Gesicht gegen die Fensterscheiben des Wohnzimmers und nickte aus Leibeskräften seiner Tante im Wagen zu. Kurze Zeit darauf kam Sir Pitt wieder aus dem Haus, am Arm eine Dame mit hohem Federbusch. Sie war in einen weißen Schal gehüllt und hielt zierlich eine Schleppe von herrlichem Brokat hoch. Sie stieg in die Kutsche, als wäre sie eine Prinzessin und seit frühester Jugend gewohnt, bei Hofe zu erscheinen. Dem Lakaien am Wagenschlag sowie dem hinter ihr einsteigenden Sir Pitt gewährte sie ein gnädiges Lächeln. Rawdon kam in seiner alten Gardeuniform, die erbärmlich abgetragen und viel zu eng geworden war. Er sollte eigentlich der Prozession in einer Mietsdroschke folgen, um seinem König die Aufwartung zu machen, aber seine gutmütige Schwägerin bestand darauf, daß sie als Familie fahren sollten. Die Kutsche war geräumig, die Damen nicht dick, sie konnten die Schleppe auf den Schoß nehmen – schließlich fuhren die vier in brüderlicher Eintracht los, und ihr Wagen schloß sich der Reihe königstreuer Equipagen an, die sich Piccadilly und St. James' Street hinab ihren Weg bahnten, zu dem alten Backsteinpalast, wo der Stern von Braunschweig seinen Adel und die Vornehmen des Landes empfing.

Becky war es zumute, als sollte sie die Leute vom Wagenfenster [185] aus segnen – so gehobener Stimmung war sie, und so stark war das Gefühl der hohen Würde, die sie nun erreicht hatte. Selbst unsere Becky hatte ihre Schwächen. Man sieht oft, daß Menschen auf Eigenschaften stolz sind, die andere an ihnen gar nicht entdecken. So glaubt zum Beispiel Comus fest, daß er der bedeutendste tragische Schauspieler Englands sei, Brown, der berühmte Schriftsteller, strebt danach, nicht als Genie, sondern als Mann von Welt angesehen zu werden, und Robinson, der große Rechtsanwalt, legt nicht den geringsten Wert auf seinen Ruf in der Westminster Hall 5, sondern hält sich für unvergleichlich im Querfeldeinreiten und Hindernisspringen. Beckys Lebensziel nun war es, eine achtbare Frau zu sein und dafür gehalten zu werden. Sie hatte sich das vornehme Wesen mit erstaunlichem Eifer und schnellem Erfolg angenommen. Zuzeiten hielt sie sich selbst für eine feine Dame und vergaß, daß zu Hause kein Geld in der Kasse war, Gläubiger vor der Tür standen, Kaufleute umschmeichelt und beschwatzt werden mußten – mit einem Wort, daß der Grund, auf dem sie stand, sehr schwankend war. Als sie in der Kutsche – der Familienkutsche – zu Hofe fuhr, nahm sie eine so großartige, selbstzufriedene, entschiedene, achtunggebietende Haltung an, daß sogar Lady Jane lachen mußte. Sie betrat die königlichen Gemächer mit einem Aufwerfen des Kopfes, wie es einer Kaiserin angestanden hätte, und zweifellos hätte sie auch diese Rolle ausgezeichnet gespielt.

Wir können bezeugen, daß Mrs. Rawdon Crawleys costume de cour 6 anläßlich ihrer Vorstellung beim König höchst elegant und glänzend war. Wir, die wir Sterne und Ordensbänder tragen und die Gesellschaften im Sankt-James-Palast besuchen, oder wir, die wir mit schmutzigen Stiefeln durch die Pall Mall waten und in die Kutschen blicken, in denen die Vornehmen mit Federschmuck vorbeifahren – wir haben manche Dame von Welt an Empfangstagen gegen zwei Uhr nachmittags gesehen, die zu dieser frühen Tageszeit keinen [186] liebenswürdigen und verlockenden Anblick bietet. Eine beleibte Gräfin von sechzig, dekolletiert, angemalt, runzlig, mit Schminke bis zu den schweren Augenlidern, funkelnde Diamanten in der Perücke, ist ein heilsamer und erbaulicher, aber keineswegs schöner Anblick. Sie sieht aus wie die St. James' Street in früher Morgenbeleuchtung, wenn die eine Hälfte der Lampen verlöscht ist und die andere Hälfte nur noch schwach flackert, als ob sie wie Gespenster vor der Morgendämmerung verschwinden wollten. Reize wie die, die wir erspähen, während die Kutsche der Lady vorüberrollt, sollten sich nur bei Nacht zeigen. Wenn selbst Cynthia 7 an winterlichen Nachmittagen abgezehrt aussieht, wenn Phöbus 8 sie, von der entgegengesetzten Seite des Himmels aus, mit seinen Strahlen entmutigt, wie kann da die alte Lady Castlemouldy ihr Gesicht zeigen, wenn die Sonne durch die Kutschenfenster darauf fällt und alle die Runzeln und Falten enthüllt, die die Zeit auf ihrem Gesicht hinterlassen hat. Nein, die Empfangstage sollten nur im November oder am ersten Nebeltag stattfinden, oder die ältlichen Sultaninnen von unserem Jahrmarkt der Eitelkeit sollten sich nur in verschlossenen Sänften zu Hofe begeben, in einem bedeckten Gang absteigen und ihre Verbeugung vor dem König unter dem Schutz des Lampenlichtes machen.

Unsere geliebte Rebekka bedurfte jedoch keines solchen freundlichen Scheines, um ihre Schönheit in das rechte Licht zu setzen. Ihr Teint vertrug noch gut jeden Sonnenstrahl, und ihre Kleidung war in ihren Augen und in denen des Publikums so hübsch wie heute das prächtigste Kostüm der berühmtesten Schönheit der diesjährigen Saison, obwohl heute, nach fünfundzwanzig Jahren, jede Dame auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit es für das närrischste, albernste Gewand der Welt erklären würde. Aber auch das Wunderwerk der Modistin von heute wird in zwanzig Jahren mit allen früheren Eitelkeiten dem Reich des Lächerlichen anheimfallen. Wir entfernen uns aber zu weit von unserem Gegenstand. [187] Mrs. Rawdons Kleid am ereignisreichen Tag der Vorstellung wurde allgemein als bezaubernd bezeichnet. Sogar die gute kleine Lady Jane mußte das anerkennen, als sie ihre Verwandte betrachtete und sich trübselig eingestand, daß sie Mrs. Becky an Geschmack weit nachstehe.

Sie wußte nicht, wieviel Sorgfalt, Nachdenken und Können Mrs. Rawdon auf dieses Kleid verwendet hatte. Rebekka besaß Geschmack wie die beste Modistin in Europa und konnte die Sache so geschickt anfassen, wie es Lady Jane nicht verstand. Dieser fielen bald der kostbare Brokat von Beckys Schleppe und die herrlichen Spitzen am Kleid auf.

Der Brokat sei ein alter Rest, erklärte Becky, und die Spitzen seien ein Gelegenheitskauf gewesen und sie besitze sie schon ewig.

»Das muß ein kleines Vermögen gekostet haben, meine liebe Mrs. Crawley«, meinte Lady Jane und betrachtete ihre eigenen Spitzen, die lange nicht so schön waren. Als sie dann die Qualität des alten Brokats, aus dem Mrs. Rawdons Hofkleid gemacht war, untersuchte, hätte sie beinahe gesagt, so feine Kleider könne sie sich nicht leisten, aber sie bezwang sich mühsam, weil die Bemerkung lieblos gegen ihre Verwandte gewesen wäre.

Wenn aber Lady Jane alles gewußt hätte, so wäre das wahrscheinlich selbst für ihr freundliches Gemüt zuviel gewesen.

Als nämlich Mrs. Rawdon Sir Pitts Haus in Ordnung brachte, hatte sie die Spitzen und den Brokat in den alten Kleiderschränken der früheren Hausherrinnen gefunden. Sie nahm die Sachen mit und paßte sie ihrer eigenen kleinen Person an. Die Briggs sah, wie sie sie mitnahm, fragte nicht und sagte kein Wort. Wahrscheinlich gab sie ihr in diesen Stücken recht, und manche andere ehrliche Frau hätte das auch getan.

Und die Diamanten! »Wo zum Teufel hast du die Diamanten her, Becky!« fragte ihr Mann und bewunderte ein [188] paar Juwelen, die er nie an ihr gesehen hatte, die ihr aber jetzt verschwenderisch an Ohren und Hals funkelten.

Becky errötete ein wenig und blickte ihn einen Augenblick fest an. Pitt Crawley errötete auch ein wenig und sah aus dem Fenster. Einen sehr kleinen Teil der Brillanten hatte er ihr nämlich geschenkt – ein hübsches Diamantschlößchen, das ihre Perlenkette zusammenhielt. Der Baronet hatte unterlassen, diesen Umstand gegenüber seiner Gemahlin zu erwähnen.

Becky sah ihren Mann und dann Sir Pitt mit schalkhaft triumphierender Miene an, als wollte sie sagen: Soll ich es erzählen?

»Rate einmal«, forderte sie ihren Mann auf. »Ach, du Dummer, wo, denkst du denn, habe ich sie her? Alles, außer dem kleinen Schlößchen, das mir ein lieber Freund vor langer Zeit geschenkt hat, habe ich geliehen! Von Mr. Polonius in der Coventry Street! Du glaubst doch nicht etwa, daß alle Diamanten, die man bei Hofe sieht, den Leuten gehören, die sie tragen, wie die schönen Steine, die Lady Jane hat und die ganz sicher viel hübscher sind als meine.«

»Es ist ein Familienschmuck«, sagte Sir Pitt wieder mit verlegener Miene. Unter derlei Familiengesprächen rollte der Wagen die Straße hinab, bis seine Last schließlich an den Toren des Palastes abgesetzt wurde, wo der Herrscher seinen Empfang hielt.

Die Diamanten, die Rawdons Bewunderung erregt hatten, gingen nie zu Mr. Polonius in der Coventry Street zurück, und dieser Herr forderte auch niemals ihre Rückgabe. Sie wanderten in ein kleines Geheimfach in einem alten Schreibtisch, den ihr Amelia Sedley vor Jahren geschenkt hatte und in dem Rebekka eine Menge nützlicher und wohl auch wertvoller Dinge aufbewahrte, von denen ihr Mann nichts wußte. Nichts oder wenig zu wissen liegt in der Natur manches Ehemannes; zu verbergen in der Natur wie vieler Frauen? Oh, meine Damen, wie viele von Ihnen haben heimliche [189] Modistinnenrechnungen, wie viele von Ihnen besitzen Kleider und Armbänder, die sie nicht zu zeigen wagen oder nur zitternd tragen? Zitternd, mit einem Lächeln umschmeicheln Sie den Mann an Ihrer Seite, der das neue Samtkleid nicht von dem alten oder das neue Armband nicht von dem vorjährigen unterscheiden kann und keine Ahnung hat, daß der zerlumpt aussehende gelbe Spitzenschal vierzig Guineen kostet und Madame Bobinot wöchentlich Mahnbriefe wegen des Geldes schickt.

Rawdon also wußte nichts über die Brillantohrringe und den prächtigen Brillantschmuck, der den schönen Busen seiner Herrin schmückte. Aber Lord Steyne, der seinen Platz bei Hofe als Lord des Haarpuderkabinetts und als einer der Großwürdenträger und Stützen des englischen Thrones hatte und mit allen seinen Sternen, Bändern und Schnüren herbeikam, um der kleinen Frau seine besondere Aufmerksamkeit zu erweisen, wußte, woher die Juwelen stammten und wer sie bezahlt hatte.

Als er sich vor ihr verbeugte, lächelte er und zitierte die abgedroschenen, aber schönen Zeilen über Belindas Diamanten aus dem »Lockenraub« 9, »die Juden küssen und Heiden anbeten könnten«.

»Nun, dann hoffe ich, Euer Gnaden ist orthodox«, meinte die kleine Dame und warf den Kopf zurück, und viele Damen rundumher wisperten und redeten, und viele Herren nickten und flüsterten, als sie sahen, welche deutliche Aufmerksamkeit der vornehme Adlige der kleinen Abenteurerin erwies.

Die näheren Umstände der Unterhaltung zwischen Rebekka Crawley, geborene Sharp und ihrem königlichen Herrn zu berichten geziemt einer so schwachen und unerfahrenen Feder wie der meinigen nicht. Die geblendeten Augen schließen sich vor einer so überwältigenden Vorstellung. Untertänigster Respekt und Takt gebieten sogar der Phantasie, sich nicht zu scharf und kühn in dem geheiligten Audienzzimmer[190] umzublicken, sondern sich eiligst, schweigend und achtungsvoll unter tiefen Verbeugungen aus der erlauchten Nähe zurückzuziehen.

Wir können sagen, daß nach dieser Vorstellung in ganz London kein königstreueres Herz als Beckys zu finden war. Sie führte den Namen ihres Königs ständig auf den Lippen und erklärte ihn zum bezauberndsten aller Männer. Sie ging zu Colnaghi 10 und bestellte das schönste Porträt von ihm, das die Kunst hervorgebracht hatte und das auf Kredit zu haben war. Sie wählte das berühmte, auf dem der beste der Monarchen dargestellt ist, wie er im Pelzrock mit Kniehosen und seidenen Strümpfen auf einem Sofa sitzt und geziert unter seiner braunen Lockenperücke hervorlächelt. Sie ließ ihn auf eine Brosche malen, die sie ständig trug und amüsierte ihre Bekannten und fiel ihnen auch etwas auf die Nerven mit ihrem dauernden Gerede über seine Höflichkeit und Schönheit. Wer weiß, vielleicht glaubte die kleine Frau, sie könne eines Tages die Rolle einer Maintenon 11 oder Pompadour 12 spielen.

Den größten Spaß nach ihrer Vorstellung bei Hofe machte es jedoch, sie tugendhaft sprechen zu hören. Sie besaß ein paar weibliche Bekannte, die auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit nicht im besten Ruf standen. Als sie nun aber sozusagen zu einer ehrbaren Frau gemacht worden war, wollte Becky nicht mehr mit diesen zweifelhaften Wesen verkehren. Sie schnitt Lady Crackenbury, wenn diese ihr aus ihrer Opernloge zunickte, und ignorierte Mrs. Washington White, wenn sie im Park an ihr vorüberfuhr. »Man muß zeigen, daß man jemand ist, mein Lieber«, sagte sie, »man darf sich nicht mit zweifelhaften Leuten sehen lassen. Ich bemitleide Lady Crackenbury von Herzen, und Mrs. Washington White mag ein sehr netter Mensch sein; du kannst ja mit ihnen speisen, da du so gern deinen Robber spielst, aber ich darf und will nicht. Du wirst also die Güte haben, Smith mitzuteilen, er solle sagen, ich sei nicht zu Hause, wenn eine von ihnen zu Besuch kommt.«

[191] Einzelheiten von Beckys Hofkleid wurden in den Zeitungen berichtet: Federn, Spitzen, prächtige Diamanten und alles andere. Mrs. Crackenbury las den Absatz in bitterer Laune und besprach mit ihren Verehrern das vornehme Getue, das diese Frau sich angewöhnt hatte. Mrs. Bute Crawley und ihre Töchter auf dem Lande erhielten ein Exemplar der »Morning Post« aus London und machten ihrer gerechten Entrüstung Luft.

»Wenn du rotblond, grünäugig und die Tochter einer französischen Seiltänzerin wärst«, bemerkte Mrs. Bute zu ihrer ältesten Tochter (die das ganze Gegenteil, nämlich dunkel, klein und stumpfnasig war), »so könntest du auch prächtige Diamanten haben und von deiner Cousine, Lady Jane, bei Hofe vorgestellt werden. Du bist aber nur von guter Herkunft, mein armes, liebes Kind. Du hast nur bestes englisches Blut in den Adern und gute Grundsätze und Frömmigkeit als Aussteuer. Ich selbst, die Schwägerin eines Baronets, habe nie daran gedacht, bei Hofe vorgestellt zu werden, ebensowenig wie andere Leute, wenn die gute Königin Charlotte noch lebte.« Auf diese Weise tröstete sich die ehrwürdige Pfarrersfrau, und ihre Töchter seufzten und saßen den ganzen Abend über dem Adelskalender.


Ein paar Tage nach der ruhmvollen Vorstellung wurde der tugendhaften Becky noch eine Ehre zuteil. Lady Steynes Wagen fuhr an Mrs. Rawdon Crawleys Tür vor, und der Lakai schlug nicht die Vorderfront des Hauses ein, wie man nach seinem entsetzlichen Klopfen hätte annehmen können, sondern er erbarmte sich und gab nur zwei Karten mit dem Namen der Marquise von Steyne und der Gräfin Gaunt ab. Wenn diese Stückchen Pappe schöne Gemälde gewesen wären oder es wären hundert Meter Brüsseler Spitzen darum gewickelt gewesen, die doppelt soviel Guineen gekostet hätten – Rebekka hätte sie nicht freudiger betrachtet. Man darf sicher sein, daß sie einen auffallenden Platz in der Porzellanschale [192] auf dem Tisch des Salons einnahmen, in der Becky die Visitenkarten aufbewahrte. Du lieber Gott! Wie schnell sanken die kleinen, vernachlässigten Karten der armen Mrs. Washington White und der Lady Crackenbury, die unsere kleine Freundin erst vor wenigen Monaten noch mit so großem Vergnügen erhalten hatte und auf die das einfältige Geschöpf einst so stolz gewesen war, auf den Grund des ganzen Bündels, als diese großartigen Hofkarten dazukamen. Steyne! Bareacres! Jones von Helvellyn und Caerlyon von Camelot! Wir können sicher sein, daß Becky und die Briggs diese erlauchten Namen im Adelskalender nachschlugen und die edlen Geschlechter durch alle Zweige ihrer Stammbäume verfolgten.

Lord Steyne, der ein paar Stunden später kam und sich umsah und wie gewöhnlich alles bemerkte, fand die Karten seiner Damen bereits als Trümpfe offen in Beckys Hand. Er lächelte, wie es der alte Zyniker stets bei der naiven Enthüllung menschlicher Schwächen tat. Becky kam bald zu ihm herunter. Wenn das liebe Kind den Lord erwartete, so war ihre Toilette stets vollkommen, das Haar geordnet, ihre Tüchlein, Schürzen, Schärpen, Pantöffelchen und anderer weiblicher Flitter arrangiert und sie in ungekünstelter und hübscher Haltung zu seinem Empfang bereit. Wenn sie überrascht wurde, so mußte sie natürlich in ihr Zimmer hinauffliegen und eine eilige Heerschau ihrer Reize im Spiegel halten und sodann herabtrippeln, um dem großen Herrn ihre Aufwartung zu machen.

Sie fand ihn lächelnd bei der Porzellanschale. Sie war durchschaut und errötete ein wenig. »Ich danke Ihnen, Monseigneur«, sagte sie; »Sie sehen, Ihre Damen sind schon hiergewesen. Wie nett von Ihnen! Ich konnte nicht eher kommen, ich war in der Küche und habe einen Pudding zubereitet.«

»Ich weiß es, ich sah Sie durch das Hofgitter, als ich kam«, erwiderte der alte Herr.

[193] »Sie sehen aber auch alles«, erwiderte sie.

»Vieles, aber nicht alles, meine hübsche Dame«, sagte er gutmütig; »Sie törichte kleine Lügnerin! Ich hörte Sie in dem Zimmer über uns, wo Sie wahrscheinlich etwas Rouge aufgelegt haben; Sie müssen etwas davon Lady Gaunt geben, sie hat einen ganz entsetzlichen Teint. Dann habe ich gehört, wie die Schlafzimmertür aufging, und Sie kamen herunter.«

»Ist es ein Verbrechen, wenn ich mir Mühe gebe, so gut wie möglich auszusehen, wenn Sie kommen?« antwortete Mrs. Rawdon klagend und rieb sich die Wange mit dem Taschentuch, um zu zeigen, daß es kein Rouge, sondern echtes Erröten der Bescheidenheit war. Wer kann die Wahrheit finden? Ich weiß, daß es Rouge gibt, das nicht auf dem Taschentuch abfärbt, und sogar so gutes, das nicht von Tränen verwischt wird.

»Nun«, sagte der alte Herr und drehte die Visitenkarte seiner Frau zwischen den Fingern, »Sie wollen also unbedingt eine feine Dame werden, Sie quälen mich bis aufs Blut, daß ich Sie in die Welt einführen soll. Sie werden sich da ja gar nicht halten können, Sie Närrchen, Sie, Sie haben doch kein Geld.«

»Sie werden uns eine Stelle verschaffen«, warf Becky mit Blitzesschnelle ein.

»Sie haben kein Geld und wollen es mit denen aufnehmen, die welches haben; Sie armes Tontöpfchen, Sie wollen mit den großen Kupferkesseln den Strom hinabschwimmen. Die Frauen sind doch alle gleich. Alle streben nach dem, was sich des Besitzes gar nicht lohnt. Gott, gestern habe ich beim König gespeist, und es gab Hammelfleisch mit Rüben; ein Mahl von Kräutern ist oftmals besser als ein gemästeter Ochse. Sie wollen also ins Gaunt-Haus. Sie geben einem alten Burschen nicht eher Ruhe, bis Sie dort sind. Dort ist es nicht halb so hübsch wie hier. Sie werden sich dort langweilen. Ich tue es jedenfalls. Meine Frau ist lustig wie Lady Macbeth, meine Schwiegertöchter fröhlich wie Regan und Goneril 13. Ich [194] wage es nicht, in dem, was man mein Schlafzimmer nennt, zu schlafen. Das Bett ist wie der Baldachin von Sankt Peter, und die Bilder setzen mich in Schrecken. Ich habe in einem Ankleidezimmer ein kleines Messingbett und eine kleine Roßhaarmatratze wie ein Anachoret 14. Ich bin ja auch ein Anachoret, hoho! Sie werden nächste Woche zum Essen eingeladen werden. Aber gare aux femmes 15! Sehen Sie sich vor und behaupten Sie sich. Die Weiber werden Sie ganz schön tyrannisieren!«

Dies war eine sehr lange Rede für einen Mann von wenig Worten wie Lord Steyne und nicht die erste, die er an diesem Tag zu Rebekkas Gunsten gehalten hatte.

Die Briggs blickte von ihrem Arbeitstisch im Hintergrund des Zimmers auf und seufzte tief, als sie den großen Marquis so leichtfertig über ihr Geschlecht sprechen hörte.

»Wenn Sie den abscheulichen Schäferhund nicht fortjagen«, sagte Lord Steyne mit einem wütenden Blick über die Schulter, »so lasse ich ihn vergiften.«

»Mein Hund bekommt sein Fressen stets von meinem eigenen Teller«, sagte Rebekka mit mutwilligem Lachen. Sie amüsierte sich eine Zeitlang über den Ärger des Lords, der die arme Briggs haßte, weil sie sein Tête-à-tête mit der schönen Frau des Obersten störte. Dann erbarmte sich Mrs. Rawdon jedoch endlich ihres Anbeters. Sie rief die Briggs, pries das schöne Wetter und bat sie, mit dem Jungen ein wenig spazierenzugehen.

»Ich kann sie nicht fortschicken«, sagte Becky dann nach einer Pause mit trauriger Stimme. Ihre Augen füllten sich bei diesen Worten mit Tränen, und sie wandte das Gesicht ab.

»Bestimmt sind Sie ihr eine ganze Menge Lohn schuldig«, meinte der hohe Herr.

»Noch viel schlimmer als das«, erwiderte Rebekka mit niedergeschlagenen Augen; »ich habe sie ruiniert.«

»Ruiniert? Warum jagen Sie sie dann nicht fort?« fragte der Herr.

[195] »Das tun nur Männer«, entgegnete Rebekka bitter, »die Frauen sind nicht so schlecht. Als wir im vergangenen Jahr bei unserer letzten Guinee angelangt waren, hat sie uns alles gegeben; sie soll mich nicht eher verlassen, als bis wir selbst völlig ruiniert sind – und das scheint nicht sehr weit entfernt zu sein – oder bis ich sie auf Heller und Pfennig bezahlen kann.«

»Verdammt, wieviel ist es?« sagte der Lord fluchend. Darauf nannte Becky mit Rücksicht auf seinen Reichtum nicht nur die Summe, die sie von Miss Briggs geliehen hatte, sondern eine fast doppelt so hohe.

Dies löste einen neuen kurzen, aber kräftigen Wutanfall bei Lord Steyne aus. Rebekka ließ den Kopf noch tiefer hängen und weinte bitterlich. »Ich konnte nicht anders, es war meine einzige Rettung. Ich wage nicht, es meinem Mann zu sagen, er würde mich töten, wenn ich ihm erzählte, was ich getan habe. Ich habe es vor jedem außer Ihnen geheimgehalten – und Sie haben mir das Geständnis abgenötigt. Ach, Lord Steyne, was soll ich tun? Ich bin sehr, sehr unglücklich!«

Lord Steyne erwiderte hierauf nichts. Er trommelte nur mit den Fingern auf dem Tisch und kaute an den Nägeln. Endlich drückte er sich den Hut auf den Kopf und stürzte aus dem Zimmer. Rebekka erhob sich erst aus ihrer trübseligen Haltung, als die Tür hinter ihm zuschlug und sein Wagen davonrollte. Dann stand sie auf, und ein seltsamer Ausdruck boshaften Triumphes glitzerte in ihren grünen Augen. Sie lachte ein paarmal bei ihrer Arbeit laut auf. Dann setzte sie sich ans Klavier und rasselte einen Siegesmarsch herunter, daß die Leute unter den Fenstern stehenblieben und ihrem brillanten Spiel lauschten.

An diesem Abend kamen zwei Briefchen vom Gaunt-Haus für die kleine Frau. Das eine enthielt eine Einladung von Lord und Lady Steyne zum Diner am nächsten Freitag, das andere einen grauen Papierstreifen mit Lord Steynes Unterschrift [196] und der Adresse von Jones, Brown und Robinson in der Lombard Street.

In dieser Nacht hörte Rawdon Becky ein paarmal lachen. Sie freue und amüsiere sich nur, daß sie ins Gaunt-Haus gehen und den Damen gegenübertreten solle, erklärte sie. In Wirklichkeit war sie mit einer Menge anderer Gedanken beschäftigt. Sollte sie die alte Briggs auszahlen und ihr den Abschied geben? Sollte sie Raggles in Erstaunen setzen und seine Rechnung begleichen? Sie wälzte diese Gedanken auf ihrem Kopfkissen hin und her. Am nächsten Tag, als Rawdon dem Klub seinen Morgenbesuch abstattete, ließ sich Mrs. Crawley in einem bescheidenen Kleid mit Schleier von einer Mietskutsche in die City fahren. Sie ließ sich an Jones' und Robinsons Bank absetzen und reichte dort einem Herrn einen Schein, der sie nur fragte, wie sie es denn gern hätte.

Sie erwiderte, sie wolle einhundertundfünfzig Pfund in kleinen Noten und den Rest in einer Note nehmen. Auf dem Rückweg ließ sie halten und kaufte für die Briggs das schönste schwarzseidene Kleid, das für Geld zu haben war, und mit einem Kuß und sehr freundlichen Worten überreichte sie es der einfältigen alten Jungfer zu Hause.

Dann ging sie zu Mr. Raggles, erkundigte sich liebevoll nach seinen Kindern und gab ihm fünfzig Pfund als Abschlagszahlung, dann ging sie zu dem Pferdeverleiher, von dem sie ihren Wagen gemietet hatte, und erfreute ihn mit einer ähnlichen Summe.

»Ich hoffe, das wird eine Lehre für Sie sein, Spavin«, sagte sie, »daß am nächsten Empfangstag mein Schwager, Sir Pitt, nicht wieder damit belästigt wird, uns zu viert in seinem Wagen zu Seiner Majestät zu fahren, weil mein eigener nicht zur Stelle ist.«

Anscheinend hatte es am letzten Empfangstag eine Meinungsverschiedenheit gegeben, und daher kam es, daß der Oberst sich schändlicherweise beinahe in einer Mietskutsche zur Begegnung mit seinem Herrscher hätte begeben müssen.

[197] Nachdem Becky diese Angelegenheit erledigt hatte, suchte sie den erwähnten Schreibtisch im ersten Stock auf, den Amelia Sedley ihr vor langen Jahren geschenkt hatte und der eine Menge nützlicher und wertvoller Kleinigkeiten enthielt, und in diesem heimlichen Museum verstaute sie die eine Banknote, die ihr der Kassierer von Jones und Robinson gegeben hatte.

Fußnoten

1 Charlotte Sophia, Gemahlin des englischen Königs Georg III.

2 Robert William Elliston (1774-1831), englischer Schauspieler, Theaterdirektor und Regisseur.

3 William Dowton (1764-1851), englischer Schauspieler.

4 John Liston (1776-1846), englischer Schauspieler.

5 Teil des alten Westminsterpalastes; war jahrhundertelang Sitz des englischen Obersten Gerichts.

6 (franz.) Hoftracht.

7 Beiname der griechischen Mondgöttin Artemis.

8 Beiname des griechischen Sonnengottes Apollo.

9 »The Rape of the Lock«, satirisch-komisches Heldengedicht des englischen Dichters Alexander Pope (1688 bis 1744).

10 Paul Colnaghi (1751-1833), Londoner Kupferstichhändler.

11 Françoise d'Aubigné, Marquise de Maintenon (1635 bis 1719), Geliebte und zweite Gemahlin Ludwigs XIV.

12 Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de Pompadour (1721-1764); übte als Geliebte Ludwigs XV. Bedeutenden Einfluß auf die europäische Politik aus.

13 die mißgünstigen und hartherzigen Königstöchter in Shakespeares Tragödie »König Lear«.

14 (griech.) Einsiedler.

15 (franz.) hüte dich vor den Frauen!

49. Kapitel
In dem wir drei Gänge und ein Dessert genießen

Als die Damen und Kinder vom Gaunt-Haus sich an jenem Morgen bei Tee und Toast zum Frühstück versammelt hatten, erschien Lord Steyne. Er nahm seine Schokolade sonst allein ein und störte die Damen seines Hauses selten, ja sah sie überhaupt nur an den Tagen, an denen sie sich öffentlich zusammen zeigen mußten, oder wenn sie sich in der Vorhalle trafen oder wenn er sie in ihrer Opernloge im ersten Rang von seiner im Parkett aus musterte. Der Lord erschien also beim Frühstück, und es kam zu einer Hauptschlacht um Rebekka.

»Lady Steyne«, sagte er, »ich möchte gern die Liste für Ihr Diner am nächsten Freitag sehen und möchte, daß Sie bitte eine Einladung für Oberst und Mrs. Crawley schreiben.«

»Blanche schreibt sie«, sagte Lady Steyne ängstlich, »Lady Gaunt schreibt sie.«

»Ich werde an diese Person nicht schreiben«, sagte Lady Gaunt, eine große stattliche Dame. Sie sah einen Moment auf und senkte die Augen schnell wieder, nachdem sie gesprochen hatte. Für jemanden, der Lord Steyne beleidigt hatte, war es nicht ratsam, sei nen Blicken zu begegnen.

»Schicken Sie die Kinder aus dem Zimmer. – Geht«, sagte er und zog an der Klingelschnur. Die kleinen Schelme, die sich [198] vor ihm stets fürchteten, entfernten sich, und ihre Mutter wollte ihnen folgen. »Sie nicht«, sprach er, »Sie bleiben!«

»Lady Steyne«, fuhr er fort, »ich frage Sie noch einmal, wollen Sie die Güte haben, an den Schreibtisch zu gehen und diese Einladung für Ihr Diner am Freitag zu schreiben?«

»Mein Herr, ich werde dabei nicht zugegen sein«, erwiderte Lady Gaunt, »ich werde nach Hause gehen.«

»Ich wünschte, Sie täten es und blieben dort. Sie werden an den Gerichtsvollziehern in Bareacres eine sehr angenehme Gesellschaft finden, und ich brauche Ihren Verwandten kein Geld mehr zu leihen und werde von Ihrer verdammten traurigen Miene befreit sein. Wer sind Sie überhaupt, daß Sie hier Befehle geben? Sie haben kein Geld, und Sie haben keinen Verstand. Sie sind hergekommen, um Kinder zu gebären, und haben keine bekommen. Gaunt ist Ihrer überdrüssig, und Georges Frau ist die einzige in der Familie, die Sie nicht tot wünscht. Gaunt würde wieder heiraten, wenn Sie tot wären.«

»Ich wünschte auch, ich wäre es!« antwortete die Lady mit Tränen der Wut in den Augen.

»Sie haben es wahrhaftig nötig, sich tugendhaft zu gebärden, während meine Frau, die bekanntlich eine fleckenlose Heilige ist und in ihrem Leben nie Unrecht getan hat, nichts dagegen hat, meine junge Freundin, Mrs. Crawley, zu empfangen. Lady Steyne weiß, daß der Schein zuweilen gegen die besten Frauen sprechen kann und daß über die Unschuldigsten oft Lügen verbreitet werden. Bitte sehr, Madame, soll ich Ihnen ein paar Anekdötchen über Lady Bareacres, Ihre Mama, erzählen?«

»Sie können mich schlagen, wenn Sie wollen, oder jede Grausamkeit an mir auslassen«, sagte Lady Gaunt. Der Lord geriet stets in gute Laune, wenn er seine Frau und seine Schwiegertochter leiden sah.

»Meine süße Blanche«, sagte er »ich bin ein Gentleman und berühre nie eine Frau, außer in Güte. Ich möchte nur Ihre [199] kleinen Charakterfehler korrigieren. Ihr Frauen seid zu stolz, und es mangelt euch an Demut, wie Pater Mole Lady Steyne sicher sagen würde, wenn er hier wäre. Sie müssen sich nicht so aufblasen, Sie müssen sanft und demütig sein, meine Herzchen. Trotz allem, was Lady Steyne weiß, ist diese verleumdete, einfache, gutherzige Mrs. Crawley vollkommen unschuldig, sogar unschuldiger als Sie selbst. Ihr Mann hat keinen besonders guten Charakter, aber trotzdem doch einen so guten wie Bareacres, der ein wenig gespielt und noch weniger bezahlt hat. Er hat Sie doch um die einzige Erbschaft gebracht, die Sie je zu erwarten hatten, und Sie mir bettelarm in die Hand gegeben. Mrs. Crawley ist nicht von sehr guter Herkunft, aber sie ist nicht schlechter als Fannys großer Ahne, der erste de la Jones.«

»Aber das Geld, das ich in die Familie gebracht habe ...«, rief Lady George aus.

»Sie haben damit eine eventuelle Erbschaft erkauft«, sagte der Marquis düster. »Wenn Gaunt stirbt, so kann Ihr Mann seinen Titel und seinen Besitz bekommen; Ihre kleinen Knaben können das dann einmal erben und wer weiß, was noch alles. Inzwischen, meine Damen, seien Sie anderswo so stolz und tugendhaft, wie Sie wollen, aber haben Sie sich nicht so mir gegenüber. Was Mrs. Crawleys Ruf betrifft, so werde ich weder mich noch diese makellose und vorwurfsfreie Dame so weit erniedrigen, auch nur anzudeuten, er müsse verteidigt werden. Sie werden sie bitte mit der größten Herzlichkeit hier empfangen, wie alle, die ich in dieses Haus einführe. Dieses Haus?« Er brach in ein Gelächter aus. »Wer ist der Herr darin und was ist es? Dieser Tugendtempel gehört mir. Und wenn ich ganz Newgate oder Bedlam 1 einlade, zum Teufel, sie sollen willkommen sein.«

Auf diese nachdrückliche Ansprache, wie sie Lord Steyne gewöhnlich seinem »Harem« hielt, wenn sich Zeichen von Widerspenstigkeit in seinem Hause zeigten, blieb den gedemütigten Frauen nichts weiter übrig, als zu gehorchen. [200] Lady Gaunt schrieb die Einladung, wie es der Lord verlangt hatte, und sie fuhr mit ihrer Schwiegermutter bitteren Herzens höchstpersönlich an Mrs. Rawdons Haus vor, um die Karten abzugeben, deren Empfang dieser unschuldigen Frau so viel Freude bereitete.

Es gab Familien in London, die ein Jahreseinkommen geopfert hätten, um einer solchen Ehre aus den Händen dieser hohen Damen teilhaftig zu werden. Mrs. Frederick Bullock zum Beispiel wäre auf den Knien von Mayfair bis zur Lombard Street gerutscht, hätten Lady Steyne und Lady Gaunt in der City gestanden und sie mit den Worten aufgehoben: »Kommen Sie nächsten Freitag zu uns« – nicht zu einem der großen Allerweltsbälle im Gaunt-Haus, wohin jedermann ging, sondern zu den geheiligten, unzugänglichen, geheimnisvollen, köstlichen Gesellschaften, zu denen zugelassen zu werden ein Privilegium, eine Ehre und eine wahre Seligkeit war.

Streng, makellos und schön, nahm Lady Gaunt auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit den höchsten Rang ein. Die ausgesuchte Höflichkeit, mit der Lord Steyne sie behandelte, bezauberte alle, die Zeuge seines Verhaltens waren, und zwang die strengsten Kritiker zu dem Bekenntnis, daß er ein vollkommener Gentleman sei und daß der Lord zumindest das Herz auf dem rechten Fleck trüge.


Die Damen vom Gaunt-Haus riefen Lady Bareacres zu Hilfe, um den gemeinsamen Feind zurückzuschlagen. Eine von Lady Gaunts Kutschen fuhr nach der Hill Street, um die Mutter abzuholen, denn ihre sämtlichen Equipagen befanden sich in den Händen der Gerichtsvollzieher. Man erzählte, daß die unerbittlichen Israeliten sogar ihre Juwelen und Kleider mit Beschlag belegt hätten. Auch Schloß Bareacres gehörte jetzt ihnen mit allen seinen kostbaren Gemälden, Möbeln und Wertgegenständen – den herrlichen van Dycks 2, den edlen Bildern von Reynolds 3, den schönen bunten Porträts von [201] Lawrence, die man vor dreißig Jahren für ebenso kostbar hielt wie die Werke echten Genies, die unvergleichliche »Tanzende Nymphe von Canova«, für die Lady Bareacres in ihrer Jugend Modell gestanden – Lady Bareacres, damals glänzend und strahlend in Reichtum, Rang und Schönheit, jetzt eine kahlköpfige Alte, der bloße Fetzen eines früheren Prachtgewandes. Ihr Mann, der zur selben Zeit von Lawrence gemalt worden war, wie er in der Uniform eines Oberst der Thistlewood-Miliz vor Schloß Bareacres den Säbel schwenkte, war ein verwitterter magerer Alter mit Überrock und Brutusperücke, der morgens meistens um Gray's Inn herumschlich und in den Klubs allein speiste. Er aß jetzt nicht mehr gern mit Steyne. Sie hatten während ihrer Jugend in Vergnügungen gewetteifert, und Bareacres war Sieger gewesen. Steyne stand aber auf festerem Grund und Boden als er und hatte ihn deshalb überdauert. Der Marquis war jetzt zehnmal bedeutender als der junge Lord Gaunt vom Jahre fünfundachtzig, aber Bareacres war nicht mehr im Rennen, er war alt, geschlagen, bankrott und zusammengebrochen. Er hatte zuviel Geld von Steyne geborgt, um seinem alten Kameraden gern zu oft zu begegnen. Wenn der Lord sich einen Spaß machen wollte, so pflegte er Lady Gaunt höhnisch zu fragen, warum ihr Vater sie so lange nicht besucht habe. »Er ist seit vier Monaten nicht mehr hiergewesen«, erklärte Lord Steyne stets. »Ich kann es immer an meinem Scheckbuch ablesen, wann Bareacres mich aufgesucht hat. Wie bequem ich es doch habe, meine Damen, der eine Schwiegervater von einem meiner Söhne ist mein Bankier, und ich bin der Bankier des anderen.«

Von den übrigen Vornehmen, die Becky bei dieser ersten Einführung in die große Welt zu treffen die Ehre hatte, viel zu berichten steht dem Verfasser dieser Geschichte nicht zu. Da war erstens Seine Exzellenz, der Fürst von Peterwardein, mit seiner Gemahlin, ein geschnürter Herr mit breiter militärischer Brust, auf der sein Ordensstern prachtvoll glänzte,[202] und mit dem roten Band des Goldenen Vlieses um den Hals. Er besaß zahllose Schafherden. »Sehen Sie sich nur mal sein Gesicht an, ich glaube, er stammt von einem Schaf ab«, flüsterte Becky Lord Steyne zu.

In der Tat hatte das lange, feierliche, weiße Gesicht Seiner Exzellenz mit dem Ordensbande am Hals einige Ähnlichkeit mit dem eines ehrwürdigen Leithammels.

Dann war da Mr. John Paul Jefferson Jones, Titular-attaché der amerikanischen Gesandtschaft und Korrespondent des »New York Demagogue«. Um sich der Gesellschaft angenehm zu machen, fragte er Lady Steyne während einer Gesprächspause, wie seinem teuern Freund George Gaunt Brasilien gefalle. Er und George waren in Neapel sehr befreundet gewesen und hatten zusammen den Vesuv bestiegen. Mr. Jones schrieb einen ausführlichen und genauen Bericht über das Diner, der prompt im »Demagogue« erschien. Er erwähnte die Namen und Titel aller Gäste und gab biographische Abrisse der Vornehmsten, beschrieb wortreich die Erscheinungen der Damen, das Tafelservice, die Anzahl und Kleidung der Diener, zählte die dargebotenen Gerichte und Weine auf und überschlug den Wert des Zierrats auf den Seitentischen und den des Silbergeschirrs.

Ein solches Diner, berechnete er, könne nicht unter fünfzehn bis achtzehn Dollar pro Kopf arrangiert werden. Bis vor kurzem habe er seine Schützlinge mit Empfehlungsschreiben zu dem jetzigen Marquis von Steyne geschickt, wozu ihn die vertraute Freundschaft, in der er mit dem seligen Lord gestanden hatte, veranlaßt habe. Er sei sehr entrüstet gewesen, daß ein junger unbedeutender Aristokrat, der Graf von Southdown, auf dem Wege zum Speisesaal ihm den Vortritt genommen habe. »Gerade als ich herantrat, um meinen Arm einer sehr sympathischen und geistreichen eleganten Dame, der glänzenden und exklusiven Mrs. Rawdon Crawley, zu reichen«, schrieb er, »drängte sich der junge Patrizier zwischen mich und die Dame und entführte meine Helena 4 ohne ein [203] Wort der Entschuldigung. Ich mußte also mit dem Gemahl der Dame, einem Obersten, die Nachhut bilden, einem untersetzten Krieger mit rotem Gesicht, der sich bei Waterloo auszeichnete und dort größeres Glück hatte als einige seiner rotrockigen Kameraden bei New Orleans 5


Als der Oberst in diese vornehme Gesellschaft kam, errötete er wie ein sechzehnjähriger Knabe, der den Schulkameradinnen seiner Schwester gegenübertritt. Wir erwähnten schon früher, daß der ehrliche Rawdon niemals im Leben viel in Damengesellschaft gewesen war. Mit den Männern im Klub oder in der Offiziersmesse stand er sich gut genug, und mit den Kühnsten unter ihnen maß er sich im Reiten, Wetten, Rauchen und Billardspiel. Er hatte früher auch freundschaftliche Beziehungen zu Frauen gehabt, aber das war vor zwanzig Jahren, und die Damen waren vom Schlage derjenigen, mit denen in der Komödie 6 der junge Marlow verkehrt, ehe er vor Miss Hardcastle in Verlegenheit gerät. Die Zeiten sind jetzt so, daß man kaum wagt, die Gesellschaft zu erwähnen, in der Tausende unserer jungen Männer auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit täglich verkehren. Nachts füllt diese Gesellschaft die Casinos und Tanzsäle, und sie existiert ebenso wie der Ring im Hyde Park oder die Gemeinde in St. James, aber unsere schamhafte, wenn auch nicht so moralische Gesellschaft ist entschlossen, sie zu ignorieren. Mit einem Wort, obgleich Oberst Crawley jetzt fünfundvierzig Jahre alt war, hatte er in seinem Leben neben seinem Musterexemplar von Frau noch nicht ein halbes Dutzend richtiger Damen getroffen. Alle, außer ihr und seiner gütigen Schwägerin, Lady Jane, deren freundliches Wesen ihn gezähmt und gewonnen hatte, schüchterten den ehrenwerten Oberst ein, und bei seinem ersten Diner im Gaunt-Haus vernahm man von ihm keinen Ton außer der Feststellung, das Wetter sei sehr heiß. Becky hätte ihn lieber zu Hause gelassen, aber die Tugend gebot, daß ihr der Gatte zur Seite stand, um das schüchterne, [204] ängstliche Geschöpfchen bei seinem ersten Auftreten in der vornehmen Gesellschaft zu beschützen.

Als sie eintrat, kam ihr Lord Steyne entgegen, ergriff ihre Hand, begrüßte sie mit ausgesuchter Höflichkeit und stellte sie Lady Steyne und seinen Schwiegertöchtern vor. Die Damen machten vornehme Knickse, und die ältere gab dem Neuankömmling sogar die Hand, die jedoch kalt und leblos wie Marmor war.

Becky ergriff sie mit dankbarer Demut und einem Knicks, der dem besten Tanzmeister zur Ehre gereicht hätte, und tat sozusagen einen Kniefall vor Lady Steyne, als sie sagte, der Lord sei der älteste Freund und Gönner ihres Vaters gewesen, und sie, Rebekka, habe von Kindheit auf gelernt, die Steynesche Familie zu ehren und zu achten. In der Tat hatte Lord Steyne dem seligen Sharp einmal ein paar Gemälde abgekauft, und die liebevolle Waise konnte ihre Dankbarkeit für diese Gunst nie vergessen.

Dann erkannte Becky Lady Bareacres. Die Frau des Obersten machte ihr ebenfalls eine respektvolle Verbeugung, die die große Dame mit würdevoller Strenge erwiderte.

»Ich hatte das Vergnügen, die Bekanntschaft der Lady bereits vor zehn Jahren in Brüssel zu machen«, sagte Becky mit gewinnender Freundlichkeit, »ich hatte das Glück, Lady Bareacres auf dem Ball der Herzogin von Richmond am Vorabend der Schlacht von Waterloo zu treffen, und ich entsinne mich noch, wie Sie und Ihre Tochter, Lady Blanche, im Torweg des Hotels im Wagen saßen und auf Pferde warteten. Ich hoffe, daß Sie Ihre Diamanten gerettet haben.«

Jedermann blickte seinen Nachbar an. Die berühmten Diamanten waren einer ebenso berühmten Beschlagnahme zum Opfer gefallen, wovon Becky natürlich keine Ahnung hatte. Rawdon Crawley zog sich mit Lord Southdown zu einem Fenster zurück, und dort konnte man den Lord unmäßig lachen hören, als ihm Rawdon die Geschichte von Lady [205] Bareacres erzählte, die auf Pferde gewartet und vor Mrs. Crawley, »beim Zeus, zu Kreuze gekrochen sei«.

Ich glaube, vor der Frau brauche ich keine Angst zu haben, dachte Becky. Lady Bareacres wechselte wirklich erschrockene und zornige Blicke mit ihrer Tochter und zog sich an einen Tisch zurück, wo sie energisch begann, sich Bilder anzusehen.

Als der Monarch von der Donau erschien, ging die Konversation in französischer Sprache weiter, und Lady Bareacres und die jüngeren Damen stellten zu ihrem Ärger fest, daß Mrs. Crawley diese Sprache viel besser beherrschte und sie viel akzentfreier sprach als sie selbst. Becky hatte 1816/17 in Frankreich bei der Armee andere ungarische Magnaten kennengelernt, und interessiert erkundigte sie sich nach ihren Bekannten. Die Ausländer hielten sie für eine Dame von hohem Rang, und der Fürst und die Fürstin fragten unabhängig voneinander Lord Steyne und die Marquise, mit denen sie zu Tisch gingen, wer denn jene petite dame sei, die so gut spreche.

Als sich schließlich die Prozession gebildet hatte, wie sie von dem amerikanischen Diplomaten beschrieben wurde, bewegten sie sich in den Saal, wo das Festmahl aufgetragen wurde. Da ich dem Leser versprochen habe, daß er es genießen soll, so möge er die Freiheit haben, sich geben zu lassen, was ihm seine Phantasie vorgaukelt.

Erst als die Damen allein waren, fing, wie Rebekka bereits gewußt hatte, der Krieg richtig an. Und nun geriet die kleine Frau in eine Lage, daß sie sich eingestehen mußte, Lord Steyne habe recht gehabt, als er sie vor der Gesellschaft von Damen über ihrer eigenen Sphäre warnte. Es heißt, daß die größten Irenhasser die Iren selbst sind, und so sind sicherlich auch Frauen die größten Tyrannen gegenüber ihrem eigenen Geschlecht. Als die arme kleine Becky, mit den Frauen allein gelassen, zum Kamin ging, wohin sich die vornehmen Damen zurückgezogen hatten, marschierten die vornehmen Damen davon und nahmen Besitz von einem Tisch mit Zeichnungen. [206] Als Becky ihnen dorthin folgte, zogen sie sich nacheinander wieder zum Kamin zurück. Sie versuchte es, mit einem der Kinder zu sprechen, die sie in der Öffentlichkeit immer sehr gern hatte; aber Master George Gaunt wurde von seiner Mama abgerufen. Man behandelte die Fremde schließlich mit solcher Grausamkeit, daß sogar Lady Steyne Mitleid mit ihr empfand. Sie trat zu der freundlosen kleinen Frau heran, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln.

»Lord Steyne hat mir erzählt«, begann die Lady, und ihre bleichen Wangen röteten sich, »daß Sie so schön singen und spielen, Mrs. Crawley – es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie mir etwas vorsingen würden.«

»Ich will alles tun, was Lord Steyne oder Ihnen Freude macht«, sagte Rebekka aufrichtig dankbar. Dann setzte sie sich ans Klavier und begann zu singen.

Sie sang religiöse Lieder von Mozart, die Lady Steyne in ihrer Jugend sehr geliebt hatte, so süß und zart, daß die Lady, die am Klavier stehen geblieben war, sich neben sie setzte und lauschte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. Zwar unterhielten sich die opponierenden Damen am entgegengesetzten Ende des Zimmers unaufhörlich und laut, aber Lady Steyne vernahm diese Geräusche nicht; sie war wieder Kind und durch eine Wildnis vor vierzig Jahren in ihren Klostergarten zurückgewandert. Von der Orgel in der Kapelle waren dieselben Töne erklungen, die Organistin, die Schwester, die sie von der ganzen Gemeinschaft am meisten liebte, hatte sie diese Melodien in jenen glücklichen Tagen gelehrt. Sie war wieder ein junges Mädchen, und die kurze Zeit ihres Glückes erblühte ihr für eine Stunde aufs neue. Sie fuhr zusammen, als die Türen aufflogen und die Männer der Gesellschaft, angeführt von Lord Steyne, lachend und scherzend hereintraten.

Auf den ersten Blick wurde ihm klar, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte, und er war seiner Frau dieses eine Mal dankbar. Er sprach zu ihr und nannte sie beim [207] Vornamen, so daß die Röte erneut in ihr bleiches Gesicht schoß.

»Meine Frau sagt, Sie haben gesungen wie ein Engel«, sagte er zu Becky. Nun gibt es allerdings zweierlei Engel, und beide sollen in ihrer Art bezaubernd sein.

Wie auch der erste Teil des Abends verlaufen sein mochte, der Rest jedenfalls war ein großer Triumph für Becky. Sie sang, so schön sie nur konnte, und es gelang ihr so gut, daß alle Männer kamen und sich um das Klavier drängten. Die Frauen, ihre Feindinnen, blieben ganz allein, und Mr. Paul Jefferson Jones glaubte, er habe eine Eroberung an Lady Gaunt gemacht, als er zu ihr trat und den erstklassigen Gesang ihrer reizenden Freundin lobte.

Fußnoten

1 älteste Londoner Heilanstalt für Geisteskranke.

2 Anthonis van Dyck (1599-1641), niederländischer Maler.

3 Sir Joshua Reynolds (1723-1792), englischer Porträtmaler.

4 in der griechischen Sage Gemahlin des Menelaos, des Königs von Sparta, die schönste Frau des Altertums. Paris entführte sie nach Troja und löste damit den Trojanischen Krieg aus.

5 Der Frieden nach dem englisch-amerikanischen Krieg (1812-1814) war schon geschlossen, als englische Truppen aus Unkenntnis über den Friedensschluß am 8. 1. 1815 die Stadt New Orleans angriffen und von den Truppen der Vereinigten Staaten geschlagen wurden.

6 In der Komödie »She Stoops to Conquer, or The Mistakes of a Night« (Sie beugt sich, um zu siegen, oder Die Irrtümer einer Nacht) des englischen Schriftstellers Oliver Goldsmith (1728-1774) benimmt sich der junge Marlow Kellnerinnen und Dienstmädchen gegenüber sehr ungezwungen, während er anderen Frauen gegenüber sehr schüchtern ist.

50. Kapitel
Enthält einen gewöhnlichen Vorfall

Welche Muse es auch sein mag, die die Oberaufsicht über unsere Komödie hat, so muß sie doch jetzt von den vornehmen Höhen, zu denen sie sich aufgeschwungen hatte, herabsteigen und sich gütigst auf dem bescheidenen Dach von John Sedley in Brompton niederlassen und beschreiben, was sich dort ereignet. Auch hier, in dieser niedrigen Wohnung, gibt es Sorgen, Mißtrauen und Kummer. Mrs. Clapp in der Küche brummt insgeheim ihrem Mann etwas vor wegen der Miete und drängt den braven Burschen, sich gegen seinen alten Freund und Gönner und gegenwärtigen Mieter aufzulehnen. Mrs. Sedley hat jetzt aufgehört, ihre Hauswirtin in den unteren Regionen zu besuchen, und ist nun allerdings auch nicht mehr in der Lage, Mrs. Clapp mit Gönnermiene gegenüberzutreten. Wie kann man eine Dame herablassend behandeln, der man vierzig Pfund schuldet und die beständig auf das Geld anspielt? Das irische Dienstmädchen hat ihr freundliches, [208] achtungsvolles Benehmen nicht im geringsten geändert, aber Mrs. Sedley bildet sich ein, sie sei unverschämt und undankbar geworden, und wie der schuldbewußte Dieb hinter jedem Gebüsch einen Schutzmann argwöhnt, so sieht sie in allen Reden und Antworten des jungen Mädchens drohende Andeutungen. Miss Clapp, die nun bereits eine junge Dame geworden ist, erklärt die versauerte alte Dame für eine unerträgliche, unverschämte kleine Dirne. Mrs. Sedley kann nicht begreifen, wieso Amelia sie gern hat, sie oft auf ihr Zimmer kommen läßt und häufig mit ihr ausgeht. Die bittere Armut hat das Leben der einst so fröhlichen, gütigen Frau vergiftet. Sie ist undankbar gegen Amelias stets gleichbleibende Güte ihr gegenüber, sie bemängelt ihre Bemühungen, freundlich und dienstbar zu sein, verhöhnt sie wegen ihres einfältigen Stolzes auf ihr Kind und jammert darüber, wie sie die Eltern vernachlässigt. In Georgys Heim geht es nicht sehr lebhaft zu, seit Onkel Joseph die Jahresrente zurückgezogen hat, und die kleine Familie lebt fast von Hungerrationen.

Amelia denkt und denkt und zerbricht sich den Kopf, um einen Weg zu finden, wie sie die geringen Mittel, bei der die Familie langsam verhungert, aufbessern kann. Soll sie irgend etwas unterrichten, Briefständer bemalen, feine Handarbeiten machen? Sie merkt, daß Frauen schwer und besser als sie für zwei Pence pro Tag arbeiten müssen. Sie kauft zwei vergoldete Pappen beim Schreibwarenhändler und bemalt sie, so gut sie kann. Auf der einen entsteht inmitten einer Bleistiftlandschaft ein lächelnder Schäfer mit roter Weste und rosa Gesicht, auf der anderen eine Schäferin, die mit einem Hündchen neben sich eine kleine Brücke überschreitet. Der Mann vom Schreibwarenladen und Bromptoner Magazin der schönen Künste, von dem sie die Pappen gekauft hat, in der eitlen Hoffnung, er würde sie zurückkaufen, wenn sie von ihrer Hand verziert worden wären, kann kaum ein Hohnlächeln verbergen, als er diese schwachen Kunstwerke besichtigt. [209] Er blickt die Dame, die im Laden wartet, von der Seite an, packt die Bilder wieder in den braunweißen Papierumschlag und gibt sie der armen Witwe und Miss Clapp zurück. Diese junge Dame hat in ihrem ganzen Leben noch nichts so Schönes gesehen und hatte gehofft, daß der Mann mindestens zwei Guineen dafür zahlen würde. Sie versuchten ihr Heil in anderen Läden in der Stadt, aber ihre Hoffnungen sanken immer mehr.

»Ich brauche sie nicht«, sagt einer. »Hinaus!« sagt ein anderer böse. Drei Shilling und sechs Pence sind umsonst ausgegeben. Die Bilder kommen in Miss Clapps Schlafzimmer, und sie findet sie immer noch sehr schön.

Amelia schreibt in ihrer schönsten Handschrift nach langem Nachdenken und vielen stilistischen Bemühungen eine kleine Karte, auf der dem Publikum kundgetan wird, daß »eine Dame, die über einige Freizeit verfügt, die Erziehung kleiner Mädchen zu übernehmen wünscht, wobei sie in der englischen und französischen Sprache, in Geographie, Geschichte und Musik unterrichten könnte. Zuschriften unter A.O. an Mr. Brown«. Die Karte vertraut sie dem Herrn in dem Magazin der schönen Künste an, der sich bereit erklärt, sie auf den Ladentisch zu legen. Dort vergilbt sie, und Fliegen beschmutzen sie. Amelia geht oft sehnsüchtig an der Tür vorüber, in der Hoffnung, daß Mr. Brown Nachrichten für sie hat, aber er winkt sie nie herein. Wenn sie hingeht, um kleine Einkäufe zu machen, so ist niemals eine Nachricht für sie da. Arme, einfache, kleine Frau – wie kannst du, so zart und schwach du bist, den Kampf mit der kämpfenden rohen Welt wagen?

Sie wird täglich zermürbter und trauriger und richtet ängstliche Blicke auf ihr Kind, deren Bedeutung der kleine Knabe nicht zu enträtseln vermag. Nachts schreckt sie auf und blickt heimlich in sein Zimmer, um zu sehen, ob er schläft und nicht etwa geraubt ist. Sie schläft jetzt nur wenig. Ein schrecklicher Gedanke verfolgt sie ununterbrochen. Wie sie in den langen[210] stillen Nächten weint und betet! Wie sie den ständig wiederkehrenden Gedanken vor sich selbst zu verbergen sucht, den Gedanken, daß es besser wäre, sich von dem Knaben zu trennen, da sie die einzige Schranke zwischen ihm und dem Glück ist! Sie kann nicht, wenigstens nicht jetzt. Ein anderes Mal. Oh, es ist zu schwer, diesen Gedanken zu ertragen.

Eine Idee kommt ihr, die sie erröten macht und von der sie sich abwendet. Ihre Eltern könnten die Rente behalten, wenn der Vikar sie heiraten und ihr und dem Knaben ein Heim geben würde. Aber Georges Bild und das teure Andenken an ihn machen ihr Vorwürfe. Scham und Liebe sagen nein zu diesem Opfer. Sie weicht zurück wie vor etwas Unheiligem, und solche Gedanken finden in dem reinen, sanften Herzen keine Heimstatt.

Der Kampf in Amelias Innern, den wir hier mit so wenigen Worten geschildert haben, dauerte mehrere Wochen. Während dieser Zeit hatte sie keine Vertraute und konnte auch keine haben, da sie sich selbst die Möglichkeit des Nachgebens nicht eingestehen wollte, obgleich sie täglich weiter vor ihrem Feinde zurückwich. Eine Wahrheit nach der anderen zog schweigend gegen sie auf und hielt ihre Stellung. Armut und Elend aller, Bedürfnisse und Erniedrigung der Eltern, Ungerechtigkeit gegenüber dem Knaben, eins nach dem anderen fielen die Außenwerke der kleinen Zitadelle, in der die arme Seele leidenschaftlich ihre Liebe und ihren einzigen Schatz hütete.

Zu Anfang des Kampfes hatte sie einen Brief voll zärtlicher Bitten an ihren Bruder nach Kalkutta geschrieben und ihn angefleht, den Eltern nicht die letzte Stütze zu entziehen. In schlichten Worten schilderte sie ihre einsame, unglückliche Lage. Sie wußte ja nicht, wie sich die Sache wirklich verhielt. Joseph zahlte die jährliche Unterstützung nach wie vor regelmäßig, aber ein Geldverleiher in der City erhielt sie. An ihn hatte der alte Sedley sie für eine Summe Geldes verkauft, damit er seine unsinnigen Pläne weiterverfolgen konnte. [211] Emmy rechnete sich eifrig die Zeit aus, die vergehen würde, bis der Brief ankäme und Antwort erfolgen könnte. Sie hatte sich den Tag, an dem sie ihn abgeschickt hatte, in ihrem Notizbuch vermerkt. Dem Vormund ihres Sohnes, dem guten Major in Madras, hatte sie von ihren Kümmernissen und Verlegenheiten nichts mitgeteilt. Seitdem sie ihm zu seiner bevorstehenden Heirat gratuliert hatte, hatte sie ihm nicht wieder geschrieben, und niedergeschlagen dachte sie daran, daß auch dieser Freund, der einzige, der sie je geschätzt hatte, von ihr abgefallen war.

Eines Tages, als die Sachen wieder einmal sehr schlecht standen – die Gläubiger drängten, die Mutter wurde hysterisch vor Kummer, der Vater war düsterer als gewöhnlich, die Familienmitglieder mieden einander, und jeder war insgeheim von seinem eigenen Unglück bedrückt und meinte, daß ihm Unrecht geschehen sei –, trafen sich Vater und Tochter zufällig einmal allein, und Amelia dachte, sie könne ihren Vater trösten, wenn sie ihm erzählte, was sie getan hatte. Sie habe an Joseph geschrieben – in drei bis vier Monaten müßte die Antwort dasein. Er sei doch stets großmütig gewesen, wenn auch ein wenig unbekümmert, er könne nicht abschlagen, wenn er wüßte, in welchen bedrängten Umständen seine Eltern lebten.

Da enthüllte ihr der arme alte Herr die volle Wahrheit: daß sein Sohn die Rente immer noch zahle, daß aber seine eigne Unklugheit sie verschleudert habe. Er habe nicht gewagt, es ihr früher zu sagen. Als er mit zitternder, leiser Stimme dieses Bekenntnis ablegte, glaubte er in Amelias verstörtem, entsetztem Blick Vorwürfe darüber zu lesen, daß er es solange geheimgehalten hatte.

»Ach«, sagte er und wandte sich mit zitternden Lippen ab, »jetzt verachtest du deinen alten Vater.«

»O Papa, das ist es nicht«, rief Amelia, fiel ihm um den Hals und küßte ihn viele Male, »du bist stets gut und freundlich gewesen. Du wolltest ja nur das Beste. Es ist nicht [212] wegen des Geldes – es ist ... O mein Gott, mein Gott! Erbarme dich meiner und gib mir Kraft, diese Prüfung zu ertragen!« Sie küßte ihn nochmals heftig und eilte fort.

Der Vater wußte nicht, was diese Erklärung und der Schmerzensausbruch, mit dem die arme Frau ihn verlassen hatte, bedeuten sollte. Nun war sie besiegt. Das Urteil war gesprochen. Das Kind mußte von ihr fort – zu anderen – und sie vergessen. Ihr größter Schatz, ihre Freude, Hoffnung, Liebe, Anbetung, fast ihr Gott – sie mußte ihn aufgeben, und dann – dann würde sie zu George gehen, und sie beide würden über dem Kinde wachen und darauf warten, daß es zu ihnen in den Himmel käme.

Ohne zu wissen, was sie tat, setzte sie den Hut auf und schritt den Weg entlang, auf dem George gewöhnlich aus der Schule kam und wo sie dem Knaben meist entgegenging. Es war im Mai, an einem halben Feiertag. Die Bäume entfalteten ihre Blätter, das Wetter war herrlich. Rotbäckig und gesund, lief ihr der Knabe singend, das Bücherbündel an einem Riemen über dem Rücken, entgegen. Da war er. Mit beiden Armen umschlang sie ihn. Nein, es war unmöglich. Sie konnte sich nicht von ihm trennen.

»Was ist los, Mutter?« fragte er. »Du siehst so blaß aus.«

»Nichts, mein Kind«, entgegnete sie. Sie beugte sich herab und küßte ihn.

An diesem Abend ließ sich Amelia von dem Knaben die Geschichte Samuels 1 vorlesen, wie ihn seine Mutter Hanna, nachdem sie ihn entwöhnt hatte, zu dem Hohepriester Eli brachte, damit er dort dem Herrn diene. Und er las Hannas Lobgesang, worin es heißt: »Der Herr machet arm und machet reich; er erniedriget und erhöhet; er hebet auf den Dürftigen aus dem Staube«. Dann las er, wie Samuels Mutter ihm einen kleinen Rock machte und »ihn ihm hinaufbrachte, zu seiner Zeit, wenn sie hinaufging zu opfern die Opfer seiner Zeit«. Und dann erklärte Georges Mutter in ihrer lieblichen, einfachen Art dem Knaben diese rührende Geschichte. Wie [213] Hanna, obgleich sie ihren Sohn sehr liebte, sich wegen ihres Gelübdes doch von ihm getrennt habe und wie sie stets an ihn gedacht haben müsse, wenn sie weit von ihm entfernt zu Hause saß und an dem kleinen Rock nähte, und wie Samuel seine Mutter sicherlich nie vergessen habe, und wie glücklich sie gewesen sein müsse, als die Zeit herankam (und die Jahre vergehen sehr geschwind), da sie ihn wiedergesehen habe und feststellen konnte, wie gut und weise er geworden war. Diese kleine Predigt hielt sie mit sanfter, feierlicher Stimme und trockenen Augen, bis sie zu der Stelle der Wiederbegegnung kam. Da brach sie plötzlich ab, ihr zärtliches Herz strömte über, sie drückte den Knaben an sich, wiegte ihn hin und her und weinte schweigend ihren heiligen Schmerz über ihm aus.


Sobald die Witwe ihren Beschluß gefaßt hatte, begann sie Maßnahmen zu ergreifen, die ihr für den beabsichtigten Zweck am erfolgversprechendsten schienen.

Eines Tages erhielt Miss Osborne am Russell Square (Amelia hatte zehn Jahre lang weder den Namen noch die Nummer des Hauses niedergeschrieben, und als sie jetzt die Adresse malte, stieg ihre Jugend, ihre eigene Geschichte wieder in ihr auf) – eines Tages also erhielt Miss Osborne einen Brief von Amelia, der sie heftig erröten ließ. Sie blickte ihren Vater an, der düster auf seinem Platz am anderen Ende des Tisches saß.

Amelia schilderte in einfachen Worten die Gründe, die sie bewogen hatten, bezüglich ihres Sohnes ihren Sinn zu ändern. Ihr Vater habe erneut Unglück gehabt und sei nun völlig ruiniert. Ihr eigenes kleines Einkommen sei so gering, daß es ihr kaum ermögliche, ihre Eltern zu unterhalten, und es würde nicht ausreichen, George die Vorteile zu bieten, die ihm gebührten. So groß auch ihr Schmerz bei der Trennung sein würde, so wolle sie ihn doch mit Gottes Hilfe um des Knaben willen ertragen. Sie wüßte, daß die, zu denen er ging, [214] alles in ihren Kräften Stehende tun würden, um ihn glücklich zu machen. Sie beschrieb seinen Charakter, wie sie ihn sah: ungeduldig und ungehorsam gegen Zwang und Härte, aber leicht zu lenken mit Liebe und Freundlichkeit. In einer Nachschrift erbat sie sich eine schriftliche Zusage, das Kind, sooft sie es wünsche, sehen zu dürfen – sie könne sich unter keiner anderen Bedingung von ihm trennen.

»Wie? Ist Mrs. Hochnäsig endlich zur Vernunft gekommen?« meinte der alte Osborne, als ihm seine Tochter mit zitternder Stimme hastig den Brief vorlas. – »Regelrecht ausgehungert, haha! Ich wußte, daß sie es tun würde.« Er versuchte, Haltung zu bewahren und seine Zeitungen wie gewöhnlich zu lesen, aber er war nicht bei der Sache. Hinter dem Blatt lachte und fluchte er in sich hinein.

Endlich warf er die Zeitung hin, blickte seine Tochter wie gewöhnlich finster an und ging in sein anstoßendes Studierzimmer. Bald kehrte er mit einem Schlüssel zurück und warf ihn Miss Osborne zu.

»Richte das Zimmer über meinem – sein ehemaliges – her«, befahl er.

»Ja«, erwiderte die Tochter zitternd. Es war Georges Zimmer. Seit mehr als zehn Jahren war es nicht geöffnet worden: Ein Teil seiner Kleider, Papiere, Taschentücher, Peitschen und Mützen, Angelruten und Sportgeräte befanden sich noch darin. Eine Armeeliste von 1814 mit seinem Namen auf dem Umschlag, ein kleines Wörterbuch, das er beim Schreiben benutzt hatte, und die Bibel, die ihm seine Mutter geschenkt hatte, standen auf dem Kaminsims neben ein paar Sporen und einem ausgetrockneten Tintenfaß, bedeckt mit dem Staub von zehn Jahren. Oh, wie viele Tage und Leute sind dahingegangen, seit der Zeit, da diese Tinte noch naß war! Der Schreibblock auf dem Tisch trug noch seine Handschrift.

Miss Osborne war sehr bewegt, als sie zum ersten Male mit den Dienstboten dieses Zimmer betrat. Blaß sank sie auf das kleine Bett nieder.

[215] »Dies ist eine gute Nachricht, Fräulein – wirklich, Fräulein«, sagte die Haushälterin, »und die gute alte Zeit kehrt zurück, Fräulein. Der liebe kleine Bursche – ach, Fräulein, wie glücklich er sein wird. Gewisse Leute in Mayfair, Fräulein, werden aber einen Groll gegen ihn haben, Fräulein.« Und hiermit stieß sie den Riegel zurück, der das Schiebefenster hielt, und ließ frische Luft in das Zimmer.

»Du solltest am besten der Frau etwas Geld schicken«, sagte Mr. Osborne, ehe er ausging. »Sie soll keinen Mangel leiden. Schicke ihr hundert Pfund.«

»Und morgen gehe ich sie besuchen, ja?« fragte Miss Osborne.

»Das ist deine Sache. Aber denk daran, hierher kommt sie mir nicht. Nein, zum Teufel, nicht um alles Geld in London. Aber Mangel soll sie nicht leiden. Mach also, und bring die Sache in Ordnung.«

Mit diesen kurzen Worten nahm Mr. Osborne von seiner Tochter Abschied und trat den gewohnten Weg in die City an.

»Hier, Papa, ist etwas Geld«, sagte Amelia an jenem Abend zu ihrem Vater, küßte den alten Mann und drückte ihm einen Wechsel über hundert Pfund in seine Hand. »Und – und Mama, sei nicht hart gegen Georgy. Er – er wird nicht mehr lange bei uns bleiben.« Sie konnte nichts weiter sagen und ging schweigend in ihr Zimmer. Schließen wir die Tür hinter ihren Gebeten und ihrem Kummer. Ich glaube, wir tun gut daran, von soviel Liebe und Schmerz wenig zu sagen.

Am nächsten Tag besuchte Miss Osborne Amelia, wie sie es in ihrem Brief versprochen hatte. Die Begegnung verlief freundlich. Ein Blick und ein paar Worte von Miss Osborne zeigten der armen Witwe, daß sie zumindest wegen dieser Frau nicht um den ersten Platz im Herzen ihres Sohnes zu fürchten brauchte. Sie war kühl, vernünftig und nicht unfreundlich. Vielleicht wäre der Mutter weniger lieb gewesen, hätte sie ihre Rivalin hübscher, jünger, liebevoller und warmherziger [216] gefunden. Miss Osborne dagegen dachte an alte Zeiten und war gerührt über die traurige Lage der armen Mutter. Sie war besiegt, streckte gewissermaßen die Waffen und ergab sich. An diesem Tag legten sie gemeinsam die Präliminarien des Kapitulationsvertrages fest.

George durfte am nächsten Tag nicht zur Schule gehen und sah seine Tante. Amelia ließ die beiden allein und begab sich auf ihr Zimmer. Sie erprobte die Trennung – wie die arme sanfte Lady Jane Grey 2, die die Schneide des Beiles befühlte, das herabfallen und ihr zartes Leben beenden sollte.

Mehrere Tage vergingen unter Besprechungen, Besuchen und Vorbereitungen. Die Witwe brachte Georgy die Sache äußerst vorsichtig bei; sie hatte erwartet, daß ihn die Nachricht sehr betrüben würde, er war jedoch eher erfreut darüber, und die arme Frau wandte sich traurig ab. Er prahlte an jenem Tage gegenüber den Schulkameraden mit der Nachricht, erzählte ihnen, daß er jetzt bei seinem Großvater leben sollte. Nicht bei dem, der zuweilen herkam, sondern beim Vater seines Vaters, und daß er sehr reich sein und einen Ponywagen halten und in eine viel feinere Schule kommen werde, und wenn er erst reich wäre, dann könne er Leaders Federkästchen kaufen und bei der Kuchenfrau bezahlen. Der Knabe war das Ebenbild des Vaters, wie seine zärtliche Mutter dachte.

Um unserer lieben Amelia willen habe ich wirklich nicht das Herz, Georges letzte Tage zu Hause zu beschreiben.

Endlich kam der Tag, der Wagen fuhr vor, die kleinen bescheidenen Päckchen mit Zeichen der Liebe und Andenken lagen schon im Hausflur bereit. George trug seinen neuen Anzug, zu dem ihm der Schneider vorher noch Maß genommen hatte. Bei Sonnenaufgang war er aus dem Bett gesprungen und hatte die neuen Kleider angezogen. Das alles hörte seine Mutter im Nebenzimmer, wo sie in stummem Schmerz die Nacht durchwacht hatte. Tage zuvor schon hatte sie Vorbereitungen getroffen, nützliche Kleinigkeiten für den Knaben [217] gekauft, seine Bücher und Wäsche mit seinem Namen versehen, mit ihm gesprochen und ihn auf die Veränderung vorbereitet – in dem zärtlichen Wahn, daß er der Vorbereitung bedürfe.

Was machte er sich schon daraus, wenn es nur eine Veränderung gab! Er konnte es kaum erwarten. Mit tausend eifrigen Plänen, was er alles tun würde, wenn er erst bei seinem Großvater wohnte, hatte er der armen Witwe gezeigt, wie wenig ihn die Trennung bedrückte.

Er wolle oft mit dem Pony kommen, um seine Mama zu besuchen, sagte er; er würde sie mit dem Wagen abholen, und dann könnten sie im Park spazierenfahren, und sie solle alles haben, was sie brauche. Die arme Mutter mußte sich mit diesen selbstsüchtigen Zeichen der Zuneigung zufriedengeben und versuchte sich einzureden, daß ihr Sohn sie aufrichtig liebe. Er mußte sie doch lieben. Alle Kinder waren so: ein wenig begierig auf Neues und – nein, nicht selbstsüchtig, nur eigenwillig. Ihr Kind sollte seinen Spaß und seinen Ehrgeiz in der Welt haben. Sie selbst mit ihrer selbstsüchtigen, törichten Liebe hatte ihm bisher sein Recht auf Freude verwehrt.

Ich kenne kaum etwas Rührenderes als die ängstliche Erniedrigung und Demütigung einer Frau, wenn sie gesteht, daß sie und nicht der Mann die Schuld trägt, wenn sie alle Fehler auf sich nimmt, wenn sie gewissermaßen Bestrafung fordert für ein Unrecht, das sie nicht begangen hat, und wenn sie darauf besteht, den wahren Schuldigen zu schützen! Frauen lieben die, die ihnen Unrecht zufügen, am meisten. Sie sind von Natur aus furchtsam, aber tyrannisch und mißhandeln die, die sich vor ihnen demütigen.

Die arme Amelia hatte sich also in stillem Kummer für das Scheiden ihres Sohnes gewappnet und manche lange einsame Stunde damit zugebracht. George stand neben seiner Mutter und beobachtete ihre Vorbereitungen ohne die mindeste Anteilnahme. Tränen waren in seine Schachteln gefallen. [218] In seinen Lieblingsbüchern hatte sie Stellen angestrichen. Alte Spielsachen, Andenken und Schätze hatte sie für ihn zusammengelegt und außerordentlich nett und sorgfältig zusammengepackt, aber von alledem nahm der Knabe keine Notiz. Das Kind geht lächelnd fort, während das Herz der Mutter bricht. Beim Himmel, wie bemitleidenswert ist auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit die sinnlose Liebe der Frauen zu den Kindern.

Einige Tage sind vergangen, und das große Ereignis in Amelias Leben ist vorüber. Kein Engel hat eingegriffen. Das Kind ist dem Schicksal geopfert worden, und die Witwe ist ganz allein.

Gewiß, der Knabe besucht sie oft. In Begleitung des Kutschers reitet er auf einem Pony, zum Entzücken seines alten Großvaters Sedley, der stolz an seiner Seite die Gasse hinabgeht. Sie sieht ihn, aber er ist nicht mehr ihr kleiner Junge. Ja, er reitet auch in die kleine Schule, um die Knaben dort zu besuchen und vor ihnen mit seinem neuen Reichtum und Glanz zu prahlen. Innerhalb von zwei Tagen hat er eine Herrschermiene und ein gönnerhaftes Wesen angenommen. Er ist zum Befehlen geboren, denkt seine Mutter, wie sein Vater.

Das Wetter ist jetzt sehr schön. An den Abenden, wenn er nicht kommt, unternimmt sie lange Spaziergänge nach London – ja, bis zum Russell Square sogar. Dort ruht sie sich auf der Steineinfassung am Gartenzaun gegenüber von Mr. Osbornes Haus aus. Es ist angenehm und kühl hier. Sie kann die erleuchteten Salonfenster sehen und gegen neun Uhr das Zimmer im oberen Stock, wo Georgy schläft. Das weiß sie – er hat es ihr erzählt. Sie betet, wenn das Licht verlöscht, betet mit demütigem, ergebenem Herzen und geht gebeugt und stumm wieder nach Hause. Sie ist sehr müde, wenn sie heimkommt. Vielleicht schläft sie nach diesem langen, anstrengenden Gang um so besser, und vielleicht träumt sie von Georgy.

Eines Sonntags spazierte sie am Russell Square in einiger [219] Entfernung von Mr. Osbornes Hause (sie konnte es ja auch aus der Ferne beobachten). Gerade begannen die Sonntagsglocken zu läuten, und George und seine Tante kamen heraus, um in die Kirche zu gehen. Da bat ein kleiner Straßenkehrerjunge um ein Almosen, und der Bediente, der die Gebetbücher trug, versuchte ihn wegzutreiben, aber Georgy blieb stehen und gab ihm Geld. Gottes Segen über den Knaben! Emmy lief rund um den Platz, und als sie den Straßenfeger erreicht hatte, gab sie ihm auch ihr Scherflein. Alle Sonntagsglocken läuteten, und sie folgte ihnen, bis sie zur Findelhauskirche kam. Sie ging hinein und setzte sich so, daß sie den Kopf des Knaben unter der Gedenktafel seines Vaters erblicken konnte. Viele hundert frische Kinderstimmen erhoben sich und sangen dem allgütigen Vater Dankeshymnen, und die Seele des kleinen George zitterte vor Entzücken über den herrlichen Psalm. Seine Mutter konnte ihn eine Weile durch den Schleier, der ihren Blick trübte, nicht sehen.

Fußnoten

1 Nach biblischer Überlieferung gelobt Hanna Gott, wenn er ihr den Wunsch nach einem Sohn erfüllt, ihm diesen zu weihen. Nachdem das Kind, das sie Samuel nennt, geboren ist, übergibt sie es dem Hohenpriester Eli. (1. Samuel 1 u. 2)

2 (1537-1554), Großnichte Heinrichs VIII.; wurde 1553 unrechtmäßig zur Königin von England ausgerufen, nach neuntägiger Herrschaft eingekerkert und hingerichtet.

51. Kapitel
In dem eine Scharade 1 aufgeführt wird, die dem Leser Rätsel aufgibt – oder auch nicht

Nach Beckys Auftritt bei den privaten und auserlesenen Empfängen Lord Steynes erkannte man die Ansprüche der schätzenswerten Frau auf die vornehme Gesellschaft an, und einige der bedeutendsten und größten Türen der Hauptstadt öffneten sich ihr schnell – Türen, so bedeutend und groß, daß der geneigte Leser und der Verfasser vergeblich hoffen dürften, sie jemals zu durchschreiten. Teure Brüder, laßt uns vor diesen erlauchten Portalen erzittern. Ich stelle sie mir vor, bewacht von Kammerdienern mit feurigen silbernen Gabeln, mit denen sie alle die aufspießen, die unberechtigt eintreten wollen. Es heißt, der ehrliche Zeitungsberichterstatter, der [220] in der Halle sitzt und die Namen der vornehmen Gäste niederschreibt, sterbe nach kurzer Zeit. Er kann den Glanz der großen Welt nicht lange ertragen. Dieser Glanz verbrennt ihn, wie die Erscheinung Jupiters in vollem Staat die arme, törichte Semele verzehrte 2 – ein vorwitziger Falter, der zugrunde geht, weil er sich aus seiner natürlichen Umgebung herauswagte. Diese Sage sollten sich die Tyburnier 3 und die Belgravier 4 zu Herzen nehmen – ihre Geschichte und vielleicht auch die Beckys. Ach, meine Damen, fragen Sie Ehrwürden Mr. Thurifer, ob Belgravia nicht ein tönendes Erz und Tyburnia eine klingende Schelle ist! Es sind alles eitle Dinge. Auch sie werden vergehen. Und eines Tages (aber Gott sei Dank erst nach unserer Zeit) wird der Hyde Park ebenso unbekannt sein wie die berühmten Gartenvorstädte von Babylon und der Belgrave Square ebenso einsam und öde wie die Baker Street und Tadmor 5 in der Wüste.

Wissen Sie, meine Damen, daß der große Pitt 6 in der Baker Street gewohnt hat? Was hätten nicht Ihre Großmütter darum gegeben, zu Lady Hesters 7 Gesellschaften in dem jetzt verfallenen Haus geladen zu werden! Ich habe darin gespeist – moi, qui vous parle 8. Ich bevölkerte das Zimmer mit den Geistern der mächtigen Toten. Als wir mit Männern von heute ernsthaft beim Rotwein dort saßen, kamen die Geister der Verstorbenen und nahmen ihre Plätze an der düsteren Tafel ein. Der Steuermann, der dem Sturm trotzte 9, stürzte große Becher gespenstischen Portweins hinab, der Schatten von Lord Dundas 10 ließ nicht die Spur einer Nagelprobe im Glas. Addington 11 saß da und verbeugte sich mit unheimlichem Lächeln und hielt nicht zurück, als die geräuschlose Flasche kreiste. Scott zwinkerte unter seinen buschigen Augenbrauen, als ein uralter Portwein kam; Wilberforces 12 Augen waren zur Decke gerichtet (und so schien er nicht zu wissen, wie er sein Glas voll zum Munde hob und leer wieder absetzte), zu jener Decke, die gestern noch über uns war und zu der die Großen der vergangenen Tage alle emporgeblickt haben. Das Haus [221] wird jetzt möbliert vermietet; ja, Lady Hester wohnte einst in der Baker Street und schläft jetzt in der Wüste. Eothen hat sie dort gesehen – nicht in der Baker Street, sondern in der anderen Einsamkeit.

Sicher, es ist alles Eitelkeit, aber wer wird nicht zugeben müssen, daß er ein wenig davon ganz gern hat? Ich möchte wohl wissen, welcher entschlossene Geist Roastbeef verabscheut, bloß weil es vergänglich ist? Das ist eine Eitelkeit. Möge aber doch jeder, der dies liest, sein ganzes Leben lang eine anständige Portion davon haben, ja, auch dann, wenn ich fünfhunderttausend Leser hätte. Setzen Sie sich, meine Herren, und langen Sie mit gutem Appetit zu. Schonen Sie weder das Fette noch das Magere, weder die Soße noch den Meerrettich. Noch ein Glas Wein, Jones, mein Junge – ein bißchen von der Sonntagsseite. Ja, wir wollen uns an dem eitlen Ding satt essen und dankbar dafür sein. Und ebenso wollen wir das Beste aus Beckys aristokratischen Freuden herausholen – denn wie alle übrigen irdischen Vergnügungen waren sie vergänglich.


Das Ergebnis ihres Besuches bei Lord Steyne war, daß Seine Hoheit, der Fürst von Peterwardein, seine Bekanntschaft mit Oberst Crawley erneuerte, als sie am nächsten Tage im Klub zusammentrafen, und Mrs. Crawley auf dem Ring im Hyde Park sehr achtungsvoll grüßte. Sie und ihr Mann wurden sofort zu einem der kleinen Vergnügen des Fürsten ins Levante-Haus geladen, das Seine Hoheit während der zeitweiligen Abwesenheit seines edlen Besitzers von England bewohnte; nach dem Essen sang sie vor einer sehr kleinen Gesellschaft. Der Marquis von Steyne war zugegen und überwachte väterlich die Fortschritte seiner Schülerin.

Im Levante-Haus traf Becky einen der vornehmsten Herren und größten Minister, die Europa hervorgebracht hat – den Herzog von La Jabotière, damals Gesandter des Allerchristlichsten Königs 13 und später Minister dieses Monarchen. [222] Ich gestehe, daß meine Brust sich vor Stolz schwellt, da meine Feder diese erlauchten Namen niederschreibt und wenn ich bedenke, in welcher glänzenden Gesellschaft sich meine liebe Becky bewegt. Sie wurde bald ein ständiger Gast in der französischen Gesandtschaft, wo keine Gesellschaft für vollständig angesehen wurde, wenn nicht die bezaubernde Madame Ravdonn Cravley zugegen war.

De Truffigny (von der Familie Périgord) und Champignac, beide Attachés bei der Gesandtschaft, verliebten sich sofort sterblich in die Reize der hübschen Frau des Obersten und erklärten beide, nach der Sitte ihrer Nation (denn wer hat je einen Franzosen aus England kommen sehen, der nicht ein halbes Dutzend Familien im Unglück zurückgelassen und ebenso viele Herzen in seiner Brieftasche mitgebracht hat?), sie stünden mit der bezaubernden Madame Rawdon au mieux 14.

Ich bezweifle jedoch die Richtigkeit dieser Behauptung. Champignac spielte sehr gern Ecarté und machte abends häufig seine Partie mit dem Oberst, während Becky im anderen Zimmer Lord Steyne vorsang, und es ist eine bekannte Tatsache, daß Truffigny nicht wagte, in den Klub der Reisenden zu gehen, wo er den Kellnern Geld schuldig war, und hätte er nicht in der Gesandtschaft essen können, dann wäre der würdige junge Mann verhungert. Wie gesagt, bezweifle ich, daß Becky einen der beiden jungen Männer zu ihrem Günstling erkoren hätte. Sie erledigten Aufträge für sie, kauften ihr Handschuhe und Blumen, stürzten sich in Schulden, um ihr Billetts für die Oper zu besorgen, und machten sich auf tausenderlei Art um sie verdient. Sie sprachen Englisch mit liebenswürdiger Einfachheit, zur steten Belustigung Beckys und Lord Steynes. Sie ahmte diese Sprechweise dem einen oder dem anderen ins Gesicht hinein nach und machte ihnen Komplimente über ihre Fortschritte in der englischen Sprache mit einem Ernst, der nie verfehlte, ihren sardonischen alten Gönner, den Marquis, zum Lachen zu reizen. Truffigny [223] schenkte der Briggs einen Schal, um Beckys Vertraute zu gewinnen, und bat sie, ihr einen Brief zuzustecken, den die einfältige alte Jungfer der Empfängerin öffentlich überreichte. Jeder, der ihn las, war höchlich amüsiert. Lord Steyne las ihn, jedermann las ihn, nur nicht der ehrliche Rawdon. Es war nicht nötig, daß er alles wußte, was in dem kleinen Haus in Mayfair vorging.

Hier empfing Becky binnen kurzem nicht nur die »besten« Ausländer (wie es in der edlen und bewundernswürdigen Ausdrucksweise unserer guten Gesellschaft heißt), sondern auch einige der »besten« Engländer. Ich meine damit weder die Tugendhaftesten noch die Verworfensten, weder die Klügsten noch die Dümmsten, nicht die Reichsten und auch nicht die Vornehmsten, sondern die »Besten« – mit einem Wort, Leute, die über alles erhaben sind, wie die große Lady Fitz-Willis, die Schutzheilige der Subskriptionsbälle 15, die große Lady Grizzel Macbeth (die ehemalige Lady G. Glowry, Tochter von Lord Grey von Glowry) und andere mehr. Wenn die Gräfin Fitz-Willis (sie stammt aus der Familie der Kingstreet, wie man im »Debrett« und im »Burke« 16 nachlesen kann) jemanden unter ihren Schutz nimmt, so ist diese Person gesichert. Niemand zweifelt dann mehr an ihrer Stellung. Ich will damit nicht etwa sagen, daß Lady Fitz-Willis um ein Haar besser ist als irgendeine andere. Im Gegenteil, sie ist eine verblühte Frau von siebenundfünfzig, weder hübsch noch reich, noch unterhaltsam. Man ist sich jedoch einig, daß sie zu den »Besten« gehört. Diejenigen, die sie empfängt, sind die Besten, und wahrscheinlich aus einem alten Groll gegen Lady Steyne (sie hatte, als sie noch die jugendliche Georgina Fredericka, Tochter vom Günstling des Prinzen von Wales, dem Graf von Portansherry, war, nach deren Krone gestrebt) beschloß diese große, berühmte Dame, die in der vornehmen Welt den Ton angab, Mrs. Rawdon Crawley anzuerkennen. Sie machte ihr auf dem Subskriptionsball, bei dem sie den Vorsitz führte, einen allgemein beachteten Knicks und ermunterte [224] nicht nur ihren Sohn, Saint-Kitts (der seine Stellung durch Lord Steynes Vermittlung erhalten hatte), Mrs. Crawley zu besuchen, sondern lud sie sogar zu sich ein. Während des Essens richtete sie zweimal sehr herablassend das Wort an Becky. Noch am selben Abend wurde dieses wichtige Ereignis in ganz London bekannt. Leute, die sich bisher abfällig über Mrs. Crawley geäußert hatten, verstummten. Wenham, der geistreiche Rechtsanwalt und Lord Steynes rechte Hand, verbreitete ihr Lob überall; einige, die bisher noch gezaudert hatten, kamen ihr sofort entgegen, um sie willkommen zu heißen. Der kleine Tom Toady, der Southdown gewarnt hatte, eine so verworfene Frau zu besuchen, flehte jetzt, bei ihr vorgestellt zu werden. Mit einem Wort – sie war anerkannt und gehörte nun zu den »Besten«. Ach, meine geliebten Leser und Mitmenschen, beneidet die arme Becky nicht zu früh – so ein Ruhm soll nur zu schnell verfliegen. Man erzählt sich, daß sie selbst in den innersten Kreisen nicht glücklicher sind als die armen Wanderer außerhalb der Schranken, und Becky, die bis in den Mittelpunkt der vornehmen Welt vorgedrungen ist und den großen Georg IV. von Angesicht zu Angesicht gesehen hat, bekannte später, daß auch dort alles eitel sei.

Wir müssen uns mit der Beschreibung dieses Teiles ihrer Laufbahn kurz fassen. Wie ich die Geheimnisse der Freimaurerei nicht beschreiben kann, obgleich ich eine schlimme Ahnung habe, daß das alles Unsinn ist, so kann auch ein Uneingeweihter es nicht auf sich nehmen, die vornehme Welt genau zu porträtieren, und es wird das beste sein, daß er seine Ansichten, wie sie auch sein mögen, für sich behält.

Becky hat in späteren Jahren oft von diesem Lebensabschnitt gesprochen, als sie sich in den höchsten Kreisen der Londoner vornehmen Welt bewegte. Ihre Erfolge erregten sie, machten sie stolz und langweilten sie schließlich. Anfangs kannte sie keine angenehmere Beschäftigung, als sich die hübschesten neuen Kleider und Schmucksachen auszudenken [225] und sie sich zu verschaffen (letzteres, nebenbei erwähnt, eine Angelegenheit, die einen Menschen mit Mrs. Rawdon Crawleys beschränkten Mitteln viel Mühe und Kopfzerbrechen kostete). Sie fand es schön, zu feinen Diners zu fahren, wo vornehme Leute sie begrüßten, und von den feinen Diners zu feinen Bällen, die dieselben Leute besuchten, mit denen sie gespeist hatte, die sie am Abend zuvor schon getroffen hatte und mit denen sie auch den nächsten Abend verbringen würde. Junge Männer waren da, untadelhaft gekleidet, mit hübschen Krawatten, den schönsten Lackschuhen und weißen Handschuhen, ältere, stattliche mit Messingknöpfen, von noblem Aussehen, höflich und langweilig, blonde junge Damen, furchtsam, in Rosa gekleidet, und Mütter, großartig, schön, prächtig, feierlich und mit Diamanten übersät. Sie unterhielten sich auf englisch, nicht in schlechtem Französisch wie in den Romanen. Sobald jemand den Rücken gekehrt hatte, sprach man über sein Haus, seinen Charakter und seine Familie, genauso wie die Johns über die Smiths sprechen. Beckys ehemalige Bekannten haßten und beneideten sie, aber die arme Frau selbst gähnte insgeheim. Ich wünschte, ich wäre nicht hier, sagte sie zu sich, ich wäre lieber eine Pfarrersfrau und unterrichtete in einer Sonntagsschule oder die Frau eines Unteroffiziers und müßte im Regimentswagen fahren, oder ach, wieviel lustiger wäre es noch, Flitter und Hosen zu tragen und vor einer Jahrmarktsbude zu tanzen.

»Sie würden das sehr hübsch machen«, meinte Lord Steyne lachend; sie pflegte dem bedeutenden Mann in ihrer unschuldigen Art ihre Langeweile und Not zu klagen, und er amüsierte sich darüber.

»Rawdon würde einen sehr guten Zureiter – Zeremonienmeister – wie nennt man ihn doch gleich – diesen Mann mit den hohen Stiefeln und der Uniform, der in der Manege herumgeht und mit der Peitsche knallt, abgeben. Er ist groß, schwer und sieht militärisch aus. Ich erinnere mich«, fuhr Becky nachdenklich fort, »wie mich mein Vater zu einer Vorstellung[226] auf dem Brookgreen-Jahrmarkt mitnahm, als ich noch ein kleines Mädchen war. Und als wir dann nach Hause kamen, habe ich mir ein paar Stelzen gemacht und zur Verwunderung aller Schüler im Atelier getanzt.«

»Das hätte ich sehen mögen«, sagte Lord Steyne.

»Ich möchte es jetzt gern noch einmal tun«, fuhr Becky fort; »wie würde Lady Blinkey da die Augen aufreißen, und Lady Grizzel Macbeth würde starren! Pst! Ruhe! Pasta fängt an zu singen.«

Becky zeigte sich gegenüber den Künstlern und Künstlerinnen, die zu diesen aristokratischen Gesellschaften hinzugezogen wurden, von bemerkenswerter Höflichkeit. Sie folgte ihnen in die Winkel, wo sie stumm herumsaßen, schüttelte ihnen die Hand und lächelte sie, allen anderen sichtbar, an. Sie war selbst Künstlerin, wie sie aufrichtig bekannte. Sie hatte eine offene und bescheidene Art, von ihrer Herkunft zu sprechen, die ihre Zuhörer je nachdem ärgerte, entwaffnete oder belustigte.

»Wie unverschämt diese Frau doch ist«, sagte der eine. »Wie selbstherrlich sie sich benimmt, wo sie doch eigentlich stillsitzen und dankbar sein sollte, wenn jemand mit ihr spricht.« »Was für eine ehrliche, gutmütige Seele sie ist«, sagte ein anderer. »Was für eine schlaue kleine Hexe«, ein dritter. Sie hatten höchstwahrscheinlich alle recht. Becky aber ging ihren eigenen Weg und bezauberte die Künstler so, daß sie niemals heiser waren, wenn sie bat, bei ihren Gesellschaften zu singen und ihr umsonst Unterricht zu geben.

Ja, sie gab Gesellschaften in dem kleinen Haus in der Curzon Street. Viele Dutzend Wagen mit strahlenden Lampen versperrten die Straße, zum Ärger der Bewohner von Nr. 200, die vor dem Gedonner des Türklopfers nicht schlafen konnten, und von Nr. 202, die vor Neid keine Ruhe fanden. Die gigantischen Lakaien, die die Gefährte begleiteten, waren zu groß für Beckys kleines Bedientenzimmer und wurden in die benachbarten Wirtshäuser ausquartiert. Wenn man sie [227] brauchte, holten Laufjungen sie von ihrem Bier weg. Viele der vornehmen Londoner Stutzer drängten sich auf den schmalen Treppen, traten einander auf die Füße und lachten, wenn sie sich hier trafen. Viele vornehme, makellose und sittenstrenge Damen saßen in dem kleinen Salon und lauschten den Sängern, welche nach ihrer Gewohnheit so laut sangen, als wollten sie die Fenster zerschmettern. Am nächsten Tag erschien dann unter der Rubrik »Vornehme Gesellschaften« in der »Morning Post« ein Artikel folgenden Inhalts:

»Gestern bewirteten Oberst und Mrs. Crawley eine erlesene Gesellschaft in ihrem Hause in Mayfair. Es waren anwesend: Ihre Exzellenzen der Fürst und die Fürstin von Peterwardein, Seine Exzellenz Papusch-Pascha, der türkische Gesandte (in Begleitung von Kibob Bey, Dragoman 17 der Gesandtschaft), der Marquis von Steyne, Graf Southdown, Sir Pitt und Lady Jane Crawley, Mr. Wagg und so weiter. Nach dem Diner gab Mrs. Crawley einen Subskriptionsball, den folgende Persönlichkeiten besuchten: die Herzoginwitwe von Stilton, der Herzog von La Gruyère, die Marquise von Cheshire, der Marchese Alessandro Stracchino, der Graf de Brie, Baron Schapzuger, der Chevalier Tosti, die Gräfin von Slingstone und Lady F. Macadam, Generalmajor und Lady G. Macbeth mit zwei Töchtern, Viscount Paddington, Sir Horace Fegny, Ehrwürden Bedwin Sands, Bobbachy Bahaw der« und dann ein »etc.«, das der Leser nach Belieben durch ein Dutzend enggedruckter Zeilen in kleinen Typen ausfüllen kann.

Im Verkehr mit den Großen zeigte unsere teure Freundin dieselbe Offenherzigkeit, die sie auch gegenüber Niedrigerstehenden bewies. Einmal unterhielt sich Rebekka in einem sehr feinen Haus (vielleicht etwas zu auffällig) mit einem berühmten französischen Tenor in seiner Muttersprache, während Lady Grizzel Macbeth dem Paar über die Schulter finstere Blicke zuwarf.

»Wie gut Sie Französisch können«, sagte Lady Grizzel, die [228] diese Sprache mit einem höchst merkwürdigen Edinburgher Akzent sprach.

»Ich muß es doch können«, sagte Becky und schlug bescheiden die Augen nieder. »Ich habe an einer Schule darin unterrichtet, und meine Mutter war Französin.«

Lady Grizzel war von dieser Demut besiegt und der kleinen Frau nun freundlicher gesinnt. Sie beklagte die verhängnisvollen Tendenzen der Gleichmacherei unseres Zeitalters, die Personen aller Klassen den Zutritt in die Gesellschaft Höherstehender gestattete, gab jedoch zu, daß sich diese hier wenigstens anständig benahm und niemals ihre Stellung im Leben vergaß. Sie war eine sehr gute Frau, gütig gegen die Armen, dumm, untadelig und arglos.

Die Lady kann nichts dafür, daß sie sich für etwas Besseres hält als dich und mich. Die Kleidersäume ihrer Vorfahren hat man schon vor Jahrhunderten geküßt; und vor tausend Jahren soll das Gewand des Familienoberhauptes von den Lords und Räten des verstorbenen Duncan 18 umfaßt worden sein, als der große Ahnherr des Hauses König von Schottland wurde 19.

Nach der Szene am Klavier war Lady Steyne von Becky besiegt, und vielleicht war sie ihr gar nicht abgeneigt, und auch die jüngeren Damen des Hauses Gaunt wurden zur Unterwerfung gezwungen. Sie hetzten ein paarmal andere Leute gegen sie auf, aber ohne Erfolg. Die glänzende Lady Stunnington versuchte, mit ihr die Waffen zu kreuzen, wurde aber von der unerschrockenen kleinen Becky schmachvoll in die Flucht geschlagen. Wenn Becky zuweilen angegriffen wurde, setzte sie eine demütige, unschuldige Miene auf, und dabei war sie dann am gefährlichsten. In dieser Laune sagte sie die bösartigsten Dinge mit dem einfachsten, harmlosesten Gesichtsausdruck und beeilte sich dann, für ihre Fehler um Entschuldigung zu bitten, damit alle Welt ja auch erfuhr, daß sie sie begangen hatte.

Mr. Wagg, der berühmte Schöngeist und Schmarotzer von [229] Lord Steyne, war ebenfalls von den Damen aufgehetzt worden. Eines Abends blinzelte der ehrenwerte Bursche seinen Gönnerinnen zu, als wollte er sagen: Achtung, jetzt gibt es einen Hauptspaß – und dann leitete er einen Angriff auf Becky ein, die ahnungslos ihr Diner verzehrte.

Die kleine Frau, die so plötzlich überfallen wurde, hielt ihre Waffen jedoch immer bereit. Sie lohte sofort auf, parierte und gab den Stoß zurück, daß Waggs Gesicht vor Scham erglühte. Dann kehrte sie ruhig lächelnd zu ihrer Suppe zurück. Waggs großer Gönner, der ihn zum Essen einlud und ihm zuweilen etwas Geld lieh und dessen Wahlgeschäfte und Zeitungsangelegenheiten Wagg besorgte, schoß einen so wütenden Blick auf den unglückseligen Burschen ab, daß er fast geweint hätte und unter den Tisch gesunken wäre. Er sah den Marquis, der während des ganzen Diners kein Wort mit ihm sprach, und die Damen, die ihn verleugneten, mitleidheischend an; endlich erbarmte sich Becky selbst seiner und versuchte ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Er wurde sechs Wochen lang nicht zum Essen eingeladen, und durch Fiche, den Vertrauten des Lords, um den Wagg natürlich eifrig herumschlich, ließ man ihm sagen, daß Lord Steyne alle seine Schuldscheine dem Rechtsanwalt übergeben und ihn erbarmungslos pfänden lassen würde, sollte er noch einmal wagen, gegen Mrs. Crawley ungezogen zu sein oder sie zur Zielscheibe seiner dummen Witze zu machen. Wagg flehte seinen teuren Freund Fiche unter Tränen an, sich für ihn ins Mittel zu legen. Er schrieb ein Gedicht zum Lobe von Mrs. R.C., das in der nächsten Nummer des von ihm herausgegebenen »Harumscarum-Magazine« erschien. Traf er sie auf Gesellschaften, so flehte er um ihre Gunst. Er umschmeichelte Rawdon und kroch vor ihm im Staube. Nach einer Weile durfte er wieder ins Gaunt-Haus kommen. Becky war nett zu ihm, stets lustig, niemals böse.

Mr. Wenham, der Wesir und erste Vertraute des Lords (mit einem Sitz im Parlament und an der Mittagstafel), war [230] in seinem Verhalten und seinen Ansichten viel vorsichtiger als Mr. Wagg. Wenn er auch alle Emporkömmlinge haßte (Mr. Wenham selbst war ein eifriger alter eingefleischter Tory, sein Vater jedoch ein kleiner Kohlenhändler in Nordengland), so nahm dieser Adjutant des Marquis doch niemals eine feindselige Haltung gegenüber dem neuen Günstling ein, sondern verfolgte Rebekka mit heimlichen Freundschaftsbeweisen und einer schlauen, unterwürfigen Höflichkeit, die sie oft mehr beunruhigten als die offene Feindschaft anderer.

Woher die Crawleys das Geld für die Empfänge nahmen, zu denen sie die vornehme Welt einluden, war ein Geheimnis, über das damals viel geredet wurde und das diesen kleinen Festlichkeiten wahrscheinlich erst den Reiz verlieh. Einige behaupteten, daß Sir Pitt Crawley seinem Bruder eine hübsche Rente zahle; wenn das stimmte, so mußte Becky eine außerordentliche Macht über den Baronet ausüben und sein Charakter sich mit zunehmendem Alter sehr verändert haben. Andere deuteten an, daß Becky die Gewohnheit habe, alle Freunde ihres Mannes zu erpressen. Sie berichtete dem einen unter Tränen, es werde eine Pfändung bei ihr zu Hause vorgenommen, falle vor dem anderen auf die Knie und erkläre, die ganze Familie komme ins Gefängnis oder müsse Selbstmord begehen, wenn nicht die oder die Rechnung bezahlt werde. Lord Southdown soll durch diese pathetischen Vorstellungen veranlaßt worden sein, viele hundert Pfund zu geben. Der junge Feltham vom ...ten Dragonerregiment (Sohn der Firma Tiler und Feltham, Hüte und Armeeausrüstung), den die Crawleys in die vornehme Welt eingeführt hatten, wurde ebenfalls als Beckys Opfer in geldlicher Hinsicht angeführt. Man behauptete sogar, sie habe von verschiedenen einfältigen Personen Geld erhalten unter dem Vorwand, ihnen Vertrauensposten in der Regierung zu verschaffen. Es wurden wer weiß was für Geschichten von unserer lieben, unschuldigen Freundin erzählt. Eins ist sicher: Hätte sie all das Geld besessen, das sie erbettelt, geborgt [231] oder gestohlen haben sollte, dann wäre sie reich gewesen und hätte ihr Leben lang ehrlich bleiben können, so je doch ... aber wir greifen der Geschichte vor.

In Wirklichkeit kann man durch Sparsamkeit und gutes Haushalten – also bei wenig Verbrauch von Bargeld und indem man bei fast niemandem Schulden bezahlt – zumindest eine Zeitlang mit geringen Mitteln ein glänzendes Leben führen. Wir glauben, daß die vielbesprochenen Gesellschaften, die trotz allem, was erzählt wurde, nicht so häufig stattfanden, Becky kaum mehr kosteten als die Wachskerzen, die die Räume erhellten. Stillbrook und Queen's Crawley lieferten ihr Obst und Wild in Hülle und Fülle. Lord Steynes Weinkeller stand ihr zur Verfügung, und die berühmten Köche dieses vortrefflichen Herrn wirkten in ihrer kleinen Küche oder schickten auf Befehl des Marquis die seltensten Delikatessen aus ihrer eigenen. Ich erkläre, daß es eine Schande für die Welt ist, ein einfaches Geschöpf zu beschimpfen, wie die Menschen es damals mit Becky taten, und ich warne das Publikum, auch nur den zehnten Teil der Geschichten, die über sie erzählt wurden, zu glauben. Wenn jeder, der Schulden macht und sie nicht bezahlen kann, aus der Gesellschaft verbannt würde – wenn wir in jedermanns Privatleben blicken, sein Einkommen berechnen und ihn verwerfen würden, sobald wir seine Ausgaben nicht billigen – was für eine heulende Wildnis und unerträgliche Bleibe wäre dann der Jahrmarkt der Eitelkeit. Dann würde jeder die Hand gegen seinen Nächsten erheben, mein lieber Herr, und mit den Wohltaten der Zivilisation wäre es aus und vorbei. Wir würden uns nur noch zanken, beschimpfen und meiden. Unsere Häuser würden zu Höhlen werden, und wir würden in Lumpen umhergehen, weil wir uns um niemand kümmerten. Die Mieten würden heruntergehen, die Gesellschaften aufhören, alle Geschäftsleute in der Stadt Bankrott machen; Wein, Kerzen, Lebensmittel, Schminke, Krinolinen, Diamanten, Perücken, Nippsachen und altes Porzellan, Reitpferde[232] und prächtige hochtrabende Gespanne, kurz, alle Freuden des Lebens würden zum Teufel gehen, wenn die Menschen nach ihren einfältigen Grundsätzen handelten und diejenigen, die sie hassen und schmähen, mieden.

Mit einem bißchen Nächstenliebe und gegenseitiger Nachsicht kann alles ganz angenehm verlaufen. Wir mögen einen Menschen beschimpfen, soviel wir Lust haben, und ihn den größten Schuft nennen, der es verdiente, gehängt zu werden – wünschen wir aber deshalb wirklich, daß er gehängt wird? Nein. Wir reichen uns die Hand, wenn wir uns treffen. Wenn er einen guten Koch hat, verzeihen wir ihm, gehen zu ihm zum Diner und erwarten, daß er es ebenso macht. Auf diese Weise gedeihen die Gewerbe, die Zivilisation schreitet voran, der Friede wird erhalten, man braucht jede Woche ein neues Kleid für einen neuen Ball, und der letzte Jahrgang des Weines von Lafitte wird dem ehrlichen Besitzer, der ihn gezogen hat, gut bezahlt werden.

Obwohl zu der Zeit, die wir schildern, noch der große Georg auf dem Thron saß und die Damen Puffärmel und schaufelgroße Schildpattkämme im Haar trugen statt der einfachen Ärmel und hübschen Kränze, die jetzt Mode sind, so waren doch wohl die Manieren der Allervornehmsten nicht sehr verschieden von denen unserer Zeit, und ihre Vergnügungen ähnelten sich sehr. Wir sehen nur als Außenstehende über die Schultern der Polizisten die bezaubernden Schönheiten, die zu Hofe oder zum Ball gehen, und uns mögen sie wie Wesen von überirdischem Glanz erscheinen, die sich eines für uns unerreichbaren, großen Glücks erfreuen; aber gerade diesen Unzufriedenen zum Trost berichten wir von den Triumphen und Enttäuschungen unserer lieben Becky, die, wie alle verdienstvollen Menschen, daran ihren Anteil hatte.

Zu jener Zeit war das nette Unterhaltungsspiel, Scharaden aufzuführen, von Frankreich nach England gekommen. Es wurde sehr beliebt, da es den vielen Schönheiten unter den [233] Damen Gelegenheit bot, ihre Reize zu zeigen, und den wenigen klugen, mit ihrem Witz zu glänzen. Becky, die wahrscheinlich beide Eigenschaften in sich vereint glaubte, veranlaßte Lord Steyne, im Gaunt-Haus ein Fest zu geben, bei dem auch einige dieser kleinen Dramen aufgeführt werden sollten. Wir müssen den Leser um Erlaubnis bitten, ihn in diese glänzende Gesellschaft einführen zu dürfen, aber wir tun es mit wehmütiger Freude, denn es wird eines der letzten vornehmen Feste sein, zu denen wir ihn führen können.

Ein Teil der herrlichen Gemäldegalerie vom Gaunt-Haus war als Scharadentheater eingerichtet worden; man hatte es schon zur Zeit Georgs III. für diesen Zweck benutzt, und es existiert noch ein Porträt des Marquis von Gaunt mit gepudertem Haar und rosa Band in sogenannter römischer Aufmachung, in der Rolle des Cato in Addisons 20 gleichnamigem Trauerspiel. Es wurde vor Ihren Königlichen Hoheiten, dem Prinzen von Wales, dem Bischof von Osnabrück und dem Prinzen William Henry, die damals gleich dem Schauspieler noch Kinder waren, aufgeführt. Ein paar Kulissen und Dekorationen holte man aus der Dachkammer, wo sie seither gelegen hatten, und putzte sie für das gegenwärtige Fest neu auf.

Der junge Bedwin Sands, damals ein eleganter Stutzer und Orientreisender, war Spielmeister. Ein Orientreisender galt in jener Zeit noch etwas, und der abenteuerliche Bedwin, der seine Reiseerlebnisse veröffentlicht hatte und monatelang in der Wüste im Zelt gelebt hatte, war eine nicht unbedeutende Persönlichkeit. In seinem Buch war Sands in verschiedenen orientalischen Kostümen abgebildet. Er reiste stets mit einem schwarzen Diener von sehr wenig anziehendem Äußeren, ganz wie ein zweiter Brian de Bois-Guilbert 21. Bedwin, seine Kleidung und sein schwarzer Diener wurden im Gaunt-Haus als höchst wertvolle Erwerbung betrachtet.

Er führte die erste Scharade vor. Ein türkischer Offizier mit ungeheurem Federbusch (man nahm an, daß die [234] Janitscharen noch existierten und der Tarbusch 22 die alte majestätische Kopfbedeckung der wahren Gläubigen noch nicht verdrängt habe) lag auf einem Diwan und tat, als ob er eine türkische Wasserpfeife rauchte. Wegen der Damen durfte darin jedoch nur eine wohlriechende Pastille brennen. Der türkische Würdenträger gähnt und gibt Zeichen der Langeweile und Trägheit von sich; er klatscht in die Hände, und der Nubier Mesrour erscheint mit nackten Armen, Armringen, Jataganen 23 und allerlei anderem orientalischem Zierat – mager, lang und häßlich. Er begrüßt seinen Herrn mit »Salem aleikum«.

Ein Schauer des Erschreckens und Entzückens durchläuft die Versammlung. Die Damen flüstern miteinander. Sands Bedwin hat den schwarzen Sklaven von einem ägyptischen Pascha für drei Dutzend Flaschen Maraschino erhalten. Er hat schon Gott weiß wie viele Odalisken 24 in Säcke genäht und in den Nil geworfen.

»Laß den Sklavenhändler eintreten«, sagt der türkische Lüstling mit einer Handbewegung.

Mesrour führt den Sklavenhändler herein, und dieser bringt ein verschleiertes Mädchen mit; er lüftet ihren Schleier. Das Haus hallt vom Beifall wider: Es ist Mrs. Winkworth (die ehemalige Miss Absolom) mit den schönen Augen und Haaren. Sie trägt ein schimmerndes orientalisches Kostüm. Die schwarzen Zöpfe sind mit unzähligen Juwelen durchflochten, das Gewand mit goldenen Piastern übersät. Der abscheuliche Mohammedaner ist von ihrer Schönheit bezaubert; sie fällt auf die Knie nieder und fleht ihn an, sie wieder in ihre heimatlichen Berge zurückziehen zu lassen, wo ihr tscherkessischer Geliebter noch immer die Abwesenheit seiner Suleika beklagt. Aber kein Flehen rührt den hartherzigen Hassan. Er lacht bei dem Gedanken an den tscherkessischen Bräutigam. Suleika bedeckt das Gesicht mit den Händen und sinkt in malerischer Verzweiflung nieder. Es scheint jede Hoffnung für sie verloren – als der Kislar Aga erscheint.

[235] Der Kislar Aga bringt ein Schreiben vom Sultan. Hassan empfängt den furchtbaren Erlaß und legt ihn auf sein Haupt. Entsetzlicher Schrecken ergreift ihn, aber auf dem Antlitz des Negers (es ist wiederum Mesrour in einem anderen Kostüm) spiegelt sich eine grauenhafte Freude.

»Gnade, Gnade!« ruft der Pascha, während der Kislar Aga mit schrecklichem Grinsen – eine seidene Schnur hervorzieht.

Der Vorhang fällt in dem Augenblick, als er die furchtbare Waffe anwenden will. Hassan ruft von innen: »Die ersten beiden Silben«, und Mrs. Rawdon Crawley, die ebenfalls in der Scharade auftreten wird, tritt vor und gratuliert Mrs. Winkworth zu ihrem geschmackvollen, schönen Kostüm.

Der zweite Teil der Scharade beginnt. Immer noch ist der Schauplatz im Orient. Hassan, in anderer Kleidung, sitzt in zärtlicher Haltung bei Suleika, die sich vollkommen mit ihm ausgesöhnt hat. Der Kislar Aga ist ein friedlicher schwarzer Sklave geworden. Es ist Sonnenaufgang in der Wüste, die Türken wenden das Gesicht gen Osten und verbeugen sich bis zum Sand. Da keine Dromedare bei der Hand sind, spielt die Kapelle witzigerweise: »Die Kamele kommen.« Ein ungeheurer ägyptischer Kopf befindet sich ebenfalls auf der Bühne, er ist musikalisch und singt, zum Erstaunen der Orientreisenden, ein von Mr. Wagg komponiertes komisches Lied. Die Orientreisenden tanzen ab wie Papageno und der Mohr in der »Zauberflöte«. »Die beiden letzten Silben«, brüllt der Kopf.

Der letzte Akt beginnt. Diesmal ist es ein griechisches Zelt. Auf einem Lager ruht ein großer, kräftiger Mann; über ihm hängen sein Helm und sein Schild; er braucht sie nicht mehr. Troja ist gefallen, Iphigenie ist geopfert, Kassandra steht als Gefangene in seiner Vorhalle. Der König der Menschen 25 (es ist Oberst Crawley, der keine Ahnung von der Eroberung Trojas oder der Gefangennahme Kassandras hat), der anax andrōn 26 schläft in seinem Zimmer auf Argos; eine Lampe [236] wirft flackernd den breiten Schatten des schlafenden Kriegers auf die Wand. Schwert und Schild von Troja gleißen im Licht. Die Musik spielt die furchtbare Musik aus »Don Giovanni«, ehe die Statue auftritt.

Bleich schleicht Ägisthos auf Zehenspitzen herein. Wem gehört das entsetzliche Gesicht, das ihm hinter dem Gobelin hervor unheilvoll nachschaut? Er erhebt den Dolch, um den Schläfer zu erstechen, der sich in seinem Bett wälzt und seine breite Brust entblößt, als ob er sie dem Stoß darbiete. Er kann den edlen schlummernden Feldherrn nicht töten. Schnell wie eine Erscheinung gleitet Klytämnestra in den Raum. Ihre nackten Arme schimmern weiß, das rötliche Haar fließt ihr über die Schultern, ihr Gesicht ist totenbleich – und in den Augen glänzt ein so entsetzliches Lächeln, daß die Zuschauer bei ihrem Anblick zittern.

Ein Schauder durchlief den Raum. »Guter Gott!« sagte jemand. »Es ist Mrs. Rawdon Crawley.«

Verächtlich entreißt sie Ägisthos den Dolch. Man sieht ihn im Schimmer der Lampe über ihrem Haupt blitzen. Da geht die Lampe aus, man hört ein Ächzen, und alles ist dunkel.

Die Dunkelheit und die Handlung versetzten die Menschen in Schrecken. Rebekka hatte ihre Rolle so gut und so entsetzlich echt gespielt, daß die Zuschauer verstummten, bis plötzlich alle Lichter wieder aufflammten und jedermann Beifall zu rufen begann. »Bravo, bravo«, hörte man die durchdringende Stimme des alten Steyne über allen anderen rufen, und »bei Gott, sie wäre imstande, es zu tun«, murmelte er zwischen den Zähnen. Die Schauspieler wurden herausgerufen, und das Haus hallte wider von dem Geschrei nach dem Spielmeister und nach Klytämnestra. Agamemnon war nicht zu bewegen, in seiner klassischen Tunika hervorzutreten. Er stand mit Ägisthos und den übrigen Schauspielern des kleinen Dramas im Hintergrund. Mr. Bedwin Sands führte Suleika und Klytämnestra vor. Eine hohe Persönlichkeit [237] wollte unbedingt der bezaubernden Klytämnestra vorgestellt werden. »Ihn erstechen und einen anderen heiraten, wie?« lautete die angemessene Bemerkung Seiner Königlichen Hoheit.

»Mrs. Rawdon Crawley war unwiderstehlich in ihrer Rolle«, meinte Lord Steyne. Becky lachte lustig und blickte schelmisch drein. Dann machte sie ein allerliebstes Knickschen.

Die Diener brachten jetzt Tabletts mit Erfrischungen herein, und die Schauspieler entfernten sich, um sich für die zweite Scharade vorzubereiten.

Die drei Silben dieser Scharade sollten pantomimisch dargestellt werden, und das geschah folgendermaßen:

Erste Silbe: Oberst Rawdon Crawley, Träger des Bathordens, mit Schlapphut und Stab, langem Überrock und einer aus dem Stall geliehenen Laterne, geht rufend über die Bühne, als ob er den Bewohnern die Stunde verkünde. In einem Fenster unten erblickt man zwei Handlungsreisende, die offenbar Karten spielen und dabei gähnen. Zu ihnen tritt ein anderer, der wie ein Hausknecht aussieht (Ehrwürden G. Ringwood, der seine Rolle sehr natürlich spielt). Er zieht ihnen die Schuhe aus. Bald darauf erscheint ein Kammermädchen (Lord Southdown) mit zwei Leuchtern und einer Wärmflasche. Sie steigt in das obere Zimmer hinauf und wärmt das Bett. Sie benutzt die Wärmflasche als Waffe, um sich der Aufmerksamkeiten der beiden Handlungsreisenden zu entziehen. Sie geht ab. Die beiden setzen ihre Schlafmützen auf und lassen die Jalousien herab. Der Hausknecht kommt heraus und schließt die Läden des Zimmers im Erdgeschoß. Man hört ihn von innen die Tür verriegeln und zuketten. Die Lichter verlöschen. Die Musik spielt: »Dormez, dormez, chers amours.« 27 Eine Stimme hinter dem Vorhang sagt: »Erste Silbe.«

Zweite Silbe: Die Lampen brennen plötzlich wieder. Die Musik spielt die alte Arie aus »Johann von Paris«: »Ah, quel plaisir d'être en voyage« 28. Es ist dasselbe Bühnenbild. Zwischen [238] dem ersten und dem zweiten Stock des dargestellten Hauses erblickt man ein Schild mit dem Steyneschen Wappen. Überall im Haus klingelt es. Im unteren Zimmer sieht man, wie ein Mann einem anderen einen langen Zettel gibt, worauf dieser drohend die Faust schüttelt und entsetzlich schimpft. »Stallknecht, meinen Wagen!« ruft ein anderer an der Tür. Er faßt dem Kammermädchen (Lord Southdown) unter das Kinn; sie scheint seine Abreise zu beklagen wie Kalypso die des anderen großen Reisenden Odysseus 29. Der Hausknecht (Ehrwürden G. Ringwood) geht mit einem Holzkasten herum, in dem silberne Kannen sind, und ruft so humorvoll und echt: »Bier!«, daß das Haus von Beifall dröhnt und man ihm einen Blumenstrauß zuwirft. Klatsch, klatsch, klatsch! knallen die Peitschen, Wirt, Kammermädchen und Kellner stürzen zur Tür, aber gerade, als ein vornehmer Gast ankommt, fällt der Vorhang, und der unsichtbare Regisseur ruft: »Zweite Silbe.«

»Ich glaube, die Lösung soll ›Hotel‹ sein«, meint Hauptmann Grigg von der Leibgarde. Alles lacht über die kluge Bemerkung des Hauptmanns. Er hat nicht sehr weit am Ziel vorbeigeschossen.

Während der Vorbereitungen für die dritte Silbe spielt die Kapelle ein Seemannspotpourri: »An der Küste von Kent«, »Blas, sanfter Südwind«, »Herrsche, Britannien« und »In der Bucht von Biskaya«. Es soll also ein Ereignis auf See dargestellt werden. Als der Vorhang aufgeht, hört man eine Glocke.

»Auf, auf, Herrschaften, ans Land!« ruft eine Stimme. Die Leute nehmen Abschied voneinander. Sie deuten ängstlich auf die Wolken, die durch einen dunklen Vorhang dargestellt sind, und nicken furchtsam mit den Köpfen. Lady Squeams (Lord Southdown) mit ihrem Schoßhund, ihrem Gepäck, ihrem Strickbeutel und ihrem Ehemann setzt sich nieder und hält sich an einem Seil fest. Man befindet sich offenbar auf einem Schiff.

[239] Der Kapitän (Oberst Crawley) kommt mit einem Dreispitz auf dem Kopf und einem Fernrohr in der Hand. Er hält den Hut fest und sieht sich um. Seine Rockschöße flattern wie vom Winde gezaust. Als er seinen Hut losläßt, um durchs Fernrohr zu blicken, fliegt er ihm unter ungeheurem Applaus vom Kopf. Es weht eine recht frische Brise. Auch die Musik wird lauter und lauter. Die Matrosen schwanken über die Bühne, als ob das Schiff sich hin und her würfe. Der Steward (Ehrwürden G. Ringwood) kommt schaukelnd mit sechs Schüsseln in der Hand vorbei. Eine davon setzt er vor Lord Squeams nieder. Lady Squeams, die ihren Hund kneift, woraufhin dieser erbärmlich zu heulen anfängt, hält sich das Taschentuch vors Gesicht und stürzt davon, als ob sie ihre Kajüte aufsuchen müßte. Die Musik steigert sich zu stürmischer, erregter Wildheit, und die dritte Silbe ist beendet.

Es gab damals ein kleines Ballett, »Le Rossignol« 30, in dem Montessu und Noblet großen Beifall ernteten. Mr. Wagg brachte es als Oper auf die englische Bühne, indem er Verse – er war ein geschickter Riemschmied – zu den hübschen Melodien des Balletts verfaßte. Es wurde in altfranzösischen Kostümen aufgeführt, und der kleine Lord Southdown erscheint jetzt, wunderbar verkleidet, als altes Weib, das an einem tadellosen Schäferstab über die Bühne humpelt.

Aus dem Hintergrund der Bühne, wo eine hübsche Papphütte mit Rosenspalieren steht, hört man jemanden trällern. »Philomele, Philomele!« ruft das alte Weib, und Philomele kommt heraus.

Wieder Beifall: Es ist Mrs. Rawdon Crawley, gepudert und mit Schönheitspflästerchen, die bezauberndste kleine Marquise der Welt.

Sie kommt lachend und summend herein und hüpft mit der Unschuld der Jugend über die Bühne. Dann macht sie einen Knicks. Die Mama sagt: »Aber Kind, immer lachst du und singst!«, und sie beginnt:

[240] Die Ros' an meinem Fensterlein

Die Ros' an meinem Fensterlein, sie würzt die Morgenlüfte,
Den ganzen Winter stand sie kahl in stillem Lenzessehnen:
Du fragst, warum sie blühend lacht und süß sind ihre Düfte;
Es kommt vom hellen Sonnenschein und Vogelliedertönen.
Die Nachtigall, sie läßt ihr Lied im Walde mir erschallen;
Sie schwieg, solang die Büsche tot und frostig war der Wind;
Und fragst du, Mutter, mich, warum wohl ihre Tön' erschallen,
So sag ich, weil die Sonne strahlt und grün die Blätter sind.
So tut ein jedes, was es muß: die Vöglein munter singen;
Die Rose färbt ihr Angesicht in dunkler Purpurglut.
Die Sonne scheint in meine Brust, drum meine Lieder klingen,
Und von der Glut, die sie erweckt, wallt feurig auf mein Blut.

Zwischen den einzelnen Strophen dieses Liedchens bemühte sich die von der Sängerin mit Mutter angeredete, gutmütige Person, der ein großer Backenbart unter der Haube hervorquoll, ihre Mutterliebe zu beweisen, und umarmte das unschuldige Geschöpf, das die Rolle der Tochter spielte. Jede Liebkosung wird von den anteilnehmenden Zuhörern mit lautem Gelächter quittiert. Nach dem Schluß des Liedes spielte die Kapelle eine Symphonie, daß es klang, als ob unzählige Vögel jubilierten, und das ganze Haus verlangte einstimmig eine Wiederholung. Die NACHTIGALL des Abends 31 erhielt rauschenden Beifall und wurde mit Blumen überschüttet. Am lautesten erklang Lord Steynes Stimme, und Becky, die Nachtigall, nahm die Blumen, die er ihr zugeworfen hatte, und drückte sie mit der Miene einer vollendeten Schauspielerin an die Brust. Lord Steyne war ganz außer sich vor Entzücken, und seine Gäste waren ebenso begeistert. Wo war die schöne, schwarzäugige Huri 32, die in der ersten [241] Scharade so gefeiert worden war? Sie war zweimal so schön wie Rebekka, aber deren Glanz hatte sie völlig verdunkelt. Alles jubelte allein Becky zu. Man verglich sie mit der Stephens 33, der Caradori 34 und der Ronzi de Begnis 35 und war sich höchstwahrscheinlich mit gutem Grund einig, daß sie, wäre sie Schauspielerin geworden, auf der Bühne keine andere übertroffen hätte. Sie hatte den Höhepunkt ihres Triumphes erreicht. Klar und hell erhob sich ihre Stimme über den Beifallssturm und stieg zu so hohem Jubel empor wie ihr Erfolg. An die dramatischen Vorführungen schloß sich ein Ball an, und alles drängte sich um Becky, die der Hauptanziehungspunkt des Abends war.

Die Königliche Hoheit schwor, sie sei großartig, und zog sie zu wiederholten Malen ins Gespräch. Das Herz schwoll Becky vor Stolz und Freude über diese Ehrungen. Sie sah schon Reichtum, Ruhm und Ansehen vor sich. Lord Steyne war ihr Sklave, er folgte ihr überallhin, sprach fast nur mit ihr. Er überhäufte sie mit Komplimenten und erwies ihr große Aufmerksamkeit. Sie trug noch ihr Kostüm als Marquise und tanzte ein Menuett mit Monsieur de Truffigny, dem Attaché des Herzogs von La Jabotière, und der Herzog, der noch ganz in den Traditionen des Ancien régime 36 lebte, erklärte, Madame Crawley sei würdig, eine Schülerin von Vestris 37 gewesen zu sein oder in Versailles eine Rolle gespielt zu haben. Nur ein Gefühl der Würde, die Gicht und sein strenger Sinn für Pflicht und sein Opfergeist hinderten Seine Exzellenz, selbst mit ihr zu tanzen. Er behauptete aber öffentlich, daß eine Dame, die so tanzen und sich so unterhalten konnte wie Mrs. Rawdon, würdig sei, die Frau eines Gesandten an jedem Hof in Europa zu sein. Er tröstete sich erst, als er hörte, sie sei Halbfranzösin von Geburt. »Nur eine Landsmännin von mir«, erklärte Seine Exzellenz, »konnte diesen majestätischen Tanz so vollkommen ausführen.«

Dann tanzte sie einen Walzer mit Monsieur de Klingenspohr, dem Vetter und Attaché des Fürsten von Peterwardein. [242] Der begeisterte Fürst, der weniger Zurückhaltung besaß als sein französischer diplomatischer Kollege, mußte unbedingt einmal mit dem bezaubernden Geschöpf tanzen.

Seine Exzellenz wirbelte mit ihr durch den Ballsaal, daß ihm die Diamanten von den Stiefelquasten und der Husarenjacke sprangen, bis er völlig außer Atem war.

Auch Papusch-Pascha hätte gern mit ihr getanzt, wenn die Sitten seines Landes ihm dieses Vergnügen gestattet hätten. Die Gesellschaft bildete einen Kreis um sie und klatschte so rasend Beifall, als wäre sie eine Noblet oder Taglioni 38. Alles war in einem Taumel der Begeisterung und Becky selbst nicht weniger. Mit verächtlichem Blick tanzte sie an Lady Stunnington vorüber. Sie sprach Lady Gaunt und ihre erstaunte und empörte Schwägerin mit Gönnermiene an – kurz, sie vernichtete ihre bezaubernden Rivalinnen. Wo war nur die arme Mrs. Winkworth mit den langen Haaren und den großen Augen geblieben, die zu Beginn des Abends einen so großen Triumph gefeiert hatte? Sie war aus dem Rennen ausgeschieden. Mochte sie sich das lange Haar ausreißen und sich die großen Augen ausweinen – es gab niemanden, der sie beachtet oder ihre Niederlage bedauert hätte.

Ihren größten Triumph aber feierte Rebekka beim Souper. Sie saß an der großartigen exklusiven Tafel neben Seiner Königlichen Hoheit, der bereits erwähnten erlauchten Persönlichkeit, und den übrigen hohen Gästen. Man servierte ihr auf goldenem Geschirr. Hätte sie gewollt – man hätte ihr wie Kleopatra im Champagner Perlen aufgelöst, und für einen freundlichen Blick aus diesen verwirrenden Augen hätte der Fürst von Peterwardein gern die Hälfte der Brillanten an seiner Jacke hingegeben. Jabotière berichtete über sie an seine Regierung. Die Damen an den übrigen Tischen, die nur von Silbergeschirr speisten und Lord Steynes beständige Aufmerksamkeit für sie beobachteten, schworen, es sei eine ungeheure Verblendung, eine grobe Beleidigung aller Damen [243] von Rang. Wenn Spott töten könnte – Lady Stunnington hätte sie auf der Stelle ermordet.

Rawdon Crawley ärgerte sich über diese Triumphe. Sie schienen seine Frau weiter als je von ihm zu entfernen. Mit einem fast schmerzlichen Gefühl dachte er daran, wie unendlich überlegen sie ihm doch war.

Als die Zeit zur Abfahrt herankam, folgte ihr eine Schar junger Männer zum Wagen. Die Leute draußen riefen nach ihm, der Ruf wurde von den Fackelträgern aufgenommen, die vor den hohen Türen vom Gaunt-Haus aufgestellt waren und jeden Herauskommenden beglückwünschten und hofften, daß Seine Lordschaft sich bei diesem herrlichen Fest gut unterhalten habe.

Mrs. Rawdon Crawleys Wagen fuhr nach gehörigem Geschrei vor, rasselte in den erleuchteten Hof und kam bis an den bedeckten Gang heran. Rawdon setzte seine Frau in den Wagen, und sie fuhr ab. Mr. Wenham hatte dem Oberst vorgeschlagen, zusammen zu Fuß nach Hause zu gehen, und bot ihm eine Zigarre an.

Sie zündeten sie draußen am Feuer eines Fackeljungen an, und Rawdon schritt mit seinem Freund Wenham davon. Zwei Menschen trennten sich von der Menge und folgten den beiden Herren; und als diese ein paar Dutzend Schritte auf dem Gaunt Square zurückgelegt hatten, kam einer von den Männern heran und berührte den Oberst an der Schulter. Dabei sagte er:

»Verzeihung, Oberst, ich muß mit Ihnen unter vier Augen sprechen.«

Der Begleiter des Sprechenden ließ bei diesen Worten einen lauten Pfiff ertönen, worauf sich aus der Reihe der Wagen vor dem Gaunt-Haus eine Droschke löste und herbeigerattert kam. Der Adjutant lief um Oberst Crawley herum und stellte sich vor ihm auf.

Der tapfere Offizier wußte sogleich, was ihm zugestoßen war. Er war den Gerichtsdienern in die Hände gefallen. Er [244] fuhr zurück und stieß gegen den Mann, der ihn zuerst berührt hatte.

»Wir sind drei – ausreißen nützt nichts«, meinte der Mann hinter ihm.

»Sie sind's, Moss, nicht wahr?« fragte der Oberst, der sein Gegenüber zu kennen schien. »Wieviel ist es?«

»Nur eine Kleinigkeit«, flüsterte Mr. Moss aus der Cursitor Street, Chancery Lane, Assistent des Sheriffs von Middlesex, »hundertsechsundsechzig Pfund sechs Shilling und acht Pence auf Antrag von Mr. Nathan.«

»Leihen Sie mir hundert Pfund, Wenham, um Gottes willen«, bat der arme Rawdon. »Siebzig habe ich zu Hause.«

»Auf der ganzen Welt besitze ich nicht zehn Pfund«, sagte der arme Mr. Wenham. »Gute Nacht, mein lieber Junge.«

»Gute Nacht«, sagte Rawdon betrübt.

Wenham entfernte sich – und Rawdon rauchte seine Zigarre zu Ende, während die Droschke auf Temple Bar zufuhr.

Fußnoten

1 Silben- oder Worträtsel, bei dem der Sinn der einzelnen Silben bzw. des Wortes durch lebende Bilder dargestellt wird.

2 In der griechischen Mythologie ist Semele die Geliebte Jupiters. Als Jupiter, auf das listige Ansinnen seiner eifersüchtigen Gattin Juno hin, sich der Geliebten in seiner ganzen Herrlichkeit zu nahen, Semele mit Blitz und Donner aufsucht, tötet er sie.

3 die Bewohner des vornehmen Londoner Viertels Tyburnia.

4 die Bewohner des vornehmen Londoner Viertels Belgravia.

5 einstmals blühende antike Handelsstadt in einer Oase zwischen Damaskus und dem Mittellauf des Euphrat; wurde 273 zerstört.

6 Gemeint ist William Pitt der Ältere (s. Anm. der göttliche Minister zu S. 95 des 1. Bandes).

7 Hester Grenville, Gemahlin von William Pitt dem Älteren.

8 (franz.) ich, der ich Ihnen das sage.

9 Gemeint ist der englische Staatsmann und Whiganhänger William Pitt der Jüngere (1759-1806), der auf einen Koalitionskrieg gegen das revolutionäre und das Napoleonische Frankreich drängte. Das Bild stammt aus einem Gedicht des englischen Staatsmannes und Dichters George Canning (1770-1827).

10 Henry Dundas, erster Viscount of Melville (1742 bis 1811), englischer Staatsmann, Freund von William Pitt dem Jüngeren.

11 Henry Addington, erster Viscount of Sidmouth (1757-1844), englischer Staatsmann, Freund von William Pitt dem Jüngeren.

12 William Wilberforce (1759-1833), englischer Politiker, Freund von William Pitt dem Jüngeren.

13 Titel der Könige von Frankreich.

14 (franz.) aufs beste.

15 öffentliche Bälle, oft wohltätigen Zwecken dienend, deren Teilnehmer schriftlich um Eintrittskarten nachsuchen mußten und sie auf ihren Namen ausgefertigt erhielten.

16 Gemeint ist die jährlich erscheinende »Genealogische und heraldische Geschichte des hohen Adels in Großbritannien«, die 1826 von John Burke (1787-1848) gegründet wurde.

17 Dolmetscher im Orient.

18 Duncan I. (1023-1040), König von Schottland von 1034-1040.

19 Gemeint ist Macbeth (gest. 1057), Feldherr König Duncans I. Er besiegte und tötete Duncan und machte sich zum König von Schottland (1040-1057).

20 Joseph Addison (1672-1719), englischer Dichter.

21 Gestalt aus Walter Scotts Roman »Ivanhoe«.

22 Kopfbedeckung der Araber, eine Art Fez.

23 orientalischer Krummsäbel.

24 weiße Haremssklavinnen.

25 Gemeint ist Agamemnon, König von Mykene. – Nach der griechischen Sage wurde der siegreiche Agamemnon nach seiner Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg von seiner Gattin Klytämnestra und ihrem Geliebten Ägisthos ermordet. Sie töteten auch Kassandra, die Tochter des Königs von Troja, die Agamemnon als Sklavin mitgebracht hatte.

26 (griech.) der König der Menschen.

27 (franz.) »Schlaft, schlaft, ihr Lieben«.

28 (franz.) »Begibt mein Herr sich auf die Reise«, Arie aus der Oper »Johann von Paris« des französischen Komponisten François-Adrien Boieldieu (1775 bis 1834).

29 In Homers »Odyssee« kommt der aus dem Trojanischen Krieg heimkehrende Odysseus auf die Insel Ogygia zu der Nymphe Kalypso, die ihm Unsterblichkeit verspricht, wenn er bei ihr bleibt. Er weigert sich, und nach siebenjähriger Gefangenschaft muß sie ihn auf Zeus' Geheiß ziehen lassen.

30 (franz.) »Die Nachtigall«.

31 Die Lösung der Scharade ergibt die drei Silben night = (engl.) Nacht, inn = (engl.) Gasthaus und gale = (engl.) Sturm; die Gesamtlösung ist demnach nightin(n)gale = (engl.) Nachtigall.

32 Huris sind im mohammedanischen Paradies Jungfrauen von unvergänglichem Reiz.

33 Catherine Stephens, Gräfin von Essex (1794-1882), englische Opernsängerin.

34 Maria Caterina Rosalbina Caradori-Allan (1800 bis 1865), italienische Opernsängerin.

35 Josephine Ronzi de Begnis (1800-1853), italienische Opernsängerin.

36 das feudalabsolutistische Regime in Frankreich vor der Französischen Revolution von 1789.

37 Auguste Vestris (1760-1842), französischer Tänzer.

38 Maria Taglioni (1804-1884), italienische Tänzerin.

52. Kapitel
In dem sich Lord Steyne in einem sehr liebenswürdigen Licht zeigt

Wenn Lord Steyne jemandem Gutes tun wollte, so tat er es nicht halb, und seine Güte gegen die Familie Crawley machte seinem Charakterisierungsvermögen alle Ehre. Der Lord dehnte sein Wohlwollen auf den kleinen Rawdon aus. Er machte die Eltern des Knaben aufmerksam, wie nötig es sei, ihn in eine gute Schule zu schicken, und meinte, der Junge befinde sich in einem Alter, wo ihm der Wetteifer, die Anfangsgründe der lateinischen Sprache, Boxübungen und die Gesellschaft von Schulkameraden von großem Nutzen sei. Sein Vater wandte ein, er sei nicht reich genug, den Knaben auf eine solche Schule zu schicken, und seine Mutter meinte, [245] die Briggs sei eine ausgezeichnete Lehrerin für ihn, denn sie habe ihn (und das war auch wirklich der Fall) im Englischen, in den Anfangsgründen des Lateinischen und in allgemeinen Kenntnissen sehr weit gebracht, aber alle diese Einwendungen schmolzen vor der großmütigen Ausdauer von Lord Steyne. Der Marquis gehörte zum Vorstand der berühmten alten Schule, die unter dem Namen Whitefriars bekannt ist. In alten Tagen, als das benachbarte Smithfield noch Turnierplatz war, hatte dort ein Zisterzienserkloster gestanden. Man brachte hartnäckige Ketzer zum Verbrennen hierher. Heinrich VIII., der Verteidiger des Glaubens, beschlagnahmte das Kloster und dessen Besitzungen und ließ einige von den Mönchen, die sich seinen Reformen nicht anpassen konnten, foltern und hängen. Schließlich kaufte ein großer Kaufmann das Haus und das umliegende Land und errichtete dort mit Hilfe anderer reicher Spenden an Geld und Land ein berühmtes Stift für Alte und Kinder.

Eine Schule entstand neben der alten, fast klösterlichen Stiftung, die mit ihren mittelalterlichen Kostümen und Gebräuchen noch immer besteht, und alle Zisterzienser beten, daß sie noch lange blühen möge.

Zum Vorstand dieses berühmten Hauses gehörten einige der höchsten Adligen, Prälaten und Würdenträger Englands, und da die Knaben sehr gut untergebracht, ernährt und erzogen werden und später reichliche Stipendien an der Universität und gute Einkünfte in der Kirche bekommen, so weiht man manchen jungen Herrn von zartester Kindheit an dem Dienst in der Theologie und bewirbt sich mit großem Eifer um Stellen in der Schule. Sie war ursprünglich für die Söhne armer verdienter Geistlicher und Laien bestimmt gewesen. Aber viele der adligen Schulvorsteher wählten mit launenhaftem und übertriebenem Wohlwollen alle möglichen Gegenstände für ihre Großherzigkeit. Es war ein ausgezeichnetes Mittel, eine gute Erziehung und ein späteres reichliches Auskommen umsonst zu erhalten, daß einige der Reichsten [246] es nicht verschmähten. Nicht nur die Verwandten der Vornehmen, sondern auch die Vornehmen selbst schickten ihre Söhne dahin, um aus dieser Gelegenheit ihren Vorteil zu ziehen. Hohe Kirchenfürsten schickten ihre eigenen Verwandten oder die Söhne ihrer Geistlichen, während es auf der anderen Seite auch vornehme Adlige gab, die sich nicht zu fein vorkamen, die Kinder treuer Diener unter ihre Fittiche zu nehmen. Wenn ein Knabe also in das Institut eintrat, so geriet er in eine sehr vielschichtige jugendliche Gesellschaft.

Obwohl Rawdon Crawley außer dem Rennkalender kein Buch studiert hatte und seine Erinnerungen an die Wissenschaft hauptsächlich um die Prügel kreisten, die er in seiner Jugendzeit in Eton erhalten hatte, so besaß er doch vor der klassischen Gelehrsamkeit die anständige und ehrliche Achtung eines englischen Gentleman, und er freute sich bei dem Gedanken, daß sein Sohn dann vielleicht lebenslänglich versorgt war und Gelegenheit hatte, ein Gelehrter zu werden. Zwar war der Knabe sein großer Trost und liebster Gefährte, und tausend kleine Fäden verbanden beide (mit seiner Frau konnte er darüber nicht sprechen, sie hatte bisher nur Gleichgültigkeit gegen ihren Sohn bewiesen), doch fand er sich sogleich zu einer Trennung bereit. Für des kleinen Burschen zukünftiges Wohl gab er seinen einzigen Trost auf. Erst als er den Jungen gehen lassen mußte, wußte er, wie lieb er ihn hatte. Als er Abschied genommen hatte, war er trauriger und niedergeschlagener, als er zugeben mochte – viel trauriger als der Knabe, der sich freute, einen neuen Lebensabschnitt anzufangen und gleichaltrige Gefährten zu finden. Becky lachte ein paarmal laut auf, als der Oberst in seiner ungeschickten und stockenden Weise seinen sentimentalen Kummer über den Weggang des Jungen auszudrücken versuchte. Der arme Kerl fühlte, daß ihm seine reinste Freude und der beste Freund entrissen war. Oft blickte er sehnsüchtig auf das leere Bettchen in seinem Ankleidezimmer, wo das Kind geschlafen [247] hatte. Besonders schmerzlich vermißte er ihn morgens, wenn er lustlos ohne ihn im Park spazierenging. Erst als der kleine Rawdon fort war, merkte er, wie einsam er eigentlich war. Die, die den Kleinen liebten, hatte er auch gern, und stundenlang konnte er bei seiner gutherzigen Schwägerin Lady Jane sitzen und mit ihr über die Tugenden, das gute Aussehen und hundert andere hervorragende Eigenschaften des Kindes plaudern.

Die Tante liebte, wie gesagt, den kleinen Rawdon sehr, und auch ihr kleines Mädchen vergoß reichliche Tränen, als die Abschiedsstunde schlug. Rawdon der Ältere war Mutter und Tochter für ihre Liebe dankbar. Seine besten und ehrlichsten Gefühle kamen zum Vorschein, wenn er, von ihrem Mitgefühl ermuntert, diesen offenherzigen Ergüssen seiner Vaterliebe freien Lauf ließ. Er erwarb sich mit diesen Gefühlen nicht nur Lady Janes Wohlwollen, sondern auch ihre aufrichtige Achtung, während er sie seiner Frau gegenüber verbergen mußte. Die beiden Schwägerinnen mieden sich, wo sie nur konnten. Becky lachte höhnisch über Lady Janes weiches Gemüt, und deren liebevolle sanfte Natur wiederum konnte nicht umhin, sich gegen die Gefühllosigkeit ihrer Schwägerin zu empören.

Das alles entfremdete Rawdon seiner Frau mehr, als er wußte oder sich eingestand. Sie dagegen kümmerte sich um diese Entfremdung nicht. Ja sie vermißte weder ihn noch sonst jemanden. Sie betrachtete ihn als ihren Boten und demütigen Sklaven. Er mochte noch so bedrückt oder mürrisch sein – sie bemerkte entweder nichts oder lächelte nur höhnisch. Sie dachte nur an ihre Stellung, ihre Vergnügungen und ihr Fortkommen in der Gesellschaft. Ganz sicher hätte sie einen bedeutenden Platz darin einnehmen sollen.

Nicht sie, sondern die gute Briggs hatte dem Knaben die Sachen gepackt, die er zur Schule mitnehmen sollte. Molly, das Hausmädchen, schluchzte im Hausflur, als er fortging – Molly, freundlich und ergeben, obwohl man ihr seit langem [248] den Lohn schuldete. Rawdon wollte den Jungen zur Schule bringen, aber Mrs. Becky konnte ihm den Wagen nicht zur Verfügung stellen. Mit den Pferden in die Stadt fahren – das war ja unerhört! Soll er doch eine Droschke kommen lassen. Sie bot dem Jungen keinen Kuß, als er ging, und das Kind machte auch keine Anstalten, sie zu umarmen. Der alten Briggs gab er einen Kuß, obwohl er ihr gegenüber im allgemeinen mit Liebkosungen zurückhaltend war, und tröstete sie mit dem Hinweis, daß er an den Sonnabenden immer nach Hause kommen würde und sie ihn dann sehen könnte. Als die Droschke nach der Stadt rollte, ratterte Beckys Wagen zum Park. Sie lachte und scherzte mit einem Dutzend junger Stutzer an der Serpentine, als Vater und Sohn durch die alten Pforten die Schule betraten. Rawdon ließ das Kind dort zurück und fuhr mit einem traurigeren, reineren Gefühl im Herzen ab, als es der arme gebeugte Bursche je gekannt hatte, seit er selbst das Kinderzimmer verlassen hatte.

Trübselig wanderte er den ganzen Weg zurück und aß mit der Briggs allein Abendbrot. Er war sehr freundlich zu ihr und dankbar für die Liebe und Obhut, die der Knabe bei ihr gefunden hatte. Ihn plagte das Gewissen, daß er von der Briggs Geld geborgt und geholfen hatte, sie zu betrügen. Sie sprachen lange über den kleinen Rawdon, denn Becky kam nur nach Hause, um sich umzuziehen und zum Diner zu fahren. Dann ging er voller Unruhe zu Lady Jane zum Tee, um ihr zu erzählen, was geschehen war und daß sich der kleine Rawdon sehr tapfer gehalten habe, und er werde einen langen Umhang und kleine Kniehosen tragen, und der junge Blackball, der Sohn Jack Blackballs vom alten Regiment, habe sich seiner angenommen und versprochen, freundlich zu ihm zu sein.

Im Laufe einer Woche hatte der junge Blackball Rawdon zu seinem Fuchs, Schuhputzer und Frühstücksbrotröster ernannt, ihn in die Geheimnisse der lateinischen Grammatik eingeweiht und drei- oder viermal geprügelt, wenn auch nicht [249] sehr. Das gutmütige, ehrliche Gesicht des kleinen Burschen gewann ihm die Herzen aller. Er erhielt nur so viel Schläge, wie zweifellos gut für ihn waren, und galten das Schuhputzen, Brotrösten und die Dienste als Fuchs nicht im allgemeinen als notwendige Erfordernisse der Erziehung eines englischen Gentleman?

Es ist jedoch nicht unsere Aufgabe, uns mit der zweiten Generation und Master Rawdons Schulerlebnissen zu befassen, denn dann würde unsere Erzählung unendlich lang werden. Kurze Zeit darauf besuchte der Oberst seinen Sohn. Er fand ihn gesund und munter vor, und der kleine Bursche lachte ihn in seinem kleinen schwarzen Umhang und den Kniehosen glücklich an.

Klugerweise schenkte der Vater dem jungen Blackball, dem Herrn seines Sohnes, einen Sovereign und sicherte damit das Wohlwollen dieses Gentleman gegen seinen Fuchs. Da er der Schützling des großen Lord Steyne, der Neffe eines Parlamentsmitgliedes und der Sohn eines mit dem Bathorden ausgezeichneten Obersten war, dessen Name in der »Morning Post« erwähnt wurde, zusammen mit anderen, die bei den vornehmsten Gesellschaften anwesend waren, zeigte sich die Schulleitung dem Knaben gegenüber nicht abgeneigt. Er verfügte über ein reichliches Taschengeld, das er dazu verwendete, seinen Kameraden Himbeertörtchen zu spendieren, und an den Sonnabenden durfte er oft heim zu seinem Vater, der aus diesem Tag dann stets ein Fest machte.

Wenn Rawdon Zeit hatte, nahm er ihn mit ins Theater, oder er schickte ihn mit dem Diener hin, und sonntags ging er mit der Briggs, Lady Jane und ihren Kindern zur Kirche. Rawdon bewunderte seine Schulgeschichten, seine Prügeleien und seine Dienste als Fuchs. Nach kurzer Zeit kannte er die Namen aller Lehrer und wichtigsten Schüler ebenso gut wie Rawdon selbst. Er lud seinen Schulfreund ein und verdarb den beiden Kindern nach dem Theater den Magen mit Süßigkeiten, Austern und Porter. Er versuchte ein weises Gesicht [250] zu machen, als ihm der kleine Rawdon zeigte, wo in der lateinischen Grammatik er gerade »war«. »Bleib dabei, mein Junge«, sagte er sehr ernsthaft zu ihm. »Es geht nichts über eine gute klassische Bildung, nichts!«

Beckys Verachtung gegen ihren Mann wuchs täglich.

»Tu, was du willst – iß, wo es dir gefällt – trink Ingwerbier und amüsier dich bei Astley oder sing Psalmen mit Lady Jane, nur verlang nicht von mir, daß ich mich mit dem Jungen beschäftigen soll. Ich muß deine Interessen vertreten, da du selbst das ja nicht kannst. Ich möchte wissen, wo du jetzt wärst und welche gesellschaftliche Stellung du jetzt einnehmen würdest, wenn ich mich nicht um dich gekümmert hätte!«

Tatsächlich fragte in den Gesellschaften, die Becky besuchte, niemand nach dem armen alten Rawdon. Oft wurde sie sogar ohne ihn eingeladen. Sie sprach über die Vornehmen, als ob Mayfair ihr allein gehörte, und wenn Hoftrauer angesetzt war, ging sie in Schwarz.

Nachdem der kleine Rawdon versorgt war, dachte Lord Steyne, der so väterlichen Anteil an den Angelegenheiten dieser liebenswürdigen, aber armen Familie nahm, daß sich ihre Ausgaben vorteilhaft vermindern würden, wenn Miss Briggs ginge, und Becky sei doch wohl klug genug, ihren Haushalt selbst zu führen. In einem früheren Kapitel haben wir berichtet, daß dieser wohltätige Edelmann seinem Schützling Geld gegeben hatte, damit sie ihre kleine Schuld an Miss Briggs bezahlen könnte. Da die alte Jungfer jedoch bei ihren Freunden blieb, gewann der Marquis die schmerzliche Überzeugung, daß Mrs. Crawley das Geld des großmütigen Beschützers zu einem anderen Zweck als dem angegebenen verbraucht hatte. Lord Steyne war jedoch nicht so taktlos, Mrs. Rawdon seinen Verdacht auf den Kopf zuzusagen. Ihre Gefühle hätten durch eine Auseinandersetzung über das Geld verletzt werden können, und außerdem hätte sie tausend andere schmerzliche Gründe haben können, das edelmütige Darlehen Seiner Lordschaft anderweitig zu verwenden. Er [251] beschloß jedoch, den wahren Sachverhalt herauszubekommen, und holte die nötigen Erkundigungen höchst vorsichtig und taktvoll ein.

Zunächst benutzte er die erste beste Gelegenheit, Miss Briggs auszufragen. Das war kein schwieriges Unterfangen. Schon ein kleiner Anstoß genügte, daß die ehrliche Frau geschwätzig ihr Herz ausschüttete. Eines Tages war Mrs. Rawdon ausgefahren, wie Mr. Fiche, der vertraute Diener des Lords, in den Pferdeställen erfuhr, wo Mr. und Mrs. Crawley ihre Equipage hielten oder vielmehr wo der Pferdeverleiher eine Equipage für Mr. und Mrs. Crawley hielt. Der Marquis sprach in der Curzon Street vor, bat die Briggs um eine Tasse Kaffee, erzählte ihr, daß er gute Nachrichten von dem kleinen Jungen in der Schule habe, und hatte binnen fünf Minuten erfahren, daß Mrs. Rawdon ihr nichts gegeben hatte als ein schwarzes Seidenkleid, wofür ihr Miss Briggs ungeheuer dankbar war.

Er lachte innerlich über diese harmlose Geschichte. Unsere liebe Freundin Rebekka hatte ihm nämlich ausführlich dargestellt, wie entzückt die Briggs beim Empfang ihres Geldes – elfhundertundfünfundzwanzig Pfund – gewesen sei und wie sie es angelegt habe. Dabei hatte sie ihm auch erzählt, wie schmerzlich es für sie gewesen sei, eine so schöne Summe auszahlen zu müssen.

Vielleicht hatte die liebe Frau auch im Innern gedacht: Wer weiß, ob er mir nicht noch etwas gibt. Der Marquis hatte jedoch der kleinen Ränkeschmiedin kein derartiges Angebot gemacht. Höchstwahrscheinlich meinte er, er sei bereits großmütig genug gewesen.

Neugierig fragte er dann Miss Briggs über ihre Privatangelegenheiten aus, und sie erzählte dem Lord freimütig, in welcher Lage sie war – daß Miss Crawley ihr eine kleine Erbschaft hinterlassen habe, daß ihre Verwandten einen Teil davon erhalten hätten, daß Oberst Crawley einen anderen Teil zu besten Bedingungen für sie angelegt habe und daß [252] Mr. und Mrs. Crawley sich freundlicherweise bei Sir Pitt für sie verwendet hätten und dieser, wenn er Zeit habe, den Rest höchst vorteilhaft für sie anlegen werde. Lord Steyne fragte, wieviel der Oberst bereits für sie angelegt habe, und Miss Briggs erzählte sofort aufrichtig, daß es sich um etwas mehr als sechshundert Pfund handele.

Sobald sie jedoch ihren Bericht beendet hatte, bereute die geschwätzige Briggs ihre Offenherzigkeit und flehte den Marquis an, Mr. Crawley von ihrem Geständnis nichts zu erzählen. Der Oberst sei so freundlich, und er könnte beleidigt sein und das Geld zurückzahlen, und es sei ihr unmöglich, anderswo so hohe Zinsen dafür zu erhalten. Lord Steyne versprach ihr lachend, von ihrer Unterhaltung nichts verraten zu wollen, und als er sich von der Briggs getrennt hatte, lachte er noch mehr.

So ein ausgewachsener kleiner Teufel, dachte er. So eine großartige Schauspielerin und Regisseurin! Mit ihren Schmeicheleien neulich hätte sie mir fast noch einmal Geld aus der Tasche gezogen. Sie schlägt alle Frauen, die mir im Laufe meines gut genutzten Lebens je begegneten. Die sind alle kleine Kinder gegen sie. Ich selbst bin in ihren Händen ein Grünschnabel und ein Narr – ein alter Narr. Im Lügen ist sie unübertrefflich. Die Bewunderung des Lords für Becky stieg nach diesem Beweis ihrer Schlauheit ins unermeßliche. Das Geld zu bekommen war nichts – aber das Zweifache dessen, was sie brauchte, zu bekommen und niemanden zu bezahlen – das war ein toller Streich. Und Crawley, dachte der Marquis, Crawley ist nicht so dumm, wie er aussieht. Er hat die Sache von seinem Standpunkt aus schlau genug angefangen. Seinem Aussehen und Benehmen nach hätte nie jemand von ihm geglaubt, daß er von dieser Geldgeschichte etwas ahnte; dabei hat er sie doch wohl erst dazu gebracht und das Geld dann ausgegeben. Diese Ansicht des Marquis war, wie wir wissen, unrichtig; sie hatte aber seine Haltung gegenüber Oberst Crawley beeinflußt, und er behandelte ihn [253] jetzt nicht einmal mehr mit dem Schein von Achtung, den er diesem Herrn früher erwiesen hatte. Mrs. Crawleys Gönner kam es nie in den Sinn, daß die kleine Dame ein Privatvermögen anhäufen könnte. Er beurteilte – wenn die Wahrheit gesagt werden muß – Oberst Crawley nach der Erfahrung, die er im Laufe seines langen, gut genutzten Lebens bei anderen Ehemännern gemacht hatte, und dieses Leben hatte ihn mit den menschlichen Schwächen bekannt gemacht. Der Marquis hatte in seinem Leben so viele Männer gekauft, daß wir ihm gewiß verzeihen müssen, wenn er glaubte, den Preis auch dieses einen gefunden zu haben.

Bei der nächsten Gelegenheit, als er Becky allein traf, hielt er ihr die Sache vor und machte ihr gutgelaunte Komplimente darüber, wie schlau sie es angestellt hatte, mehr herauszuschlagen, als sie brauchte. Becky war nicht sehr bestürzt. Das liebe Geschöpfchen blieb im allgemeinen bei der Wahrheit, aber wenn es nötig wurde, konnte sie ganz geläufig lügen. So hatte sie sofort eine andere nette, plausible, ausführliche Geschichte bereit, die sie ihrem Gönner auftischte. Ihre frühere Erklärung sei eine Lüge gewesen – eine gottlose Lüge; sie gebe es zu. Wer hätte sie aber dazu veranlaßt? »Ach, Mylord«, sagte sie, »Sie wissen nicht, was ich zu leiden habe und stillschweigend ertrage. Sie sehen mich lustig und glücklich – Sie wissen nicht, was ich erdulden muß, wenn kein Beschützer in der Nähe ist. Mein Mann war es, der mich durch Drohungen und die entsetzlichste Behandlung zwang, Sie um die Summe zu bitten und eine Lüge zu erzählen. Da er voraussah, daß wir nach der Verwendung des Geldes gefragt würden, zwang er mich, so darüber Rechenschaft zu geben, wie ich es tat. Er nahm das Geld, und er erzählte mir, er habe es Miss Briggs zurückgezahlt. Ich wollte nicht an seinen Worten zweifeln und wagte auch nicht, es zu tun. Verzeihen Sie einem Unglücklichen das Unrecht, das zu begehen er gezwungen ist, und haben Sie Mitleid mit einer armen, geplagten Frau.«

[254] Bei diesen Worten brach sie in Tränen aus. Nie hat verfolgte Tugend bezaubernder und unglücklicher ausgesehen!

Als sie in Mrs. Crawleys Wagen kreuz und quer durch den Regent's Park fuhren, hatten sie eine lange Unterredung, die nicht im einzelnen wiedergegeben werden muß. Ihr Ergebnis aber war, daß Becky, nach Hause gekommen, lächelnden Gesichts auf ihre liebe Briggs zueilte und ihr verkündete, sie habe vortreffliche Nachrichten für sie. Lord Steyne habe sich sehr edel und großmütig gezeigt. Er denke stets darüber nach, wie und wann er Gutes tun könne. Jetzt, da der kleine Rawdon zur Schule gehe, habe sie eine liebe Gefährtin und Freundin nicht mehr so nötig. Sie sei sehr, sehr bekümmert, daß sie sich von der Briggs trennen müsse. Ihre Mittel erforderten, daß sie sich sehr einschränken müßten, aber ihr Kummer wurde durch den Gedanken gemildert, daß ihre liebe Briggs bei ihrem großmütigen Gönner weit besser versorgt sei als in ihrem bescheidenen Heim. Mrs. Pilkington, die Haushälterin von Gauntly Hall, sei sehr alt, schwach und rheumatisch geworden. Sie sei der Aufgabe, dieses riesige Haus zu leiten, nicht mehr gewachsen und müsse sich nun nach einer Nachfolgerin umsehen. Es sei eine glänzende Stellung. Die Familie komme in zwei Jahren kaum einmal nach Gauntly Hall; die übrige Zeit hindurch sei die Haushälterin die Herrin des herrlichen Schlosses. Sie habe täglich vier Gerichte auf dem Tisch, sie werde von der Geistlichkeit und den achtbarsten Leuten der Grafschaft besucht – sei also in Wirklichkeit die Herrin von Gauntly Hall. Die beiden letzten Haushälterinnen vor Mrs. Pilkington hätten Pfarrer von Gauntly geheiratet, nur Mrs. Pilkington habe das nicht gekonnt, da sie die Tante des jetzigen Pfarrers sei. Sie solle die Stelle noch nicht gleich antreten, aber sie könne ja Mrs. Pilkington besuchen und sehen, ob sie Lust habe, ihre Nachfolgerin zu werden.

Worte sind nicht imstande, die überschwengliche Dankbarkeit der Briggs zu beschreiben. Sie bedang sich nur aus, [255] daß man dem kleinen Rawdon gestatten sollte, sie in Gauntly Hall zu besuchen. Becky versprach es – versprach alles. Als ihr Mann nach Hause kam, eilte sie ihm entgegen und teilte ihm die freudige Nachricht mit. Rawdon war froh, verteufelt froh. Hinsichtlich des Geldes der armen Briggs war ihm eine Last vom Gewissen genommen. Sie war nun jedenfalls versorgt, aber – aber sein Herz war unruhig. Irgendwie war ihm die Sache nicht geheuer. Er erzählte dem kleinen Southdown, was Lord Steyne getan hatte. Darauf sah ihn dieser mit einer Miene an, die den Oberst in Erstaunen versetzte.

Er erzählte auch Lady Jane von diesem zweiten Beweis der Güte Lord Steynes. Auch sie blickte dabei so seltsam und unruhig wie Sir Pitt.

»Sie ist zu klug und – und lustig, um ohne Begleitung von Gesellschaft zu Gesellschaft gehen zu dürfen«, sagten beide. »Du mußt immer bei ihr sein, Rawdon, wohin sie auch geht, und du mußt jemanden für sie finden – vielleicht eines von den Mädchen von Queen's Crawley, obwohl das etwas leichtfertige Hüterinnen für sie wären.«

Becky mußte jemanden haben, aber es war auch klar, daß die ehrliche Briggs nicht um ihre Lebensstellung gebracht werden durfte. So schickte man sie und ihre Koffer auf die Reise, und nun waren schon zwei von Rawdons Vorposten in der Hand des Feindes.

Sir Pitt besuchte seine Schwägerin und machte ihr Vorstellungen wegen der Entlassung der Briggs und anderer heikler Familienangelegenheiten. Umsonst deutete sie an, wie notwendig Lord Steynes Protektion für ihren armen Mann sei und wie grausam es von ihnen sein würde, die Briggs um die angebotene Stelle zu bringen. Schmeicheleien, Lächeln, Tränen – nichts war imstande, Sir Pitt zu beruhigen, und er hatte mit seiner einst so bewunderten Becky eine Auseinandersetzung, die einem Streit sehr nahekam. Er sprach von der Familienehre und dem unbefleckten Ruf der Crawleys, ereiferte sich darüber, daß sie diese jungen Franzosen[256] – ungezügelte junge Lebemänner – und sogar Lord Steyne selbst empfing. Sein Wagen stehe stets vor ihrer Tür, er verbringe täglich Stunden in ihrer Gesellschaft, und seine beständigen Besuche bei ihr veranlaßten die Welt, über sie zu reden. Als Oberhaupt der Familie flehte er sie an, vorsichtiger zu sein. Die Gesellschaft spreche bereits geringschätzig von ihr. Lord Steyne sei zwar ein Edelmann von höchstem Stande und größten Talenten, aber doch ein Mensch, dessen Aufmerksamkeit jede Frau kompromittiere – er bat seine Schwägerin, flehte sie an, ja befahl ihr, im Verkehr mit dem Marquis auf der Hut zu sein.

Becky versprach alles, was Pitt verlangte, aber Lord Steyne kam ebenso oft zu ihr wie vorher, und Sir Pitts Zorn wuchs. Ob Lady Jane wohl erzürnt war, oder freute sie sich, daß ihr Mann endlich an seinem Liebling Rebekka etwas auszusetzen hatte? Da Lord Steyne seine Besuche fortsetzte, hörten die seinigen auf, und seine Frau schlug vor, jeden weiteren Verkehr mit dem Marquis abzubrechen und die Einladung zu dem Scharadenabend, die ihr die Marquise geschickt hatte, auszuschlagen; Sir Pitt hielt es jedoch für notwendig, sie anzunehmen, da Seine Königliche Hoheit zugegen sein würde.

Obwohl Sir Pitt zu der fraglichen Gesellschaft erschien, verließ er sie doch sehr bald wieder, und auch seine Frau war froh, als sie gehen konnte. Becky sprach wenig mit ihm und nahm kaum Notiz von ihrer Schwägerin. Pitt Crawley erklärte, ihr Benehmen sei ungeheuerlich und unpassend, und er tadelte in starken Ausdrücken das Theaterspiel und Sichverkleiden als für eine englische Frau unschicklich. Nachdem die Scharaden vorüber waren, machte er seinem Bruder Rawdon ernste Vorhaltungen darüber, daß er selbst aufgetreten sei und seiner Frau erlaubt habe, an so unziemlichen Schaustellungen teilzunehmen.

Rawdon versprach, derartige Vergnügungen nicht wieder zu besuchen. Wahrscheinlich infolge der Andeutungen seines [257] älteren Bruders und seiner Schwägerin war er bereits ein wachsamer und beispielhafter Ehemann geworden. Er gab Klub und Billardspiel auf. Er verließ das Haus nicht allein. Er nahm Becky bei seinen Ausfahrten mit und begleitete sie zu allen Gesellschaften. Immer, wenn Lord Steyne kam, traf er mit Sicherheit den Oberst an, und wenn Becky ohne ihren Mann ausgehen wollte oder Einladungen für sich allein empfing, so verlangte er entschieden, sie solle absagen, und zwar in einer Art, die Gehorsam erzwang. Um Becky Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so war sie von der Galanterie ihres Mannes bezaubert. Wenn er mürrisch war – sie war es nie. Mochten Freunde anwesend sein oder nicht – sie hatte stets ein freundliches Lächeln für ihn und war auf sein Vergnügen und seine Bequemlichkeit bedacht. Es war noch einmal wie in den ersten Tagen ihrer Ehe: dieselbe gute Laune, Zuvorkommenheit, Fröhlichkeit, dieselbe arglose Liebe und das Vertrauen. »Wieviel angenehmer ist es doch, wenn du im Wagen neben mir sitzt, als wenn die einfältige alte Briggs mitfährt. Wir wollen immer so leben, lieber Rawdon. Wie schön wäre das doch und wie glücklich wären wir, hätten wir nur das Geld dazu.« Nach dem Essen schlief er immer in seinem Sessel ein; er sah dann nicht das Gesicht vor ihm – müde, abgespannt und furchtbar. Es hellte sich auf in einem frischen, offenen Lächeln, sobald er erwachte. Sie küßte ihn fröhlich. Er wunderte sich, daß er jemals Verdacht gehegt hatte. Nein, er hatte ja nie Verdacht gehegt. Alle unbestimmten Zweifel und düsteren Befürchtungen, die sich in seinem Kopf gesammelt hatten, waren unbegründete Eifersüchteleien gewesen. Sie hatte ihn gern und hatte ihn immer gern gehabt. Was konnte sie dafür, daß sie in der Gesellschaft so glänzte? Sie war eben dafür geboren. Gab es je eine Frau, die wie sie plaudern oder singen konnte? Wenn sie doch nur den Jungen ein bißchen gern hätte, dachte Rawdon; aber Mutter und Sohn waren wohl nie zusammenzubringen.

Während Rawdon noch von diesen Zweifeln und Unruhen [258] gequält wurde, ereignete sich der Vorfall, den wir im letzten Kapitel erwähnt haben, und der unglückliche Oberst sah sich als Gefangener fern von seinem Haus.

53. Kapitel
Rettung und Katastrophe

Freund Rawdon fuhr also zum Hause von Mr. Moss in der Cursitor Street und wurde in diese traurige Stätte der Gastfreundschaft gebührend eingeführt. Der Morgen zog über den freundlichen Giebeln der Chancery Lane herauf, als die ratternde Droschke die Echos dort weckte. Ein kleiner blinzelnder Judenjunge, mit einem Kopf so rot wie der erwachende Morgen, ließ die Gesellschaft ins Haus ein. Mr. Moss, Rawdons Reisegefährte und Wirt, hieß seinen Gast willkommen und fragte heiter, ob er nach der Fahrt wohl etwas Warmes trinken wolle.

Der Oberst war nicht so gedrückt, wie man von einem Sterblichen erwartet hätte, der einen Palast und eine placens uxor 1 verließ, um sich in einem Schuldgefängnis wiederzufinden, denn er hatte, um bei der Wahrheit zu bleiben, schon früher ein paarmal in Mr. Moss' Anstalt gewohnt. Wir hielten es im früheren Verlauf dieser Erzählung nicht für nötig, diese unerheblichen häuslichen Vorfälle zu erwähnen. Der Leser kann jedoch versichert sein, daß das im Leben eines Mannes, der von nichts lebt, häufig vorkommt.

Von seinem ersten Besuch bei Mr. Moss war der Oberst, damals noch Junggeselle, durch die Großmut seiner Tante befreit worden. Bei dem zweiten Unfall hatte die kleine Becky in aller Freundlichkeit eine Geldsumme von Lord Southdown geborgt und dem Gläubiger ihres Mannes (der in Wirklichkeit ihr Lieferant für Schals, Samtkleider, Spitzentaschentücher, Juwelen und Flitter war) so lange geschmeichelt, [259] bis er sich mit einem Teil der verlangten Summe und für den Rest mit einem Schuldschein von Rawdon zufriedengab. Beide Male waren also Gefangennahme und Befreiung auf allen Seiten sehr höflich vor sich gegangen, und Moss befand sich daher mit dem Oberst im besten Einvernehmen.

»Sie werden Ihr altes Bett wieder vorfinden und jede Bequemlichkeit haben, Oberst, das kann ich ehrlich behaupten. Sie können sich darauf verlassen, daß es gut gelüftet ist, und noch dazu von der besten Gesellschaft. Vorgestern nacht schlief darin der ehrenwerte Hauptmann Famish vom 50. Dragonerregiment. Seine Mama holte ihn erst nach vierzehn Tagen hier heraus, um ihn zu bestrafen, wie sie sagte. Aber, du lieber Gott, ich sage Ihnen, er strafte meinen Champagner und gab jeden Abend hier eine Gesellschaft – die nobelsten Stutzer aus den Klubs und von West End: Hauptmann Ragg, der ehrenwerte Deuceace, der im Temple wohnt, und einige andere junge Kerls, die ein gutes Glas Wein kennen, das kann ich Ihnen sagen. Oben habe ich einen Doktor der Theologie, und im Kaffeezimmer sind fünf große Herren. Mrs. Moss hat um halb sechs eine Tabbel de hotte 2, und dann gibt es Kartenspielen oder Musik. Wir werden uns glücklich schätzen, Sie zu sehen.«

»Ich läute, wenn ich etwas brauche«, sagte Rawdon und ging ruhig in sein Schlafzimmer. Er war, wie gesagt, ein alter Soldat und von kleinen Schicksalsschlägen nicht so schnell zu erschüttern. Ein Schwächerer hätte seiner Frau im Augenblick seiner Gefangennahme geschrieben. Was nützt es denn aber, ihre Nachtruhe zu stören, dachte Rawdon, sie wird es nicht einmal wissen, ob ich in meinem Zimmer bin oder nicht. Es bleibt noch Zeit genug, ihr zu schreiben, wenn sie ausgeschlafen hat und ich auch. Es sind nur hundertsiebzig, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht soviel aufbringen könnten. Damit legte sich der Oberst in das Bett, das zuletzt Hauptmann Famish benutzt hatte, und dachte an den kleinen Rawdon (der nicht erfahren sollte, an was für[260] einem seltsamen Ort er sich befand). Dann schlief er ein. Es war zehn Uhr, als er aufwachte, und der rotköpfige Jüngling brachte ihm mit selbstbewußtem Stolz einen feinen, silbernen Toilettenkasten, damit er sich rasieren könnte. In der Tat war Mr. Moss' Haus zwar etwas schmutzig, aber doch durch und durch großartig. Auf den Seitentischen standen ewig Tabletts und Weinkühler herum, in den vergitterten Fenstern, die auf die Cursitor Street hinausgingen, hingen an mächtigen, vergoldeten, schmutzigen Gardinenstangen schmierige gelbe Atlasvorhänge. Breite, schmutzige Goldrahmen umgaben Jagd- und Heiligenbilder von den größten Meistern. Sie erzielten bei den Schuldgeschäften, bei denen sie fortwährend gekauft und verkauft wurden, höchste Preise. Dem Oberst wurde das Frühstück auf ebenso schmierigem wie prachtvollem Geschirr serviert. Miss Moss, ein schwarzäugiges Mädchen mit Lockenwickeln, erschien mit der Teekanne und fragte den Oberst lächelnd, wie er geschlafen habe. Sie brachte ihm die »Morning Post« mit den Namen aller Vornehmen, die an Lord Steynes Fest am vergangenen Abend teilgenommen hatten. Sie enthielt auch einen glänzenden Bericht über den Ball und das bewundernswerte Auftreten der schönen und talentierten Mrs. Rawdon Crawley.

Nach einem munteren Schwätzchen mit der Dame, die in bequemer Haltung auf der Kante des Frühstückstisches saß und ihren Strumpf und einen früher einmal weiß gewesenen, abgelaufenen Atlasschuh zeigte, verlangte Oberst Crawley Tinte, Feder und Papier und nahm auf die Frage, wie viele Bogen er brauche, einen, den ihm Miss Moss zwischen Zeigefinger und Daumen reichte. Manchen Bogen hatte das schwarzäugige junge Fräulein hereingebracht, manch armer Bursche hatte unter Klecksen eiligst seitenlange Bitten hingekritzelt und war in diesem furchtbaren Zimmer auf und ab gegangen, bis sein Bote die Antwort zurückbrachte. Arme Leute benutzten immer einen Boten statt der Post. Wer hat nicht schon solche Briefe mit noch feuchter Siegelmarke und [261] der Mitteilung erhalten, daß jemand im Hausflur auf Antwort warte.

Wegen seines Anliegens hegte Rawdon eigentlich kaum Befürchtungen.

»Liebe Becky!« schrieb er. »Ich hoffe, das Du gut geschlafen hast. Kriek keinen Schreck, wenn ich Dir nicht Deinen Kaffee bringe. Als ich gestern nacht rauchend nachhause ging, hatte ich einen kleinen Unfall. Moss von der Cursitor Street hat mich geschnappt und schreibe Dir dies aus seinem vergoldeten Prachtzimmer – dasselbe, wo ich schon vor zwei Jahren gewesen bin. Miss Moss hat mir den Tee gebracht, und sie ist sehr fett geworden und ihre Strümpfe zogen wie immer Wasser.

Es ist die Sache mit Nathan – hundertfünfzig – mit Unkosten hundertsiebzig. Sei so gut, schick mir mein Schreibzeug und ein paar Kleider – ich bin noch in Tanzschuhen und weiser Krawatte (fast wie Miss Moss' Strümpfe). Siebzig habe ich bei mir. Sobald Du dies erhältst, fahre zu Nathan und biete ihm fünfundsiebzig in bar und bitte ihn, den Wechsel zu verlängern. Sag ihm, daß ich Wein nehmen werde – wir können sowieso etwas Sherry gebrauchen –, aber keine Gemelde, die sind zu teuer.

Wenn er nicht darauf eingeht, so nimm meine Uhr und was Du von Deinen Sachen entbehren kannst und verpfände sie – heute abend müssen wir natürlich die Summe haben. Ich möchte nicht, daß es sich verzögert, weil Morgen ist Sonntag. Die Betten hier sind nicht sehr reinlich, und es könnten auch andere Sachen gegen mich vorliegen. Ich bin froh, daß es nicht der Sonnabend ist, wo Rawdon nach Hause kommt. Gott behüte Dich. In aller Eile Dein

R.C.


PS: Mach schnell und komm.«


Diesen Brief versiegelte Rawdon mit einer Siegelmarke und schickte ihn durch einen der Boten, die stets in der Nähe des Hauses Moss herumlungerten, ab. Nachdem er ihn [262] hatte weggehen sehen, begab er sich in den Hof hinaus und rauchte dort trotz der Eisenstangen über seinem Kopf seine Zigarre mit leidlicher Ruhe. Mr. Moss hat nämlich seinen Hof wie einen Käfig vergittern lassen, damit die Herren, die bei ihm wohnen, nicht etwa den Einfall bekommen, seiner Gastfreundschaft zu entfliehen.

Er rechnete sich aus, daß Becky spätestens in drei Stunden kommen und ihm die Gefängnistür öffnen würde, und er verbrachte diese Zeit ziemlich munter mit Rauchen, Zeitunglesen und Plaudern im Kaffeezimmer. Mit einem Bekannten, Hauptmann Walker, der zufällig auch da war, spielte er dann einige Stunden mit ungefähr gleichem Glück auf beiden Seiten um Sixpencestücke.

Aber der Tag verging, und kein Bote kam zurück, keine Becky. Mr. Moss rief zur festgesetzten Zeit, um halb sechs Uhr zur »Tabbel de hotte«, bei der sich die Bewohner des Hauses, die sich das Bankett leisten konnten, in dem vorhin erwähnten prächtigen Vorderzimmer trafen, das neben Mr. Crawleys zeitweiliger Unterkunft lag. Miss Moss erschien ohne die Lockenwickel des Morgens, und Mrs. Moss bewirtete ihre Gäste mit einer erstklassigen gekochten Hammelkeule und Rüben. Der Oberst aß jedoch mit sehr wenig Appetit. Der Bitte, eine Flasche Champagner für die Gesellschaft zu spendieren, kam er nach. Die Damen tranken auf sein Wohl, und Mr. Moss prostete ihm zu, so höflich er konnte.

Mitten in diesem Mahl ertönte jedoch die Türglocke. Der junge Moss mit den roten Haaren erhob sich mit den Schlüsseln und öffnete. Als er zurückkam, berichtete er dem Oberst, daß der Bote mit einem Beutel, einem Schreibpult und einem Brief zurückgekommen sei, und übergab alles. »Keine Umstände, Oberst, ich bitte«, sagte Mrs. Moss mit einer Handbewegung, und er öffnete zitternd den Brief. Es war ein schöner Brief, stark parfümiert, auf rosa Papier, mit hellgrünem Siegel.

»Mon pauvre cher petit« 3, schrieb Mrs. Crawley. »Ich habe [263] vor Sorge um mein häßliches altes Ungeheuer die ganze Nacht kein Auge zugetan und kam erst am Morgen zur Ruhe, als mir Doktor Blench (zu dem ich geschickt hatte, denn ich war fiebrig) einen Beruhigungstrank gegeben hatte. Er befahl Fifine, daß sie unter keinen Umständen zulassen dürfe, daß ich gestört würde. So kam es, daß der Bote meines armen alten Mannes, der eine bien mauvaise mine 4 hatte, wie Fifine sagte, und sentait le genièvre 5, in der Halle mehrere Stunden auf mein Klingeln warten mußte. Du kannst Dir meinen Zustand vorstellen, als ich Deinen armen lieben alten Brief las, der von Fehlern nur so wimmelte.

Obwohl ich so krank war, ließ ich doch augenblicklich den Wagen kommen, und sobald ich angekleidet war (von der Schokolade konnte ich keinen Tropfen trinken, das versichere ich Dir, ich konnte einfach nicht, weil mein Ungeheuer sie mir nicht gebracht hatte), fuhr ich ventre à terre 6 zu Nathan. Ich traf ihn auch an und weinte und schrie – ich warf mich dem Abscheulichen sogar zu Füßen. Aber nichts konnte den entsetzlichen Menschen erweichen. Er wolle die ganze Summe, sagte er, oder mein armes Ungeheuer im Gefängnis festhalten. Ich fuhr mit der Absicht nach Hause, dem Onkel 7 einen traurigen Besuch abzustatten. Jedes Schmuckstück, das ich besitze, sollte Dir zur Verfügung stehen, wenn auch alle zusammen kaum hundert Pfund einbringen würden, denn, Du weißt ja, daß schon einige bei dem lieben Onkel sind. Dort traf ich Mylord mit dem alten bulgarischen Schafsgesicht an. Sie waren gekommen, um mir wegen der gestrigen Aufführung Komplimente zu machen. Auch Paddington kam und dehnte die Worte und lispelte und drehte sein Haar, ebenso wie Champignac und sein Chef – alle mit einer Unmenge von Komplimenten und hübschen Redensarten. Sie quälten mich Arme, die darauf brannte, sie loszuwerden, und jeden Augenblick an ihren armen Gefangenen dachte.

Als sie fort waren, fiel ich vor Mylord auf die Knie, erzählte ihm, daß wir alles versetzen müßten, und bat und [264] flehte, mir zweihundert Pfund zu geben. Er polterte und tobte, sagte, ich solle nicht so dumm sein, etwas zu versetzen, und versprach, er wolle sehen, ob er mir das Geld borgen könne. Endlich ging er fort und versprach, es mir morgen früh zu schicken. Dann werde ich es sofort meinem armen Ungeheuer bringen mit einem Kuß von seiner ihn liebenden

Rebekka.


PS: Ich schreibe im Bett – oh, ich habe schlimme Kopfschmerzen und solch ein Herzweh.«


Als Rawdon diesen Brief las, wurde er so rot und sah so wild aus, daß die Gesellschaft an der Table d'hôte schnell begriff, daß er schlimme Nachrichten erhalten habe. Aller Argwohn, den er zu verscheuchen versucht hatte, kehrte mit doppelter Gewalt wieder. Sie schaffte es nicht einmal, wegzugehen und ihre Schmucksachen zu verkaufen, um ihn zu befreien; sie konnte lachen und von Komplimenten sprechen, die man ihr machte, während er im Gefängnis saß. Wer hatte ihn dahin gebracht? Wenham war mit ihm gegangen, sollte da vielleicht ...? Er wagte kaum, an das zu denken, was er argwöhnte. Eiligst verließ er das Zimmer und lief in sein eigenes. Er öffnete sein Schreibpult und warf zwei Zeilen aufs Papier, die er an Sir Pitt oder Lady Crawley richtete. Er bat den Boten, sie sogleich zur Gaunt Street zu bringen. Er ließ ihn eine Droschke nehmen und versprach ihm eine Guinee, wenn er in einer Stunde wieder zurück sein würde.

In dem Billett ersuchte er seinen lieben Bruder und seine Schwägerin um Gottes, seines lieben Kindes und seiner Ehre willen, zu ihm zu kommen und ihm in seinen Schwierigkeiten zu helfen. Er sei im Gefängnis. Er brauche hundert Pfund, um frei zu werden. Er flehte sie an, zu ihm zu kommen.

Nachdem er den Boten weggeschickt hatte, begab er sich wieder ins Speisezimmer und rief nach mehr Wein. Den anderen fiel auf, daß er mit seltsamer Lebhaftigkeit redete und lachte. Zuweilen lachte er wie wahnsinnig über seine eigenen [265] Befürchtungen und trank dann weiter, aber während der ganzen Stunde lauschte er auf den Wagen, der sein Schicksal besiegeln sollte.

Als die Zeit verflossen war, hörte man Wagenräder zum Tor heranrollen, und der junge Pförtner eilte mit den Schlüsseln hinaus. Er ließ eine Dame durch die Tür des Gerichtsdieners eintreten.

»Oberst Crawley«, sagte sie, heftig zitternd. Er schloß mit schlauem Blick die äußere Tür hinter ihr, öffnete dann die innere und rief: »Oberst, Sie werden gewünscht!« Dann führte er sie in das Hinterzimmer, das Rawdon bewohnte.

Der Oberst trat aus dem Speisezimmer, wo sie alle zechten, in sein Hinterzimmer. Ein breiter Streifen grellen Lichtes folgte ihm in den Raum, wo die Dame, sichtlich nervös, noch stand.

»Ich bin es, Rawdon«, sagte sie furchtsam, wobei sie versuchte, ihrer Stimme einen munteren Klang zu verleihen. »Ich – Jane.« Rawdon war von diesen gütigen Lauten und der Erscheinung ganz überwältigt. Er lief ihr entgegen, schloß sie in die Arme, stammelte einige unzusammenhängende Dankesworte und schluchzte heftig an ihrer Schulter. Sie verstand die Ursache seiner Erregung nicht.

Mr. Moss' Rechnung war bald berichtigt, vielleicht sogar zum Ärger dieses Herrn, der darauf gerechnet hatte, den Oberst wenigstens über Sonntag als Gast zu behalten. Mit strahlendem Lächeln und Glück in den Augen führte Jane Rawdon aus dem Haus des Gerichtsvollziehers fort und fuhr mit ihm in der Droschke heim, in der sie zu seiner Erlösung herbeigeeilt war.

Pitt sei bei einem Parlamentsessen gewesen, erzählte sie, als sein Billett gekommen sei, »und deshalb, lieber Rawdon, bin ich – ich selbst gekommen.« Mit diesen Worten legte sie ihre gütige Hand in seine. Vielleicht war es für Rawdon Crawley nur gut gewesen, daß Pitt zum Essen ausgegangen war. Er bedankte sich bei seiner Schwägerin hundertmal und [266] so glühend, daß die weichherzige Frau gerührt und fast beunruhigt war.

»Oh!« sagte er in seiner rauhen, schlichten Art, »Du – du weißt nicht, wie sehr ich mich verändert habe, seit ich dich, und – und den kleinen Rawdon habe. Ich – ich möchte gern anders werden. Weißt du, ich möchte – ich möchte – ein ...« Er beendete den Satz nicht, aber sie wußte, was er meinte, und als er sie an diesem Abend verlassen hatte und sie am Bett ihres eigenen kleinen Knaben saß, betete sie demütig für den armen müden Sünder.


Rawdon verließ sie und ging eiligst nach Hause. Es war neun Uhr abends. Er rannte durch die Straßen und überquerte die großen Plätze des Jahrmarkts der Eitelkeit, und endlich stand er atemlos vor seinem Haus. Nach dem ersten Blick fuhr er zurück und sank zitternd gegen das eiserne Gitter. Die Salonfenster waren strahlendhell erleuchtet, und dabei hatte sie gesagt, sie läge krank im Bett. Eine Zeitlang stand er da, und das Licht aus den Zimmern schien auf sein bleiches Gesicht.

Er zog seinen Hausschlüssel hervor und öffnete die Tür. Aus den oberen Zimmern konnte er Gelächter hören. Er trug noch den Ballanzug, in dem er in der letzten Nacht gefangengenommen worden war. Schweigend stieg er die Treppe hinauf und lehnte sich oben gegen das Geländer. Im ganzen Haus rührte sich sonst nichts – alle Diener hatten Ausgang. Rawdon hörte drinnen Lachen – Lachen und Gesang. Becky sang eine Stelle aus dem Lied vom Abend vorher, eine heisere Stimme rief: »Bravo! Bravo!« Es war die von Lord Steyne. Da öffnete Rawdon die Tür und trat ein. Auf einem kleinen Tisch war für ein Diner gedeckt, Wein und Silber standen bereit. Steyne lehnte über dem Sofa, auf dem Becky saß. Die nichtswürdige Frau war in glänzender Garderobe; ihre Arme und Finger schimmerten von Reifen und Ringen, und auf ihrer Brust funkelten Brillanten – das Geschenk Steynes. Er [267] hielt ihre Hand in seiner und beugte sich zum Kuß darüber, als Rebekka Rawdons weißes Gesicht bemerkte und mit einem schwachen Schrei hochfuhr. Im nächsten Augenblick versuchte sie ein Lächeln, ein schreckliches Lächeln, als ob sie ihren Mann willkommen heißen wollte. Steyne erhob sich zähneknirschend, bleich und wütend.

Auch er versuchte zu lachen und trat ihm mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Nun, zurückgekommen? Wie geht es Ihnen, Crawley?« fragte er, und seine Lippen zuckten, als er dem Eindringling zuzulächeln suchte.

In Rawdons Gesicht lag etwas, was Becky veranlaßte, sich vor ihm niederzuwerfen.

»Ich bin unschuldig, Rawdon«, sagte sie, »bei Gott, ich bin unschuldig.« Sie klammerte sich an seinen Rock, an seine Hände; ihre eigenen waren mit Schlangen, Ringen und anderem Schmuck völlig bedeckt. »Ich bin unschuldig! Sagen Sie ihm, daß ich unschuldig bin«, sagte sie zu Lord Steyne.

Der Marquis glaubte, man habe ihm eine Falle gestellt, und war ebenso wütend auf die Frau wie auf den Mann. »Sie unschuldig! Verdammt noch mal!« schrie er; »Sie unschuldig! Jedes Schmuckstück, das Sie am Leibe tragen, habe ich bezahlt. Ich habe Ihnen Tausende von Pfund gegeben, und dieser Kerl hat sie ausgegeben und Sie dafür verkauft. Unschuldig! Zum Teufel! Sie sind ebenso unschuldig wie Ihre Mutter, das Ballettmädchen, und ihr Mann, der Zuhälter. Glaubt nicht, daß ihr mich einschüchtern könnt, wie es euch bei anderen geglückt ist. Machen Sie Platz, mein Herr, und lassen Sie mich vorbei.« Lord Steyne ergriff seinen Hut und trat mit flammenden Augen, den wilden Blick auf seinen Feind gerichtet, auf den anderen zu. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß dieser ausweichen würde.

Aber Rawdon Crawley sprang auf ihn los und packte ihn am Halstuch, bis sich Steyne fast erstickt unter seinem Arm krümmte und wand. »Du lügst, du Hund!« rief Rawdon. [268] »Du lügst, du Feigling, du Schurke.« Und er schlug dem Peer zweimal mit der offenen Hand ins Gesicht und warf ihn blutend zu Boden. Das alles war geschehen, noch ehe Rebekka sich ins Mittel legen konnte. Zitternd stand sie vor Rawdon und bewunderte ihren starken, mutigen und siegreichen Gatten.

»Komm her«, sagte er. Sofort trat sie zu ihm.

»Leg das Zeug da ab.« Sie begann zitternd die Juwelen von den Armen zu streifen und die Ringe abzusetzen und hielt ihm den ganzen Haufen bebend hin. »Wirf sie weg!« sagte er, und sie ließ alles fallen.

Er riß ihr den Diamantschmuck von der Brust und warf ihn Lord Steyne ins Gesicht. Er zerschnitt ihm die kahle Stirn. Steyne behielt die Narbe, bis er starb.

»Komm mit hinauf!« sagte Rawdon zu seiner Frau.

»Töte mich nicht, Rawdon«, sagte sie.

Er lachte wild.

»Ich will nur sehen, ob der Mann in bezug auf das Geld ebenso gelogen hat wie über mich. Hat er dir welches gegeben?«

»Nein«, sagte Rebekka, »das heißt ...«

»Gib mir deine Schlüssel«, antwortete Rawdon, und sie gingen zusammen hinaus.

Rebekka gab ihm alle Schlüssel außer einem, und sie hoffte, daß er nicht bemerken würde, daß dieser fehlte. Er gehörte zu dem kleinen Schreibpult, das ihr Amelia früher einmal geschenkt hatte und das sie an einem geheimen Platz versteckt hielt. Rawdon riß alle Kästen und Schränke auf und verstreute den Tand, der sich darin befand, im ganzen Zimmer. Schließlich fand er das kleine Pult. Er zwang die Frau, es zu öffnen. Es enthielt Papiere, viele Jahre alte Liebesbriefe, allerlei Kleinigkeiten und weiblichen Flitterkram. Außerdem enthielt es eine Brieftasche mit Banknoten. Einige waren von vor zehn Jahren datiert, eine aber war ganz neu – eine Tausendpfundnote, die Lord Steyne ihr gegeben hatte.

[269] »Hast du die von ihm?« fragte Rawdon.

»Ja«, antwortete Rebekka.

»Ich werde sie ihm heute zurückschicken«, fuhr er fort (denn der Tag dämmerte bereits herauf, und viele Stunden waren über dem Suchen vergangen). »Ich will der Briggs, die freundlich gegen den Jungen gewesen ist, ihrs zurückgeben und einige von den Schulden bezahlen. Du wirst mich wissen lassen, wohin ich dir das übrige senden kann. Von alldem da hättest du wohl hundert Pfund für mich erübrigen können, Becky – ich habe stets mit dir geteilt.«

»Ich bin unschuldig!« sagte Becky. Er verließ sie, ohne ein weiteres Wort.


Was dachte Rebekka, als er sie verlassen hatte? Stundenlang blieb sie nach seinem Weggang allein. Die Sonne schien hell ins Zimmer, und sie saß immer noch auf der Bettkante. Alle Schubfächer waren herausgezogen, und ihr Inhalt lag verstreut umher – Kleider und Federn, Schärpen und Schmucksachen, ein Haufen zerschellter Eitelkeit. Das Haar fiel ihr über die Schultern herab; wo Rawdon ihr die Brillanten abgerissen hatte, war ihr Kleid zerfetzt. Einige Minuten nachdem er sie verlassen hatte, hörte sie ihn die Treppe hinabgehen und die Tür hinter sich zuschlagen. Sie wußte, daß er nie zurückkehren würde. Er war für immer fort. Wird er sich umbringen? fragte sie sich. Wahrscheinlich nicht, ehe er nicht noch ein mal mit Lord Steyne zusammengetroffen war. Sie dachte an ihr langes, vergangenes Leben und all die traurigen Begebenheiten darin. Ach, wie trostlos erschien es ihr, wie elend, einsam und nutzlos! Sollte sie Opium nehmen und Schluß machen mit allen Hoffnungen, Plänen, Schulden und Triumphen? So fand sie die französische Zofe: mit gefalteten Händen und trockenen Augen saß sie inmitten ihrer elenden Trümmer. Das Mädchen war ihre Komplizin und stand in Steynes Sold.

»Mon Dieu, Madame, was ist geschehen?« fragte sie.

[270] Was war eigentlich geschehen? War sie schuldig oder nicht? Sie sagte nein. Aber wer war imstande, zu beurteilen, ob diese Lippen die Wahrheit sprachen und das verdorbene Herz in diesem Falle rein war? All ihre Lügen und Pläne, all ihre Selbstsucht und Ränke, all ihr Witz und Talent waren an einer Stelle gescheitert.

Das Mädchen zog die Vorhänge zu, und mit einigem Bitten und wenigstens dem Anschein von Freundlichkeit überredete sie ihre Herrin, sich ins Bett zu legen. Dann ging sie hinunter und sammelte die Schmucksachen auf, die noch immer auf dem Boden umherlagen, seit Rebekka sie auf Befehl ihres Mannes hatte fallen lassen. Lord Steyne hatte sich entfernt.

Fußnoten

1 (lat.) eine angenehme Gattin.

2 verballhorntes Französisch, eigentlich: table d'hôte = gemeinsame Tafel im Gasthaus oder Hotel.

3 (franz.) Mein armer Kleiner.

4 (franz.) eine recht unheilverkündende Miene.

5 (franz.) nach Wacholderschnaps roch.

6 (franz.) in gestrecktem Galopp.

7 Spottbezeichnung für die Pfandleihe.

54. Kapitel
Der Sonntag nach der Schlacht

Das Haus Sir Pitt Crawleys in der Great Gaunt Street hatte gerade begonnen, sich für den Tag zu rüsten, als Rawdon in seinem Abendanzug, den er jetzt schon zwei Tage lang trug, an der erschrockenen Frau, die die Treppe scheuerte, vorübereilte und seines Bruders Studierzimmer betrat.

Lady Jane war noch im Morgenrock oben in der Kinderstube und überwachte die Toilette ihrer Kinder und lauschte den Morgengebeten, die die kleinen Geschöpfe an ihrem Knie aufsagten. Jeden Morgen tat sie das mit ihnen allein noch vor der allgemeinen Andacht, die Sir Pitt leitete und zu der sich alle Bewohner des Hauses versammeln mußten. Rawdon setzte sich im Studierzimmer an den Tisch des Baronets, der mit schön geordneten Parlamentsberichten und Briefen, sauber beschrifteten Rechnungen, symmetrisch gestapelten Broschüren, verschlossenen Rechnungsbüchern und Depeschenkästen bedeckt war. Die Bibel, die »Quarterly [271] Review« 1 und der Adelskalender standen alle wie zur Parade, als ob sie die Besichtigung durch ihren Herrn erwarteten.

Ein Buch mit Familienpredigten, von denen Sir Pitt am Sonntagmorgen jeweils eine seiner Familie vorzulesen pflegte, lag auf dem Schreibtisch bereit und erwartete seine fachkundige Wahl. Neben dem Predigtbuch lag der »Observer« 2, noch feucht und sauber gefaltet, zu Sir Pitts Privatgebrauch. Sein Kammerdiener ergriff als einziger die Gelegenheit, die Zeitung durchzusehen, bevor er sie seinem Herrn auf den Tisch legte. Ehe er sie an diesem Morgen in das Studierzimmer gebracht hatte, hatte er darin einen glühenden Bericht unter dem Titel »Festlichkeiten im Gaunt-Haus« gelesen mit den Namen aller von Marquis Steyne geladenen hervorragenden Persönlichkeiten, die Seine Königliche Hoheit getroffen hatten. Nachdem er im Zimmer der Haushälterin mit ihr und ihrer Nichte seinen Frühstückstee und Röstbrot mit Butter eingenommen und dabei die Kommentare zu dem Fest vorgelesen hatte (er gab auch seiner Verwunderung Ausdruck, wovon die Crawleys denn bloß leben mochten), befeuchtete und faltete er die Zeitung von neuem, so daß sie dem Herrn des Hauses ganz frisch und unschuldig erscheinen mußte.

Der arme Rawdon nahm das Blatt und versuchte zu lesen, bis sein Bruder kommen würde. Aber die Buchstaben ergaben ihm keinen Sinn, und er hatte keine Ahnung von dem, was er las. Die Regierungsnachrichten und Ernennungen (die mußte Sir Pitt als Mann des öffentlichen Lebens lesen, denn sonst hätte er keine Sonntagszeitung in seinem Hause geduldet), die Theaterkritiken, der Boxkampf um hundert Pfund zwischen dem »Kläffenden Schlächter« und dem »Liebling von Tutbury«, sogar die Berichte vom Gaunt-Haus, die eine sehr schmeichelhafte, wenn auch vorsichtige Beschreibung der berühmten Scharaden und ihrer Heldin Mrs. Becky brachten – all das zog wie im Nebel an ihm vorüber, als er saß und das Familienoberhaupt erwartete.

[272] Pünktlich mit dem schrillen Klang der schwarzen Marmoruhr auf dem Kaminsims, die gerade neun schlug, erschien Sir Pitt, frisch, sauber, glattrasiert, mit wächsernem Gesicht und steifem Hemdkragen, das spärliche Haar sorgfältig gekämmt und pomadisiert. Er kam majestätisch mit gestärkter Krawatte und im grauen Flanellschlafrock die Treppe herab und schnitt sich die Nägel – ein echter englischer Gentleman, das Musterbeispiel von Sauberkeit und Korrektheit. Als er in seinem Studierzimmer den armen Rawdon in unordentlichen Kleidern, mit blutunterlaufenen Augen und in das Gesicht hängenden Haaren erblickte, fuhr er zurück. Er glaubte, sein Bruder sei nicht nüchtern und habe die ganze Nacht bei irgendeiner Orgie verbracht.

»Guter Gott, Rawdon«, rief er bestürzt. »Was führt dich in dieser Morgenstunde hierher? Warum bist du nicht zu Hause?«

»Zu Hause!« entgegnete Rawdon mit wildem Lachen. »Keine Angst, Pitt. Ich bin nicht betrunken. Mach die Tür zu, ich muß mit dir sprechen.«

Pitt schloß die Tür und trat an den Tisch. Er ließ sich in dem zweiten Armstuhl nieder, der dort für seinen Verwalter, seinen Beauftragten oder sonstige Besucher bereitstand, die mit dem Baronet vertrauliche Geschäfte abzuschließen hatten. Heftiger als je schnitt er an seinen Nägeln herum.

»Pitt, es ist alles aus!« sagte der Oberst nach einer Pause. »Ich bin erledigt.«

»Ich habe es immer gesagt, daß es noch dazu kommen würde«, rief der Baronet ärgerlich und trommelte mit seinen säuberlich geschnittenen Nägeln auf dem Tisch herum. »Ich habe dich tausendmal gewarnt. Ich kann dir nicht mehr helfen. Die Verwendung von jedem Shilling meines Geldes ist festgelegt. Selbst die hundert Pfund, die Jane dir gestern gebracht hat, waren meinem Rechtsanwalt für morgen früh versprochen, und daß sie mir jetzt fehlen, bringt mich in große Verlegenheit. Ich meine damit nicht, daß ich dir [273] schließlich nicht doch helfen will. Aber wenn ich alle deine Gläubiger befriedigen sollte, so könnte ich ebensogut wünschen, die Staatsschuld bezahlen zu können. Es ist Wahnsinn, reiner Wahnsinn, daran auch nur zu denken. Du mußt zu einem Vergleich kommen, es ist schmerzlich für die Familie, aber alle tun es. George Kitely, Lord Raglands Sohn, hat vorige Woche vor Gericht gestanden und sich, glaube ich, mit seinen Gläubigern verglichen. Lord Ragland wollte keinen Shilling für ihn bezahlen, und ...«

»Ich brauche kein Geld«, unterbrach ihn Rawdon. »Ich komme nicht meinetwegen. Kümmere dich nicht darum, was aus mir wird ...«

»Worum handelt es sich denn?« fragte Pitt, etwas erleichtert.

»Es geht um den Jungen«, antwortete Rawdon mit heiserer Stimme. »Ich möchte gern, daß du mir versprichst, dich seiner anzunehmen, wenn ich nicht mehr da bin. Deine liebe, gute Frau ist immer gut zu ihm gewesen, und er liebt sie mehr als seine ... Verdammt! Sieh mal, Pitt, du weißt, daß ich Miss Crawleys Geld haben sollte. Ich bin nicht wie ein jüngerer Bruder erzogen worden, und man hat mich stets zu Verschwendung und Müßiggang ermuntert. Ohne das hätte ich ein ganz anderer Mensch werden können. Ich habe meine Pflichten beim Regiment nicht schlecht erfüllt. Du weißt, wie ich in bezug auf das Geld ausgebootet worden bin und wer es dann erhalten hat.«

»Nach den Opfern, die ich dir brachte, und der Art, wie ich dir beigestanden habe, halte ich diese Art von Vorwürfen für sinnlos«, sagte Sir Pitt. »Deine Heirat war dein Werk, nicht meins.«

»Das ist jetzt vorbei«, sagte Rawdon. »Das ist jetzt vorbei!« Die Worte entrangen sich ihm mit einem Stöhnen, und sein Bruder erschrak.

»Guter Gott, ist sie tot?« fragte Sir Pitt mit einem Ton wirklicher Unruhe und echten Mitleids.

[274] »Ich wünschte, ich wäre es«, entgegnete Rawdon. »Wenn es nicht um den kleinen Rawdon ginge, so hätte ich mir heute früh die Kehle durchgeschnitten – und dem verdammten Schurken dazu.«

Sir Pitt erriet augenblicklich die Wahrheit und mutmaßte, daß Lord Steyne derjenige sei, dem Rawdon das Leben zu nehmen wünschte. Der Oberst erzählte seinem älteren Bruder kurz und in abgerissenen Sätzen die näheren Umstände.

»Es war ein regelrechter Plan zwischen dem Schuft und ihr«, sagte er, »sie haben die Gerichtsdiener auf mich gehetzt und mich festnehmen lassen, als ich Steynes Haus verließ. Als ich sie im Brief um Geld bat, schrieb sie, sie liege krank im Bett, und vertröstete mich auf den nächsten Tag. Als ich dann nach Hause kam, fand ich sie, von Diamanten strahlend, allein mit dem Schurken.« Er beschrieb darauf kurz den persönlichen Streit mit Lord Steyne. »Wie die Sache nun liegt«, meinte er, »gibt es natürlich nur einen Ausweg.« Nach der Unterredung mit seinem Bruder wolle er weggehen und die nötigen Anordnungen für die unvermeidliche Begegnung treffen. »Und da es verhängnisvoll für mich ausgehen kann«, sagte Rawdon mit gebrochener Stimme, »und da der Junge keine Mutter hat, so muß ich ihn bei dir und Jane lassen, Pitt. Es wäre mir ein großer Trost, wenn du mir versprechen wolltest, sein Freund zu sein.«

Der ältere Bruder war sehr bewegt und schüttelte Rawdon die Hand mit einer Herzlichkeit, die man bei ihm nur selten bemerkte.

Rawdon fuhr sich mit der Hand über die buschigen Augenbrauen.

»Danke, Bruder«, sagte er, »ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann.«

»Ich verspreche es, auf meine Ehre«, erwiderte der Baronet. So war mit wenigen Worten der Handel zwischen ihnen abgeschlossen.

Rawdon zog nun die kleine Brieftasche hervor, die er in [275] Beckys Schreibpult entdeckt hatte, und entnahm ihr ein Bündel Banknoten.

»Hier sind sechshundert«, sagte er. »Du hast nicht gewußt, daß ich so reich bin. Ich möchte, daß du das Geld der Briggs gibst, die es uns geliehen hat. Sie ist so freundlich zu dem Jungen gewesen, und ich habe mich immer geschämt, daß ich das Geld von der armen alten Frau genommen habe; und hier ist noch etwas – ich habe nur ein paar Pfund zurückbehalten –, das kann Rebekka bekommen, damit sie für den Anfang etwas hat.«

Während er sprach, ergriff er die übrigen Banknoten, um sie seinem Bruder zu geben, aber seine Hände zitterten, und er war so erregt, daß ihm die Brieftasche entglitt und die Tausendpfundnote, der letzte Gewinn der unglücklichen Rebekka, herausfiel.

Pitt bückte sich und hob sie auf, erstaunt über solchen Reichtum.

»Die nicht«, sagte Rawdon. »Ich hoffe, daß ich dem Mann, dem sie gehört, eine Kugel in den Leib jagen kann.« Er hatte sich gedacht, es wäre eine feine Rache, eine Kugel in die Banknote zu wickeln und Steyne damit zu töten.

Nach diesem Gespräch schüttelten sich die Brüder noch einmal die Hände und schieden.

Lady Jane hatte von der Anwesenheit des Obersten vernommen und erwartete ihren Mann im anstoßenden Speisezimmer. Ihr weiblicher Instinkt ließ sie nichts Gutes ahnen. Die Tür stand zufällig offen, und als die beiden Brüder das Studierzimmer verließen, trat sie natürlich aus dem Speisezimmer heraus. Sie streckte Rawdon die Hand entgegen und sagte, sie freue sich, daß er zum Frühstück gekommen sei, obwohl sie aus seinem verstörten, unrasierten Gesicht und dem finsteren Blick ihres Mannes ersah, daß beiden wenig am Frühstück gelegen war. Rawdon murmelte ein paar Entschuldigungen wegen einer Verabredung und preßte die furchtsame kleine Hand, die ihm seine Schwägerin hinhielt. Ihr [276] fragender Blick konnte nichts als Unheil in seinem Gesicht lesen, aber er ging, ohne ein Wort zu sagen, weg. Sir Pitt gab ihr ebenfalls keine Erklärung. Die Kinder kamen, um ihn zu begrüßen, und er küßte sie in seiner gewohnten kalten Art.

Die Mutter hielt beide eng an sich gepreßt und nahm sie bei der Hand, als sie zum Gebet niederknieten, das Sir Pitt ihnen und den Dienstboten vorlas, die im Sonntagsstaat auf den Stühlen neben der zischenden Teemaschine saßen. Infolge der erwähnten Verzögerung fand das Frühstück an jenem Tag so spät statt, daß die Kirchenglocken schon zu läuten anfingen, als sie noch aßen. Lady Jane erklärte, es gehe ihr zu schlecht, um in die Kirche gehen zu können. Ihre Gedanken waren schon während der Familienandacht in weite Ferne gewandert.

Mittlerweile war Rawdon Crawley aus der Great Gaunt Street geeilt. Er klopfte an das große bronzene Medusenhaupt, das am Portal vom Gaunt-Haus steht, und der purpurne Silen in rotsilberner Weste erschien, der im Palast die Rolle des Portiers spielt. Der Mann war über das unordentliche Aussehen des Obersten ebenfalls erschrocken und vertrat ihm den Weg, als ob er befürchtete, daß der andere ihn erzwingen wollte. Oberst Crawley zog jedoch nur eine Karte hervor und legte dem Diener ans Herz, sie Lord Steyne zu bringen, die darauf geschriebene Adresse zu beachten und zu sagen, daß Oberst Crawley nach ein Uhr den ganzen Tag im Regent-Klub in der St. James' Street anzutreffen sei – also nicht zu Hause. Der dicke Mann mit dem roten Gesicht blickte dem Davonschreitenden erstaunt nach, ebenso die Leute in Sonntagskleidern, die so früh schon auf der Straße waren, die Waisenknaben mit glänzenden Gesichtern, der Gemüsehändler, der an seiner Tür lehnte, und der Wirt, der im Sonnenschein seine Fensterläden schloß, da der Gottesdienst begann. Am Droschkenstand machten die Leute sich über sein Aussehen lustig, als er einen Wagen nahm und dem [277] Kutscher zurief, er solle ihn zu den Knightsbridge-Kasernen fahren.

Alle Glocken läuteten, als er sein Ziel erreichte. Wenn er hinausgeblickt hätte, hätte er seine alte Bekannte, Amelia, auf ihrem Weg von Brompton zum Russell Square sehen können. Trupps von Schulkindern marschierten zur Kirche. Das glänzende Pflaster und die Kutschendächer in den Vorstädten waren voll von Leuten, die sich ein Sonntagsvergnügen machen wollten. Der Oberst hatte es aber viel zu eilig, um von alldem Notiz zu nehmen, und als er in der Kaserne ankam, begab er sich schleunigst in das Zimmer seines alten Freundes und Kameraden Macmurdo, den er glücklicherweise in der Kaserne antraf.

Hauptmann Macmurdo, ein alter Offizier und Waterlookämpfer, der beim Regiment sehr beliebt war (nur der Mangel an Geld hinderte ihn, zu hohen Würden aufzusteigen), genoß den ruhigen Vormittag im Bett. Er hatte den Abend bei einer lustigen Gesellschaft verbracht, die der ehrenwerte Hauptmann George Cinqbars in seinem Haus am Brompton Square mehreren jungen Offizieren des Regiments und einer Anzahl Damen von einer Balletttruppe gegeben hatte. Der alte Mac, der mit Leuten jeden Alters und Standes vertraut war und mit Generalen, Hundezüchtern, Ballettänzerinnen, Boxern, kurz, allen Arten von Menschen verkehrte, ruhte sich, da er dienstfrei hatte, von den Anstrengungen der Nacht im Bett aus.

An den Wänden seines Zimmers hingen Box-, Jagd- und Tanzbilder, die ihm seine Kameraden geschenkt hatten, wenn sie aus dem Regiment ausschieden, sich verheirateten oder sich in ein ruhiges Leben zurückzogen. Da er nun beinahe fünfzig war und vierundzwanzig Jahre seines Lebens beim Korps zugebracht hatte, so besaß er ein einzigartiges Museum. Er war einer der besten Schützen Englands und für einen Mann von seiner Körperfülle ein guter Reiter. Tatsächlich waren er und Crawley Rivalen, als dieser noch bei der Armee [278] war. Kurz und gut, Mr. Macmurdo – ein ehrwürdiger, borstiger Krieger mit einem kleinen Kopf und kurzgeschnittenem grauem Haar, einer seidenen Nachtmütze, rotem Gesicht und eben solcher Nase und einem mächtigen, gefärbten Schnurrbart, lag im Bett und las in »Bell's Life« den Bericht über den schon erwähnten Kampf zwischen dem »Liebling von Tutbury« und dem »Kläffenden Schlächter«.

Als Rawdon dem Hauptmann sagte, er brauche einen Freund, da wußte dieser sofort, welcher Freundschaftsdienst von ihm erwartet wurde, denn er hatte schon Dutzende solcher Affären mit größter Klugheit und Geschicklichkeit für seine Freunde erledigt. Seine Königliche Hoheit, der verstorbene, allgemein betrauerte Oberbefehlshaber der Armee, hatte in dieser Hinsicht die größte Achtung für Macmurdo gehegt, und Herren, die sich in Schwierigkeiten befanden, suchten bei ihm Rat und Hilfe.

»Worum dreht sich denn der Streit eigentlich, Crawley, mein Junge?« fragte der alte Krieger. »Etwa Spielgeschichten, wie damals, als wir Hauptmann Marker erschossen?«

»Es geht um – um meine Frau«, entgegnete Crawley, schlug die Augen nieder und wurde rot.

Der andere gab einen Pfiff von sich. »Ich habe ja schon immer gesagt, sie wird dir noch einmal davonlaufen«, begann er. Tatsächlich hatten die Welt und Rawdons Kameraden Mrs. Crawleys Charakter so geringgeschätzt, daß man im Regiment und in den Klubs bereits Wetten über Oberst Crawleys mutmaßliches Schicksal abschloß. Als Macmurdo jedoch den wütenden Blick bemerkte, mit dem Rawdon diese Meinungsäußerung beantwortete, hielt der Alte es für besser, sich nicht weiter darüber auszulassen.

»Gibt es keinen anderen Ausweg, alter Junge?« fuhr der Hauptmann in ernstem Ton fort. »Ist es nur ein Verdacht? Oder – oder was ist es? Hast du Briefe? Kannst du es nicht in aller Stille abmachen? Man schlägt doch wegen so einer Angelegenheit keinen Lärm, wenn es sich vermeiden läßt.« [279] Merkwürdig, daß er erst jetzt dahintergekommen ist, dachte der Hauptmann bei sich, und ihm fielen hundert ausführliche Unterhaltungen in der Offiziersmesse ein, bei denen Mrs. Crawleys Ruf in Fetzen gerissen worden war.

»Es gibt nur einen Ausweg«, entgegnete Rawdon, »und einer von uns muß auf der Strecke bleiben, Mac – verstehst du das? Mich hat man aus dem Weg geräumt, festgenommen, ich überraschte die beiden, als sie allein zusammen waren. Ich sagte ihm, er sei ein Lügner und Feigling, und dann schlug ich ihn zu Boden und verprügelte ihn.«

»Geschah ihm recht«, erwiderte Macmurdo. »Wer ist es denn?«

Rawdon antwortete, daß es Lord Steyne sei.

»Zum Henker! Ein Marquis! Man erzählte doch, er ... das heißt, man erzählte, du ...«

»Was, zum Teufel, meinst du eigentlich!« brüllte Rawdon. »Willst du etwa damit sagen, daß du jemals gehört hast, wie ein Kerl die Tugend meiner Frau bezweifelte, und du hast mir nichts davon erzählt, Mac?«

»Die Welt ist äußerst kritisch, alter Junge«, erwiderte der andere. »Was, zum Henker, hätte es genützt, wenn ich dir erzählt hätte, was ein paar Narren schwatzen?«

»Das war verdammt unkameradschaftlich, Mac«, sagte Rawdon, ganz überwältigt. Er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, und nun übermannte ihn die Erregung. Bei diesem Anblick konnte selbst der alte Haudegen sein Mitgefühl ihm gegenüber nicht verbergen.

»Kopf hoch, alter Junge«, sagte er. »Vornehm oder nicht – wir werden ihm doch eine Kugel in den Leib jagen, dem verdammten Kerl. Und was die Weiber angeht – die sind alle so.«

»Du weißt nicht, wie lieb ich diese eine hatte«, sagte Rawdon kaum vernehmlich. »Verdammt, ich bin ihr nachgelaufen wie ein Lakai. Ihretwegen habe ich alles aufgegeben. Ich bin ein Bettler, bloß weil ich sie unbedingt heiraten mußte. Beim [280] Zeus, ich habe meine eigene Uhr versetzt, um ihre Launen zu befriedigen, und sie – sie hat die ganze Zeit in ihren eigenen Beutel gewirtschaftet, und für mich hat sie nicht ein mal hundert Pfund gehabt, um mich aus dem Loch zu befreien.«

Hierauf erzählte er wutschnaubend und unzusammenhängend in einer Erregung, die sein Ratgeber bei ihm nicht kannte, die ganze Geschichte. Macmurdo fiel ihm ab und zu ins Wort:

»Trotz alledem kann sie doch unschuldig sein«, meinte er. »Sie sagt es jedenfalls. Steyne ist vorher hundertmal allein mit ihr im Hause gewesen.«

»Schon möglich«, entgegnete Rawdon traurig, »aber das sieht nicht sehr nach Unschuld aus.« Und damit zeigte er dem Hauptmann die Tausendpfundnote, die er in Beckys Brieftasche gefunden hatte. »Das hat er ihr gegeben, Mac, und sie hat sie vor mir versteckt; und mit diesem Geld im Haus hat sie mir ihre Hilfe versagt, als ich eingesperrt war.«

Der Hauptmann mußte zugeben, daß das Verheimlichen des Geldes sehr häßlich wirkte.

Während sie sich noch berieten, schickte Rawdon Hauptmann Macmurdos Diener in die Curzon Street mit dem Auftrag an die Dienstboten, ihm einen Beutel mit Kleidungsstücken zu schicken, welche der Oberst notwendig brauchte. Als der Diener fort war, verfaßten Rawdon und sein Sekundant mit großer Mühe und unter Zuhilfenahme von Johnsons Wörterbuch, das ihnen sehr gute Dienste leistete, einen Brief, den der Hauptmann an Lord Steyne abschicken sollte.

Hauptmann Macmurdo habe die Ehre, dem Marquis von Steyne in bezug auf Oberst Rawdon Crawley seine Aufwartung zu machen, und erlaube sich anzudeuten, daß er von dem Oberst bevollmächtigt sei, alle Vorkehrungen für die Begegnung zu treffen, auf die der Marquis zweifellos bestehen würde und die durch die Ereignisse des Morgens unvermeidlich geworden sei. Hauptmann Macmurdo bitte Lord [281] Steyne höflich, einen Freund zu nennen, mit dem er (Hauptmann M.) sich ins Einvernehmen setzen könne, und er wünsche, daß das Treffen so bald wie möglich stattfinden möge.

In einer Nachschrift stellte der Hauptmann fest, daß sich in seinem Besitz eine Banknote von sehr hohem Wert befinde, die, wie Oberst Crawley wohl mit Recht vermute, Eigentum von Lord Steyne sei, und im Auftrag des Obersten wünsche er sehr, dem Eigentümer die Note zurückzugeben.

Als der Brief abgefaßt war, kehrte der Diener des Hauptmanns von seinem Botengang zum Hause von Oberst Crawley in der Curzon Street zurück, aber ohne Reisetasche und Beutel, die er doch hatte holen sollen, und mit sehr verdutztem Gesicht.

»Die wollen nichts rausgeben«, sagte der Mann. »Es ist ein ordentlicher Spektakel im Haus, und alles geht drunter und drüber. Der Hauswirt ist gekommen und hat alles beschlagnahmt. Die Bedienten saßen im Salon und tranken. Sie sagten – sie sagten, Sie wären mit dem Silber auf und davon, Oberst.« Nach einer Pause fuhr der Mann fort: »Einer von den Dienern ist schon weg, und Trotter, der Kammerdiener, der wirklich ziemlich laut und betrunken war, sagte, es soll ihm nichts aus dem Haus, bis er seinen Lohn hat.«

Dieser Bericht von der kleinen Revolution in Mayfair verwunderte die beiden Offiziere höchlich und brachte etwas Heiterkeit in ihre sonst so traurige Unterhaltung. Sie lachten über Rawdons Mißerfolg.

»Ich bin froh, daß der Kleine nicht zu Hause ist«, sagte Rawdon und kaute an den Nägeln. »Erinnerst du dich an ihn, in der Reitschule, Mac? Wie er sich auf dem ausschlagenden Pferd festhielt, weißt du noch?«

»Ja, ganz genau, alter Junge«, sagte der gutmütige Hauptmann.

Der kleine Rawdon saß gerade zu dieser Zeit unter fünfzig anderen Stiftsschülern in der Kapelle der Whitefriars-Schule; [282] aber er dachte nicht an die Predigt, sondern daran, daß er nächsten Sonnabend nach Hause fahren dürfe und daß sein Vater ihm sicher Geld geben und ihn vielleicht auch mit ins Theater nehmen würde.

»Er ist wirklich ein Prachtkerl, der Junge«, fuhr der Vater fort, der in Gedanken noch immer bei seinem Sohn war. »Hör mal, Mac, wenn es schiefgehen sollte – wenn ich nicht zurückkomme – möchte ich dich bitten – zu ihm zu gehen, weißt du, und ihm zu sagen, daß ich ihn sehr liebgehabt habe und so weiter. Und – zum Henker – alter Junge, gib ihm diese goldenen Manschettenknöpfe, es ist alles, was ich habe.«

Er bedeckte das Gesicht mit den schwarzen Händen, und als die Tränen darüberrollten, zogen sie weiße Furchen. Mr. Macmurdo sah sich ebenfalls genötigt, seine seidene Nachtmütze abzunehmen und sich damit über die Augen zu fahren.

»Geh hinunter und bestelle ein Frühstück«, befahl er seinem Bedienten mit lauter, munterer Stimme. »Was möchtest du, Crawley? Sagen wir, geröstete Nieren und einen Hering! Und, Clay, suche etwas zum Anziehen für den Oberst heraus. Wir sind immer ungefähr gleich groß gewesen, Rawdon, mein Junge, und keiner von uns beiden ist mehr so leicht zu Pferde wie damals, als wir in das Korps kamen.« Mit diesen Worten kehrte sich Macmurdo zur Wand, damit sich der Oberst umkleiden könne. Er setzte seine Lektüre in »Bell's Life« fort, bis sein Freund fertig war und er selbst sich umziehen konnte.

Da der Hauptmann einem Lord begegnen sollte, machte er besonders sorgfältig Toilette, wichste seinen Schnurrbart, daß er glänzte, und legte eine enge Krawatte und eine hübsche Weste an. In der Messe, wohin ihm Crawley schon vorangegangen war, machten ihm alle jungen Offiziere wegen seines Aussehens beim Frühstück Komplimente und fragten, ob er an diesem Sonntag heiraten wolle.

Fußnoten

1 englische konservative Zeitung; gegründet 1809.

2 englische konservative Wochenzeitung; gegründet 1792.

[283] 55. Kapitel
In dem dasselbe Thema fortgesetzt wird

Becky erholte sich von der dumpfen Verwirrung, in die die Ereignisse des vorigen Abends ihren sonst so unerschrockenen Geist gestürzt hatten, erst, als die Glocken der Kapelle in der Curzon Street zum Nachmittagsgottesdienst läuteten. Sie erhob sich von ihrem Bett und läutete ebenfalls – nach dem französischen Kammermädchen, das sie vor einigen Stunden verlassen hatte.

Mrs. Rawdon Crawley klingelte viele Male, jedoch umsonst, und obgleich sie zuletzt mit solcher Gewalt an der Klingelschnur riß, daß sie sie in der Hand behielt, zeigte sich Mademoiselle Fifine nicht – auch nicht, als ihre Herrin im größten Zorn, die Klingelschnur in der Hand, mit wirrem Haar auf den Treppenabsatz herauskam und wiederholt nach ihrer Dienerin schrie.

Diese hatte nämlich das Haus schon vor mehreren Stunden verlassen und sich, wie man so sagt, französisch empfohlen. Nachdem Mademoiselle die Schmucksachen im Salon aufgelesen hatte, war sie in ihr eigenes Zimmer hinaufgestiegen und hatte ihre Koffer gepackt und verschnürt. Dann war sie hinausgetrippelt, hatte eine Droschke gerufen und ihr Gepäck eigenhändig hinuntergebracht, ohne jemanden von den anderen Dienstboten um Hilfe zu bitten. Die hätten sie ihr wahrscheinlich auch versagt, denn man haßte sie von Herzen. Ohne Abschiedsgruß hatte sie dann die Curzon Street verlassen.

Ihrer Ansicht nach war das Spiel in diesem kleinen Haushalt aus. Fifine fuhr in einer Droschke ab, wie das bekanntlich bedeutendere Persönlichkeiten ihrer Nation unter ähnlichen Umständen getan haben. Aber weitsichtiger oder glücklicher als diese, sicherte sie sich nicht nur ihr Eigentum, sondern auch einen Teil von dem ihrer Herrin (wenn man bei dieser Dame überhaupt davon sprechen konnte, daß ihr etwas [284] gehörte). Sie nahm nicht nur die obenerwähnten Schmucksachen und ein paar Kleider mit, die ihr schon lange in die Augen gestochen hatten, sondern auch vier reichvergoldete Rokokoleuchter, sechs vergoldete Alben, Taschenbücher und andere illustrierte Werke; eine emaillierte Schnupftabakdose, die einst der Madame Dubarry 1 gehört hatte, und das niedlichste kleine Schreibzeug mit einem Tintenlöscher aus Perlmutt, das Becky immer benutzt hatte, wenn sie ihre bezaubernden rosa Briefchen verfaßte, waren mit Mademoiselle Fifine aus dem Haus in der Curzon Street verschwunden. Auch das Silber, das den Tisch bei dem von Rawdon gestörten kleinen Festmahl geschmückt hatte, hatte sie mitgehen heißen. Das Geschirr war Mademoiselle wahrscheinlich zu platzraubend erschienen, und aus dem gleichen Grunde hatte sie zweifellos auch die Schüreisen, die Kaminspiegel und das Rosenholzklavier zurückgelassen.

Eine Dame, die ihr sehr ähnelte, eröffnete später ein Modegeschäft in der Rue du Helder in Paris, wo sie sich größter Achtung erfreute und die Gönnerschaft von Lord Steyne genoß. Diese Person sprach von England stets als vom verräterischsten Land der Welt und erklärte ihren Lehrmädchen, die Bewohner dieser Insel hätten sie »affreusement volé« 2. Zweifellos veranlaßte nur das Mitleid mit ihrem Unglück den Marquis von Steyne, so gütig gegen Madame de Saint Amaranthe zu sein. Möge sie so glücklich werden, wie sie es verdient – auf unserem Teil des Jahrmarkts der Eitelkeit tritt sie nicht wieder auf.

Da Mrs. Crawley in den unteren Räumen Gewirr von Stimmen und Bewegung vernahm und empört war über die Unverschämtheit der Dienstboten, die ihrem Rufe nicht Folge leisteten, warf sie sich den Morgenrock über und stieg majestätisch in den Salon hinab, aus dem das Geräusch kam.

Da saß die Köchin mit geschwärztem Gesicht auf dem schönen Kattunsofa neben Mrs. Raggles und schenkte ihr Maraschino ein. Der Page mit den kegelförmigen Knöpfen, [285] der immer Beckys rosa Briefchen ausgetragen hatte und so lebhaft um ihren kleinen Wagen herumgesprungen war, beschäftigte sich jetzt damit, seine Finger in eine Sahneschüssel zu stecken; der Lakai unterhielt sich mit Raggles, der bestürzt und kummervoll dastand. Aber obgleich die Tür offenstand und Rebekka in ein paar Meter Entfernung ein halbes dutzendmal geschrien hatte, war doch keiner der Dienstboten ihrem Ruf gefolgt.

»Trinken Sie noch einen Tropfen, bitte, Mrs. Raggles«, sagte die Köchin gerade, als Becky im wehenden weißen Kaschmirmorgenrock eintrat.

»Simpson, Trotter!« rief die Herrin des Hauses zornig. »Ihr wagt, hierzubleiben, wenn ihr mich rufen hört! Ihr wagt es, in meiner Gegenwart zu sitzen! Wo ist mein Mädchen?« der Page zog im ersten Schreck die Finger aus dem Mund, aber die Köchin nahm ein Glas Maraschino, da Mrs. Raggles nicht mehr wollte, und starrte Becky über das vergoldete Glas hinweg an, als sie es leerte. Der Likör schien der abscheulichen Rebellin Mut zu verleihen.

»Ihr Sofa! Das ist stark«, sagte die Köchin. »Ich sitze auf Mrs. Raggles' Sofa. Bleiben Sie ruhig, Mrs. Raggles. Ich sitze auf dem Sofa von Mr. und Mrs. Raggles, die es mit ehrlichem Geld gekauft und teuer bezahlt haben. Und ich glaube, wenn ich hier sitzen bleibe, bis ich meinen Lohn habe, so muß ich ganz schön lange warten, Mrs. Raggles. Ich bleibe aber sitzen, haha!«

Mit diesen Worten goß sie sich noch ein Glas von dem Likör ein und trank es mit einer noch häßlicheren, höhnischeren Miene aus.

»Trotter, Simpson! Werft die betrunkene Dirne hinaus«, kreischte Mrs. Crawley.

»Ich tue es nicht«, sagte Trotter, der Lakai. »Machen Sie selbst, daß Sie wegkommen. Bezahlen Sie uns den Lohn, und dann können Sie mich auch hinauswerfen. Wir werden schnell genug gehen.«

[286] »Seid ihr alle hier, um mich zu beleidigen?« rief Becky wütend. »Wenn Oberst Crawley nach Hause kommt, werde ich ...«

Bei diesen Worten brachen die Dienstboten in ein rauhes Gelächter aus, in das jedoch Mr. Raggles, der noch immer ein sehr trauriges Gesicht machte, nicht einstimmte.

»Er kommt nicht zurück«, fuhr Mr. Trotter fort, »er hat nach seinen Sachen geschickt, aber ich wollte sie nicht rausrücken, wenn auch Mr. Raggles wollte. Ich glaube, der ist ebensowenig ein Oberst wie ich. Er ist weg, und ich denke, Sie werden ihm schon hinterhergehen. Sie sind nichts anderes als Schwindler, alle beide. Sie können mich nicht einschüchtern. Ich lasse es mir nicht gefallen. Zahlen Sie uns unseren Lohn, hören Sie! Zahlen Sie uns den Lohn!« Nach Mr. Trotters rotem Gesicht und seiner undeutlichen Redeweise zu urteilen, hatte auch er Zuflucht zu alkoholischen Reizmitteln genommen.

»Mr. Raggles«, sagte Becky etwas beunruhigt, »Sie werden doch hoffentlich nicht zulassen, daß mich dieser betrunkene Mensch beleidigt?«

»Halt 's Maul jetzt, Trotter«, sagte Simpson, der Page. Die bedauernswerte Lage seiner Herrin hatte ihn gerührt, und es gelang ihm, zu verhindern, daß der Lakai die Bezeichnung »betrunken« mit Gewalttätigkeiten von sich abwies.

»O Madame«, sagte Raggles, »ich hätte nie geglaubt, daß ich diesen Tag erleben würde. Ich kenne die Familie Crawley, seit ich auf der Welt bin. Dreißig Jahre lang war ich Butler bei Miss Crawley und hätte nie gedacht, daß mich einer aus dieser Familie einmal ruinieren würde – ja, ruinieren«, sagte der arme Mann mit Tränen in den Augen. »Werden Sie Ihre Schulden bei mir bezahlen? Sie haben vier Jahre lang in diesem Haus gewohnt; meine ganze Habe, mein Silber und meine Wäsche haben Sie benutzt. Für Milch und Butter sind Sie mir zweihundert Pfund schuldig; Sie mußten ja unbedingt [287] frische Eier für Ihre Omeletts und Sahne für Ihren Schoßhund haben.«

»Was ihr eigenes Fleisch und Blut bekam – darum hat sie sich nicht gekümmert«, fiel die Köchin ein. »Oft wäre er beinahe verhungert, wenn ich nicht gewesen wäre.«

»Er ist jetzt in einer Waisenschule, Köchin«, sagte Mr. Trotter mit einem trunkenen Lachen. Der ehrliche Raggles fuhr mit kläglichem Ton fort, seine Kümmernisse aufzuzählen. Alles, was er sagte, entsprach den Tatsachen. Becky und ihr Mann hatten ihn ruiniert. Er sollte nächste Woche Rechnungen bezahlen und wußte nicht womit. Er würde völlig gepfändet und aus Laden und Haus gejagt werden, weil er der Familie Crawley vertraut hatte. Seine Tränen und Klagen verdrossen Becky nur noch mehr.

»Ihr scheint alle gegen mich zu sein«, sagte sie bitter. »Was wollt ihr. An einem Sonntag kann ich euch sowieso nicht bezahlen. Kommt morgen, und ihr werdet euer Geld bekommen. Ich dachte, Oberst Crawley hätte mit euch abgerechnet. Morgen wird er es tun. Ich erkläre euch bei meiner Ehre, daß er heute morgen mit fünfzehnhundert Pfund in der Brieftasche aus dem Haus gegangen ist. Er hat mir nichts zurückgelassen. Wendet euch an ihn. Reicht mir Hut und Schal und laßt mich hinaus. Ich will zu ihm. Wir hatten heute früh einen kleinen Streit. Anscheinend wißt ihr es schon. Ich verspreche euch auf mein Wort, daß ihr alle euer Geld bekommen sollt. Er hat eine gute Stellung erhalten. Laßt mich gehen, damit ich ihn aufsuchen kann.«

Bei diesen kühnen Worten blickten Raggles und die übrigen Anwesenden sich in wildem Erstaunen an, und so verließ sie Rebekka; sie ging hinauf und kleidete sich an, diesmal ohne die Hilfe ihrer französischen Zofe. Sie ging in Rawdons Zimmer und sah, daß sein Koffer und seine Tasche fertig gepackt zum Abholen bereitstanden. Auf der Adresse war mit Bleistift vermerkt, daß sie auf Anforderung ausgeliefert werden sollten. Dann begab sie sich in die Dachkammer der [288] Französin, dort aber war alles leergefegt und die Schubladen ausgeräumt. Sie dachte an die Schmucksachen, die auf dem Fußboden herumgelegen hatten, und sie war sicher, daß das Frauenzimmer geflohen war.

Gütiger Himmel, hat man je so ein Unglück erlebt wie meins? sagte sie sich. So nahe am Ziel zu sein und alles zu verlieren? Ist es nun zu spät? Nein! Es gab noch eine Möglichkeit.

Sie kleidete sich an und ging aus, diesmal unbelästigt, aber allein. Es war vier Uhr. Sie eilte durch die Straßen (Geld für einen Wagen hatte sie ja nicht) und blieb erst stehen, als sie die Tür von Sir Pitt Crawley in der Great Gaunt Street erreicht hatte. Wo war Lady Jane Crawley? Sie war in der Kirche. Becky war darüber nicht traurig. Sir Pitt saß in seinem Studierzimmer und hatte Befehl gegeben, ihn nicht zu stören. Sie mußte ihn aber sprechen. Sie schlüpfte an dem Wachtposten in Livree vorbei und war schon in Sir Pitts Zimmer, noch ehe der erstaunte Baronet auch nur die Zeitung niedergelegt hatte.

Er wurde rot und fuhr mit erschrockenem und entsetztem Blick vor ihr zurück.

»Sehen Sie mich nicht so an«, sagte sie, »ich bin unschuldig, Pitt, lieber Pitt. Sie sind einst mein Freund gewesen. Bei Gott, ich bin unschuldig. Der Schein und alle Umstände sprechen gegen mich! Ach, gerade in dem Augenblick, als alle meine Hoffnungen sich erfüllen sollten, als uns das Glück winkte.«

»So ist es wahr, was in der Zeitung steht?« fragte Sir Pitt. Ein Absatz darin hatte ihn sehr überrascht.

»Es ist wahr. Lord Steyne hat es mir am Freitagabend, dem Abend des verhängnisvollen Balles, erzählt. Seit einem halben Jahr hat man ihm eine Anstellung versprochen. Mr. Martyr, der Kolonialminister, erzählte ihm nun gestern, die Sache gehe jetzt in Ordnung. Es folgten dann die unglückselige Verhaftung und die entsetzliche Begegnung. Meine einzige[289] Schuld ist, daß ich mich zu sehr für Rawdons Interessen eingesetzt habe. Ich hatte Lord Steyne aber schon hundertmal vorher allein empfangen. Daß ich Geld hatte, von dem Rawdon nichts wußte, gebe ich zu. Sie wissen ja selbst, wie sorglos er damit umgeht. Konnte ich es ihm also anvertrauen?« In dieser Art fuhr sie fort, ihrem verblüfften Verwandten eine schön zusammenhängende Geschichte zu erzählen.

Folgendes kam dabei heraus: Becky gestand freimütig, wenn auch sehr zerknirscht, sie habe Lord Steynes Zuneigung für sie bemerkt (bei diesen Worten errötete Pitt), und da sie ihrer Tugend sicher gewesen sei, so hätte sie beschlossen, die Ergebenheit des hohen Herrn zu ihrem und ihrer Familie Vorteil zu nutzen. »Ich hoffte auf die Peerswürde für Sie, Pitt«, sagte sie (der Schwager errötete wieder). »Wir haben schon davon gesprochen. Ihre Talente und Lord Steynes Einfluß machten es mehr als wahrscheinlich, hätte nicht dieses entsetzliche Unglück allen unseren Hoffnungen ein Ende bereitet. Ich gestehe aber, daß es in erster Linie meine Absicht war, meinen teuren Gatten zu befreien – ihn, den ich immer noch liebe, obwohl er mir mißtraut und mich schlecht behandelt hat. Ich wollte ihn vor der Armut und dem drohenden Untergang retten. Ich bemerkte Lord Steynes Zuneigung für mich«, sagte sie und schlug die Augen nieder. »Ich gestehe, daß ich alles in meinen Kräften Stehende tat, ihm zu gefallen und mir, soweit das eine ehrliche Frau vermag, seine – seine Achtung zu erhalten. Erst am Freitag früh kam die Nachricht vom Tode des Gouverneurs von Coventry Island, und der Marquis sicherte die Stelle sofort meinem lieben Mann. Er wollte ihm damit eine Überraschung bereiten; er sollte es nämlich heute in der Zeitung lesen. Selbst nach dieser entsetzlichen Verhaftung – Lord Steyne wollte großzügigerweise alle Kosten tragen, so daß ich gewissermaßen verhindert war, meinem Mann zu Hilfe zu eilen – lachte der Marquis mit mir darüber und sagte, mein liebster Rawdon würde sich schon trösten, wenn er in diesem schrecklichen Schuldgef ..., im [290] Hause des Gerichtsdieners von seiner Ernennung lesen würde. Und dann – dann ging er heim. Sein Verdacht war geweckt – es kam zu der grauenhaften Szene zwischen dem Marquis und meinem bösen, bösen Rawdon – o mein Gott! Was wird bloß geschehen. Pitt, lieber Pitt, haben Sie Mitleid mit mir und helfen Sie, daß wir uns wieder versöhnen!« Mit diesen Worten warf sie sich auf die Knie, ergriff Pitts Hand unter Tränen und küßte sie leidenschaftlich.

In dieser Stellung fand Lady Jane den Baronet und die Schwägerin. Nach der Rückkehr aus der Kirche hatte sie erfahren, daß Mrs. Rawdon Crawley im Zimmer ihres Mannes sei, und sie war unverzüglich hineingeeilt.

»Ich bin überrascht, daß das Weib noch die Frechheit besitzt, dieses Haus zu betreten«, sagte Lady Jane, blaß und an allen Gliedern zitternd. Sie hatte sogleich nach dem Frühstück ihre Zofe geschickt, um Erkundigungen einzuziehen, und das Mädchen hatte sich mit Raggles und Rawdon Crawleys Dienerschaft in Verbindung gesetzt und von ihnen alles und noch bedeutend mehr über diese und viele andere Geschichten erfahren. »Wie kann Mrs. Crawley es wagen, das Haus einer – einer ehrbaren Familie zu betreten?«

Sir Pitt fuhr zurück, erstaunt darüber, mit welchem Nachdruck seine Frau diese Worte hervorstieß. Becky lag noch immer auf den Knien und klammerte sich an Sir Pitts Hand.

»Sagen Sie ihr, daß sie nicht alles weiß. Sagen Sie ihr, daß ich unschuldig bin, lieber Pitt«, wimmerte sie.

»Auf mein Wort, Liebes, ich glaube, du tust Mrs. Crawley unrecht«, meinte Sir Pitt, und Rebekka atmete erleichtert auf. »Ich glaube wirklich, sie ist ...«

»Ist was?« rief Lady Jane mit klarer, durchdringender Stimme, und sie verspürte, wie ihr Herz klopfte. »Sie ist ein schlechtes Weib, eine herzlose Mutter, eine treulose Ehefrau. Sie hat ihren kleinen Jungen nie geliebt. Wie oft ist er zu mir geflohen und hat mir erzählt, wie grausam sie ihn behandelt hat. Niemals ist sie in eine Familie gekommen, ohne zu versuchen,[291] Unglück hineinzubringen und mit ihren bösartigen Schmeicheleien und Lügen die heiligsten Gefühle zu zerstören. Sie hat ihren Mann getäuscht und alle anderen auch. Ihre Seele ist schwarz von Eitelkeit, Weltlichkeit und Verbrechen aller Art. Ich zittere, wenn ich sie anrühre. Meine Kinder halte ich ihren Blicken fern ...«

»Lady Jane«, rief Sir Pitt aufspringend, »was sind das für Reden ...«

»Ich bin dir stets eine aufrichtige, treue Frau gewesen, Sir Pitt«, fuhr Lady Jane unerschrocken fort. »Ich habe mein Ehegelübde, das ich vor Gott ablegte, gehalten und bin gehorsam und sanft gewesen, wie es der Frau zukommt. Aber dieser Gehorsam hat seine Grenzen, und ich erkläre, daß ich diese – diese Frau nicht unter meinem Dach dulden will. Wenn sie dies Haus noch einmal betritt, werde ich es mit meinen Kindern verlassen. Sie ist nicht wert, mit Christen an einem Tisch zu sitzen. Du – du mußt wählen zwischen ihr und mir.« Mit diesen Worten rauschte Lady Jane, überwältigt von ihrer eigenen Kühnheit, aus dem Zimmer und ließ Rebekka und Sir Pitt nicht wenig erstaunt zurück.

Becky war nicht verletzt, im Gegenteil, sie freute sich. »Es war das Diamantschloß, das Sie mir geschenkt haben«, sagte sie zu Sir Pitt, als sie ihm die Hand reichte. Noch ehe sie ihn verließ (Lady Jane erwartete den Augenblick am Fenster ihres Ankleidezimmers im oberen Stock), hatte ihr der Baronet versprochen, seinen Bruder aufzusuchen und eine Versöhnung zu bewirken.


Rawdon fand einige der jungen Regimentsoffiziere beim Frühstück und ließ sich schnell überreden, daran Anteil zu nehmen und sich, wie die jungen Herren, mit gebratener Geflügelkeule und Sodawasser zu stärken. Dann unterhielten sie sich der Zeit und ihrem Alter entsprechend: über das nächste Taubenschießen in Battersea; über Mademoiselle Ariane von der Französischen Oper und wer sie gerade verlassen [292] hatte und daß sie sich mit Panther Carr getröstet habe; und über den Kampf zwischen dem Schlächter und dem Liebling und daß es wahrscheinlich ein abgekartetes Spiel gewesen sei, und man wettete für und gegen Ross und Osbaldiston. Der junge Tandyman, ein Held von siebzehn Jahren, der sich eifrig bemühte, einen Schnurrbart wachsen zu lassen, hatte das Treffen gesehen und äußerte sich sehr sachverständig über den Kampf und die Kondition der beiden Kämpfer. Er hatte den Schlächter in seiner eigenen Kutsche zum Austragungsort gefahren und die ganze Nacht vorher mit ihm verbracht. Wenn der Kampf fair verlaufen wäre, hätte er gewinnen müssen. Alle alten Gauner vom Ring hingen mit drin, und er werde nicht zahlen. Nein, zum Henker, er werde nicht zahlen. – Noch vor einem Jahr hatte der junge Fähnrich, der jetzt im Gastzimmer von »Cribbs Wappen« ein so erfahrener Bursche schien, an Zuckerstangen gelutscht und in Eton die Rute erhalten.

So plauderten sie weiter über Tänzerinnen, Boxkämpfe, Trinkgelage und leichte Mädchen, bis Macmurdo herunterkam und sich der Unterhaltung der jungen Leute anschloß.

Er schien nicht zu glauben, daß man besondere Rücksicht auf ihre Jugend nehmen müsse. Der alte Bursche erzählte ebenso erlesene Geschichten, wie es die anwesenden jungen Wüstlinge taten, und weder seine eigenen grauen Haare noch ihre bartlosen Gesichter hielten ihn davon ab. Der alte Mac war berühmt wegen seiner guten Geschichten. Er war kein ausgesprochener Typ für Damengesellschaft, das heißt, die Männer luden ihn lieber zum Essen bei ihren Geliebten als bei ihren Müttern ein. Bescheidener zu leben als er war wohl kaum möglich, er war jedoch ganz und gar zufrieden und lebte guten Mutes einfach und anspruchslos dahin.

Als Mac sein reichliches Frühstück verzehrt hatte, waren auch die meisten anderen fertig. Der junge Lord Varinas rauchte eine riesige Meerschaumpfeife, während Hauptmann Hugues sich mit einer Zigarre abgab. Der verteufelte kleine [293] Tandyman, seinen Terrier zwischen den Beinen, warf mit Hauptmann Deuceace »Kopf oder Zahl« um Shillings (der Bursche war stets mit irgendeinem Spiel beschäftigt). Mac und Rawdon begaben sich zum Klub, natürlich ohne anzudeuten, was sie im Herzen bewegte. Im Gegenteil – beide hatten sich lebhaft an der Unterhaltung beteiligt, denn warum hätten sie das Gespräch auch unterbrechen sollen? Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit vertragen sich Essen, Trinken, Zoten reißen und Lachen mit allen anderen Dingen prächtig.

Die Menge strömte gerade aus den Kirchen, als Rawdon und sein Freund durch die St. James Street gingen und ihren Klub betraten.

Die alten Stutzer und Stammgäste, die gewöhnlich an dem großen Straßenfenster des Klubs standen und Maulaffen feilhielten, waren noch nicht auf ihrem Posten erschienen. Das Zeitungszimmer war fast leer. Ein Mann, den Rawdon nicht kannte, war da, dann ein anderer, dem er eine Kleinigkeit vom Whist her schuldig war und dem er folglich nicht gern begegnen wollte, und ein dritter, der am Tisch saß und im »Royalist« las (ein wegen seiner Skandalsucht und Anhänglichkeit an Kirche und König berühmtes Wochenblatt). Er blickte sichtlich interessiert zu Crawley auf und sagte: »Crawley, ich gratuliere Ihnen.«

»Was meinen Sie?« fragte der Oberst.

»Es steht im ›Observer‹ und auch im ›Royalist‹«, erklärte Mr. Smith.

»Was?« rief Rawdon und wurde sehr rot. Er glaubte, daß die Affäre mit Lord Steyne bereits in der Zeitung stünde. Smith lächelte verwundert, als der Oberst, vor Aufregung zitternd, nach dem Blatt griff und zu lesen begann.

Mr. Smith und Mr. Brown (der Herr, bei dem Rawdon noch die Whistschulden begleichen mußte) hatten vor Rawdons Eintritt gerade über den Oberst gesprochen.

»Das kam wie gerufen«, bemerkte Smith. »Ich glaube, Crawley hatte keinen Shilling mehr.«

[294] »Das ist ein Wind, der jedem etwas Gutes zuweht«, meinte Mr. Brown. »Er kann nicht fortgehen, ohne mir die fünfundzwanzig Pfund zu zahlen, die er mir schuldig ist.«

»Wie hoch ist das Gehalt?« fragte Mr. Smith.

»Zwei- bis dreitausend!« erwiderte der andere. »Das Klima ist aber so höllisch, daß sie sich nicht lange an dem Geld erfreuen. Liverseege ist nach anderthalb Jahren gestorben und sein Vorgänger, wie es heißt, schon nach sechs Wochen.«

»Sein Bruder soll ein sehr gescheiter Kerl sein.«

»Ich fand ihn immer verdammt langweilig«, rief Brown.

»Aber er muß doch immerhin Einfluß haben, er hat doch wohl dem Oberst die Stelle verschafft.«

»Der!« sagte Brown höhnisch. »Pah! Von Lord Steyne hat er sie.«

»Wie meinen Sie das?«

»Eine tugendhafte Frau ist die Krone des Mannes«, antwortete der andere rätselhaft und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.

Rawdon las nun selbst im »Royalist« den folgen den erstaunlichen Abschnitt:

Gouverneursstelle auf Coventry Island. – I.M. Schiff »›Gelbfieber‹, Kapitän Jounders, ist mit Briefen und Zeitungen von Coventry Island eingelaufen. Seine Exzellenz Sir Thomas Liverseege ist dem in Sumpfstadt herrschenden Fieber zum Opfer gefallen. Er hinterläßt in der blühenden Kolonie eine fühlbare Lücke. Die Gouverneursstelle soll Oberst Rawdon Crawley, Träger des Bathordens, einem hervorragenden Waterlookämpfer, angeboten worden sein. Wir brauchen nicht nur Männer von anerkannter Tapferkeit, sondern auch Leute, die fähig sind, unsere Kolonie zu verwalten. Zweifellos ist der vom Kolonialministerium erwählte Gentleman, der die bedauernswerte Vakanz auf Coventry Island ausfüllen soll, für diesen Posten vortrefflich geeignet.«

»Coventry Island! Wo liegt denn das? Wer hat dich bloß zum Gouverneur ernannt? Du mußt mich als Sekretär mitnehmen, [295] alter Junge«, sagte Hauptmann Macmurdo lachend. Während Crawley und sein Freund noch staunend und verwirrt vor der Ankündigung saßen, brachte der Klubkellner dem Oberst eine Karte mit dem Namen Wenham. Dieser bat, Oberst Crawley sprechen zu können.

Der Oberst und sein Adjutant gingen zu dem Herrn hinaus in der berechtigten Annahme, daß er ein Abgesandter Lord Steynes sei.

»Wie geht's, Crawley? Freut mich, Sie zu sehen«, sagte Mr. Wenham mit freundlichem Lächeln und schüttelte Crawley herzlich die Hand.

»Wahrscheinlich kommen Sie von ...«

»Jawohl«, erwiderte Mr. Wenham.

»So, das hier ist mein Freund, Hauptmann Macmurdo von der Grünen Leibgarde.«

»Freut mich sehr, Hauptmann Macmurdos Bekanntschaft zu machen«, sagte Mr. Wenham und bot dem Sekundanten dasselbe Lächeln und den Händedruck wie vorher dem Oberst.

Mac reichte ihm einen mit dem Lederhandschuh bewehrten Finger und machte Mr. Wenham über seine enge Krawatte hin eine sehr kühle Verbeugung.

Vielleicht war er unzufrieden darüber, daß er mit einem Zivilisten verhandeln sollte, und meinte, Lord Steyne hätte ihm doch wohl zumindest einen Oberst schicken können.

»Da Macmurdo meine Angelegenheiten regelt und meine Absichten kennt«, meinte Crawley, »so werde ich mich am besten zurückziehen und Sie allein lassen.«

»Natürlich!« sagte Macmurdo.

»Keineswegs, mein lieber Oberst«, antwortete Mr. Wenham, »die Unterredung, um die ich Sie zu bitten die Ehre hatte, sollte mit Ihnen persönlich vonstatten gehen, obwohl die Gegenwart Hauptmann Macmurdos wirklich sehr angenehm ist. Ich hoffe nämlich, Hauptmann, daß unser Gespräch zu einem guten Ergebnis führen wird, und zwar zu [296] einem anderen, als es mein Freund Oberst Crawley zu erwarten scheint.«

»Hm«, sagte Hauptmann Macmurdo. Zum Henker mit diesen Zivilisten, dachte er im stillen, sie wollen immer beilegen und reden bloß. Mr. Wenham nahm einen Stuhl, den man ihm nicht angeboten hatte, zog eine Zeitung aus der Tasche und begann erneut:

»Sie haben hoffentlich diese angenehme Nachricht in den heutigen Zeitungen gelesen, Oberst. Die Regierung hat sich einen sehr wertvollen Diener gesichert und Sie sich, da Sie ja wahrscheinlich das Amt annehmen, eine vortreffliche Stellung. Dreitausend pro Jahr, herrliches Klima, ausgezeichnete Gouverneursgebäude, in der Kolonie alles so, wie Sie es haben wollen, und eine sichere Beförderung. Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen. Ich nehme an, Sie wissen, meine Herren, wem mein Freund dieses großzügige Angebot verdankt.«

»Zum Henker, wenn ich es weiß«, sagte der Hauptmann, während der Oberst tief errötete.

»Einem der großmütigsten und gütigsten Männer in der Welt, einem der größten ... meinem ausgezeichneten Freund, dem Marquis von Steyne.«

»Er mag zum Teufel gehen, ehe ich seine Stelle annehme«, grollte Rawdon.

»Sie sind gegen meinen edlen Freund erzürnt«, fuhr Mr. Wenham ruhig fort. »Erklären Sie mir nur im Namen des gesunden Menschenverstandes und der Gerechtigkeit, warum?«

»Warum?!« rief Rawdon erstaunt.

»Warum?! Verdammt noch mal«, fluchte der Hauptmann und stieß mit dem Stock auf den Boden.

»Ja, wirklich, verdammt noch mal«, meinte Mr. Wenham mit dem gefälligsten Lächeln. »Betrachten Sie die Sache einmal als Mann von Welt, als ehrlicher Mensch, und fragen Sie sich, ob Sie nicht unrecht haben. Sie kehren von einer Reise [297] zurück und finden – was? – Lord Steyne, in Ihrem Haus in der Curzon Street mit Mrs. Crawley beim Souper. Ist das so merkwürdig oder neu? Ist er nicht schon hundertmal vorher unter denselben Umständen dort gewesen? Auf meine Ehre und mein Wort als Gentleman« (hier legte Mr. Wenham mit parlamentarischer Miene die Hand auf die Weste) »erkläre ich, daß ich Ihren Verdacht für ungeheuerlich und gänzlich unbegründet halte und daß Sie damit einen ehrenwerten Mann beleidigen, der Ihnen sein Wohlwollen auf tausendfache Art bewiesen hat – Ihnen und einer makellosen und unschuldigen Dame.«

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß – daß Crawley sich geirrt hat«, warf Mr. Macmurdo ein.

»Ich halte Mrs. Crawley für ebenso unschuldig wie meine eigene Frau, Mrs. Wenham«, erwiderte Mr. Wenham mit großem Nachdruck. »Ich glaube, mein Freund hier wird von teuflischer Eifersucht veranlaßt, einen Schlag nicht nur gegen einen kränklichen alten Mann von hohem Rang, seinen steten Freund und Wohltäter, zu führen, sondern auch gegen seine Frau, seine kostbare Ehre, den künftigen Ruf seines Sohnes und seine eigenen Lebensaussichten. – Ich will Ihnen sagen, was geschehen ist«, fuhr Mr. Wenham feierlich fort. »Lord Steyne ließ mich heute morgen zu sich rufen, und ich fand ihn in einem bemitleidenswerten Zustand vor. Ich brauche Ihnen, Oberst Crawley, wohl kaum zu erklären, wie es einem kränklichen alten Mann nach einer persönlichen Auseinandersetzung mit einem Menschen von Ihrer körperlichen Konstitution geht. Ich sage es Ihnen ins Gesicht, Oberst Crawley. Sie haben sehr roh von Ihrer Kraft Gebrauch gemacht. Nicht nur der Körper meines edlen, vortrefflichen Freundes war verwundet, nein, auch sein Herz blutete. Ein Mann, dem er seine Zuneigung geschenkt und den er mit Wohltaten überhäuft hat, behandelt ihn schimpflich. Was war denn diese Ernennung, die die Zeitungen von heute veröffentlichten, anderes als ein Beweis seiner Güte gegen Sie? Als ich den Lord [298] heute morgen sah, fand ich ihn in einem wirklich bemitleidenswerten Zustand, und er war ebenso begierig wie Sie, die erlittene Schmach mit Blut zu sühnen. Sie wissen wahrscheinlich, daß er seine Proben schon bestanden hat, Oberst Crawley.«

»Er hat genug Mut«, pflichtete der Oberst bei. »Das bezweifelt niemand.«

»Zuallererst befahl er mir, eine Forderung zu schreiben und sie Oberst Crawley zu überbringen. ›Einer von uns beiden‹, sagte er, ›darf die Schande von gestern abend nicht überleben.‹«

Crawley nickte. »Jetzt kommen Sie endlich zur Sache, Wenham«, meinte er.

»Ich versuchte alles, um Lord Steyne zu beruhigen. ›Guter Gott‹, sagte ich. ›Wie leid tut es mir nun, daß Mrs. Wenham und ich Mrs. Crawleys Einladung zum Abendessen nicht gefolgt sind.‹«

»Sie hat Sie eingeladen, mit ihr zu speisen?« fragte Hauptmann Macmurdo.

»Nach der Oper. Hier ist die Einladung – halt, nein, dies ist ein anderer Zettel – ich dachte, ich hätte sie mit, aber es macht ja nichts, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Gentleman darauf. Wenn wir hingegangen wären – nur Mrs. Wenhams übliche Kopfschmerzen haben uns daran gehindert, sie leidet nämlich sehr darunter, besonders im Frühjahr –, wenn wir also hingegangen wären, so hätte es bei Ihrer Rückkehr keinen Streit, keine Beleidigung und keinen Verdacht gegeben. Und schlechterdings nur, weil meine arme Frau Kopfschmerzen hatte, wollen Sie zwei Ehrenmänner dem Tod ausliefern und zwei der angesehensten und ältesten Familien des Königreiches in Schande und Kummer stürzen.«

Mr. Macmurdo blickte seinen Freund verwirrt an, und Rawdon fühlte voller Wut, daß ihm seine Beute entglitt. Er glaubte von der ganzen Geschichte kein Wort, aber wie sollte er das Gegenteil beweisen?

[299] Mr. Wenham fuhr mit der Beredsamkeit, die er im Parlament so oft geübt hatte, fort:

»Ich saß eine Stunde oder noch länger an Lord Steynes Bett und bat und flehte, er solle seine Absicht, ein Treffen zu fordern, aufgeben. Ich machte ihm klar, daß die Begleitumstände, bei Licht besehen, doch verdächtig, recht verdächtig seien – ich gestehe, in Ihrer Lage hätte sich jeder täuschen lassen. Ich erklärte ihm, daß ein Eifersüchtiger, in Wut gebracht, durchaus einem Wahnsinnigen gleicht und als solcher betrachtet werden müsse, daß ein Duell zwischen Ihnen alle Beteiligten der Schande ausliefern würde, daß ein Mann vom Range des Lords in dieser Zeit, da dem Pöbel entsetzliche revolutionäre Grundsätze und gefährliche Gleichheitslehren gepredigt würden, kein Recht habe, einen öffentlichen Skandal heraufzubeschwören, und daß das gemeine Volk trotz seiner Unschuld behaupten werde, er sei schuldig. Kurz, ich flehte ihn an, die Forderung nicht abzusenden.«

»Ich glaube von der ganzen Geschichte kein Wort«, sagte Rawdon zähneknirschend, »ich halte es für eine verdammte Lüge und glaube, daß Sie mit unter der Decke stecken, Mr. Wenham. Wenn die Forderung nicht von ihm kommt, beim Zeus, dann soll sie von mir kommen.«

Mr. Wenham wurde bei dieser wütenden Unterbrechung des Obersten leichenblaß und sah sich nach der Tür um. Aber er fand einen Helfer in Hauptmann Macmurdo. Dieser Herr erhob sich mit einem Fluch und wies Rawdon wegen seiner Ausdrucksweise zurecht.

»Du hast mir die Angelegenheit in die Hand gegeben und wirst das tun, was ich für angebracht halte, beim Zeus, und nicht, was dir paßt. Du hast kein Recht, Mr. Wenham mit solchen Reden zu beleidigen, und verdammt noch mal, Mr. Wenham, Sie verdienen eine Entschuldigung. Was die Forderung an Lord Steyne betrifft, so mußt du dir jemand anderes suchen, der sie überbringt, ich tue es nicht. Wenn der Marquis nichts unternimmt, nachdem er verprügelt worden [300] ist, dann soll er das ruhig, verdammt noch mal. Und bei der Affäre mit – mit Mrs. Crawley kann ich nur feststellen: Es ist nicht der geringste Beweis erbracht, und ich glaube, deine Frau ist unschuldig, so unschuldig wie Mr. Wenham sagt, und du wärst auf jeden Fall ein verdammter Narr, wenn du die Stelle nicht nehmen und den Mund halten würdest.«

»Hauptmann Macmurdo, Sie sprechen wie ein Mann von Verstand«, rief Mr. Wenham, ungemein erleichtert, aus. »Ich werde alles vergessen, was Oberst Crawley in der Erregung des Augenblicks gesagt hat.«

»Daran habe ich auch nicht gezweifelt«, warf Rawdon höhnisch ein.

»Halt's Maul, du alter Dummkopf«, wies ihn der Hauptmann zurecht. »Mr. Wenham schlägt sich nicht und tut ganz recht daran.«

»Meiner Meinung nach sollte man die ganze Angelegenheit begraben«, rief der Abgesandte Steynes. »Kein Wort davon sollte je über diese Schwelle kommen. Ich spreche im Interesse meines Freundes, aber auch in dem Oberst Crawleys, der immer noch darauf besteht, mich für seinen Feind zu halten.«

»Lord Steyne wird wohl kaum darüber sprechen wollen«, sagte Hauptmann Macmurdo, »und ich sehe nicht ein, warum wir es sollten. Sehr hübsch ist die Sache nicht, wie man sie auch betrachtet, und je weniger man davon spricht, desto besser. Schließlich sind Sie verprügelt worden, nicht wir, und wenn Sie sich damit zufriedengeben, so sollten wir es auch tun.«

Darauf ergriff Wenham seinen Hut. Hauptmann Macmurdo begleitete ihn zur Tür, schloß sie hinter sich und Lord Steynes Abgesandten und ließ Rawdon erbost zurück. Als die beiden draußen waren, blickte Macmurdo den anderen scharf an. Sein rundes, lustiges Gesicht nahm einen Ausdruck an, der mit Achtung nichts zu tun hatte.

»In Kleinigkeiten sind Sie groß, Mr. Wenham«, sagte er.

[301] »Sie schmeicheln mir, Hauptmann Macmurdo«, entgegnete der Angeredete lächelnd. »Auf Ehre und Gewissen, Mrs. Crawley hat uns eingeladen, nach der Oper bei ihr zu soupieren.«

»Natürlich, und Mrs. Wenham hatte gerade wieder Kopfschmerzen. Hören Sie, ich habe hier eine Tausendpfundnote, die ich Ihnen geben will. Bitte, stellen Sie mir eine Quittung darüber aus. Ich will die Banknote in einen Umschlag stecken, den ich an Lord Steyne adressiert habe. Mein Freund soll sich nicht mit ihm schlagen, aber sein Geld wollen wir lieber nicht nehmen.«

»Es war alles ein Irrtum – ein großer Irrtum, mein lieber Herr«, sagte der andere mit der schönsten Unschuldsmiene. Hauptmann Macmurdo begleitete ihn unter Verbeugungen die Treppe hinab und begegnete dabei Sir Pitt Crawley. Die beiden Herren kannten sich flüchtig, und auf dem Wege zu Rawdons Zimmer erzählte der Hauptmann dem Baronet im Vertrauen, daß er die Angelegenheit zwischen Lord Steyne und dem Oberst geregelt habe.

Sir Pitt war natürlich über diese Nachricht sehr er freut und gratulierte seinem Bruder herzlich zu dem friedlichen Ausgang der Sache, wobei er gleich ein paar passende moralische Bemerkungen über die Schändlichkeit des Duellierens machte und sich darüber ausließ, wie unzulänglich es doch sei, einen Streit auf diese Weise beilegen zu wollen.

Nach dieser Vorrede versuchte er mit aller ihm zu Gebote stehenden Beredsamkeit, eine Aussöhnung zwischen Rawdon und seiner Frau herbeizuführen, er wiederholte Beckys Angaben, wies darauf hin, daß sie wahrscheinlich wahr seien, und beteuerte seinen festen Glauben an ihre Unschuld.

Rawdon wollte jedoch nichts davon hören. »Sie hat zehn Jahre lang Geld vor mir versteckt«, sagte er. »Erst letzte Nacht hat sie mir noch geschworen, sie hätte von Lord Steyne keins bekommen. Sie wußte genau, daß alles aussein würde, wenn ich es erst gefunden hätte; wenn sie nicht schuldig ist, [302] Pitt, so ist sie doch so gut wie schuldig. Ich will sie niemals wiedersehen, niemals!« Das Haupt sank ihm auf die Brust, als er diese Worte sprach. Er sah ganz gebrochen und traurig aus.

»Armer Junge«, sagte Macmurdo und schüttelte den Kopf.


Eine Zeitlang widerstand Rawdon Crawley der Idee, eine Stelle anzunehmen, die ihm ein so verhaßter Gönner verschafft hatte; er wollte auch den Knaben von der Schule nehmen, wo er durch Lord Steynes Einfluß untergebracht worden war. Von den Vorstellungen seines Bruders und Macmurdos ließ er sich jedoch bewegen, diese Wohltaten nicht abzuweisen, vor allem aber, weil ihm der Hauptmann erklärt hatte, wie wütend Steyne bei dem Gedanken sein müsse, daß sein Feind mit seiner Hilfe sein Glück gemacht habe.

Als der Marquis von Steyne nach seinem Unfall wieder ausging, kam der Kolonialminister mit vielen Verbeugungen auf ihn zu und gratulierte sich und der Regierung zu der vortrefflichen Ernennung. Wie dankbar Lord Steyne diese Glückwünsche entgegennahm, kann man sich vorstellen.

Das Geheimnis des Rencontre zwischen ihm und Oberst Crawley wurde, wie Wenham sich ausdrückte, tief begraben, das heißt von den Sekundanten und den beiden Duellanten. Aber noch vor Ende des Tages besprach man die Angelegenheit an fünfzig Abendtafeln auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit. Der kleine Cackleby besuchte sieben Abendgesellschaften und erzählte die Geschichte jedesmal mit Kommentaren und Verbesserungen. Wie entzückt war Mrs. Washington White darüber! Die Frau des Bischofs von Ealing war über alle Maßen empört; der Bischof aber schrieb seinen Namen noch am gleichen Tag im Gaunt-Haus in die Besucherliste ein. Der kleine Southdown war traurig, und traurig war ebenfalls seine Schwester, Lady Jane, sehr traurig. Lady Southdown berichtete alles ihrer zweiten Tochter am Kap der Guten Hoffnung. Mindestens drei Tage lang war es Stadtgespräch, und in den[303] Zeitungen erschien es nur nicht wegen der Bemühungen von Mr. Wagg, dem Mr. Wenham einen Wink gegeben hatte.

Über den armen Raggles in der Curzon Street fielen die Gerichtsvollzieher und Makler her, aber die bisherige schöne Bewohnerin des armen kleinen Hauses – wo war sie inzwischen? Wer kümmerte sich darum? Wer fragte nach ein paar Tagen noch danach? War sie schuldig oder nicht? Wir alle wissen, wie barmherzig die Welt ist und wie das Urteil auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit ausfällt, sobald ein Zweifel besteht. Einige sagten, sie sei Lord Steyne nach Neapel gefolgt, während andere behaupteten, der Lord habe jene Stadt verlassen und sei nach Palermo geflohen, als er von Beckys Ankunft gehört habe. Dritte wiederum meinten, sie wohne in Bierstadt und sei Hofdame bei der Königin von Bulgarien geworden. Ein paar berichteten, sie halte sich in Boulogne auf, und wieder andere, sie lebe in einer Pension in Cheltenham.

Rawdon setzte ihr eine leidliche Jahresrente aus; und wir können sicher sein, daß sie es verstand, mit wenig Geld weit zu kommen, wie man so sagt. Er hätte bei seiner Abreise von England seine Schulden bezahlt, wäre es ihm nur gelungen, eine Versicherungsgesellschaft ausfindig zu machen, mit der er eine Lebensversicherung hätte abschließen können. Das Klima von Coventry Island war jedoch so schlecht, daß er auf sein Jahresgehalt hin kein Geld borgen konnte. Er schickte jedoch seinem Bruder pünktlich Geld und schrieb seinem kleinen Jungen regelmäßig mit jeder Post. Macmurdo versorgte er mit Zigarren, und Lady Jane sandte er Mengen von Muscheln, Cayennepfeffer, scharfem Eingemachten, Guajavagelee und anderen Kolonialprodukten.

Seinem Bruder schickte er die »Sumpfstadt Gazette«, in der der neue Gouverneur mit ungeheurer Begeisterung gefeiert wurde; während der »Sumpfstadtwächter«, dessen Frau man nicht in den Gouverneurspalast geladen hatte, erklärte, Seine Exzellenz sei ein Tyrann, im Vergleich zu dem Nero 3 [304] ein aufgeklärter Philantrop sei. Der kleine Rawdon griff gern nach den Zeitungen und las, was von Seiner Exzellenz berichtet wurde.

Die Mutter machte keine Anstalten, das Kind zu sehen. An den Sonntagen und während der Ferien fuhr der Junge zu seiner Tante; bald kannte er jedes Vogelnest in Queen's Crawley und ritt mit Sir Huddlestons Hunden aus, die er bei seinem ersten unvergeßlichen Besuch in Hampshire so sehr bewundert hatte.

Fußnoten

1 Marie-Jeanne Bécu, Gräfin Dubarry (1743 bis 1793), Pariser Modistin und Freudenmädchen, später die Geliebte König Ludwigs XV.

2 (franz.) abscheulich bestohlen.

3 Claudius Drusus Germanicus Nero (37-68), römischer Kaiser von 54 bis 68; war berüchtigt wegen seiner Grausamkeit.

56. Kapitel
Aus Georgy wird ein Gentleman gemacht

Georgy Osborne hatte sich jetzt im Hause seines Großvaters am Russell Square gut eingelebt. Er bewohnte seines Vaters Zimmer und war rechtmäßiger Erbe aller Herrlichkeiten darin. Sein hübsches Aussehen, sein höfliches Betragen und seine Eleganz gewannen ihm das Herz des Großvaters. Mr. Osborne war auf ihn so stolz wie nur je auf den älteren George.

Das Kind wurde viel mehr verwöhnt und nachsichtiger behandelt als sein Vater. Osbornes Geschäfte waren in den letzten Jahren sehr gediehen, sein Reichtum und sein Einfluß in der City hatten zugenommen. In früheren Zeiten war er schon froh gewesen, den älteren George in eine gute Privatschule schicken zu können, und das Offizierspatent seines Sohnes hatte für ihn eine Quelle nicht geringen Stolzes bedeutet. In bezug auf den kleinen George und dessen künftige Aussichten hatte der alte Herr viel hochtrabendere Pläne. Seine ständige Redeweise war, er wolle einen Gentleman aus dem kleinen Kerl machen. Im Geiste sah er ihn schon als Studenten, Parlamentsmitglied oder sogar als Baronet. Der alte Mann dachte, er könne zufrieden sterben, wenn er seinen Enkel erst auf dem Wege zu solchen Ehren sähe. Für seine [305] Erziehung wollte er nur einen erstklassig ausgebildeten Lehrer haben – keinen von diesen Scharlatanen und Pseudogelehrten, nein, nein. Noch vor ein paar Jahren hatte er wütend gegen alle Pfaffen, Schulfüchse und Leute dieses Schlages gewettert und erklärt, sie seien ein Pack von Gaunern und Pfuschern, die ihren Lebensunterhalt nur verdienen könnten, indem sie Latein und Griechisch einpaukten. Dabei seien sie noch hochmütige Hunde, die sich anmaßten, auf britische Kaufleute und Gentlemen herabzublicken, die doch ein paar Dutzend von ihnen aufkaufen konnten. Jetzt dagegen beklagte er sich in feierlicher Weise, daß seine eigene Erziehung sehr vernachlässigt worden sei, und erklärte dem kleinen George wiederholt in pompösen Worten, wie wichtig und vortrefflich klassische Bildung sei.

Wenn sie sich beim Essen trafen, fragte der Großvater den Knaben, was er tagsüber gelesen habe, und zeigte großes Interesse an dem, was der Junge von seinen Studien berichtete. Er gab sich den Anschein, als verstehe er alles, was der kleine George sagte, und machte dabei hundert Fehler und zeigte so manches Mal seine Unwissenheit. Das erhöhte natürlich nicht den Respekt des Knaben vor dem Älteren. Sein flinker Verstand und die bessere Erziehung überzeugten den Jungen sehr bald, daß sein Großvater ein Dummkopf sei, und er begann nun, herumzukommandieren und auf ihn herabzusehen. Denn seine frühere Erziehung, so bescheiden und beschränkt sie auch gewesen war, hatte aus Georgy einen viel besseren Gentleman gemacht, als alle Pläne seines Großvaters es vermochten. Er war von einer gütigen, schwachen, zärtlichen Frau aufgezogen worden, die keinen Stolz hatte als ihn, deren Herz so rein und deren Benehmen so demütig und bescheiden war, daß sie gar nichts anderes als eine wahre Lady sein konnte. Sie befaßte sich mit edlen Aufgaben und stillen Pflichten. Wenn sie auch niemals brillante Dinge äußerte, so sagte oder dachte sie dagegen auch nie etwas Unfreundliches. Arglos und schlicht, liebevoll und rein – was [306] konnte unsere arme kleine Amelia bei diesen Eigenschaften anderes sein als eine echte Dame?

Der junge Georgy hatte diese weiche, nachgiebige Natur beherrscht, und der Kontrast zwischen dieser Einfachheit und Feinfühligkeit und der plumpen Prahlsucht des einfältigen Alten, mit dem er dann in Berührung kam, brachte ihn dazu, auch diesen zu beherrschen. Wäre er ein Kronprinz gewesen – er hätte nicht besser in der Achtung seiner selbst erzogen werden können.

Während sich seine Mutter zu Hause nach ihm sehnte und wohl jede Stunde des Tages und auch die meisten Stunden der traurigen, einsamen Nacht an ihn dachte, genoß der junge Herr eine Unmenge Freuden und Tröstungen, die ihn die Trennung von Amelia leicht ertagen ließen. Kleine Jungen, die weinen, wenn sie zur Schule gehen sollen, weinen, weil es ein unfreundlicher Ort ist. Nur die wenigsten weinen aus reiner Liebe. Wenn du bedenkst, daß sich die Augen deiner Kindheit beim Anblick eines Pfefferkuchens trockneten und daß dich ein Rosinenkuchen für den Schmerz bei der Trennung von deiner lieben Mama und deinen Schwestern entschädigte, dann, mein Freund und Bruder, brauchst du auch jetzt nicht zu sehr deinem Feingefühl zu vertrauen. Nun, George Osborne genoß also jeden Luxus und jede Bequemlichkeit, die einem reichen, verschwenderischen Großvater angemessen für ihn erschien. Der Kutscher wurde beauftragt, ihm das hübscheste Pony zu kaufen, das für Geld zu haben war, und George lernt auf ihm in einer Reitschule reiten. Nachdem er dann ohne Steigbügel zu aller Zufriedenheit die Hürden genommen hatte, führte man ihn durch die New Road zum Regent's Park und dann in den Hyde Park, wo er mit viel Gepränge, Martin den Kutscher hinter sich, umherritt. Der alte Osborne, der seine Citygeschäfte jetzt etwas leichter nahm und sie mehr seinen jüngeren Teilhabern überließ, fuhr öfter mit Miss Osborne die gleiche Richtung zum Treffpunkt der Modewelt. Wenn dann der kleine Georgy mit [307] seiner Stutzermiene in stolzer Haltung herangesprengt kam, pflegte der Großvater die Tante des Jungen anzustoßen und zu sagen: »Sieh mal, Miss Osborne.« Er lachte dann jedesmal, und sein Gesicht wurde vor Vergnügen rot, wenn er dem Knaben aus dem Fenster zunickte, wenn der Reitknecht die Kutsche grüßte und der Lakai Master George.

Auch seine Tante, Mrs. Frederick Bullock, ließ sich täglich auf dem Ring sehen. Der Schlag und das Geschirr ihres Wagens waren mit goldenen Bullen geschmückt und aus den Fenstern starrten drei teiggesichtige kleine Bullocks, mit Schmuck und Federn überladen. Mrs. Frederick Bullock warf dem kleinen Emporkömmling Blicke bittersten Hasses zu, wenn er, die Hand in die Seite gestemmt, den Hut auf einem Ohr, stolz wie ein Lord vorüberritt.

Obwohl Master George kaum elf Jahre alt war, trug er doch schon einen Riemen und schöne Stiefelchen wie ein Mann. Er hatte vergoldete Sporen und eine Reitpeitsche mit vergoldetem Knauf und eine elegante Nadel im Halstuch und die hübschesten kleinen Glacéhandschuhe, die Lamb in der Conduit Street liefern konnte. Seine Mutter hatte ihm zwei Halsbinden geschenkt und ihm mit aller Sorgfalt ein paar kleine Hemden genäht und gesäumt; als aber ihr Eli 1 die Witwe besuchen kam, waren sie schon durch viel feinere ersetzt. Er trug kleine juwelenbesetzte Knöpfe auf der batistenen Hemdbrust. Ihre bescheidenen Geschenke waren beiseite gelegt worden; ich glaube, Miss Osborne hatte sie dem Sohn des Kutschers gegeben. Amelia versuchte zu glauben, daß sie sich über die Veränderung freue. Sie war auch wirklich glücklich und entzückt, daß der Knabe jetzt so schön aussah.

Sie hatte sich für einen Shilling eine kleine Silhouette von ihm anfertigen lassen und sie neben ein anderes Porträt über ihrem Bett aufgehängt. Eines Tages kam der Knabe zu seinem üblichen Besuch wie gewöhnlich die kleine Bromptoner Straße herabgaloppiert, und wie gewöhnlich lockte er alle Bewohner zur Bewunderung seiner Herrlichkeit ans Fenster. [308] Mit großem Eifer und einem Blick des Triumphes zog er ein Etui aus dem Mantel (der einen netten weißen Umhang und einen Samtkragen hatte) – ein rotes Saffianetui – und gab es ihr.

»Ich habe es für mein eigenes Geld gekauft, Mama«, sagte er. »Ich dachte, es würde dir gefallen.«

Amelia öffnete das Etui und stieß einen kleinen freudigen Schrei aus. Liebevoll umarmte sie den Knaben hundertmal. Es war ein hübsch gearbeitetes Miniaturbild von ihm selbst (obwohl wahrscheinlich für die Witwe lange nicht hübsch genug). Sein Großvater hatte ein Porträt von ihm bei einem Künstler machen lassen, dessen Arbeiten, in einem Schaufenster in der Southampton Row ausgestellt, ihm ins Auge gefallen waren. George, der immer reichlich mit Geld versehen war, fiel ein, den Maler zu fragen, wieviel eine Kopie des kleinen Porträts kosten würde; er sagte, er wolle sie mit seinem eigenen Geld bezahlen und seiner Mutter schenken. Der Maler, den das freute, fertigte die Kopie für einen geringen Preis an, und als der alte Osborne davon hörte, brummte er seine Zufriedenheit und gab dem Knaben doppelt soviel Sovereigns, wie er für die Miniatur bezahlt hatte.

Was war aber schon des Großvaters Wohlgefallen, verglichen mit Amelias Entzücken? Dieser Beweis der Liebe ihres Sohnes bezauberte sie so, daß sie dachte, kein Kind dieser Welt käme ihm an Güte gleich. Noch viele Wochen nachher machte sie der Gedanke an seine Liebe glücklich. Sie schlief besser mit dem Bildchen unter dem Kopfkissen, und wie viele, viele Male küßte sie es und weinte und betete über ihm! Schon eine kleine Freundlichkeit von denen, die sie liebte, erweckte in diesem furchtsamen Herzen Dankbarkeit. Seit der Trennung von George hatte sie noch keine derartige Freude und solchen Trost erfahren.

In seinem neuen Heim regierte Master George wie ein Lord: Beim Essen forderte er mit der größten Kaltblütigkeit die Damen zum Weintrinken auf und goß seinen Champagner [309] in einer Weise hinunter, die seinen alten Großvater bezauberte.

»Sehen Sie ihn nur an«, sagte der alte Mann dann oft mit vor Freude gerötetem Gesicht und stieß seinen Nachbarn an. »Haben Sie schon jemals solch einen Burschen gesehen? Herrgott noch mal! Er wird sich bald einen Toilettenkasten und ein Rasiermesser kommen lassen. Ich will verdammt sein, wenn er es nicht tut.«

Die Possen des Knaben erfreuten jedoch Mr. Osbornes Freunde nicht so sehr wie den alten Herrn selbst. Richter Coffin fand kein Vergnügen daran, wenn Georgy sich in die Unterhaltung mischte und seine Anekdoten verdarb. Oberst Fogey entdeckte wenig Interessantes daran, den kleinen Jungen halb betrunken zu sehen. Polizeirat Toffys Frau war nicht besonders dankbar, als er ihr mit einem Stoß des Ellbogens ein Glas Portwein über das gelbe Atlaskleid schüttete und dann noch über das Unglück lachte; und es gefiel ihr ebensowenig, wenn es auch den alten Osborne ergötzte, daß George ihren dritten Sohn (einen jungen Herrn, ein Jahr älter als George, der Doktor Tickleus' Schule in Ealing besuchte und zufällig in den Ferien zu Hause war) am Russell Square verprügelte. Georges Großvater gab dem Knaben für diese Heldentat zwei Sovereigns und versprach, ihn für das Verprügeln eines jeden Knaben, der älter und größer war als er, zu belohnen. Es ist schwer zu sagen, wel che guten Seiten der alte Herr bei diesen Kämpfen entdeckte. Er hatte eine unbestimmte Vorstellung, daß Streitereien einen Jungen abhärteten und daß es ihm nur nützen könnte, den Tyrannen spielen zu lernen. Die englische Jugend ist seit undenklichen Zeiten so erzogen worden, und es gibt Hunderttausende, die die Ungerechtigkeit und die Brutalität bei Kindern entschuldigen und bewundern.

Angestachelt von dem Lob und dem Sieg über Master Toffy, wollte George natürlich seine Triumphe fortsetzen. Als er eines Tages in der Gegend von St. Pancras in auffallend [310] eleganten neuen Kleidern stolzierte und ein Bäckerjunge spöttische Bemerkungen über sein Äußeres machte, zog der junge Patrizier sofort mutig seine Stutzerjacke aus, gab sie dem Freund, der ihn begleitete (es war Master Todd von der Great Coram Street am Russell Square, Sohn des jüngeren Teilhabers der Firma Osborne und Co.), zum Halten und versuchte den kleinen Bäcker durchzuprügeln. Diesmal aber war ihm das Kriegsglück nicht hold, und der kleine Bäcker verprügelte George. Der kam mit einem jämmerlich blauen Auge nach Hause, und seine neue Hemdkrause war befleckt von dem Blut aus seiner Nase. Er erzählte seinem Großvater, daß er mit einem Riesen gekämpft habe, und seine arme Mutter in Brompton erschreckte er mit langen und keineswegs authentischen Berichten von der Schlacht.

Dieser junge Todd aus der Coram Street, Russell Square, war Master Georges großer Freund und Bewunderer. Beide malten gern Theaterbilder, liebten Mandelkaramel und Himbeertörtchen, Schlittern und Schlittschuhlaufen im Regent's Park und auf der Serpentine und Theaterbesuche, wohin Rawson, Master Georges Leibdiener, sie oft auf Mr. Osbornes Geheiß führte. Mit ihm zusammen saßen sie dann ganz gemütlich im Parkett.

In Begleitung dieses Herrn besuchten sie alle größeren Theater Londons. Sie kannten die Namen sämtlicher Schauspieler von Drury Lane bis Sadler's Wells 2 und führten vor der Familie Todd und ihren jungen Freunden viele der Dramen mit Wests berühmten Darstellern in ihrem Papptheater auf. Der Diener Rawson, recht freigebig veranlagt, lud nicht selten, wenn er Geld hatte, seinen jungen Herrn nach dem Theater zu Austern und einem Glas Rumpunsch als Schlaftrunk ein. Dabei kann man sicher sein, daß Mr. Rawson seinerseits große Vorteile hatte, wenn ihm sein junger Herr großzügigen Dank abstattete für die Freuden, in die ihn der Bediente eingeführt hatte.

Ein bekannter Schneidermeister von West End – Mr. Osborne [311] wollte nämlich für den Knaben keinen von den Pfuschern aus der City oder von Holborn haben (obwohl für ihn selbst ein Cityschneider gut genug war) – wurde gerufen, um Georges kleine Person zu schmücken. Dabei sollten keine Kosten gespart werden. So ließ Mr. Woolsey von der Conduit Street seiner Phantasie freien Lauf und schickte dem Jungen Phantasiebeinkleider, Phantasiewesten und Phantasiejacken, genug, um eine ganze Schule voller kleiner Stutzer damit auszustatten. George hatte kleine weiße Westen für Abendgesellschaften und kleine Samtwesten zum Diner und einen hübschen kleinen Schlafrock mit Schal, wie ein echter kleiner Mann. Er kleidete sich täglich zum Diner um, »wie ein richtiger Dandy von West End«, sagte sein Großvater stets; ein Diener war ihm zur besonderen Aufwartung zuerteilt; er half ihm bei der Toilette, kam, wenn er klingelte, und brachte ihm seine Briefe stets auf einem silbernen Tablett.

Nach dem Frühstück saß Georgy gewöhnlich in dem Lehnstuhl im Speisezimmer und las die »Morning Post«, gerade wie ein Erwachsener. »Wie er schon fluchen kann«, riefen die Dienstboten oft, entzückt von seiner Frühreife. Diejenigen, die sich noch an den Hauptmann, seinen Vater, erinnern konnten, waren sich einig über Master George: »Jeder Zoll der Papa!« Durch seine Munterkeit, Herrschsucht, sein Schelten und seine Gutmütigkeit brachte er Leben ins Haus.

Georges Erziehung war einem Gelehrten und Privatlehrer aus der Nachbarschaft anvertraut worden, der »junge Edelleute und Gentlemen für die Universität, den Senat und gelehrte Berufe« vorbereitete, dessen »System nicht die entwürdigenden körperlichen Züchtigungen« umfaßte, »die noch in den alten Erziehungsstätten ausgeübt werden, und in dessen Familie die Schüler eine vornehme, gebildete Gesellschaft und das Vertrauen und die Liebe eines Heims« finden würden. Auf diese Weise bemühte sich Ehrwürden Lawrence Veal, Hart Street, Bloomsbury, Hauskaplan des Grafen Bareacres, zusammen mit Mrs. Veal, Schüler anzulocken.

[312] Durch diese Anzeige und sonstige unverdrossene Bemühungen gelang es dem Kaplan und seiner Frau gewöhnlich, ein paar Schüler zu bekommen, die eine hohe Summe zahlten und von denen man glaubte, sie seien außerordentlich angenehm untergebracht. Sie hatten einen großen Westindier, der niemals Besuch bekam, mit dunkler Gesichtsfarbe, wolligem Haar und einem ungemein stutzerhaften Äußeren; ferner war da ein anderer unbeholfener Junge von dreiundzwanzig, dessen Erziehung vernachlässigt worden war und den Mr. und Mrs. Veal in die feine Welt einführen sollten; und endlich waren da noch die beiden Söhne des Obersten Bangles vom Militärdienst der Ostindischen Kompanie. Diese vier saßen an Mr. Veals eleganter Tafel, als Georgy in ihr Institut eingeführt wurde.

George war, wie einige Dutzend anderer Schüler, nur Tagesschüler. Er kam morgens unter der Obhut seines Freundes Mr. Rawson, und wenn nachmittags schönes Wetter war, ritt er, gefolgt von dem Reitknecht, auf seinem Pony davon. Man erzählte in der Schule, daß sein Großvater steinreich sei. Ehrwürden Mr. Veal machte Georgy ständig Komplimente deshalb und weissagte ihm, daß er für eine hohe Stellung bestimmt sei, daß er sich durch Fleiß und Gelehrigkeit in der Jugend auf die erhabenen Pflichten, die ihn im reifen Alter erwarteten, vorbereiten müsse. Der Gehorsam des Kindes sei die beste Vorbereitung für die Befehlsgewalt des Mannes, und er bitte George daher, keine Süßigkeiten mit in die Schule zu bringen und damit die Gesundheit der beiden Bangles zu ruinieren, die an der eleganten Tafel von Mrs. Veal alles, was sie brauchten, im Überfluß bekämen.

Was den Unterricht betraf, so war das »Curriculum« 3, wie es Mr. Veal gern nannte, sehr umfangreich, und die jungen Herren in der Hart Street konnten von jeder bekannten Wissenschaft etwas lernen. Ehrwürden Mr. Veal besaß ein Orrery 4, eine Elektrisiermaschine, eine Drehbank, ein Theater (im Waschhaus), einen chemischen Apparat und, wie er es [313] nannte, eine auserlesene Bibliothek aller Werke der besten Schriftsteller alter und moderner Zeiten und Sprachen. Er führte die Knaben in das Britische Museum und ließ sich dort des längeren und breiteren über die dort gezeigten Altertümer und Exemplare aus der Naturgeschichte aus. Wenn er sprach, sammelte sich stets ein Zuhörerkreis um ihn, und ganz Bloomsbury bewunderte ihn als einen außerordentlich gelehrten Mann. Wenn er sprach (und das tat er fast immer), bemühte er sich, die schönsten und längsten Wörter zu benutzen, die der Wortschatz ihm bot, da er mit Recht der Ansicht war, es sei ebenso billig, einen hübschen langen und wohlklingenden Ausdruck zu verwenden wie einen kurzen, knappen.

So sagte er etwa zu George in der Schule: »Ich bemerkte bei meiner Heimkehr von einer genußreichen wissenschaftlichen Abendkonversation mit meinem vortrefflichen Freunde Doktor Bulders, einem echten Archäologen, meine Herren – einem echten Archäologen –, daß die Fenster im fast fürstlichen Hause Ihres verehrungswürdigen Großvaters am Russell Square illuminiert waren, wie aus Anlaß einer Festlichkeit daselbst. Bin ich richtig in der Annahme, daß Mr. Osborne gestern abend eine Gesellschaft distinguierter Geister an seiner glänzenden Tafel bewirtete?«

Der kleine George, der viel Humor besaß und Mr. Veal mit viel Witz und Geschicklichkeit ins Gesicht hinein nachzuahmen pflegte, erwiderte, Mr. Veal sei vollkommen korrekt in seiner Mutmaßung.

»Dann will ich jede Wette eingehen, daß die Freunde, welche die Ehre hatten, Mr. Osbornes Gastfreundschaft zu genießen, keinen Grund gefunden haben werden, sich über ihr Mahl zu beklagen. Ich selbst bin zu verschiedenen Malen mit einer Einladung begünstigt worden. (Beiläufig erwähnt, Master Osborne, Sie sind heute früh etwas zu spät gekommen und sind darin schon mehr als einmal pflichtvergessen gewesen.) Ich sage, ich selbst, meine Herren, ein so bescheidenes [314] Individuum ich auch sein mag, so bin ich doch für würdig erachtet worden, Mr. Osbornes elegante Gastfreundschaft zu genießen. Und obgleich ich mit den Großen und Edlen dieser Welt gespeist habe – denn ich wage auch meinen vortrefflichen Freund und Gönner, den sehr ehrenwerten George Graf Bareacres, dieser Zahl zuzurechnen –, so versichere ich Sie, daß der Tisch des britischen Kaufmanns im Überfluß besetzt und der Empfang ebenso ergötzlich und edel war, wie er nur sein konnte. Mr. Bluck, wenn Sie belieben, so wollen wir an der Stelle im Eutropius beginnen, an der wir durch das Zuspätkommen Master Osbornes unterbrochen wurden.«

Diesem bedeutenden Mann wurde Georges Erziehung auf einige Zeit anvertraut. Amelia wurde verwirrt von seinen Sätzen, sie hielt ihn jedoch für ein Wunder an Gelehrsamkeit. Die arme Witwe hatte ihre eigenen Gründe, sich mit Mrs. Veal zu befreunden. Es freute sie, im Hause zu sein, wenn George zur Schule kam; es freute sie ebenfalls, zu Mrs. Veals conversazioni 5 geladen zu werden, die einmal monatlich stattfanden (man erfuhr das durch rosa Karten, auf denenΑΘΗΝΗ 6 gedruckt war), wo der Professor auch seine Schüler und ihre Freunde mit dünnem Tee und wissenschaftlicher Unterhaltung bewirtete. Die arme kleine Amelia versäumte keine dieser Gesellschaften und fand sie köstlich, solange sie Georgy neben sich hatte. In jedem Wetter wanderte sie von Brompton herüber, und sie umarmte Mrs. Veal unter Tränen des Dankes für den herrlichen Abend, den sie verbracht hatte. Wenn sich dann die Gesellschaft zurückgezogen hatte und Georgy mit seinem Begleiter, Mr. Rawson, gegangen war, zog sich die arme Mrs. Osborne den Mantel an, legte den Schal um und begab sich nach Hause. In der Gelehrsamkeit, die sich George unter diesem wortreichen Lehrer der hundert Wissenschaften aneignete, machte er große Fortschritte, zumindest nach den wöchentlichen Zensuren zu urteilen, die er seinem Großvater mit nach Hause [315] brachte. Zwanzig oder mehr erstrebenswerte Wissenszweige waren auf einer Tabelle zusammengestellt, und der Professor vermerkte darauf die Fortschritte des Schülers in jedem Fach. Im Griechischen war Georgy aristos 7, im Lateinischen optimus 8, im Französischen très bien 9 und so weiter. Am Ende des Jahres erhielten dann alle für alles Preise. Selbst Mr. Swartz, der wollhaarige junge Herr und Halbbruder der ehrenwerten Mrs. McMull, und Mr. Bluck, der vernachlässigte junge Schüler von dreiundzwanzig aus den Ackerbaugegenden, und der bereits erwähnte faule junge Taugenichts, Master Todd, erhielten billige Heftchen, in die »Athene« gedruckt war und in denen eine pompöse lateinische Widmung des Professors an seine jungen Freunde prangte.

Die Familie von Master Todd war ein Anhängsel des Hauses Osborne. Der alte Herr hatte Todd vom Angestellten zum jüngeren Teilhaber seiner Firma befördert.

Mr. Osborne war Pate des jungen Master Todd (der im späteren Leben auf seine Karte »Mr. Osborne-Todd« schrieb und ein wahrer Weltmann wurde), während Miss Osborne Miss Maria Todd über die Taufe gehalten hatte und ihrem Schützling jährlich ein Gebetbuch, eine Sammlung von Traktaten, einen Band mit geistlichen Liedern oder ein ähnliches Andenken ihrer Güte geschenkt hatte. Miss Osborne nahm zuweilen die Todds zu einer Spazierfahrt in ihrem Wagen mit, und wenn sie krank waren, brachte ihr Lakai in weiten Kniehosen und Weste aus Plüsch Gelee und Delikatessen vom Russell Square zur Great Coram Street.

Die Coram Street zitterte und blickte zum Russell Square auf, und Mrs. Todd, die sehr geschickt war im Ausschneiden von Papierschmuck für Hammelkeulen und die es verstand, aus Rüben und Möhren sehr naturgetreu Blumen und Enten zu fertigen, ging oft zum »Square«, wie sie es nannten, und half bei der Vorbereitung von großen Diners, ohne auch nur den leisesten Gedanken, ebenfalls an der Tafel teilzunehmen. Wenn in der letzten Minute ein Gast noch absagte, dann [316] wurde Todd zum Essen eingeladen. Mrs. Todd und Maria kamen dann am Abend herüber, schlüpften nach leisem Klopfen ins Haus und saßen schon im Salon, wenn Miss Osborne und die Damen ihres Gefolges in dem Zimmer erschienen. Sie waren bereit, Duette und Lieder abzufeuern, bis die Herren nachkommen würden.

Arme Maria Todd, arme junge Dame! Wie lange sie doch diese Duette und Sonaten in der »Street« üben und klimpern mußte, ehe sie in der Öffentlichkeit am »Square« vorgetragen werden konnten.

Es schien also vom Schicksal bestimmt zu sein, daß George alle, mit denen er in Berührung kam, beherrschen sollte und daß Freunde, Verwandte und Dienstboten die Knie vor dem kleinen Burschen beugen mußten. Zugegebenermaßen fand er sich sehr bereitwillig in diese Einrichtung der Dinge. Das tun ja die meisten Menschen. Georgy spielte gern die Herrenrolle und besaß wohl auch eine natürliche Anlage dafür.

Am Russell Square fürchteten sich alle vor Mr. Osborne, und Mr. Osborne fürchtete sich vor Georgy. Die elegante Art des Knaben und sein vorschnelles Geschwätz über Bücher und Gelehrsamkeit, die Ähnlichkeit mit seinem Vater (der unversöhnt drüben in Brüssel lag), schüchterten den alten Herrn ein und gaben dem Knaben die Oberhand. Der Alte fuhr oft zusammen, wenn der kleine Bursche unbewußt einen von früher bekannten Zug zeigte oder einen ererbten Ton anschlug. Es schien ihm dann, daß Georges Vater wieder vor ihm stehe. Die Härte gegen den älteren George versuchte er durch Nachsicht gegen den Enkel auszugleichen. Die Leute waren über diese Sanftmut erstaunt. Gegenüber seiner Tochter brummte und fluchte er zwar wie gewöhnlich, aber er lächelte, wenn George zu spät zum Frühstück herunterkam.

Miss Osborne, Georges Tante, war eine unglückliche alte Jungfer, gebrochen von mehr als vierzig Jahren Langerweile und schlechter Behandlung. Es war für einen lebhaften Knaben nicht schwer, sie zu beherrschen. Wenn George irgend [317] etwas von ihr wollte, angefangen von den Marmeladentöpfen in ihren Wandschränken bis zu den rissigen, vertrockneten alten Farben in ihrem Tuschkasten (dem alten Tuschkasten, den sie als Schülerin von Mr. Smee gehabt hatte, als sie noch ein junges blühendes Mädchen gewesen war), dann ergriff er Besitz von dem Gegenstand seiner Wünsche und kümmerte sich danach nicht mehr um seine Tante.

Seine Freunde und Kumpane waren ein prahlerischer alter Schulmeister, der ihm schmeichelte, und ein Speichellecker, älter als er, den er verprügeln konnte. Es war Mrs. Todds größtes Entzücken, wenn er mit ihrer jüngsten Tochter, Rosa Jemima, einem lieblichen Mädchen von acht Jahren, zusammen war. »Das Pärchen paßt so hübsch zusammen«, sagte sie ständig (aber natürlich nicht zu den Leuten vom »Square«). Wer weiß, was noch geschehen kann! Sind sie nicht ein schönes Pärchen? dachte die zärtliche Mutter.

Der gebrochene alte Großvater mütterlicherseits war dem kleinen Tyrannen ebenfalls untertan. Er mußte einfach einen Burschen respektieren, der so feine Kleider trug und mit einem Reitknecht ausritt. Georgy dagegen hörte beständig, wie Mr. Sedley von seinem unbarmherzigen alten Feind, Mr. Osborne, roh beschimpft und gemein verhöhnt wurde. Osborne nannte ihn den alten Almosenempfänger, den alten Kohlenmann, den alten Bankrotteur und gab ihm noch viele ähnliche bösartige gemeine Schimpfnamen. Wie konnte George dann einen so heruntergekommenen Mann achten? Einige Monate nach seiner Übersiedlung zum Großvater väterlicherseits starb Mrs. Sedley. Zwischen ihr und dem Kind hatte es wenig Liebe gegeben, und der Junge bemühte sich nicht, traurig zu scheinen. Er besuchte seine Mutter in einem schönen neuen Traueranzug und war sehr ärgerlich, nicht zu einem Theaterstück gehen zu können, das er sehr gern gesehen hätte.

Die Krankheit der alten Dame war Amelias Beschäftigung und vielleicht auch Rettung gewesen. Was wissen schon die [318] Männer von den Leiden der Frauen. Wir würden wahnsinnig werden, hätten wir nur den hundertsten Teil der Qualen zu erdulden, die viele Frauen täglich bescheiden ertragen. Unablässige Sklaverei, die keinen Lohn findet, stete Sanftmut und Freundlichkeit, die mit Grausamkeit beantwortet wird; Liebe, Armut, Geduld, Wachsamkeit und dabei nicht die kleinste Anerkennung durch ein gutes Wort. Wie viele von ihnen müssen das alles in der Stille ertragen und erscheinen dann noch in der Öffentlichkeit, als ob sie nichts fühlten! Diese zärtlichen Sklavinnen müssen notwendigerweise heuchlerisch und schwach werden.

Amelias Mutter hatte anfangs immer im Stuhl gesessen und war dann bettlägerig geworden. Mrs. Osborne verließ das Bett der Kranken nie, es sei denn, sie lief, um George zu sehen. Aber selbst diese seltenen Besuche verübelte ihr die alte Frau, sie, die einst in besseren Tagen eine freundliche, lächelnde, gütige Mutter gewesen war, die aber Armut und Krankheit jetzt gebrochen hatten. Krankheit und Entfremdung berührten Amelia nicht so sehr, im Gegenteil, sie ermöglichten ihr, das andere Unglück, unter dem sie litt, zu ertragen, und die unablässigen Forderungen der Patientin brachten sie auf andere Gedanken. Amelia ertrug das mürrische Wesen der Mutter mit Sanftmut, glättete ihr das zerwühlte Kissen, hatte für ihre zänkischen Fragen stets eine milde Antwort, beruhigte die Leidende mit Worten der Hoffnung, die ihr frommes, einfaches Herz am besten fühlen und äußern konnte, und drückte die Augen zu, die einst so zärtlich auf sie geblickt hatten.

Dann verwendete sie all ihre Zeit und Zärtlichkeit für den Trost und die Pflege des alten verlassenen Vaters, der von dem Schlag, welcher ihn betroffen hatte, ganz betäubt war und jetzt allein in der Welt stand. Seine Frau, seine Ehre, sein Vermögen, alles, was er am meisten geliebt hatte, war ihm genommen worden, und nur Amelia stand ihm noch bei und stützte mit ihren sanften Armen den wankenden, gebrochenen[319] alten Mann. Wir wollen die Geschichte nicht fortsetzen, sie wäre zu traurig und langweilig. Ich sehe den Jahrmarkt der Eitelkeit schon weinend vor mir.

Eines Tages, als die jungen Herren im Studierzimmer bei Ehrwürden Mr. Veal versammelt waren und der Hauskaplan des ehrenwerten Grafen Bareacres wie gewöhnlich deklamierte, fuhr ein hübscher Wagen an der Tür vor, die mit einer Statue der Athene geschmückt war, und zwei Herren stiegen aus. Die jungen Bangles stürzten ans Fenster, in der unbestimmten Annahme, ihr Vater sei aus Bombay gekommen. Der große unbeholfene Schüler von dreiundzwanzig, der insgeheim über einer Stelle des Eutropius weinte, preßte seine vernachlässigte Nase an die Fensterscheiben und sah zu dem Wagen hinab, als der Lakai vom Bock sprang und die Insassen aussteigen ließ.

»Es ist ein Dicker und ein Dünner«, sagte Mr. Bluck, als donnernd an die Tür geklopft wurde.

Alle waren interessiert, angefangen von dem Hauskaplan selbst, der die Väter künftiger Schüler zu sehen hoffte, bis hinab zu Master Georgy, der froh war, einen Vorwand zu haben, das Buch niederlegen zu dürfen.

Der Junge in der schäbigen Livree mit den blinden Kupferknöpfen, der sich stets in den zu engen Rock zwängte, wenn er öffnen sollte, kam in das Studierzimmer und sagte: »Zwei Herren wünschen Master Osborne zu sprechen.« Der Professor hatte an jenem Morgen einen geringfügigen Wortwechsel mit dem jungen Herrn gehabt, und zwar waren sie verschiedener Ansicht über das Mitbringen von Knallbonbons in die Schule. Sein Gesicht nahm aber den gewohnten Ausdruck milder Höflichkeit an, als er sagte: »Master Osborne, ich gebe Ihnen volle Erlaubnis, Ihre Freunde in der Kutsche zu sprechen, und bitte Sie, ihnen die respektvollsten Komplimente von mir und Mrs. Veal zu überbringen.«

Georgy ging in das Empfangszimmer und sah zwei Fremde, die er in seiner gewohnten hochmütigen Art mit [320] zurückgeworfenem Kopf betrachtete. Der eine war dick, mit Schnurrbart, der andere mager und lang und trug einen blauen Rock. Er hatte ein braunes Gesicht und graumelierte Haare.

»Mein Gott, welche Ähnlichkeit!« sagte der lange Herr und fuhr zurück. »Kannst du erraten, wer wir sind, George?«

Der Knabe wurde rot wie gewöhnlich, wenn er erregt war, und seine Augen strahlten. »Den anderen kenne ich nicht«, sagte er, »aber ich sollte annehmen, daß Sie Major Dobbin sind.«

Es war tatsächlich unser alter Freund. Seine Stimme zitterte vor Freude, als er den Knaben begrüßte. Er nahm beide Hände des Burschen in die seinigen und zog ihn an sich.

»Deine Mutter hat dir gewiß von mir erzählt, nicht wahr?« fragte er.

»Natürlich!« erwiderte Georgy. »Viele, viele hundert Male.«

Fußnoten

1 Hier verwechselt Thackeray offenbar Samuel, den Sohn Hannas, mit Eli, dem Hohenpriester. (Siehe auch Anm. zu S. 213.)

2 zwei bekannte alte Theater in London.

3 (lat.) Lehrplan.

4 (engl.) eine Art Planetarium.

5 (ital.) Abendunterhaltungen.

6 (griech.) Athene. – Göttin der Wissenschaft und der Künste.

7 (griech.) sehr gut.

8 (lat.) sehr gut.

9 (franz.) sehr gut.

57. Kapitel
Eothen 1

Einer der vielen Gründe für den Stolz des alten Osborne war, daß Sedley, sein alter Rivale, Feind und Wohltäter, in seinen letzten Tagen so völlig besiegt und erniedrigt war, daß er finanzielle Unterstützung aus den Händen des Mannes annehmen mußte, der ihn am schwersten verwundet und beleidigt hatte. Der erfolgreiche Weltmann beschimpfte den alten Almosenempfänger und half ihm von Zeit zu Zeit. Wenn er George Geld für seine Mutter gab, so gab er dem Knaben in seiner gewöhnlichen brutalen, rohen Weise zu verstehen, daß Georges Großvater mütterlicherseits nur ein erbärmlicher alter Bankrotteur und Abhängiger sei und daß John Sedley dem Mann, dem er bereits so viel Geld schuldete, dankbar sein müsse für die Hilfe, die sein, Osbornes, Edelmut ihm [321] gewährte. George brachte diese prahlerische Summe seiner Mutter und dem gebeugten alten Witwer, dessen Pflege und Tröstung jetzt Amelias Hauptbeschäftigung war. Der kleine Bursche behandelte den schwachen, unglücklichen alten Mann sehr gönnerhaft.

Es war vielleicht Mangel an »schicklichem Stolz« bei Amelia, daß sie die finanziellen Wohltaten aus der Hand des Feindes ihres Vaters annahm. Schicklicher Stolz und diese arme Dame hatten einander jedoch nie gut gekannt. Sie war ein von Natur aus einfaches, schutzbedürftiges Wesen; lange Jahre in Armut und Demütigung unter täglichen Entbehrungen und bösen Worten und guten Taten ohne Belohnung waren ihr Los gewesen, seit sie erwachsen war oder seit ihrer unglücklichen Heirat mit George Osborne. Du, der du täglich siehst, daß bessere Menschen als du diese Schande erdulden, die still die Schicksalsschläge ertragen, sanft und unbemitleidet, arm und noch verachtet wegen ihrer Armut sind – steigst du je von der Höhe deines Glücks herab und wäschst diesen armen müden Bettlern die Füße? Schon der Gedanke an sie erscheint verhaßt und gemein. »Es muß Klassen geben – es muß Reiche und Arme geben«, sagt der Reiche und schlürft seinen Rotwein (es ist schon viel, wenn er Lazarus 2, der unter seinem Fenster sitzt, Fleischbröckchen hinausschickt). Das stimmt schon, aber bedenke auch, wie geheimnisvoll und oft unberechenbar sie ist, die Lebenslotterie, die diesem Purpur und köstliche Leinwand gibt und dem anderen Lumpen als Kleider und Hunde zur Tröstung schickt.

So muß ich gestehen, daß Amelia ohne viel Kummer – im Gegenteil, mit etwas wie Dankbarkeit – die Krumen auflas, die ihr Schwiegervater hin und wieder fallen ließ, und damit ihren Vater ernährte. Sobald sie bemerkte, daß es ihre Pflicht war, opferte sich diese junge Frau ganz selbstverständlich (meine Damen, sie ist erst dreißig, und wir nennen sie in diesem Alter noch eine junge Frau), opferte sie sich, wie gesagt, und legte alles, was sie hatte, dem geliebten Gegenstand zu [322] Füßen. Wieviel lange Nächte hindurch hatte sie sich ohne Dank die Finger für den kleinen George wund gearbeitet, als er noch bei ihr war! Wieviel Leid, Verachtung, Entbehrungen, Armut hatte sie für Vater und Mutter ertragen! Und bei all dieser einsamen Entsagung und dieser unbeachteten Hingabe schätzte sie sich nicht höher, als die Welt sie schätzte. Wahrscheinlich dachte sie in ihrem Herzen, sie sei ein armseliges, erbärmliches kleines Geschöpf, das mehr Glück hatte, als es verdiente. Oh, ihr armen Frauen! Ihr armen geheimen Märtyrerinnen und Opfer, deren Leben eine Tortur ist, die ihr in eurem Schlafzimmer auf der Folter ausgestreckt liegt und täglich im Salon den Kopf auf den Block legt. Jeder Mann, der eure Schmerzen beobachtet oder in den dunklen Ort späht, wo eure Tortur vollzogen wird, muß euch bemitleiden – und – Gott danken, daß er einen Bart hat. Ich erinnere mich, vor vielen Jahren in dem Irrenhaus in Bicêtre bei Paris einen armen, von Kerker und Krankheit gebeugten Schelm gesehen zu haben, dem einer von uns für ein paar Pfennige Schnupftabak in einer Papiertüte gab. Diese Freundlichkeit war zuviel für das arme epileptische Geschöpf. Er weinte vor Freude und Dankbarkeit. Wenn irgend jemand dir oder mir jährlich tausend Pfund geben oder das Leben retten würde – wir könnten nicht so gerührt sein. Genauso ist es, wenn man eine Frau gehörig tyrannisiert hat. Für ein paar Pfennige Freundlichkeit werden dann ebenso auf sie wirken und ihr Tränen in die Augen locken, als ob du ein wohltätiger Engel wärst.

Gaben dieser Art waren die besten, die das Glück der armen kleinen Amelia gewährte. Ihr Leben, gar nicht unglücklich begonnen, war dazu herabgesunken – zu einer gemeinen Kerkerhaft und einer langen, erniedrigenden Sklaverei. Der kleine George besuchte sie zuweilen in ihrer Gefangenschaft und brachte ihr einen Schimmer schwachen Trostes. Der Russell Square war die Grenze ihres Gefängnisses. Sie konnte gelegentlich dorthin gehen, kam aber stets des Abends [323] wieder in ihre Zelle zurück: um darin zu schlafen, um freudlose Pflichten zu erfüllen, um an danklosen, trüben Krankenbetten zu wachen und um die Quälereien und die Herrschsucht zänkischer, enttäuschter alter Leute zu ertragen.

Wie viele Tausende von Menschen gibt es – meistens Frauen –, die zu dieser langen Sklaverei verurteilt sind, Krankenwärterinnen ohne Lohn – barmherzige Schwestern, wenn man so will, ohne die Romantik des Aufopferungsgefühls. Sie mühen sich ab, fasten, wachen, leiden, ohne Mitleid zu finden, und welken erniedrigt dahin. Es gefällt der schrecklichen verborgenen Weisheit, die die Geschicke der Menschen lenkt, die Sanften, Guten und Weisen zu demütigen und niederzuwerfen und die Selbstsüchtigen, Törichten und Bösen zu erhöhen. Oh, mein Bruder! Sei demütig in deinem Glück! Sei sanft gegen die, welche weniger glücklich, aber doch sehr wahrscheinlich verdienstvoller sind. Überlege dir, welches Recht du hast, jemanden zu verachten, du, dessen Tugend nur auf dem Mangel an Versuchung beruht, dessen Erfolge zufällig sein können, dessen Stellung vielleicht nur dem Glück eines Ahnen zu verdanken ist, dessen Gedeihen höchstwahrscheinlich eine Satire ist!


Man begrub Amelias Mutter auf dem Kirchhof in Brompton, an einem genauso dunklen regnerischen Tag wie dem, an dem Amelia dorthin gekommen war, um mit George getraut zu werden. Ihr kleiner Knabe saß in prächtigen neuen Trauerkleidern neben ihr. Sie erinnerte sich der alten Schließerin und des Küsters. Während der Pfarrer die Predigt hielt, schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit. Wenn sie nicht Georges Hand gehalten hätte, wie gern hätte sie dann den Platz getauscht mit ... Doch wie gewöhnlich schämte sie sich bald ihrer selbstsüchtigen Gedanken und betete still um Stärke zur Erfüllung ihrer Pflicht.

Sie beschloß, mit aller ihr zu Gebote stehenden Kraft ihren alten Vater glücklich zu machen. Sie plackte und mühte sich [324] ab, flickte und stopfte, sang und spielte Puff, las aus der Zeitung vor, kochte für den alten Sedley, ging mit ihm in den Kensington Gardens oder auf den Bromptoner Straßen spazieren, lauschte seinen Geschichten mit nimmermüdem Lächeln und liebevoller Heuchelei oder saß sinnend und in ihre eigenen Gedanken und Erinnerungen versunken neben ihm, wenn sich der schwache, zänkische Alte auf den Gartenbänken sonnte und von seinen Sorgen und dem ihm angetanen Unrecht brabbelte. Wie traurig und unbefriedigend waren die Gedanken der Witwe! Die Kinder, die auf den breiten Wegen und Böschungen des Gartens herumtollten, erinnerten sie an George, den man ihr entrissen hatte; auch der erste George war ihr genommen worden. In beiden Fällen war ihre egoistische, schuldige Liebe zurechtgewiesen und bitter bestraft worden. Sie bemühte sich, zu glauben, daß sie mit Recht auf diese Weise gestraft worden sei. Sie war ja eine so elende, böse Sünderin. Sie stand ja ganz allein auf der Welt.

Ich weiß, daß der Bericht von solch einer einsamen Gefangenschaft unerträglich langweilig ist, wenn er nicht durch heitere oder humoristische Vorfälle belebt wird – zum Beispiel einen zärtlichen Kerkermeister oder einen lustigen Festungskommandanten; oder eine Maus, die herauskommt und in Latudes 3 Bart herumspielt; oder einen unterirdischen Gang unter der Burg, den Trenck 4 mit den Fingernägeln und einem Zahnstocher gräbt. Solche belebenden Vorfälle hat der Verfasser in der Erzählung von Amelias Gefangenschaft nicht zu berichten. Stell sie dir in dieser Zeit bitte sehr traurig vor, aber wenn man sie anspricht, stets zu einem Lächeln bereit, in einer sehr niedrigen, armen, um nicht zu sagen, gemeinen Stellung. Sie singt für ihren alten Vater Lieder, bereitet Puddings, spielt Karten, stopft Strümpfe. Es ist nicht so wichtig, ob sie eine Heldin ist oder nicht. Mögen nur du und ich – wenn wir alt, zänkisch und bankrott sind – in unseren letzten Tagen eine gütige weiche Schulter haben, an die wir uns lehnen [325] können, eine zarte Hand, die uns die gichtigen Kissen glättet.

Nach dem Tode seiner Frau schloß der alte Sedley seine Tochter sehr ins Herz, und Amelia fand ihren Trost darin, gegenüber dem Alten ihre Pflicht zu tun.

Wir werden diese beiden Menschen jedoch nicht lange auf einer so niedrigen, armseligen Stufe des Lebens lassen; es waren ihnen noch bessere Tage, zumindest im Hinblick auf weltliches Glück, bestimmt. Wahrscheinlich hat der scharfsinnige Leser schon erraten, wer der dicke Herr war, der in Begleitung unseres alten Freundes Major Dobbin Georgy in der Schule aufsuchte. Es war ein anderer alter Bekannter, der nach England zurückgekehrt war, und zwar zu einem Zeitpunkt, da seinen Verwandten dort seine Gegenwart sehr angenehm sein mußte.

Major Dobbin, dem es schnell gelungen war, von seinem gutmütigen Kommandeur wegen dringender Privatangelegenheiten die Erlaubnis zur Reise nach Madras und von da wahrscheinlich nach Europa zu erhalten, war Tag und Nacht unterwegs gewesen, bis er sein Ziel erreicht hatte, und war mit solcher Geschwindigkeit nach Madras marschiert, daß er mit sehr hohem Fieber dort ankam. Die ihn begleitenden Diener brachten ihn, der schon im Delirium lag, in das Haus des Freundes, bei dem er bis zu seiner Abreise nach Europa hatte wohnen wollen. Man glaubte viele, viele Tage, daß er nie weiter reisen würde als bis zum Friedhof der Sankt-Georgs-Kirche, wo manch tapferer Offizier fern von der Heimat ruht, und wo die Truppe eine Salve über sein Grab feuern würde.

Als der arme Junge sich hier im Fieber herumwarf, konnten ihn die Krankenwärter von Amelia phantasieren hören. Der Gedanke, sie nie wiederzusehen, verdüsterte seine lichten Stunden. Er glaubte, sein letzter Tag sei gekommen, und traf feierliche Vorbereitungen für das Scheiden. Er brachte seine Angelegenheiten in dieser Welt in Ordnung und hinterließ [326] sein kleines Vermögen denjenigen, denen er am meisten wohlzutun wünschte. Der Freund, in dessen Haus er wohnte, beglaubigte das Testament. Er wollte mit einer kleinen Kette aus braunem Haar, die er um den Hals trug, begraben werden. Er hatte sie, um die Wahrheit zu sagen, von Amelias Zofe in Brüssel erhalten, als man der Witwe während des Fiebers, das sie nach George Osbornes Tod auf dem Plateau von Mont Saint-Jean niederstreckte, das Haar abgeschnitten hatte.

Er genas, erholte sich und hatte wieder einen Rückfall, nachdem er sich einer Prozedur von Aderlässen und Kalomel ausgeliefert hatte, die er nur wegen seiner starken Konstitution durchhalten konnte. Er war zum Skelett abgemagert, als man ihn an Bord des Ostindienfahrers »Ramchunder« brachte. Er stand unter dem Kommando von Kapitän Bragg, kam aus Kalkutta und legte in Madras an. Dobbin war so schwach, daß sein Freund, der ihn während der Krankheit gepflegt hatte, prophezeite, der ehrliche Major werde die Reise niemals überleben, sondern eines Morgens, in Fahne und Hängematte gehüllt, über Bord gehen und die Reliquie, die er auf dem Herzen trug, mit in den Ozean hinabnehmen. Mochte es nun jedoch die Seeluft sein oder die neu erwachende Hoffnung – von dem Tage an, da das Schiff mit geblähten Segeln von der Reede abfuhr und gen Heimat steuerte, fing unser Freund an, sich zu erholen, und war vollkommen wiederhergestellt, wenn auch so mager wie ein Windhund, noch bevor sie das Kap der Guten Hoffnung erreichten. »Kirk wird diesmal noch um den Majorsrang gebracht werden«, sagte er lächelnd. »Er wird erwarten, seine Beförderung in der Zeitung zu lesen, wenn das Regiment nach Hause kommt.« Wir müssen nämlich vorausschicken, daß das tapfere ...te Regiment, das so viele Jahre im Ausland gewesen war, nach seiner Rückkehr von Westindien durch den Feldzug von Waterloo um seinen Englandaufenthalt gebracht worden war. Es war dann gleich von Flandern nach Indien [327] beordert worden. Nun hatte es den Befehl zur Heimkehr bekommen, gerade als der Major krank in Madras lag, weil er sich so beeilt hatte, dorthin zu kommen. Er hätte also seine Kameraden begleiten können, hätte er ihre Ankunft in Madras abgewartet.

Vielleicht wollte er sich in seinem erschöpften Zustand nicht wieder unter die Obhut Glorvinas begeben. »Ich glaube, Miss O'Dowd hätte mich zur Strecke gebracht, wenn wir sie an Bord gehabt hätten«, sagte er lachend zu einem anderen Passagier. »Und sobald sie mich den Wellen übergeben hätte, hätte sie dich überfallen und als Beute nach Southampton gebracht, darauf kannst du dich verlassen, Joseph, mein Junge.«

Es war in der Tat kein anderer als unser dicker Freund, der sich ebenfalls als Passagier an Bord der »Ramchunder« befand. Er hatte zehn Jahre in Bengalen zugebracht. Die häufigen Diners, Gabelfrühstücks, das Bier und der Rotwein, die ungeheuren Arbeiten im Büro und der erfrischende Branntwein, zu dem man ihn dort gezwungen hatte, waren nicht spurlos an Waterloo-Sedley vorübergegangen. Eine Reise nach Europa wurde ihm jetzt dringend empfohlen, und da er seine Dienstzeit in Indien abgeleistet hatte und sein gutes Gehalt es ihm ermöglicht hatte, eine beträchtliche Summe beiseite zu legen, so konnte er jetzt nach eigenem Ermessen heimkehren und mit einer guten Pension in England leben oder zurückkehren und den Dienstrang einnehmen, der ihm seinem Dienstalter und seinen ungeheuren Talenten nach zukam.

Er war etwas magerer geworden, seit wir ihn zuletzt sahen, hatte dafür aber an Majestät und feierlicher Haltung gewonnen. Er hatte sich den Schnurrbart wieder wachsen lassen, zu dem ihn sein Dienst bei Waterloo berechtigte, und stolzierte, mit einer prächtigen goldbebänderten Samtmütze und vielen Nadeln und Juwelen geziert, auf Deck umher. Er nahm das Frühstück in seiner Kajüte ein und kleidete sich zu seinem Erscheinen auf dem Achterdeck so sorgfältig an, als ob er sich [328] auf der Bond Street oder auf dem Corso in Kalkutta zeigen wollte. Er hatte einen Eingeborenen mit, der sein Kammerdiener und Pfeifenträger war und den Wappenhelm der Sedleys in Silber auf dem Turban trug. Dieser orientalische Bediente hatte unter Joseph Sedleys Tyrannei sehr zu leiden. Joseph war in bezug auf sein Äußeres eitel wie eine Frau und brauchte für seine Toilette ebensoviel Zeit wie eine verblühte Schönheit. Die jüngeren Passagiere, wie der junge Chaffers vom 150. Regiment und der arme kleine Ricketts, der nach seinem dritten Fieber nach Hause zurückkehrte, fragten Sedley bei Tisch aus und brachten ihn dazu, wunderbare Geschichten über sich selbst und seine Heldentaten im Kampf gegen Tiger und Napoleon zu erzählen. Er war großartig, als er das Kaisergrab in Longwood 5 besuchte und diesen Herren und den jungen Schiffsoffizieren (Major Dobbin war nicht dabei) die ganze Schlacht bei Waterloo beschrieb und nicht undeutlich zu verstehen gab, daß Napoleon ohne ihn, Joseph Sedley, nie nach Sankt Helena gekommen wäre.

Nachdem sie Sankt Helena verlassen hatten, wurde er äußerst freigebig und verschenkte eine große Menge von seinen Schiffsvorräten, Rotwein, Fleischkonserven und großen Kisten mit Sodawasser, die er zu seinem Privatgenuß mitgenommen hatte. Es waren keine Damen an Bord, und der Major überließ dem Zivilisten den Vortritt, so daß er der würdigste Mann bei Tisch war und von Kapitän Bragg und den Offizieren der »Ramchunder« mit dem Respekt, der seinem Rang gebührte, behandelt wurde.

Während eines zweitägigen Sturmes verschwand er in panischer Angst und ließ die Luken seiner Kajüte schließen. Er blieb in der Koje und las die »Apfelfrau von Finchley«, die Lady Emily Hornblower, Frau von Ehrwürden Silas Hornblower, auf der Reise nach dem Kap, wo ihr Mann Missionar war, im Schiff zurückgelassen hatte. Als alltägliche Lektüre hatte er sich jedoch einen Stapel von Romanen und Theaterstücken mitgenommen, die er den übrigen Passagieren lieh.[329] Mit seiner Güte und Herablassung machte er sich bei allen angenehm.

So manche Nacht, während das Schiff den finsteren, brüllenden Ozean durchschnitt, wenn über ihnen Mond und Sterne leuchteten und die Glocke die Wache aussang, saß Mr. Sedley mit dem Major auf dem Achterdeck des Schiffes und plauderte von der Heimat. Der Major rauchte dabei seine Zigarre, und der Zivilist paffte die Wasserpfeife, die ihm sein Diener gestopft hatte.

Es war erstaunlich, mit welcher Ausdauer und Findigkeit Major Dobbin bei diesen Unterhaltungen das Gespräch immer wieder auf Amelia und ihren kleinen Jungen zu bringen wußte. Er besänftigte Joseph, der etwas mürrisch war wegen des Unglücks, das seinen Vater betroffen hatte, und wegen der Bittbriefe, die dieser geradewegs an ihn gerichtet hatte, und wies ihn auf das hohe Alter und das Unglück des älteren Sedley hin. Er würde vielleicht keine Lust haben, mit dem alten Paar zusammen zu wohnen, dessen Sitten und Lebensweise nicht zu der eines jungen Mannes passen würde, der an andere Gesellschaft gewöhnt sei (Joseph verbeugte sich bei diesem Kompliment). Der Major erklärte ihm jedoch, wie vorteilhaft es für ihn sein würde, ein eigenes Haus in London zu haben und nicht eine bloße Junggesellenwohnung wie früher. Seine Schwester Amelia sei doch die Richtige, dieses Haus zu leiten, sie sei elegant und sanft, sei gebildet und habe gute Manieren. Er erzählte Anekdoten von den Triumphen, die Mrs. George Osborne in früherer Zeit in Brüssel und in London gefeiert hatte, wo die Vornehmsten sie bewundert hatten. Er deutete sodann an, wie angemessen es für Joseph wäre, Georgy in eine gute Schule zu schicken und einen Mann aus ihm zu machen, denn seine Mutter und die Großeltern verwöhnten ihn sicherlich. Kurz, der schlaue Major nahm dem Zivilisten das Versprechen ab, sich um Amelia und ihr schutzloses Kind zu kümmern. Er wußte noch nicht, was sich alles in der kleinen Familie Sedley zugetragen [330] hatte, daß der Tod die Mutter abberufen hatte und George der Mutter durch den Reichtum entrissen worden war. Sonst aber dachte der verliebte Major, der nicht mehr ganz jung war, täglich und stündlich an Mrs. Osborne, und er war von ganzem Herzen nur bestrebt, ihr Gutes zu erweisen. Er umschwärmte und umschmeichelte und lobte Joseph Sedley mit einer Ausdauer und Herzlichkeit, von der er wahrscheinlich selbst nichts ahnte. Männer, die unverheiratete Schwestern oder sogar Töchter haben, werden sich erinnern, wie ungewöhnlich nett die Herren zu den männlichen Verwandten sind, wenn sie den Frauen den Hof machen, und vielleicht heuchelte dieser Schurke Dobbin ähnlich.

Die Wahrheit sieht nämlich folgendermaßen aus: Major Dobbin wurde sehr krank an Bord der »Ramchunder« gebracht und konnte sich auch während der drei Tage, die das Schiff auf der Reede von Madras lag, nicht erholen. Auch das Erscheinen und Wiedererkennen seines alten Bekannten, Mr. Sedley, ermunterte ihn nicht sehr, bis die beiden eines Tages ein Gespräch hatten. Der Major lag matt auf dem Deck und sagte, er glaube, sterben zu müssen. Er habe seinem Patenjungen im Testament eine Kleinigkeit vermacht und hoffe, Mrs. Osborne werde ihn in freundlicher Erinnerung behalten und in der Ehe, die sie eingehen wolle, glücklich sein.

»Heiraten? Gewiß nicht!« entgegnete Joseph. Sie habe ihm geschrieben, aber von einer Heirat habe sie nichts erwähnt. Übrigens sei es ganz drollig, daß sie von Major Dobbins Heirat geschrieben habe und hoffe, er werde glücklich werden. Welches Datum trugen Sedleys Briefe aus Europa? Der Zivilist holte sie herbei. Sie waren zwei Monate später abgeschickt, als die des Majors. Der Schiffsarzt gratulierte sich zu der Behandlung, die er bei seinem neuen Patienten angewendet hatte. Der Mediziner in Madras hatte ihn nämlich mit sehr schwachen Hoffnungen auf das Schiff geliefert, und von dem Tag an, gerade dem Tag, als er die Arznei gewechselt [331] hatte, genas Major Dobbin. So kam es, daß der verdienstvolle Offizier Hauptmann Kirk um den Majorsrang gebracht wurde.

Nachdem sie Sankt Helena passiert hatten, war Major Dobbin so munter und kräftig geworden, daß er alle seine Mitpassagiere in Erstaunen setzte. Er tollte mit den Seekadetten herum, veranstaltete Stockfechten mit den Offizieren, kletterte auf die Masten wie ein Schiffsjunge, sang eines Abends ein komisches Lied zur Belustigung der ganzen Gesellschaft, die nach dem Abendessen beim Grog zusammensaß, und war so munter, lebhaft und liebenswürdig, daß selbst Kapitän Bragg, der anfangs geglaubt hatte, es sei nichts los mit seinem Passagier und ihn für einen geistesarmen Kerl hielt, gestehen mußte, daß der Major ein zurückhaltender, aber kluger und verdienstvoller Offizier sei.

»Er hat keine sehr vornehmen Manieren, verdammt!« bemerkte Bragg zu seinem Ersten Offizier. »In das Haus des Gouverneurs würde er nicht hineinpassen, wo doch der Lord und Lady William so freundlich gegen mich waren und mir vor der ganzen Gesellschaft die Hand schüttelten und wo er mich bei Tisch noch vor dem Oberbefehlshaber zum Biertrinken aufforderte. Ja, gute Manieren hat er nicht, aber es ist so etwas Gewisses an ihm ...«

Mit dieser Meinung bewies Kapitän Bragg, daß er Einsicht als Mensch und auch Fähigkeiten als Kommandeur besaß.

Als aber die »Ramchunder« zehn Tagereisen von England entfernt war, trat Windstille ein, und nun wurde Major Dobbin ungeduldig und übellaunig, zur Überraschung derer, die früher seine Lebhaftigkeit und Gutmütigkeit bewundert hatten. Das änderte sich erst, als sich der Wind wieder erhob; und als der Lotse an Bord kam, war er sehr erregt. Guter Gott! Wie klopfte ihm das Herz, als sich die beiden freundlichen Türme von Southampton am Horizont zeigten!

Fußnoten

1 Reisebeschreibung des englischen Schriftstellers Alexander William Kinglake (1809-1891) über den Nahen Osten.

2 Gestalt aus dem Neuen Testament. Der arme Lazarus lag vor der Tür des reichen Mannes und bat um »Brosamen, die von des Reichen Tische fielen« (Lukas 16, 20 u. 21).

3 Jean-Henri Danry alias Vicomte Masers de Latude (1725-1805), französischer Feldscher und Hochstapler; verbrachte 35 Jahre seines Lebens im Kerker.

4 Friedrich Freiherr von der Trenck (1726-1794), preußischer Offizier; wurde wegen angeblicher Liebesbeziehungen zu Amalie von Brandenburg, der Schwester Friedrichs II., eingekerkert, entkam jedoch mehrmals; seine Memoiren wurden unter dem Titel »In Kerker und Ketten« veröffentlicht.

5 In Longwood auf der Insel Sankt Helena lebte Napoleon I. von 1815 bis zu seinem Tode 1821 in der Verbannung in englischem Gewahrsam. Er wurde dort beigesetzt und 1840 nach Paris überführt.

[332] 58. Kapitel
Unser Freund der Major

Unser Major hatte sich an Bord der »Ramchunder« sehr beliebt gemacht. Als er nämlich mit Mr. Sedley in das ersehnte Landungsboot stieg, ließ die gesamte Schiffsbesatzung, Mannschaften und Offiziere, allen voran der Kapitän, drei Hurras für Major Dobbin erschallen, der tief errötete und zum Zeichen des Dankes den Kopf einzog. Joseph, der höchstwahrscheinlich die Hochrufe auf sich bezog, nahm seine goldbebänderte Mütze ab und schwenkte sie majestätisch gegen seine Freunde. So wurden sie ans Ufer gerudert und landeten würdevoll am Kai; von dort begaben sie sich ins »Royal George Hotel«.

In der Kaffeestube des Hotels erwartete sie eine herrliche Rinderkeule und eine silberne Kanne, die echtes britisches Bier vermuten ließ. Dieser Anblick erfreut und stärkt das Auge des aus dem Ausland zurückkehrenden Reisenden so, daß jeder, der ein so bequemes, hübsches, anheimelndes englisches Gasthaus betritt, gern einige Tage darin verweilen möchte. Aber Dobbin fing augenblicklich an, von einer Postkutsche zu sprechen, und kaum war er in Southampton angekommen, als er schon wünschte, sich auf den Weg nach London zu machen. Joe dagegen wollte nichts von der Weiterreise noch an diesem Abend hören. Warum sollte er die Nacht in einer Postkutsche zubringen, statt in dem breiten, wogenden Daunenbett, das es hier anstelle des entsetzlichen schmalen Käfigs gab, in dem der stattliche Herr aus Bengalen während der Reise eingesperrt gewesen war. Er konnte erst fort, wenn sein Gepäck an Land war, und es war ihm erst möglich, zu reisen, wenn er seinen indischen Tabak hatte; der Major mußte also bis zum nächsten Morgen warten. Er schickte einen Brief mit der Nachricht von seiner Ankunft an seine Familie und nahm Joseph das Versprechen ab, seinen Verwandten ebenfalls zu schreiben. Joseph hielt aber sein Versprechen nicht. [333] Der Kapitän, der Schiffsarzt und ein paar Passagiere kamen und dinierten mit den beiden Herren im Gasthaus, und Joseph bestellte das Beste, was zu haben war, und versprach dem Major, am nächsten Tag mit ihm nach London zu reisen. Der Wirt erklärte, es habe seinen Augen gutgetan, zu sehen, wie Mr. Sedley sein erstes Glas Porter trank. Wenn ich Zeit hätte und es wagte abzuschweifen, so würde ich ein Kapitel über dieses erste auf englischem Boden getrunkene Glas Porter schreiben. Oh, wie köstlich es doch ist! Es lohnt, die Heimat auf ein Jahr zu verlassen, nur um diesen einen Zug zu genießen.

Major Dobbin erschien am nächsten Morgen wie immer nett rasiert und gekleidet. Es war noch so früh, daß niemand im Hause wach war, mit Ausnahme eines dieser wunderbaren Hausknechte, die anscheinend nie Schlaf brauchen. Als sich der Major auf knarrenden Dielen durch die dunklen Korridore stahl, konnte er hören, wie das Schnarchen der verschiedenen Gäste durch die Gänge hallte. Dann schlich der schlaflose Hausknecht von Tür zu Tür und sammelte die Stiefelpaare ein, die davorstanden. Kurz darauf erhob sich Josephs Eingeborenendiener und begann, die umständliche Toilette seines Herrn vorzubereiten und ihm die Wasserpfeife zu stopfen. Nun standen die weiblichen Dienstboten auf, und als sie den dunkelhäutigen Mann erblickten, kreischten sie und hielten ihn für den Teufel. Er und Dobbin stolperten in den Gängen über die Wassereimer, mit denen die Mädchen die Dielen scheuerten. Als der erste unrasierte Kellner erschien und die Tür des Gasthauses öffnete, hielt der Major die Zeit zur Abreise für gekommen und ließ sofort eine Extrapostkutsche bestellen, damit sie abfahren könnten.

Hierauf richtete er seine Schritte zu Mr. Sedleys Zimmer und zog die Vorhänge des großen Familienbettes zurück, in dem Mr. Joseph schnarchte.

»Stehen Sie auf, Sedley«, rief der Major, »es ist Zeit aufzubrechen. [334] Die Postkutsche wird in einer halben Stunde vor der Tür stehen.«

Unter dem Deckbett hervor fragte ihn Joseph knurrend, wie spät es denn sei. Als er aber schließlich von dem errötenden Major die Zeit erfuhr – Dobbin konnte nie eine Unwahrheit aussprechen, mochte sie auch noch so sehr zu seinem Vorteil gereichen –, brach er in eine Schimpfkanonade aus, die wir hier nicht wiederholen wollen. Jedenfalls gab er Dobbin zu verstehen, daß er seine Seele in Gefahr brächte, würde er in diesem Augenblick aufstehen, daß der Major zum Henker gehen sollte, daß er nicht mit Dobbin reisen wolle und daß es sehr unfreundlich und unhöflich sei, einen Menschen so im Schlaf zu stören. Darauf mußte sich der besiegte Major zurückziehen und Joseph seinen unterbrochenen Schlummer fortsetzen lassen.

Die Postkutsche kam bald darauf, und der Major wollte nicht länger warten.

Wäre er ein englischer adliger Vergnügungsreisender gewesen oder ein Zeitungskurier mit Depeschen (die Regierungsbotschaften werden gewöhnlich viel langsamer befördert), so hätte er nicht schneller reisen können. Die Postillione wunderten sich über die Trinkgelder, die er unter ihnen verteilte. Wie glücklich und frisch das Land aussah, als die Postkutsche von einem Meilenstein zum anderen dahineilte, durch nette Landstädte, wo die Wirte auf die Straße herausgetreten waren und lächelnd und mit Verbeugungen grüßten, vorbei an hübschen Gasthäusern am Wege, wo die Schilder an den Ulmen hingen und Pferde und Fuhrleute im gesprenkelten Schatten der Bäume tranken, vorbei an alten Schlössern und Parks, ländlichen Weilern, die sich um alte graue Kirchen scharten, durch die bezaubernde freundliche Landschaft Englands. Gibt es etwas auf der Welt, was dem gleichkommt? Für den aus der Fremde Heimkehrenden ein schönes Bild – ihm scheint im Vorbeifahren, alles wolle ihm die Hand schütteln. Nun ja, Major Dobbin reiste von Southampton nach London [335] daran vorüber und bemerkte außer den Meilensteinen am Wege kaum etwas. Er hatte es ja so eilig, seine Eltern in Camberwell wiederzusehen.

Die Zeit, die er verlor, als er von Piccadilly getreulich wieder zu seiner alten Herberge in Slaughters Kaffeehaus fuhr, tat ihm schon leid. Zehn Jahre waren vergangen, seit er zum letztenmal hiergewesen war, seit er und George als junge Männer hier manches Festmahl und manches Trinkgelage gehalten hatten. Er gehörte jetzt zu den Alten. Sein Haar war ergraut und mit ihm viele Leidenschaften und Gefühle seiner Jugend. An der Tür jedoch stand der alte Kellner in demselben fettigen schwarzen Anzug, mit demselben Doppelkinn und schlaffen Gesicht, mit demselben riesigen Bündel von Petschaften an der Uhrkette. Er klimperte wie früher mit dem Geld in der Tasche und empfing den Major, als ob er erst vor einer Woche weggegangen wäre. »Bring die Sachen des Majors auf Nummer dreiundzwanzig, das ist sein Zimmer«, sagte John ohne das geringste Zeichen von Überraschung. »Gebratenes Huhn zum Diner, nehme ich an. Sie sind nicht verheiratet? Es hieß, Sie hätten geheiratet – der schottische Arzt von Ihrem Regiment war hier. Nein, es war Hauptmann Humby vom Dreiunddreißigsten, das in Indien mit dem ...ten im Quartier lag. Wollen Sie warmes Wasser? Warum kommen Sie mit der Extrapost? Genügt die Postkutsche nicht?« Mit diesen Worten ging der treue Kellner, der sich an jeden Offizier, der das Haus besuchte, erinnerte und dem zehn Jahre wie ein Tag waren, Dobbin voran in dessen altes Zimmer, wo noch das breite Moreenbett war und der abgenutzte Teppich noch eine Spur schmutziger und die alten schwarzen, mit verschossenem Kattun bezogenen Möbel, gerade wie sie der Major noch von der Jugend her in Erinnerung hatte.

Er dachte an George, wie er am Tage vor seiner Hochzeit nägelkauend im Zimmer auf und ab gegangen war und geschworen hatte, daß der Alte weich werden müsse, wenn er es [336] aber nicht tue, dann schere er sich keinen Pfifferling darum. Er hörte ihn noch Dobbins Tür und seine eigene nebenan zuknallen.

»Sie sind nicht jünger geworden«, sagte John und betrachtete den Freund aus früheren Zeiten ruhig.

Dobbin lachte. »Zehn Jahre und das Fieber machen den Menschen nicht jünger, John«, sagte er; »Sie bleiben immer jung – nein, Sie bleiben immer alt.«

»Was ist aus Hauptmann Osbornes Witwe geworden?« fragte John. »Feiner junger Kerl war es. Gott, wie er das Geld zum Fenster hinauswarf. Seit dem Tag, an dem er von hier aus zur Trauung ging, ist er nicht wieder hiergewesen. Er schuldet mir noch drei Pfund. Sehen Sie hier, ich habe es in meinem Buch: ›10. April 1815, Hauptmann Osborne – drei Pfund.‹ Ich möchte wissen, ob sein Vater mir das mal bezahlen würde.« Mit diesen Worten zog John das alte Saffiannotizbuch hervor, in das er auf ein noch vorhandenes, fettiges, verblichenes Blatt die Schulden des Hauptmanns neben vielen anderen Geldforderungen an ehemalige Besucher des Hauses gekritzelt hatte.

Nachdem John seinen Gast auf sein Zimmer gebracht hatte, zog er sich mit der größten Ruhe zurück. Major Dobbin kramte aus seinem Gepäck, nicht ohne über sein unvernünftiges Handeln zu erröten und zu lächeln, den schönsten und kleidsamsten Zivilanzug hervor, den er besaß. Er mußte über sein gebräuntes Gesicht und sein graues Haar lachen, als er sich in dem trüben kleinen Spiegel über dem Toilettentisch betrachtete.

Ich freue mich, daß mich der alte John nicht vergessen hat, dachte er. Hoffentlich erkennt sie mich auch, und er trat aus dem Gasthaus und lenkte seine Schritte wieder in Richtung Brompton.

Jeder kleinste Umstand seines letzten Zusammenseins mit Amelia stand dem treuen Menschen wieder vor Augen, als er ihrem Hause zuging. Der Triumphbogen und die Achillesstatue [337] waren errichtet worden, seit er Piccadilly zum letztenmal gesehen hatte. Hunderterlei hatte sich verändert, aber er nahm es mit Auge und Geist kaum auf. Er zitterte, als er die Bromptoner Gasse durchschritt, die wohlbekannte Gasse, die zu der Straße führte, wo sie wohnte. Ob sie denn nun heiraten wollte oder nicht? Wenn er ihr und dem kleinen Knaben begegnete – guter Gott! Was sollte er dann tun? Er sah eine Frau mit einem fünfjährigen Kind auf sich zukommen. War sie es? Schon bei dem bloßen Gedanken daran bebte er. Als er endlich die Häuserreihe, in der sie wohnte, und ihre Tür erreichte, griff er zur Klinke und blieb stehen. Er hätte hören können, wie sein Herz klopfte.

Möge sie der Allmächtige segnen, was auch immer geschehen ist, dachte er bei sich. »Pah, sie wohnt vielleicht gar nicht mehr hier«, sagte er und schritt durch das Tor.

Das Fenster des Zimmers, das sie sonst bewohnt hatte, stand offen, und es war niemand darin zu sehen. Der Major glaubte das Klavier mit dem Porträt darüber zu erkennen wie in früheren Zeiten, und seine Unruhe kam wieder. Mr. Clapps Messingschild war noch an der Tür. Dobbin klopfte.

Ein dralles Mädchen von sechzehn mit klaren Augen und roten Wangen kam auf das Klopfen herbei und betrachtete den Major, der sich an die Wand des Häuschens lehnte, aufmerksam. Er war bleich wie ein Gespenst und vermochte kaum hervorzustammeln:

»Wohnt Mrs. Osborne hier?«

Sie blickte ihn einen Augenblick scharf an, wurde ebenfalls blaß und antwortete:

»Gott behüte mich – das ist ja Major Dobbin.« Sie hielt ihm zitternd beide Hände hin. »Kennen Sie mich nicht mehr?« fragte sie. »Ich habe Sie immer Major Zuckererbse genannt.« Hierauf (und ich glaube, es war das erstemal in seinem Leben, daß er sich so benahm) schloß der Major das Mädchen in die Arme und küßte es. Sie weinte und lachte vor Aufregung durcheinander. Mit dem lauten Ruf »Mama! Papa!« brachte [338] sie die braven Leute herbei, die den Major bereits vom Küchenfenster aus beobachtet hatten und erstaunt waren, ihre Tochter in dem kleinen Gang in den Armen eines großen schlanken Mannes mit blauem Rock und weißen Leinenhosen zu erblicken.

»Ich bin ein alter Freund«, sagte er, nicht ohne zu erröten. »Erinnern Sie sich nicht mehr an mich, Mrs. Clapp, und an den guten Kuchen, den Sie immer zum Tee gemacht haben? Kennen Sie mich nicht wieder, Clapp? Ich bin Georges Patenonkel und komme gerade aus Indien.« Nun gab es ein allgemeines Händeschütteln. Mrs. Clapp war sehr gerührt und entzückt und rief den Himmel wohl hundertmal an, einzugreifen.

Die Wirtsleute führten den würdigen Major in Sedleys Zimmer, und er erkannte jedes Möbelstück, angefangen von dem alten Klavier mit den Messingornamenten, einst ein hübsches kleines Instrument, gebaut von Stothard, bis zu dem Ofenschirm und dem Miniaturgrabstein aus Alabaster, in dessen Mitte Mr. Sedleys goldene Uhr tickte. Als er sich dort in dem leeren Armsessel des Mieters niedergelassen hatte, berichteten ihm Vater, Mutter und Tochter, unterbrochen von tausend Ausrufen, das, was wir bereits wissen, was ihm von Amelias Geschichte aber noch unbekannt war, nämlich Mrs. Sedleys Tod und Georges Aussöhnung mit seinem Großvater Osborne. Sie erzählten, wie die Witwe den Abschied von ihm ertrug und vieles mehr aus ihrem Leben. Ein paarmal hatte er schon die Frage nach der Heirat auf den Lippen, aber es gebrach ihm an Mut. Er wollte diesen Leuten sein Herz nicht auftun. Schließlich erfuhr er, daß Mrs. Osborne mit ihrem Vater in die Kensington Gardens gegangen sei, wohin sie an schönen Nachmittagen nach dem Essen den alten Herrn stets führte. Er sei schon sehr schwach und verdrießlich geworden und mache ihr das Leben schwer, obwohl sie zu ihm ganz sicher wie ein Engel sei.

»Meine Zeit ist sehr knapp, und heute abend habe ich wichtige [339] Geschäfte«, sagte der Major. »Ich möchte Mrs. Osborne jedoch gern sprechen. Ob Miss Polly wohl mitkommen und mir den Weg zeigen könnte?«

Miss Polly war von diesem Vorschlag bezaubert und überrascht. Sie kannte den Weg. Sie würde ihn dem Major zeigen. Sie war oft mit Mr. Sedley dorthin gegangen, wenn Mrs. Osborne zum Russell Square geeilt war. Sie kannte auch die Bank, auf der er am liebsten saß. Sie stürzte in ihr Zimmer und kehrte bald zurück, geschmückt mit ihrem besten Hut, dem gelben Schal ihrer Mama und deren großer Achatbrosche. Sie hatte sich die Sachen geliehen, um eine würdige Begleiterin des Majors zu sein.

Dobbin, im blauen Rock mit Lederhandschuhen, reichte der jungen Dame den Arm, und sie marschierten munter davon. Er war froh, daß bei der Begrüßungsszene, vor der er doch irgendwie Angst hatte, eine gute Bekannte anwesend sein würde. Er stellte seiner Begleiterin tausend Fragen über Amelia, und sein gütiges Herz schmerzte, wenn er daran dachte, daß sie sich von ihrem Sohn hatte trennen müssen. Wie ertrug sie es? Sah sie ihn oft? Ging es Mr. Sedley in bezug auf weltliche Güter besser?

Polly beantwortete alle Fragen des Majors Zuckererbse, so gut sie konnte.

Etwas geschah während des Spazierganges, was, von Natur aus unbedeutend, bei dem Major doch große Freude auslöste. Ein bleicher junger Mann mit spärlichem Bartwuchs und steifer weißer Krawatte kam wie ein belegtes Brot, das heißt zwischen zwei Damen, die Straße herab. Die eine war eine große, gebieterisch aussehende Dame von mittlerem Alter, und ihre Züge und Gesichtsfarbe ähnelte denen des Geistlichen der Kirche Englands an ihrer Seite. Die andere dagegen war eine verkümmerte kleine Frau mit braunem Gesicht, geschmückt mit einem schönen neuen weißbebänderten Hut, einem eleganten Umhang und einer kostbaren goldenen Uhr. Wie sehr die Damen den Herrn auch behinderten, so [340] trug er außerdem doch noch einen Sonnenschirm, einen Schal und einen Korb, so daß er nicht den Hut berühren konnte, um Miss Mary Clapps Knicks zu erwidern.

Er antwortete also mit einem milden Kopfnicken, während die beiden Damen mit Gönnermiene zurückgrüßten und gleichzeitig dem Menschen im blauen Rock mit dem Bambusstock, der Miss Polly begleitete, gestrenge Blicke zuwarfen.

»Wer ist das?« fragte der Major belustigt, nachdem er beiseite getreten war, um die drei an sich vorübergehen zu lassen. Mary blickte ihn spitzbübisch an.

»Das ist unser Pfarrer, Ehrwürden Mr. Binny« (Major Dobbin zuckte zusammen) »und seine Schwester Miss B. Gott behüte, wie hat sie uns doch in der Sonntagsschule geplagt. Und die andere Dame, die kleine Schielende mit der schönen Uhr, ist Mrs. Binny, eine geborene Miss Grits. Ihr Papa war Kaufmann und hatte das ›Goldene Teekännchen‹ in der Kensingtoner Sandgrube. Sie haben vor einem Monat geheiratet und sind eben von Margate zurückgekehrt. Sie hat fünftausend Pfund Mitgift; aber sie und Miss Binny, die die Heirat vermittelt hat, haben sich schon gezankt.«

Wenn der Major schon früher zusammengezuckt war, so fuhr er jetzt derart zusammen und stieß den Bambusstock so kräftig auf den Boden, daß Miss Clapp lachend »Großer Gott!« schrie. Er blieb stehen und blickte einen Augenblick mit offenem Mund dem sich entfernenden jungen Paar nach, während Miss Mary ihre Geschichte erzählte. Außer der Nachricht von der Heirat des ehrwürdigen Herrn vernahm er jedoch nichts, denn es schwindelte ihm vor Glückseligkeit. Nach dieser Begegnung lief er im Eiltempo auf sein Ziel zu, und doch ging es ihm wieder zu schnell, denn er hatte Angst vor der Begegnung, die er seit zehn Jahren ersehnt hatte. Sehr bald hatten sie die Bromptoner Straßen hinter sich gelassen und traten durch das kleine alte Portal in der Mauer, die die Kensington Gardens umgab.

»Dort sind sie«, sagte Miss Polly und fühlte erneut, wie er [341] an ihrem Arm zusammenfuhr. Sie war sofort über die ganze Angelegenheit im Bilde und kannte die Geschichte so gut, als hätte sie sie in einem ihrer Lieblingsromane gelesen – in »Fanny die Waise« oder in »Schottische Häuptlinge«.

»Ob Sie nicht hingehen und es ihr sagen?« fragte der Major. Polly stürzte los, daß ihr gelber Schal im Wind flatterte.

Der alte Sedley saß auf einer Bank, hatte sein Taschentuch über die Knie gebreitet und brabbelte wie üblich irgendeine alte Geschichte aus alter Zeit, der Amelia schon manches Mal geduldig lächelnd gelauscht hatte. Seit einiger Zeit konnte sie an ihre eigenen Angelegenheiten denken und dabei lächeln oder anderswie ihre Aufmerksamkeit für die Geschichten ihres Vaters bekunden, ohne ein Wort davon aufzunehmen. Beim Anblick der herbeispringenden Mary fuhr Amelia von der Bank hoch. Ihr erster Gedanke war, daß Georgy etwas zugestoßen sei, aber das eifrige und glückliche Gesicht der Botin verbannte die Furcht aus dem Herzen der ängstlichen Mutter.

»Neuigkeiten! Gute Nachrichten!« rief die Abgesandte. »Er ist da, er ist da!«

»Wer ist da?« fragte Emmy, die immer noch an ihren Sohn dachte.

»Sehen Sie dorthin«, erwiderte Miss Clapp, drehte sich um und deutete in eine bestimmte Richtung, aus der Amelia Dobbins magere Gestalt und seinen langen Schatten über das Gras heranstolzieren sah. Nun fuhr Amelia zusammen, errötete und begann natürlich zu weinen. Bei allen Festen dieses einfältigen Geschöpfchens spielten stets die Wasserkünste.

Er sah sie an – o wie zärtlich! –, als sie ihm mit ausgestreckten Händen entgegenlief. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war nur etwa blasser geworden, und ihre Gestalt war voller. Ihre Augen waren dieselben, die gütigen treuen Augen. In ihrem weichen, braunen Haar zeigten sich ein paar silberne Fäden. Sie gab ihm beide Hände und blickte errötend und unter Tränen lächelnd in sein ehrliches, schlichtes Gesicht. Er [342] nahm die beiden kleinen Hände zwischen die seinigen und hielt sie fest. Einen Augenblick lang konnte er nicht sprechen. Warum schloß er sie nicht in die Arme und schwor, sie nicht verlassen zu wollen. Sie hätte nachgeben, ihm gehorchen müssen.

»Ich – ich habe noch jemanden anzukündigen«, sagte er nach einer Pause.

»Mrs. Dobbin?« fragte Amelia und wich zurück. Warum sprach er nicht?

»Nein«, sagte er und ließ ihre Hand los. »Wer hat Ihnen denn den Bären aufgebunden? Ich meine Ihren Bruder Joseph, der im selben Schiff ankam wie ich und Sie alle glücklich machen will.«

»Papa, Papa!« rief Emmy. »Es gibt gute Nachrichten! Mein Bruder ist in England, er ist gekommen, um für dich zu sorgen. Hier ist Major Dobbin.«

Mr. Sedley fuhr heftig zitternd hoch und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Dann trat er vor und machte dem Major eine altmodische Verbeugung, nannte ihn Mr. Dobbin und sprach die Hoffnung aus, seinem würdigen Vater, Sir William, gehe es gut. Er beabsichtigte, Sir William seine Aufwartung zu machen, denn dieser habe ihm vor kurzer Zeit die Ehre eines Besuches erwiesen. Sir William war zum letztenmal vor acht Jahren bei dem alten Herrn gewesen – das war der Besuch, den er erwidern wollte.

»Seine Gesundheit ist sehr erschüttert«, flüsterte Amelia, als Dobbin herantrat und dem alten Herrn herzlich die Hand schüttelte.

Obwohl der Major am Abend so dringende Geschäfte in London zu erledigen hatte, war er doch bereit, sie zu verschieben, als ihn Mr. Sedley nach Hause zu einer Tasse Tee einlud. Amelia nahm den Arm ihrer jungen Freundin mit dem gelben Schal und ging auf dem Heimweg voran, so daß Dobbin Mr. Sedley zufiel. Der alte Mann ging sehr langsam und erzählte eine Menge alter Geschichten über sich und seine [343] arme Bessy, über seinen früheren Reichtum und seinen Bankrott. Seine Gedanken waren, wie stets bei Greisen, in die Vergangenheit gerichtet; von der Gegenwart wußte er mit Ausnahme des eigenen Unglücks wenig. Der Major ließ ihn gern schwatzen. Seine Augen waren auf die Gestalt vor ihm gerichtet – die liebe kleine Gestalt, die in seiner Phantasie und in seinen Gebeten stets zugegen war und seine Träume im Wachen und im Schlafen besucht hatte.

Amelia war den ganzen Abend über sehr lebhaft und strahlte vor Glück. Mit Anmut und Würde, wie es Dobbin schien, übte sie ihre Pflichten als Gastgeberin aus. Seine Augen folgten ihr überallhin, während sie in der Dämmerung saßen. Wie oft hatte er sich nach diesem Augenblick gesehnt und in der Ferne unter heißen Winden und auf beschwerlichen Märschen an sie gedacht – sie so vor sich gesehen wie jetzt: sanft und glücklich, gütig für die Bedürfnisse des Alters sorgend und die Armut mit süßer Ergebenheit schmückend. Ich will nicht etwa sagen, daß sein Geschmack erlesen war oder daß es die Pflicht eines großen Geistes wäre, sich mit einem Butterbrotparadies zu begnügen, wie es unser einfacher alter Freund tat. Ob gut oder schlecht – seine Wünsche gingen nun einmal in diese Richtung, und wenn ihm Amelia einschenkte, dann war er bereit, ebensoviel Tassen Tee zu trinken wie Doktor Johnson.

Amelia bemerkte diesen Hang und unterstützte ihn lachend. Sie sah ungemein spitzbübisch aus, als sie ihm eine Tasse nach der anderen reichte. Allerdings wußte sie nicht, daß der Major noch nichts gegessen hatte und daß bei Slaughters schon der Tisch für ihn gedeckt war und ein Teller andeutete, daß er besetzt sei – in derselben Nische, in der der Major und George so manches Mal gezecht hatten, als Amelia noch ein Kind war und soeben erst von Miss Pinkertons Schule zurückgekehrt war.

Das erste, was Mrs. Osborne dem Major zeigte, war Georgys Miniaturbild, das sie sofort nach ihrer Heimkehr herunterholte. [344] Es war natürlich nicht halb so hübsch, wie der Junge in Wirklichkeit aussah; war es aber nicht schön von ihm, daß er daran gedacht hatte, es seiner Mutter zu bringen? Solange ihr Vater wach war, sprach sie nicht viel von Georgy; der alte Mann hörte es nicht gern, wenn man von Mr. Osborne und dem Russell Square sprach; höchstwahrscheinlich wußte er nicht, daß er in den letzten Monaten hauptsächlich von der Gnade seines reichen Rivalen gelebt hatte, und geriet in Wut, wenn der andere nur erwähnt wurde.

Dobbin erzählte ihm alles, was sich an Bord der »Ramchunder« zugetragen hatte und vielleicht noch etwas mehr. Er übertrieb Josephs Wohlwollen gegen seinen Vater und seine Entschlossenheit, ihm seine alten Tage zu verschönen. In Wirklichkeit hatte der Major während der Reise seinem Mitpassagier diese Pflicht aufs strengste eingeschärft und ihm das Versprechen abgenommen, daß er sich um seine Schwester und das Kind kümmern wolle. Er beruhigte Josephs Zorn wegen der Wechsel, die der alte Herr auf ihn gezogen hatte, und berichtete ihm lachend, was er selbst in dieser Hinsicht erdulden mußte und wie ihn der Alte mit dieser berühmten Weinsendung beglückt hatte. Er brachte Mr. Joseph, der ein ganz gutmütiger Mensch war, wenn man ihn zufriedenstellte und ihm ein wenig schmeichelte, dazu, daß er gegen seine Verwandten in Europa freundliche Gefühle hegte.

Aber schließlich muß ich leider gestehen, daß der Major die Wahrheit so weit entstellte, dem alten Mr. Sedley zu erzählen, nur der Wunsch, seinen Vater wiederzusehen, habe Joseph nach Europa getrieben.

Zur gewohnten Stunde nickte Mr. Sedley auf seinem Stuhl ein, und jetzt hatte Amelia Gelegenheit, die Unterhaltung zu führen. Sie sprach eifrig, aber ausschließlich über Georgy. Ihren eigenen Trennungsschmerz erwähnte sie mit keinem Wort, denn obwohl der Abschied sie beinahe ins Grab gebracht hatte, so glaubte die gute Frau doch, es sei sehr schlecht von ihr, sich über den Verlust so zu grämen. Aber alles, was [345] ihn betraf, seine Tugenden, Talente und Aussichten, schüttete sie vor ihrem Zuhörer aus. Sie beschrieb seine engelhafte Schönheit und gab hundert Beispiele von seiner Großmut und Tüchtigkeit aus der Zeit, als er noch bei ihr gewohnt hatte. Sie erzählte, daß eine Herzogin in den Kensington Gardens angehalten und ihn bewundert habe, daß jetzt ganz ausgezeichnet für ihn gesorgt werde, daß er einen Reitknecht und ein Pony habe, wie schnell er alles auffasse und wie klug er sei und was für ein außerordentlich belesener und reizender Mensch Ehrwürden Lawrence Veal, Georges Lehrer, sei. »Er weiß aber auch alles«, sagte Amelia. »Er gibt die schönsten Gesellschaften. Sie, der Sie selbst so gelehrt sind und so viel gelesen haben und so klug sind und so vieles können – schütteln Sie nicht den Kopf und leugnen es! Er meinte das immer, wenn er von Ihnen sprach –, Sie werden von Mr. Veals Gesellschaften bezaubert sein. Jeden letzten Dienstag im Monat. Er sagte, es gebe keine Stelle im Gericht oder im Senat, die Georgy nicht einst einnehmen könnte. Sehen Sie mal«, damit zog sie den Schubkasten im Klavier auf und holte einen Aufsatz von Georgy hervor. Dieses großartige Produkt geistiger Anstrengung, das immer noch im Besitz von Georges Mutter ist, lautete wie folgt:


Über die Selbstsucht


Von allen Lastern, die den menschlichen Charakter erniedrigen, ist die Selbstsucht am abscheulichsten und unwürdigsten. Übermäßige Liebe zu sich selbst führt zu den gräßlichsten Verbrechen und bewirkt das größte Unglück, sowohl im Staat als auch in der Familie. Wie ein selbstsüchtiger Mann seine Familie in Armut und oftmals ins Verderben stürzt, so bringt ein selbstsüchtiger König auch das Verderben für sein Volk und stürzt es oft in den Krieg.

Beispiel: Die Selbstsucht des Achilles, wie sie der Dichter Homer beschreibt, brachte tausendfaches Leid über die Griechen μυρί᾽ ᾽Αχαιοις ἂλγε εϑηκε 1 (Homer, Ilias I, 2). Die Selbstsucht [346] Napoleon Bonapartes verursachte unzählige Kriege in Europa und brachte ihn selbst zum schmählichen Untergang auf einer elenden Insel – der Insel Sankt Helena im Atlantischen Ozean.

Wir sehen aus diesen Beispielen, daß wir nicht nur unsere eigenen Interessen und unseren Ehrgeiz berücksichtigen dürfen, sondern daß wir auch die Interessen anderer berücksichtigen müssen.

George S. Osborne

Athene-Haus, den 24. April 1827


»Stellen Sie sich vor, er hat in dem Alter schon eine so gute Handschrift und zitiert sogar schon Griechisch«, sagte die entzückte Mutter. »Oh, William«, fügte sie hinzu und streckte dem Major die Hand hin, »was der Himmel mir doch für einen Schatz in diesem Knaben gegeben hat! Er ist der Trost meines Lebens – und er ist das Bild des – des Toten!«

Sollte ich ihr zürnen, weil sie ihm treu ist? dachte William. Sollte ich auf meinen Freund im Grabe eifersüchtig sein? Oder sollte ich verletzt sein, weil ein Herz wie das Amelias in Ewigkeit nur einmal lieben kann? Oh, George, George, wie wenig kanntest du doch den Schatz, den du besessen hast. Diese Gedanken schossen William durch den Sinn, als er Amelias Hand hielt, während sie die Augen mit dem Taschentuch bedeckte.

»Lieber Freund«, sagte sie und drückte die Hand, in der ihre lag. »Wie gut, wie freundlich sind Sie immer gegen mich gewesen! Sehen Sie, Papa regt sich. Sie besuchen Georgy morgen, nicht wahr?«

»Morgen nicht«, sagte der arme alte Dobbin. »Ich habe Geschäfte zu erledigen.« Er wollte nicht gern zugeben, daß er noch nicht einmal bei seinen Eltern und seiner teuren Schwester Ann gewesen war – eine Nachlässigkeit, derentwegen wahrscheinlich jeder guterzogene Mensch den Major tadeln wird. Bald darauf nahm er Abschied und hinterließ für Joseph seine Adresse für den Fall, daß dieser bald ankommen[347] würde. So war der erste Tag vorüber, und er hatte sie gesehen.

Als er zu Slaughters zurückkam, war das Brathuhn natürlich kalt geworden, aber er aß es auch so zum Abendbrot. Da er wußte, wie zeitig seine Familie zu Bett ging und daß es unnütz wäre, sie zu so später Stunde aus dem Schlaf zu holen, so erzählt man, daß Major Dobbin an jenem Abend den letzten Teil der Vorstellung im Haymarket Theater zum halben Preis besuchte, wo er sich hoffentlich gut unterhalten hat.

Fußnoten

1 (griech.) »der entbrannt den Achäern unnennbaren Jammer erregte«.

59. Kapitel
Das alte Klavier

Der Besuch von Major Dobbin versetzte den alten John Sedley in heftige Aufregung. Seine Tochter konnte ihn an jenem Abend nicht dazu veranlassen, sich seinen gewöhnlichen Beschäftigungen und Unterhaltungen zuzuwenden. Er verbrachte die Stunden, indem er in seinen Schubkästen und Schreibpulten kramte, mit zitternder Hand Papierbündel aufknotete und alles sortierte und für Josephs Ankunft zurechtlegte. Sie waren in bester Ordnung – seine Schnüre und Papiere, die Quittungen, der Briefwechsel mit Rechtsanwälten und Geschäftsfreunden, die Dokumente über das Weinprojekt (das durch einen unvorhergesehenen Zufall fehlschlug, nachdem es mit glänzenden Aussichten begonnen hatte), das Kohlenprojekt (das nur aus Kapitalmangel nicht zum erfolgreichsten Plan wurde, den man je der Öffentlichkeit vorgelegt hatte), das Patentsägemühlen- und -sägemehlverdichtungsprojekt und so weiter und so fort.

Bis in die Nacht hinein beschäftigte er sich mit dem Ordnen dieser Papiere und wankte mit einer zitternden Kerze in der bebenden Hand von einem Zimmer zum anderen.

»Hier sind die Weinpapiere, hier das Sägemehl, hier die [348] Kohlen, hier meine Briefe nach Kalkutta und Madras und die Antworten darauf von Major Dobbin, Träger des Bathordens, und Mr. Joseph Sedley. Er soll bei mir keine Unregelmäßigkeiten finden, Emmy«, sagte der alte Herr.

Emmy lächelte. »Ich glaube nicht, daß es Joseph interessiert, deine Papiere zu sehen«, sagte sie.

»Du verstehst eben nichts von Geschäften, meine Liebe«, erwiderte der Alte und schüttelte wichtig den Kopf. Allerdings war Emmy auf diesem Gebiet wirklich sehr unwissend, aber es ist ein Jammer, daß manche so beschlagen sind. Nachdem der alte Sedley alle diese unbedeutenden Dokumente auf einem Seitentisch ausgebreitet hatte, bedeckte er sie sorgfältig mit einem sauberen bunten Taschentuch (einem Geschenk Major Dobbins) und schärfte dem Dienstmädchen und der Hauswirtin feierlich ein, die Papiere nicht durcheinanderzubringen, die für die Ankunft Mr. Joseph Sedleys am nächsten Morgen bereitgelegt waren, »Mr. Joseph Sedleys vom Zivildienst Bengalen der Ostindischen Kompanie«.

Amelia fand ihn am nächsten Morgen zeitig auf, eifriger, hektischer und zittriger als je. »Ich habe nicht viel geschlafen, liebe Emmy«, sagte er. »Ich dachte an meine arme Bessy. Ich wünschte, sie lebte noch, damit sie noch einmal in Josephs Wagen hätte fahren können. Sie hatte ja einen eigenen und nahm sich sehr gut darin aus.« Tränen stiegen ihm in die Augen und liefen über sein runzliges altes Gesicht. Emmy wischte sie ab und küßte ihn lächelnd. Dann schlang sie das Halstuch des Alten zu einem eleganten Knoten und steckte ihm eine Brosche in seine beste Hemdkrause. In seinem schwarzen Sonntagsanzug saß er nun von sechs Uhr morgens und erwartete die Ankunft seines Sohnes.

In der Hauptstraße von Southampton gibt es einige glänzende Schneidergeschäfte. In den schönen Glasschaufenstern hängen prächtige Westen aller Art aus Samt und Seide, rot und goldfarben, daneben Bilder von der neuesten Mode, auf denen wundervolle Herren mit Monokel kleine Knaben mit [349] ungeheuer großen Augen und lockigem Haar an der Hand halten und Damen zärtliche Blicke zuwerfen, die im Reitkostüm an der Achillesstatue beim Apsley-Haus vorbeigaloppieren.

Obwohl Joseph schon eine ganze Anzahl der glänzendsten Westen besaß, die in Kalkutta aufzutreiben waren, so meinte er doch, erst in London erscheinen zu können, wenn er sich mit einigen dieser Kleidungsstücke versehen hätte, und er wählte eine hochrote Atlasweste, mit goldenen Schmetterlingen bestickt, und eine schwarzrotkarierte aus Samt mit weißen Streifen und Rollkragen. Damit, mit einer prächtigen, blauen Atlashalsbinde und einer goldenen Anstecknadel, auf der ein rosa Emaillereiter über ein Gittertor mit fünf Querbalken sprang, glaubte er, würdig genug seinen Einzug in London halten zu können. Josephs frühere Schüchternheit und täppische, errötende Furchtsamkeit waren einer offenen und mutigen Erkenntnis seines eigenen Wertes gewichen. »Ich scheue mich nicht, zuzugeben«, pflegte Waterloo-Sedley zu seinen Freunden zu sagen, »daß ich ein geschniegelter Mann bin.« Wenn er sich unter den Blicken der Damen im Gouverneurspalast immer noch unbehaglich fühlte und vor ihren strahlenden Augen errötete, sich erschreckt abwandte und sie mied, so geschah das doch hauptsächlich aus Furcht, sie könnten sich in ihn verlieben, denn einer Heirat war er gänzlich abgeneigt. Ich habe gehört, daß es in ganz Kalkutta keinen größeren Stutzer als Waterloo-Sedley gab. Er hatte die schönste Equipage, gab die besten Junggesellenessen und besaß das feinste Silber am Platze.

Die Anfertigung dieser Westen für einen Mann von seiner Größe und Würde erforderte mindestens einen Tag. Ein paar Stunden davon verbrachte er damit, für sich und seinen Eingeborenen einen Diener zu suchen und seinen Beauftragten zu instruieren, der sich um sein Gepäck, seine Koffer, seine Bücher, die er nie las, seine Kisten mit Mangofrüchten, Chutney und Curry, seine Schals, die er Leuten schenken wollte,[350] deren Bekanntschaft er noch nicht gemacht hatte, und seinen übrigen Persicos apparatus 1 kümmern sollte.

Endlich, am dritten Tage, fuhr er in der neuen Weste gemächlich nach London. Der Eingeborene saß frierend und zähneklappernd, in einen Schal gehüllt, auf dem Bock neben dem neuen europäischen Diener; Joseph schmauchte hin und wieder im Wageninnern seine Pfeife und wirkte so majestätisch, daß kleine Jungen hurra schrien und viele Leute dachten, er müsse wenigstens Generalgouverneur sein. Er lehnte die demütigen Aufforderungen der Wirte, abzusteigen und sich in den netten Landstädtchen zu erfrischen, ganz gewiß nicht ab. Nachdem er in Southampton ein reichliches Frühstück von Fischen, Reis und harten Eiern genossen hatte, hatte er sich in Winchester bereits wieder so weit erholt, daß er ein Glas Sherry für notwendig hielt. In Alton stieg er auf Bitten seines Bedienten aus und trank ein wenig von dem Ale, das den Ort berühmt gemacht hat. In Farnham hielt er an, um den Bischofspalast zu besichtigen und ein leichtes Diner, bestehend aus gedämpftem Aal, Kalbskoteletts und grünen Bohnen nebst einer Flasche Rotwein, zu sich zu nehmen. Als er über die Bagshot-Heide fuhr, wurde es ihm kalt, und auch der Eingeborene klapperte immer heftiger mit den Zähnen. Also trank Joseph Sahib einen Branntwein, und als er nach London kam, war er so voll Wein, Bier, Fleisch, Eingemachtem, Sherry und Tabak wie die Kajüte des Stewards auf einem Dampfer. Es war Abend, als sein Wagen donnernd an der kleinen Tür in Brompton vorfuhr. Hierher war der liebevolle Mensch nämlich zuerst gefahren, ehe er in das Quartier eilte, das Mr. Dobbin ihm bei Slaughter bestellt hatte.

In allen Fenstern der Straße sah man neugierige Gesichter; das kleine Dienstmädchen flog an die Gartentür, die Damen Clapp blickten aus dem Küchenfenster, Emmy stand aufgeregt im Hausflur inmitten von Hüten und Mänteln, und der alte Sedley im Wohnzimmer zitterte an allen Gliedern. Joseph stieg die krachenden, schwankenden Stufen der Postkutsche [351] in einem entsetzlichen Zustand herab. Er wurde von dem neuen Kammerdiener aus Southampton und dem zähneklappernden Eingeborenen unterstützt, dessen braunes Gesicht jetzt vor Kälte blaugrau wie ein Truthahnmagen war. Kurz darauf erregte der Eingeborene ungeheures Aufsehen im Hausflur, als Mrs. und Miss Clapp, die höchstwahrscheinlich heraufgekommen waren, um an der Wohnzimmertür zu lauschen, Loll Jewab auf der Bank im Flur unter den Mänteln fanden. Er zitterte vor Kälte, stöhnte in seltsamer, mitleiderregender Weise und zeigte seine gelben Augäpfel und weißen Zähne.

Sehen Sie, nun haben wir geschickt die Tür hinter dem Wiedersehen Josephs mit seinem Vater und dem armen sanften Schwesterchen geschlossen. Der alte Mann war sehr bewegt und seine Tochter natürlich ebenfalls. Aber auch Joseph blieb nicht ungerührt. Während einer Abwesenheit von zehn langen Jahren denkt sogar der Selbstsüchtigste an die Heimat und an alte Bande. Die Entfernung heiligt beide. Langes Nachdenken über diese verlorenen Freuden macht sie reizvoller und teurer. Joseph war ehrlich froh, seinen Vater, zu dem er sonst ein kühles Verhältnis gehabt hatte, wiederzusehen und ihm die Hand zu schütteln; er war auch froh, sein Schwesterchen zu sehen, die er so hübsch und munter im Gedächtnis hatte, und es tat ihm weh, festzustellen, wie Zeit, Kummer und Unglück den alten Mann zerrüttet hatten.

Emmy war ihm in ihren schwarzen Kleidern bis an die Tür entgegengegangen, hatte ihm die Nachricht vom Tode der Mutter zugeflüstert und ihn gebeten, dem Vater gegenüber nichts davon zu erwähnen. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich jedoch als unnötig, da der alte Sedley sofort darüber zu jammern begann und reichlich Tränen vergoß. Der Inder war doch recht ergriffen, und der arme Bursche dachte an diesem Abend weniger an sich als gewöhnlich.

Das Ergebnis der Unterredung muß befriedigend gewesen sein, denn als Joseph wieder in seine Postkutsche geklettert [352] war und zum Hotel fuhr, umarmte Emmy den Vater zärtlich und fragte den Alten triumphierend, ob sie nicht stets gesagt habe, ihr Bruder besitze ein gutes Herz.

Joseph Sedley hatte nämlich, von dem ärmlichen Leben seiner Verwandten gerührt, im überströmenden Gefühl der ersten Zusammenkunft erklärt, daß sie von nun an nie wieder Mangel oder Verdruß leiden sollten, daß er auf jeden Fall einige Zeit in England bleiben werde und solange Haus und Habe mit ihnen teilen werde. Er meinte, Amelia werde sich als Herrin an seiner Tafel sehr hübsch ausnehmen – bis sie einen eigenen Hausstand haben würde.

Sie schüttelte traurig den Kopf und nahm wie gewöhnlich Zuflucht zu den Wasserspielen. Sie wußte, was er meinte. Mit ihrer jungen Vertrauten, Miss Mary, hatte sie die Sache am Abend der Ankunft des Majors ausführlich besprochen. Länger konnte die ungestüme Polly mit der Entdeckung, die sie gemacht hatte, nicht zurückhalten. Sie mußte unbedingt schildern, wie der Major sich verraten hatte, als Mr. Binny und seine junge Frau vorübergingen, und wie er zusammenzuckte und freudig erbebte bei der Gewißheit, keinen Nebenbuhler mehr fürchten zu müssen. »Haben Sie nicht gesehen, wie er an allen Gliedern zitterte, als Sie ihn fragten, ob er verheiratet sei, und er antwortete: ›Wer hat Ihnen denn den Bären aufgebunden?‹ Oh, Madame«, sagte Polly, »er hat keine Sekunde den Blick von Ihnen gewandt, und ich glaube bestimmt, er hat graue Haare bekommen, weil er so viel an Sie gedacht hat.«

Amelia blickte jedoch auf die Porträts ihres Mannes und ihres Sohnes über dem Bett und schärfte ihrem jungen Schützling ein, nie, nie wieder dieses Thema zu berühren. Sie erklärte, Major Dobbin sei ihres Mannes bester Freund gewesen und ihr und George ein gütiger und liebevoller Beschützer; sie liebte ihn wie einen Bruder – aber eine Frau, die mit solch einem Engel verheiratet gewesen sei (dabei deutete sie auf die Wand), könne nie wieder an eine andere Verbindung [353] denken. Die arme Polly seufzte; sie überlegte, was sie wohl tun sollte, wenn der junge Mr. Tomkins aus der Apotheke, der sie in der Kirche immer so anstarrte und mit seinen feurigen Blicken ihr furchtsames Herzchen laut pochen machte – was sie also tun sollte, wenn er sterben müßte. Sie wußte, daß er die Schwindsucht hatte, denn seine Wangen waren so rot, und er hatte eine so ungewöhnlich schlanke Taille.

Es war nicht so, daß Emmy den ehrlichen Major irgendwie zurückstieß oder ihm zürnte, als man sie auf seine Leidenschaft aufmerksam machte. Die Liebe eines so ehrlichen, treuen Mannes konnte nicht das Mißfallen einer Frau erregen. Desdemona war nicht böse auf Cassio 2, obwohl sie die Neigung des Leutnants für sie zweifellos wahrnahm (ich für mein Teil glaube, daß in dieser traurigen Angelegenheit viel mehr geschah, als der gute Mohrenoffizier je erfuhr). Miranda 3 war sogar freundlich gegen Caliban, und ganz sicher aus dem gleichen Grund, und dabei wollte sie ihn nicht etwa ermutigen – das arme häßliche Ungeheuer! – nein, ganz und gar nicht. Und ebenso wollte Emmy auf keinen Fall ihren Anbeter, den Major, ermutigen. Sie wollte ihm nur die freundschaftliche Achtung gewähren, die soviel Vortrefflichkeit und Treue verdienten. Sie wollte ihm herzlich und offen begegnen, bis er sich erklären würde, und dann wäre noch genug Zeit für sie, zu sprechen und unerfüllbaren Hoffnungen ein Ende zu bereiten.

Sie schlief daher an jenem Abend nach der Unterredung mit Miss Polly ruhig und tief und war glücklicher als gewöhnlich, obwohl sich ihr Bruder Joseph nicht hatte sehen lassen.

Ich bin froh, daß er nicht diese Miss O'Dowd heiraten will, dachte sie, Oberst O'Dowd ist nicht zuzutrauen, daß er eine Schwester hat, die zu einem so vortrefflichen Mann wie Major William passen würde. Wer in ihrem kleinen Bekanntenkreis könnte ihm wohl eine gute Frau werden? Nicht Miss Binny, die war zu alt und bösartig; Miss Osborne? Ebenfalls zu alt. [354] Die kleine Polly war zu jung. Mrs. Osborne konnte vor dem Einschlafen keine Passende für den Major finden.

Am nächsten Morgen erschien der Postbote, und ein Brief von Joseph an seine Schwester beendete die bange Erwartung der kleinen Gesellschaft. Er teilte mit, daß er sich von der Reise noch etwas angegriffen fühle und an diesem Tage nicht an Weiterfahrt denken könne. Am nächsten Morgen in aller Frühe werde er jedoch Southampton verlassen und am Abend bei Vater und Mutter sein. Als Amelia ihrem Vater den Brief vorlas, stockte sie bei dem letzten Wort. Ihr Bruder wußte offenbar noch nicht, was sich in der Familie zugetragen hatte – das konnte er auch nicht, denn der Major hatte zwar mit Recht angenommen, daß sein Reisegefährte in dem kurzen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden nicht in Bewegung zu bringen wäre und genug Entschuldigungen für sein Zögern finden werde, trotzdem aber nicht an Joseph geschrieben und ihm das Unglück, das die Familie Sedley betroffen hatte, mitgeteilt, da er noch lange nach der Poststunde mit Amelia in ein Gespräch vertieft gewesen war.

Derselbe Morgen brachte Major Dobbin in Slaughters Kaffeehaus einen Brief von seinem Freund in Southampton, worin Joseph seinen lieben Dobbin bat, die Grobheit zu entschuldigen, mit der er Dobbin tags zuvor begegnet war, als dieser ihn wecken wollte. Er habe entsetzliche Kopfschmerzen gehabt und gerade im ersten Schlummer gelegen. Joseph ersuchte Dobbin, bei Slaughter bequeme Zimmer für Mr. Sedley und seine Diener zu bestellen. Der Major war dem armen Joseph während der Reise unentbehrlich geworden. Er hatte Zuneigung zu ihm gefaßt und klammerte sich an ihn. Die anderen Passagiere waren nach London weitergereist. Der junge Ricketts und der kleine Chaffers fuhren noch am gleichen Tage mit der Postkutsche ab – Ricketts auf dem Bock, wo er Botley die Zügel abgenommen hatte, der Doktor war zu seiner Familie nach Portsea gegangen, Bragg nach London zu seinen Kompagnons, und der Erste Offizier überwachte [355] das Entladen der »Ramchunder«. Mr. Joseph fühlte sich daher in Southampton an diesem Tage sehr einsam und lud den Hotelwirt vom »George« zu einem Glas Wein ein. Zur gleichen Stunde setzte sich Major Dobbin an der Tafel seines Vaters, Sir William, nieder, und seine Schwester hatte bereits herausbekommen (denn der Major brachte es nicht fertig, die Unwahrheit zu sagen), daß er Mrs. Osborne schon besucht hatte.


Joseph fühlte sich sehr wohl in der St. Martin's Lane. Er konnte gemütlich seine Wasserpfeife rauchen, zum Theater stolzieren, wenn es ihn danach gelüstete, und das war so bequem, daß er wahrscheinlich für immer bei Slaughter wohnen geblieben wäre, hätte sein Freund, der Major, ihm nicht zugesetzt. Dieser Herr ließ dem Bengalen nicht eher Ruhe, bis er sein Versprechen, ein Heim für Amelia und seinen Vater zu schaffen, erfüllt hatte. Joseph war in den Händen anderer butterweich und Dobbin in den Angelegenheiten anderer sehr energisch. Der Zivilist war daher für die unschuldigen Ränke des gutmütigen Diplomaten eine leichte Beute und erklärte sich bereit, alles zu tun, zu lassen, zu kaufen, zu mieten oder aufzugeben, was sein Freund für angemessen hielt. Loll Jewab, den die Gassenjungen in der St. Martin's Lane immer grausam neckten, wenn er sein dunkles Gesicht auf der Straße sehen ließ, schickte man mit dem Ostindienfahrer »Lady Kicklebury«, von dem Sir William Dobbin Aktien besaß, nach Kalkutta zurück, nachdem er vorher Josephs Europäer die Kunst der Bereitung von Currys und Pilaus und das Pfeifenstopfen beigebracht hatte. Für Joseph war es eine herrliche Beschäftigung, den Bau einer eleganten Kutsche zu beaufsichtigen, die er und der Major im benachbarten Long Acre bestellt hatten; er mietete ein paar schöne Pferde, mit denen er in vollem Gepränge im Park umherfuhr oder seine Freunde aus Indien besuchte. Bei diesen Ausflügen saß Amelia nicht selten neben ihm, und auch Major Dobbin konnte [356] man auf dem Rücksitz des Wagens erblicken. Andere Male benutzten der alte Sedley und seine Tochter den Wagen, und auch Miss Clapp begleitete ihre Freundin häufig. Wenn sie ihr dann, in den berühmten gelben Schal gehüllt, gegenübersaß, fand sie großes Vergnügen daran, daß das Gesicht des jungen Mannes aus der Apotheke gewöhnlich über den Fenstervorhängen auftauchte und er sie erkannte.

Kurz nachdem Joseph zum erstenmal in Brompton erschienen war, gab es in dem bescheidenen Häuschen, worin die Sedleys die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbracht hatten, eine traurige Szene. Josephs Wagen (der gemietete, nicht der, der gebaut wurde) kam eines Tages und holte den alten Sedley und seine Tochter ab – für immer. Die Tränen der Wirtin und ihrer Tochter bei dieser Gelegenheit waren so kummervoll und echt, wie sie nur je im Laufe dieser Geschichte vergossen wurden. Sie konnten sich nicht entsinnen, daß Amelia während ihrer langen vertrauten Bekanntschaft auch nur ein einziges böses Wort geäußert hätte. Stets war sie gütig und freundlich gewesen, stets dankbar und sanft. Sogar dann, wenn Mrs. Clapp die Geduld verlor und wegen der Mietzahlung drängte. Als das liebe Geschöpf sie für immer verließ, machte sich die Wirtin bittere Vorwürfe, daß sie je ein rauhes Wort gegen sie gebraucht hatte. Sie vergoß heiße Tränen, als sie mit einem Klebstreifen einen Zettel am Fenster befestigte, auf dem zu lesen stand, daß die so lange bewohnten kleinen Zimmer wieder zu vermieten seien. Nie wieder würden sie solche Mieter bekommen, das stand fest. Die Zukunft bewies die Richtigkeit dieser melancholischen Prophezeiung, und Mrs. Clapp rächte sich für die Verschlechterung der Menschheit, indem sie bei ihren Mietern für Teebüchsen und Hammelkeulen ungeheure Kontributionen erhob. Die meisten von ihnen schalten und brummten. Einige bezahlten nicht, keiner blieb. Die Wirtin bedauerte also mit Recht, daß diese alten, alten Freunde sie verließen.

Miss Marys Betrübnis bei der Trennung von Amelia war [357] derart, daß ich nicht versuchen werde, sie zu schildern. Sie war von Kindheit an täglich bei ihr gewesen und hatte eine leidenschaftliche Zuneigung für die liebe, gute Dame gefaßt. Als die stattliche Kutsche kam, um Amelia zu neuen Herrlichkeiten zu entführen, sank sie ohnmächtig in die Arme ihrer Freundin, die fast ebenso gerührt war wie das gutmütige Mädchen selbst. Amelia liebte sie wie eine Tochter. Elf Jahre lang war das Mädchen ihre treue Freundin und Gefährtin gewesen. Die Trennung ging ihr wirklich sehr nahe. Man kam natürlich überein, daß Mary Mrs. Osborne oft in dem großen neuen Haus besuchen sollte, aber Mary war überzeugt, daß sie dort nie so glücklich sein könnte wie in ihrem bescheidenen Hüttchen, wie es Miss Clapp in der Sprache ihrer Lieblingsromane ausdrückte.

Wir wollen hoffen, daß sie damit unrecht hatte. Es hatte für die arme Amelia in dem bescheidenen Hüttchen nur sehr wenige glückliche Tage gegeben. Ein düsteres Schicksal hatte sie dort bedrückt. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, wollte sie nie dorthin zurückkehren, und sie wollte auch die Wirtin nicht wiedersehen, die sie tyrannisiert hatte, wenn sie schlechter Laune war oder Geld haben wollte, und sie mit einer kaum erträglicheren plumpen Vertraulichkeit behandelt hatte, wenn sie guter Laune war. Mrs. Clapps Liebedienerei und die widerlichen Komplimente, die sie Emmy machte, als es ihr wieder besser ging, liebte die junge Frau ebensowenig. Die ehemalige Wirtin brach in Bewunderungsrufe über das neue Haus aus und pries jedes einzelne Möbelstück. Sie befühlte Mrs. Osbornes Kleider und schätzte deren Preis. Sie beteuerte, daß für die süße Dame nichts gut genug sei. Über der gemeinen Schmeichlerin, die ihr jetzt den Hof machte, konnte Emmy jedoch nie die üble Tyrannin vergessen, die sie so manches Mal unglücklich gemacht hatte. Wie oft hatte sie um Aufschub betteln müssen, wenn die Miete fällig war, wie oft hatte die Frau Emmys Verschwendungssucht mißbilligt, wenn sie ein paar Leckerbissen für die kränkelnden [358] Eltern gekauft hatte. Sie hatte Amelia in Armut gekannt und hatte sie mit Füßen getreten.

Niemand hatte jemals von diesen Kümmernissen erfahren, die das Los unserer armen kleinen Frau im Leben waren. Sie hielt sie selbst vor ihrem Vater geheim, dessen Unvorsicht einen großen Teil ihres Elends verschuldet hatte. Sie mußte die Folgen seiner Fehler tragen, und sie war wirklich so ungemein sanft und demütig, daß sie von Natur aus zum Opfer gemacht schien.

Hoffentlich ist die rauhe Behandlung nun vorbei für sie. Aber da in jedem Kummer ein gewisser Trost liegen soll, so möchte ich erwähnen, daß die arme Mary, als sie nach der Trennung von ihrer Freundin in einem hysterischen Zustand zurückblieb, dem jungen Mann aus der Apotheke zur medizinischen Behandlung anvertraut wurde, unter dessen Fürsorge sie sich bald erholte.

Bei ihrem Weggang von Brompton vermachte Amelia Mary alle Einrichtungsgegenstände aus ihrer Wohnung und nahm nur ihre Bilder mit (die beiden Bilder über dem Bett) und ihr Klavier, das kleine alte Piano, das jetzt in ein klägliches, klirrendes Greisenalter gekommen war, das sie aber immer noch liebte, aus Gründen, die nur sie kannte. Sie war noch ein Kind gewesen, als ihre Eltern es ihr geschenkt hatten und sie zum erstenmal darauf spielte. Später war es ihr noch einmal geschenkt worden, wie sich der Leser erinnern wird, als nämlich das Unternehmen ihres Vaters zusammenbrach und das Instrument aus dem Wrack gerettet wurde.

Als Major Dobbin das Einrichten von Josephs neuem Haus beaufsichtigte – es sollte nach dem Willen des Majors sehr hübsch und bequem werden –, sah er den Wagen aus Brompton mit den Koffern und Schachteln der Auswanderer vom Dorf ankommen. Er freute sich sehr, als er das alte Klavier erblickte, Amelia wollte es in ihrem Wohnzimmer haben – einem netten, kleinen Raum im ersten Stock. Daneben befand [359] sich dann das Zimmer ihres Vaters, wo der alte Herr abends sitzen konnte.

Als die Träger mit dem alten Musikgerät erschienen und Amelia anordnete, es solle in das erwähnte Zimmer gestellt werden, fühlte sich Dobbin wie im siebenten Himmel.

»Ich freue mich, daß Sie es behalten haben«, sagte er sehr gefühlvoll. »Ich fürchtete schon, Sie machten sich nichts daraus.«

»Ich schätze es mehr als alles auf der Welt«, erwiderte Amelia.

»Wirklich, Amelia?« rief der Major. Zwar hatte er niemals etwas davon erwähnt, aber da er es selbst gekauft hatte, hatte er auch nicht daran gedacht, daß Emmy einen anderen für den Käufer halten könnte. Er glaubte natürlich, sie wisse, daß das Geschenk von ihm gekommen sei. »Wirklich, Amelia?« rief er, und die Frage, die große Frage, zitterte ihm auf den Lippen, als Amelia erwiderte:

»Wie könnte ich anders – hat er es mir nicht geschenkt?«

»Das wußte ich nicht«, sagte der arme alte Dobbin mit langem Gesicht.

Emmy fiel zu diesem Zeitpunkt nichts auf, und sie beachtete auch nicht den plötzlich so trübseligen Gesichtsausdruck des ehrlichen Dobbin. Später jedoch dachte sie daran, und nun kam ihr der unaussprechlich schmerzliche und traurige Gedanke, daß William ihr das Klavier geschenkt hatte und nicht George, wie sie sich eingebildet hatte. Es war nicht Georges Geschenk, das einzige von ihrem Geliebten, wie sie geglaubt hatte – das Stück, das sie mehr als alles andere geschätzt hatte, ihre teuerste Relique und ihr größter Schatz. Sie hatte ihm von George erzählt, seine Lieblingslieder darauf gespielt, lange Abende davor gesessen und ihm, so gut es ihr geringes Können gestattete, melancholische Weisen entlockt und stumm über den Tasten geweint. Es war keine Relique von George, es war jetzt wertlos. Als der alte Sedley sie das nächste Mal zum Spielen aufforderte, erwiderte sie, [360] es sei schrecklich verstimmt, sie habe Kopfschmerzen, sie könne nicht spielen.

Dann machte sie sich aber nach ihrer Gewohnheit Vorwürfe über ihre Gereiztheit und Undankbarkeit und entschloß sich, dem ehrlichen William die Geringschätzung, die sie zwar nicht ihm gegenüber geäußert, aber gegenüber dem Klavier gefühlt hatte, abzubitten. Als sie ein paar Tage später zusammen im Salon saßen und Joseph nach dem Essen behaglich eingeschlafen war, sagte Amelia mit versagender Stimme zu Major Dobbin:

»Ich muß Sie wegen einer Sache um Verzeihung bitten.«

»Weswegen?« fragte er.

»Wegen – wegen des kleinen Tafelklaviers. Ich habe Ihnen nie dafür gedankt, als Sie es mir vor vielen, vielen Jahren noch vor meiner Heirat schenkten. Ich dachte, es käme von jemand anderem. Ich danke Ihnen, William.« Sie reichte ihm die Hand hin, aber das Herz der armen kleinen Frau blutete, und ihre Augen waren natürlich wieder bei der Arbeit.

William konnte jetzt nicht länger an sich halten.

»Amelia, Amelia«, begann er. »Es stimmt, ich habe es für Sie gekauft. Ich liebte Sie damals, wie ich Sie noch heute liebe. Ich muß es Ihnen einmal sagen. Ich glaube, von der ersten Minute an, da ich Sie gesehen hatte, habe ich Sie geliebt. Es war, als George mich in Ihr Haus mitnahm, um mir die Amelia zu zeigen, mit der er verlobt war. Sie waren noch ein junges Mädchen, weiß gekleidet, mit langen Locken. Sie kamen singend herab – wissen Sie es noch? –, und wir gingen nach Vauxhall. Seit jener Zeit habe ich nur eine Frau auf der Welt im Sinn gehabt, und das waren Sie. Ich glaube, es ist seit zwölf Jahren keine Stunde vergangen, in der ich nicht an Sie gedacht hätte. Ich kam, ehe ich nach Indien ging, um Ihnen dies zu sagen, aber Ihnen war es gleichgültig, und ich konnte mir kein Herz fassen, zu sprechen. Es war Ihnen ja gleich, ob ich ging oder blieb.«

»Ich war sehr undankbar«, erwiderte Amelia.

[361] »Nein, nur gleichgültig«, fuhr Dobbin verzweifelt fort. »Ich besitze nichts, um einer Frau andere Gefühle einzuflößen. Ich weiß, was Sie jetzt fühlen. Ihr Herz ist über die Entdeckung, daß das Klavier von mir kam und nicht von George, verletzt. Ich vergaß das, sonst hätte ich nie davon gesprochen. Es ist an mir, Sie um Verzeihung zu bitten, daß ich für Augenblicke ein Narr war und glaubte, jahrelange ergebene Treue hätte Sie umgestimmt.«

»Jetzt sind Sie grausam«, sagte Amelia kühn. »George ist mein Mann, hier und im Himmel. Wie könnte ich einen anderen lieben? Ich bin jetzt sein eigen wie damals, als Sie mich zum erstenmal sahen, lieber William. Er war es, der mir erzählte, wie gut und großmütig Sie seien, und der mich lehrte, Sie wie einen Bruder zu lieben. Sind Sie mir und meinem Knaben nicht alles gewesen? Unser liebster, treuester und gütigster Freund und Beschützer? Wären Sie ein paar Monate früher gekommen, so hätten Sie mir wahrscheinlich jene – jene entsetzliche Trennung ersparen können. Oh, sie hat mich fast ins Grab gebracht, William – aber Sie kamen nicht, obgleich ich es so wünschte und darum betete. Und sie haben mir auch ihn genommen. Ist er nicht ein prächtiger Junge, William? Bleiben Sie weiterhin sein und mein Freund ...« Hier brach ihr die Stimme, und sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.

Der Major schloß sie in die Arme und drückte sie an sich, als ob sie ein Kind wäre; dann küßte er sie aufs Haar. »Es soll ja alles so bleiben, liebe Amelia«, sagte er. »Ich bitte um nichts als Ihre Liebe. Ich glaube, ich möchte es gar nicht anders haben. Lassen Sie mich nur in Ihrer Nähe sein und Sie häufig sehen.«

»Ja, oft«, entgegnete Amelia. So hatte Dobbin die Erlaubnis erhalten, zu schauen und sich zu sehnen – wie der arme Schulknabe, der kein Geld hat, den schönen Dingen im Korb der Kuchenfrau nachseufzen darf.

Fußnoten

1 (lat.) Perserprunk. – In den Oden des Horaz (I, 38, 1) heißt es: »Persicos odi, puer, apparatus« = (lat.) Perserprunk, mein Bursche, verschmäh ich gerne.

2 Desdemona, die Gemahlin Othellos in Shakespeares Tragödie »Othello«, wird von ihrem Mann beschuldigt, sie betrüge ihn mit Leutnant Cassio, seinem Untergebenen. Der Eifersüchtige tötet Desdemona und ersticht sich, nachdem er ihre Unschuld entdeckt hat.

3 Gestalt aus Shakespeares Komödie »Der Sturm«. Miranda ist die Tochter des verbannten Herzogs von Mailand, der sich und seiner Tochter durch seine Zauberkünste den mißgestalten Caliban zum Sklaven gemacht hat.

[362] 60. Kapitel
Führt wieder in die vornehme Welt zurück

Das Glück fängt jetzt an, Amelia zu lächeln. Wir freuen uns, sie aus ihrer bisherigen ärmlichen Umgebung zu feineren Leuten geleiten zu können, zwar nicht in so großartige und elegante Kreise wie die, in denen sich unsere andere Freundin, Mrs. Becky, bewegt, aber doch welche, die keine geringeren Ansprüche auf Eleganz und Vornehmheit erheben. Josephs Freunde kamen alle aus den drei indischen Präsidentschaften, und sein neues Haus lag in der hübschen anglo-indischen Gegend, deren Mittelpunkt der Moira Place ist. Wer kennt nicht die ansehnlichen Wohnstätten der aus Indien heimgekehrten Aristokratie, die sich von den Geschäften zurückgezogen hat – den Minto Square, die Great Clive Street, Warren Street, Hastings Street, den Ochterlony Place, den Plassy Square und die Assaye Terrace. (1827 gebrauchte man noch nicht für Stuckhäuser mit Asphaltterrassen davor die Bezeichnung »Gardens« – eine sehr passende Benennung für etwas, was so ganz und gar nicht an Gärten erinnert.) Mr. Wenham nannte die ganze Gegend »das schwarze Loch«. Josephs Stellung im Leben war nicht großartig genug, um ihn zu einem Haus am Moira Place zu berechtigen. Dort können nur ehemalige Mitglieder des Gouvernementsrates von Indien und Teilhaber indischer Firmen wohnen (die Bankrott machen, nachdem sie ihren Ehefrauen hunderttausend Pfund verschrieben haben, und sich in beträchtlicher Armut bei einem Jahreseinkommen von viertausend Pfund aufs Land zurückziehen). Joe mietete ein bequemes Haus zweiten oder dritten Ranges in der Gillespie Street und kaufte Teppiche, kostbare Spiegel und schöne Möbel von Seddons, den Konkursverwaltern von Mr. Scape. Der arme Scape war zuletzt Teilhaber der großen Firma Fogle, Fake und Cracksman in Kalkutta gewesen und hatte darin siebzigtausend Pfund, die Ersparnisse eines langen ehrlichen Lebens, angelegt. Er [363] war an Fakes Stelle getreten, der sich in einen fürstlichen Park in Sussex zurückzog (die Fogles sind schon lange nicht mehr in der Firma, und Sir Horace Fogle wird bald als Baron Bandana geadelt werden). Er war also Teilhaber des großen Agenturhauses Fogle und Fake geworden, und zwar zwei Jahre bevor die Firma mit einer Million Defizit Bankrott machte und die halbe Öffentlichkeit Indiens in Armut und Elend stürzte.

Der ehrliche Scape, mit fünfundsechzig Jahren ein gebrochener und ruinierter Mann, ging nach Kalkutta, um die Geschäfte der Firma noch vollends abzuwickeln. Walter Scape mußte Eton verlassen und wurde einem Kaufmann ins Haus gegeben. Florence Scape, Fanny Scape und ihre Mutter verschwanden nach Boulogne und werden nicht wieder erwähnt werden. Kurz und gut – Joseph kaufte ihre Teppiche und Tische und bewunderte sich in den Spiegeln, die ihre freundlichen hübschen Gesichter zurückgeworfen hatten. Die Kaufleute der Scapes, die alle redlich bezahlt worden waren, gaben ihre Karten ab und bemühten sich eifrig um die Kundschaft des neuen Haushalts. Die großen Männer in weißen Westen, die bei Scapes Diners bedient hatten – im Privatleben Gemüsehändler, Bankboten und Milchverkäufer –, gaben ihre Adressen ab und schmeichelten sich bei dem Butler ein. Mr. Chummy, der Schornsteinfeger, der die letzten drei Familien befegt hatte, versuchte den Butler und den Jungen, der ihm unterstellt war, zu beschwatzen. Die Pflicht dieses Untergebenen war es, bedeckt mit Knöpfen und mit Streifen an den Hosen, Mrs. Amelia zu beschützen, wenn sie ausgehen wollte.

Es war ein bescheidener Haushalt. Der Butler war zugleich auch Josephs Kammerdiener und niemals betrunkener, als es sich für den Butler einer kleinen Familie geziemte, der eine besondere Vorliebe für den Wein seines Herrn hatte. Emmy erhielt eine Zofe, die in Sir William Dobbins Vorstadtbesitzung aufgewachsen war, ein gutes Kind, dessen freundliches [364] und bescheidenes Wesen Mrs. Osborne entwaffnete. Anfangs war ihr der Gedanke schrecklich, einen Dienstboten für sich allein zu haben. Sie verstand nicht im geringsten, wie man die Diener gebrauchen konnte, und sprach sie stets mit ehrerbietiger Höflichkeit an.

Diese Zofe war der Familie jedoch sehr nützlich, denn sie pflegte umsichtig den alten Mr. Sedley, der sich fast ausschließlich in seinem Teil des Hauses aufhielt und nie an den fröhlichen Gesellschaften teilnahm, die oft stattfanden.

Eine Menge Leute besuchten Mrs. Osborne nun. Lady Dobbin nebst Töchter war über den Glückswechsel hoch erfreut und machte ihre Aufwartung. Miss Osborne von Russell Square kam in ihrer prächtigen Kutsche mit der roten Kutscherdecke und dem Wappen der Herzöge von Leeds auf dem Schlag. Joseph wurde nämlich für unermeßlich reich gehalten, und der alte Osborne hatte nichts dagegen einzuwenden, daß Georgy außer seinem Vermögen auch noch das seines Onkels erbte. »Verdammt, wir wollen einen Mann aus dem Burschen machen«, sagte er, »und ich will ihn im Parlament sehen, ehe ich sterbe. Du kannst meinetwegen hingehen und seine Mutter besuchen, Miss Osborne, wenn ich auch nichts von ihr wissen will.« Und Miss Osborne kam. Emmy freute sich sehr, sie zu sehen und so George näherzukommen. Der junge Bursche durfte jetzt seine Mutter viel häufiger besuchen als früher. Er speiste mehrmals in der Woche in der Gillespie Street und tyrannisierte die Dienstboten und seine Verwandten dort ebenso wie die am Russell Square.

Vor Major Dobbin hatte er allerdings Respekt, und er trat bescheidener auf, wenn dieser dabei war. Der Bursche war nicht dumm und fürchtete den Major. George mußte einfach die Schlichtheit seines Freundes bewundern, seine gute Laune, seine vielen Kenntnisse, die er so ruhig mitteilte, seine Wahrheitsliebe und seinen Gerechtigkeitssinn. Bis jetzt hatte er noch nie solch einen Mann gesehen und fühlte sich zu einem Gentleman instinktiv hingezogen. Er hing mit zärtlicher Liebe [365] an seinem Patenonkel, und es war seine größte Freude, mit Dobbin im Park spazierenzugehen und ihm zuzuhören. William erzählte dem Knaben von seinem Vater, von Indien, von Waterloo und von allem möglichen, außer von sich selbst. Wenn George noch vorlauter und selbstgefälliger war als gewöhnlich, dann machte sich der Major über ihn lustig, und Mrs. Osborne fand das sehr grausam. Als der Major eines Tages mit ihm ins Theater gegangen war und der Knabe sich geweigert hatte, sich ins Parkett zu setzen, weil das ordinär sei, führte ihn der Major in eine Loge, ließ ihn dort und ging allein wieder zum Parkett. Er hatte noch nicht lange gesessen, als er einen Arm unter seinem fühlte und eine elegante kleine Hand in Glacéhandschuhen seinen Arm drückte. George hatte eingesehen, wie albern er sich benommen hatte, und war aus den höheren Sphären herabgekommen. Ein zärtliches, wohlwollendes Lächeln erhellte Gesicht und Augen des alten Dobbin, als er den reuigen kleinen Verschwender ansah. Er liebte den Knaben, wie alles, was zu Amelia gehörte. Wie bezaubert war sie, als sie dieses Beispiel von Georges Gutherzigkeit hörte! Ihre Augen blickten freundlicher auf Dobbin als je; er glaubte sogar, sie sei rot geworden, nachdem sie ihn so angesehen hatte.

Georgy wurde nicht müde, den Major gegenüber seiner Mutter zu loben:

»Ich habe ihn gern, Mama, weil er so viele Dinge weiß, und er ist nicht wie der alte Veal, der immer prahlt und so lange Wörter gebraucht, weißt du? Die Jungs in der Schule nennen ihn ›Langschwanz‹. Ich habe ihm den Namen gegeben. Ist das nicht ein guter Witz? Aber Dobbin liest Lateinisch so gut wie Englisch und Französisch und all das; und wenn wir zusammen spazierengehen, so erzählt er mir Geschichten von meinem Papa, aber nie von sich selber, und doch habe ich gehört, wie Oberst Buckler bei Großpapa erzählt hat, daß er einer der tapfersten Offiziere im Heer war und sich ungeheuer ausgezeichnet hat. Der Großpapa war ganz erstaunt und sagte: [366] ›Der Kerl! Na, ich hätte nicht gedacht, daß er eine Gans erschrecken könnte.‹ Aber ich weiß, daß er das kann, nicht wahr, Mama?«

Emmy lachte, sie hielt es für sehr wahrscheinlich, daß der Major so etwas fertigbrächte.

George und der Major verstanden sich zwar sehr gut, aber zwischen dem Knaben und seinem Onkel herrschte keine große Liebe. George konnte in einer Weise die Backen aufblasen und die Hände in die Westentasche stecken und ganz wie Joseph sagen: »Gott behüte mich, nein so was«, daß man sich das Lachen nicht verbeißen konnte. Die Diener platzten beim Essen vor Lachen, wenn der Knabe etwas auf dem Tisch Fehlendes verlangte und dabei dieses Gesicht schnitt und Josephs Lieblingsphrase gebrauchte. Selbst Dobbin mußte mitunter über das Nachahmungstalent des Knaben lachen. Wenn George den Onkel nicht ins Gesicht hinein nachäffte, so waren es nur Dobbins Vorwürfe und Amelias entsetzte Bitten, die den kleinen Taugenichts davon abhielten. Da der ehrenwerte Zivilist das unbestimmte Gefühl hatte, daß der Junge ihn für einen Esel hielt und gern lächerlich machte, so war er in Master Georgys Gegenwart ungemein ängstlich und natürlich doppelt prahlerisch und würdevoll. Sobald daher angekündigt wurde, daß der junge Herr in der Gillespie Street zum Essen bei seiner Mutter erwartet werde, fiel Mr. Joseph gewöhnlich ein, daß er eine Verabredung im Klub habe. Wahrscheinlich war niemand besonders betrübt über seine Abwesenheit. An diesen Tagen gelang es oft, Mr. Sedley zu überreden, aus seinem Zufluchtsort in den oberen Stockwerken herabzukommen. Dann gab es eine kleine Familiengesellschaft, an der Major Dobbin fast stets teilnahm. Er war der ami de la maison 1, der Freund des alten Sedley, Emmys Freund, Georgys Freund und Josephs Helfer und Berater. »Nach dem zu urteilen, was wir von ihm zu sehen bekommen, könnte er ebensogut in Madras sein«, bemerkte Miss Ann Dobbin in Camberwell. Oh, Miss Ann, ist es Ihnen noch nicht [367] aufgefallen, daß nicht Sie es sind, die der Major heiraten will?

Joseph Sedley führte also ein Leben würdevollen Müßiggangs, wie es einem Menschen seiner Bedeutung zukam. Sein erstes Ziel war selbstverständlich, Mitglied des Orientklubs zu werden. Dort verbrachte er den Morgen in Gesellschaft seiner Freunde aus Indien, dort spielte er oder brachte Bekannte von dort mit zum Essen nach Hause.

Amelia mußte diese Herren und ihre Damen empfangen und bewirten. Sie hörte von ihnen, daß Smith bald in den Gouvernementsrat kommen werde, wieviel Rupien Jones mit nach Hause gebracht habe, daß die Firma Thomson in London die Wechsel der Bombayer Firma Thomson, Kibobjee und Co. nicht anerkannt habe und daß man glaubte, die Firma in Kalkutta mache ebenfalls Bankrott; wie unvorsichtig, um es milde auszudrücken, sich Mrs. Brown (die Frau Browns von den Achmednuggar Irregulären Truppen) mit dem jungen Swankey von der Leibgarde benommen habe, als sie mit ihm bis tief in die Nacht hinein auf Deck gesessen und sie sich beim Reiten auf dem Kap von der übrigen Gesellschaft abgesondert habe; daß Mrs. Hardyman ihre dreizehn Schwestern, Töchter des Landpfarrers Ehrwürden Felix Rabbits, in Indien gehabt und elf davon verheiratet habe, sieben sogar an hohe Beamte; wie wütend Hornby sei, weil seine Frau in Europa bleiben wolle, und daß Trotter zum Steuereinnehmer von Ummerapoora ernannt sei. Diese und ähnliche Gespräche wurden bei allen großen Diners ringsum geführt. Überall die gleiche Unterhaltung, die gleichen silbernen Schüsseln, die gleichen Hammelrücken, gekochten Truthühner und Vorspeisen. Kurz nach dem Dessert kam die Politik an die Reihe. Dann zogen sich die Damen nach oben zurück und schwatzten von ihren Leiden und ihren Kindern.

Mutato nomine 2 ist die Sache überall dieselbe. Sprechen nicht die Advokatenfrauen von Gerichtsverhandlungen, die Soldatenfrauen vom Regiment, die Pastorenfrauen von Sonntagsschulen [368] und darüber, wer wen vertritt? Sprechen denn nicht die vornehmsten Damen über die Personen der kleinen Schicht, zu der sie gehören? Warum sollten also unsere indischen Freunde nicht auch ihren eigenen Gesprächsstoff haben? Ich muß nur gestehen, daß es für die Figuren, deren Schicksal es manchmal ist, dabeizusitzen und zuzuhören, langweilig ist.

Schon nach kurzer Zeit hatte Emmy eine Besuchsliste und fuhr regelmäßig aus. Sie besuchte Lady Bludyer, Frau des Generalmajors Sir Roger Bludyer, Komtur des Bathordens von der bengalischen Armee, Lady Huff, Frau von Sir G. Huff von der Armee in Bombay, Mrs. Pice, Frau von Direktor Pice, und so weiter. Es dauert nicht lange, sich an Veränderungen im Leben zu gewöhnen. Der Wagen fuhr in der Gillespie Street täglich vor, der Page mit den Knöpfen sprang viele Male vom Bock herunter und wieder hinauf, um Emmys und Josephs Karten abzugeben. Zu bestimmten Stunden fuhr Emmy zum Klub, um Joseph zum Spazierenfahren in der frischen Luft abzuholen, oder der alte Sedley wurde hineingesetzt, und sie fuhr mit ihm im Regent's Park umher. Die Zofe und der Wagen, die Besuchsliste und der Page mit den Knöpfen wurden Amelia bald ebenso vertraut wie die bescheidene Lebensweise in Brompton. Sie hatte sich an das eine gewöhnt wie an das andere. Hätte das Schicksal sie zu einer Herzogin gemacht, so hätte sie wohl auch deren Pflichten erfüllt. Josephs weibliche Bekannten erklärten sie für recht nett. Es war ja nicht viel mit ihr los, aber sie war doch recht nett und so weiter.

Den Männern gefielen wie gewöhnlich ihre arglose Freundlichkeit und ihr ungeziertes feines Benehmen. Die ritterlichen jungen indischen Stutzer, die auf Urlaub in England waren – tolle Stutzer das, mit Ketten und Schnurrbärten, die in ihren Kutschen herumrasten, ständig im Theater waren und in Hotels in West End wohnten – bewunderten Mrs. Osborne, verneigten sich im Park gern vor ihrem Wagen und freuten[369] sich über die Ehre, ihr einen Morgenbesuch abstatten zu dürfen. Selbst Swankey von der Leibgarde, diesen gefährlichen Jüngling und größten Geck der ganzen indischen Armee, der Urlaub hatte, überraschte Major Dobbin eines Tages tête-à-tête mit Amelia, wie er ihr gerade humorvoll und wortreich eine Wildschweinjagd beschrieb; anschließend sprach dieser von einem verdammten königlichen Offizier, der sich stets im Hause herumtreibe – einem langen, mageren, schnurrig aussehenden ältlichen Burschen – einem trockenen Burschen, der einen mit seinen klugen Reden stets an die Wand drückte.

Hätte der Major etwas mehr persönliche Eitelkeit besessen, so wäre er auf einen so gefährlichen jungen Stutzer wie den bezaubernden bengalischen Hauptmann eifersüchtig geworden. Dobbin war jedoch viel zu einfach und zu großmütig, um an Amelia zu zweifeln. Er freute sich, daß ihr die jungen Leute Achtung erwiesen und andere sie bewunderten. War sie nicht, seit sie erwachsen war, fast ständig verfolgt und unterschätzt worden? Er freute sich, zu sehen, wie Freundlichkeit ihre guten Eigenschaften ans Licht brachte und ihr Mut mit dem Glück wuchs. Alle, die sie schätzten, machten dem gesunden Urteil des Majors ein Kompliment – das heißt, wenn ein Mann, beeinflußt von dem Wahn der Liebe, überhaupt urteilen kann.

Nachdem Joseph bei Hofe gewesen war, was er natürlich als treuer Untertan seines Regenten nicht verabsäumt hatte (er hatte sich vorher in voller Gala im Klub gezeigt, wo ihn Dobbin in einer sehr schäbigen, alten Uniform abholte), wurde er, schon immer ein unerschütterlicher Loyalist und Bewunderer Georgs IV., ein so fürchterlicher Tory und Pfeiler des Staates, daß er auch wünschte, Amelia solle zum Empfang bei Hofe gehen. Er hatte sich nämlich irgendwie in den Glauben hineingesteigert, daß er unentbehrlich sei für die Erhaltung des Staatswohls und daß der König erst glücklich sein könne, wenn sich Joseph Sedley und seine Familie im Sankt-James-Palast um ihn scharten.

[370] Emmy lachte. »Soll ich dann den Familienschmuck tragen, Joseph?« fragte sie.

Ich wollte, du ließest dir von mir welchen kaufen, dachte der Major; ich möchte die Diamanten sehen, die für dich zu gut wären.

Fußnoten

1 (franz.) Freund des Hauses.

2 (lat.) Mit verändertem Namen.

61. Kapitel
In dem zwei Lichter ausgelöscht werden

Es kam ein Tag, an dem die Reihe züchtiger Vergnügungen und feierlicher Lustbarkeiten in Mr. Joseph Sedleys Familie durch ein Ereignis unterbrochen wurde, das sich in den meisten Häusern zuträgt. Wenn du in deinem Hause vom Salon in das Stockwerk hinaufsteigst, wo sich die Schlafzimmer befinden, so hast du vielleicht schon gerade vor dir in der Mauer ein kleines Bogenfenster erblickt, das einmal die Treppe zum zweiten Stock erhellt (wo die Kinderzimmer und Dienerräume sind), aber noch einen anderen Zweck erfüllt, den dir die Leute des Leichenbestatters erklären können. Sie setzen nämlich den Sarg in diesem Bogenfenster ab oder schieben ihn durch, damit sie den in dem schwarzen Behältnis schlummernden kalten Bewohner nicht auf unziemliche Weise stören.

Dieses Bogenfenster im ersten Stock eines Londoner Hauses beherrscht das Treppenhaus, die Hauptverkehrsader, auf der die Hausbewohner sich bewegen. Vor Tagesanbruch schleicht die Köchin hinab, um ihre Töpfe und Pfannen in der Küche zu scheuern. Der junge Herr steigt leise hinauf, nachdem er die Stiefel in der Halle gelassen hat, wenn er nach einer fröhlichen Nacht im Klub nach Tagesanbruch heimgekommen ist. Das junge Mädchen rauscht hinunter, glänzend und schön, mit frischen Atlasbändern und gestärktem Musselin, bereit, auf dem Ball Eroberungen zu machen, oder Master Tommy rutscht das Geländer hinunter, voller Verachtung für Stufen und Gefahr. Auf seinen starken Armen [371] trägt der Ehemann liebevoll die lächelnde junge Mutter hinab, Stufe für Stufe, gefolgt von der Pflegerin, wenn der Tag gekommen ist, an dem der Arzt der bezaubernden Patientin erlaubt hat, wieder unten zu sein. John schlurft gähnend, das tropfende Talglicht in der Hand, hinauf, um zu Bett zu gehen, und bereits vor Sonnenaufgang wieder sammelt er die Stiefel ein, die ihn im Flur erwarten. Das ist die Treppe, über die man Säuglinge trägt, alte Leute führt, Gäste zum Ball geleitet, über die der Pfarrer zur Taufe, der Doktor ins Krankenzimmer und die Leute des Leichenbestatters ins obere Stockwerk gehen – was für ein Mahnzeichen des Lebens, des Todes und der Eitelkeit ist dieses Bogenfenster und die Treppe – wenn du dich entschließt, sie zu betrachten, auf dem Podest sitzt und deine Blicke auf und nieder durch das Treppenhaus schweifen läßt. Auch uns wird der Arzt dort zum letzten Male besuchen, mein Freund im Narrenkleid, und die Pflegerin wird durch die Bettvorhänge blicken, und du wirst nichts bemerken. Dann wird sie ein wenig die Fenster öffnen, um frische Luft hereinzulassen. Nun wird man alle Fenstervorhänge auf der Straßenseite herablassen und in den hinteren Räumen wohnen, schließlich wird man die Rechtsanwälte und andere Leute in Schwarz herbeiholen und so weiter. Deine und meine Komödie ist dann ausgespielt, wir werden weit, weit weggetragen werden von den Trompetenstößen und dem Geschrei und den akrobatischen Kunststücken des Lebens. Sind wir vornehm, so wird man Leichenwappen über unserer letzten Wohnung aufhängen mit vergoldetem Cherubim und Mottos, die besagen, daß »Friede im Himmel« sei. Dein Sohn wird das Haus neu einrichten oder es vielleicht vermieten und in ein moderneres Viertel ziehen; dein Name wird im nächsten Jahr in der Klubliste unter »Todesfälle« aufgeführt sein. Wie sehr man dich auch beklagen mag, so wird doch deine Witwe darauf achten, daß ihre Trauerkleider hübsch aussehen. Die Köchin wird heraufschicken oder selbst kommen, um wegen des Essens zu fragen.[372] Die Überlebenden werden den Anblick deines Bildes über dem Kaminsims bald ertragen können, und nach kurzer Zeit verschwindet dieses von seinem Ehrenplatz, und an seine Stelle tritt das des regierenden Sohnes.

Welche Toten werden am zärtlichsten und leidenschaftlichsten betrauert? Ich glaube diejenigen, von denen die Überlebenden am wenigsten geliebt wurden. Der Tod eines Kindes verursacht großen Kummer und Tränenfluten, wie sie dein Ende, lieber Leser, nie hervorrufen wird. Der Tod eines Kindes, das dich kaum gekannt hat, das dich nach einer achttätigen Abwesenheit vergessen haben würde, wirft dich mehr nieder als der Verlust deines besten Freundes oder deines ältesten Sohnes – eines Erwachsenen wie du, mit eigenen Kindern. Wir können rauh und streng gegen Juda und Simeon 1 sein – unsere Liebe und unser Mitleid wird stets dem kleinen Benjamin 2 gelten. Und wenn du alt bist, wie mancher Leser es sein mag oder werden wird – alt und reich oder alt und arm –, so wirst du wohl eines Tages bei dir denken: Alle um mich her sind gute Menschen, sie werden sich aber nicht zu sehr grämen, wenn ich nicht mehr da bin. Ich bin sehr reich, und sie möchten mich gern beerben – oder sehr arm, und sie sind es müde, mich zu ernähren.

Die Trauerzeit für Mrs. Sedley war kaum vorüber, und Joseph hatte kaum Gelegenheit gefunden, seine schwarze Kleidung abzulegen und in den glänzenden Westen zu erscheinen, die er so liebte, als es Mr. Sedleys Umgebung klar wurde, daß ein anderes Ereignis bevorstand und der alte Mann im Begriff stand, seine Frau in dem finsteren Land wohin sie vorausgegangen war, aufzusuchen.

»Der Gesundheitszustand meines Vaters«, bemerkte Joseph Sedley feierlich im Klub, »hindert mich daran, in dieser Saison meine großen Gesellschaften zu geben; wenn Sie aber um halb sieben ganz still kommen wollen, Chutney, mein Junge, zu einem einfachen Mahl mit einigen von der alten Garde – so werde ich mich stets freuen, Sie zu begrüßen.«

[373] So aßen Joseph und seine Bekannten und tranken ihren Rotwein in aller Stille, während im oberen Stockwerk der Sand des Lebens im Stundenglas des alten Mannes verrann. Der Butler in Samtschuhen brachte ihnen leise den Wein, und sie setzten sich nach dem Essen zu einer Partie Whist nieder, an der auch Major Dobbin zuweilen teilnahm. Hin und wieder kam auch Mrs. Osborne herab, wenn ihr Patient für den Abend versorgt war und in den leichten, unruhigen Schlummer des Alters gesunken war.

Der alte Mann klammerte sich während dieser Krankheit fest an seine Tochter. Aus keiner anderen Hand wollte er seine Brühe und Medizin nehmen. Seine Pflege war fast ihre einzige Beschäftigung; ihr Bett wurde dicht an die Tür zu seinem Zimmer gestellt, und das geringste Geräusch oder die leiseste Unruhe des launischen Kranken machten sie wach. Aber um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – oft lag er manche Stunde schweigend und bewegungslos da, um seine gütige, sorgsame Wärterin nicht aufzuwecken.

Er liebte seine Tochter jetzt vielleicht zärtlicher als je seit ihrer Kindheit. Bei der Ausübung ihrer freundlichen Dienste und ihrer Kindespflichten strömte dieses einfache Geschöpf einen hellen Glanz aus. Sie kommt so geräuschlos ins Zimmer wie ein Sonnenstrahl, dachte Mr. Dobbin, wenn er sie ins Zimmer ihres Vaters hineingehen und wieder erscheinen sah. Eine heitere Freundlichkeit erhellte ihr Gesicht, wenn sie sanft und leise hin und her wandelte. Wer hat nicht schon diesen süßen engelhaften Ausdruck der Liebe und des Mitleids auf den Gesichtern von Frauen gesehen, die bei ihren Kindern wachen oder im Krankenzimmer zu tun haben?

So wurde eine jahrelange, geheime Fehde stillschweigend beigelegt. In diesen letzten Stunden vergaß der alte Mann, gerührt von ihrer Liebe und Güte, all seinen Ärger gegen sie und all das Unrecht, das er manche lange Nacht hindurch mit seiner Frau besprochen hatte: daß sie alles für den Jungen geopfert habe, daß sie sich nicht um ihre alten unglücklichen [374] Eltern kümmere und nur an das Kind denke. Wie albern und unvernünftig, ja eigentlich sündhaft sie sich benommen habe, als man ihr George weggenommen habe. Der alte Sedley vergaß diese Anschuldigungen, als er seine letzte Rechnung machte, und ließ der sanften, klaglosen kleinen Märtyrerin Gerechtigkeit widerfahren. Als sie sich eines Nachts in sein Zimmer stahl und ihn wach fand, legte der alte gebeugte Mann seine Beichte ab. »Ach, Emmy, ich habe eben daran gedacht, daß wir sehr böse und ungerecht gegen dich gewesen sind«, sagte er und hielt ihr seine kalte, kraftlose Hand hin. Sie kniete sich am Bett nieder und betete, und er betete ebenfalls, ohne ihre Hand loszulassen. Mögen wir, lieber Freund, auch solche Gesellschaft bei unseren Gebeten haben, wenn wir an der Reihe sind.

Als er wach im Bett lag, zog wahrscheinlich sein früheres Leben an ihm vorüber – seine frühen, hoffnungsvollen Anstrengungen, seine Erfolge und sein Reichtum im Mannesalter, der spätere Niedergang und sein gegenwärtiger hilfloser Zustand – keine Hoffnung, sich am Schicksal zu rächen, das ihn betrogen hatte – weder einen Namen noch Geld zu hinterlassen – ein vergeudetes, nutzloses Leben voller Niederlagen und Enttäuschungen – und nun das Ende! Welches Los ist wohl das bessere, lieber Leser, reich und berühmt oder arm und enttäuscht zu sterben? Etwas zu besitzen und sich davon trennen zu müssen, oder aus dem Leben zu scheiden, nachdem man das Spiel gespielt und verloren hat? Es muß ein seltsames Gefühl sein, wenn ein Tag in unserem Leben kommt, an dem wir sagen: Morgen werden Erfolg oder Mißerfolg gleichgültig sein. Die Sonne wird aufgehen, und die Myriaden von Menschen eilen ihrer Arbeit oder dem Vergnügen nach, ich aber werde der Plackerei entronnen sein.

So kam dann ein Morgen, an dem die Sonne sich erhob und alle Welt aufstand und an die verschiedenen Arbeiten und Vergnügungen ging, mit Ausnahme des alten John Sedley. Der sollte nicht mehr mit dem Schicksal hadern und nicht [375] mehr hoffen und Pläne schmieden, sondern nur noch einen stillen und unbekannten Aufenthaltsort auf einem Friedhof in Brompton an der Seite seiner alten Frau aufsuchen.

Major Dobbin, Joseph und Georgy folgten in einem schwarz ausgeschlagenen Wagen seiner sterblichen Hülle zum Grabe. Joseph kam extra vom »Stern und Hosenbandorden« in Richmond, wohin er sich nach dem traurigen Ereignis zurückgezogen hatte. Er wollte nicht gern mit dem ... unter diesen Umständen ... im Hause bleiben, Sie verstehen.

Emmy dagegen blieb und tat ihre Pflicht wie gewöhnlich. Sie war nicht besonders gramgebeugt und eher ernst als traurig. Sie betete um ein ebenso ruhiges und schmerzloses Ende und dachte voll ehrfurchtsvollen Vertrauens an die Worte, die ihr Vater während seiner Krankheit über seinen Glauben, seine Ergebung und seine Hoffnungen auf das Jenseits geäußert hatte.

Ja, nach alledem meine ich, daß dieses Ende das bessere ist. Nehmen wir an, du bist sehr reich und wohlhabend und sagst an diesem letzten Tag: »Ich bin sehr reich, ich bin einigermaßen bekannt, ich habe mein ganzes Leben in der besten Gesellschaft verbracht und komme, dem Himmel sei Dank, aus einer höchst achtbaren Familie. Ich habe meinem König und Vaterland in Ehren gedient. Ich war mehrere Jahre im Parlament, und ich kann wohl sagen, meine Reden fanden aufmerksames Gehör und wurden recht gut aufgenommen. Ich schulde niemandem etwas, im Gegenteil, ich habe meinem alten Universitätsfreund Jack Lazarus fünfzig Pfund geliehen, um die ihn meine Testamentsvollstrecker nicht drängen werden. Ich hinterlasse meinen Töchtern je zehntausend Pfund – eine sehr gute Aussteuer für Mädchen. Ich vererbe mein Silber, mein Mobiliar, mein Haus in der Baker Street und eine hübsche Jahresrente meiner Witwe auf Lebzeit und meinem Sohn meine Landgüter, mein Geld in Staatspapieren und meinen erlesenen Weinkeller in der Baker Street. Ich hinterlasse meinem Kammerdiener zwanzig Pfund jährlich, und ich behaupte, [376] niemand wird nach meinem Tod etwas gegen meinen Charakter sagen können.« Oder nehmen wir an, dein Schwanengesang klingt ganz anders, und du sagst: »Ich bin ein armer, gebeugter, enttäuschter, alter Bursche, und mein ganzes Leben war ein Fehlschlag. Ich war weder mit viel Verstand noch mit großem Vermögen begabt und bekenne, daß ich hundert größere und kleinere Fehler begangen habe. Ich gestehe, daß ich oft pflichtvergessen war. Ich kann meine Schulden nicht bezahlen. Hier liege ich hilflos und demütig auf meinem letzten Lager, bete um Verzeihung für meine Schwächen und werfe mich mit reuigem Herzen der göttlichen Gnade zu Füßen.« Welche von diesen beiden Reden, glaubst du wohl, mag die beste Leichenrede für dich sein? Der alte Sedley hielt die letztere, und in dieser demütigen Stimmung, an die Hand seiner Tochter geklammert, sah er das Leben und seine Eitelkeit unter sich hinwegsinken.


»Da siehst du«, sagte der alte Osborne zu George, »was von Verdienst, Fleiß und klugen Spekulationen und so weiter kommt. Sieh mich und mein Bankkonto an! Sieh dann deinen armen Großvater Sedley und sein Versagen an! Und doch war er vor zwanzig Jahren ein besserer Mann als ich – besser, würde ich sagen, um zehntausend Pfund.«

Außer diesen Menschen und Familie Clapp, die von Brompton zu einem Beileidsbesuch hereinkam, kümmerte sich keine Menschenseele auch nur einen Pfifferling um den alten John Sedley oder erinnerte sich der Existenz eines solchen Mannes.

Als der alte Osborne zum erstenmal von seinem Freund Oberst Buckler hörte (wie der kleine Georgy bereits berichtete), was für ein ausgezeichneter Offizier Major Dobbin sei, bezeigte er sehr verächtlich seinen Unglauben und drückte sein Erstaunen aus, daß solch ein Kerl überhaupt Verstand oder Ruf besitzen könnte. Er hörte aber das Lob des Majors von verschiedenen Bekannten. Sir William Dobbin hegte eine hohe Meinung von seinem Sohn und erzählte viele Anekdoten, [377] aus denen man entnehmen konnte, wie gelehrt, tapfer und angesehen der Major war. Schließlich erschien sein Name in der Besucherliste von ein paar großen Gesellschaften des Adels, und dieser Umstand machte einen ungeheuren Eindruck auf den alten Aristokraten vom Russell Square.

Die Stellung des Majors als Vormund von George, dessen Besitz an seinen Großvater übergegangen war, machte einige Zusammenkünfte zwischen den beiden Männern notwendig. Dabei fiel dem alten Osborne, der ein scharfsichtiger Geschäftsmann war, einmal etwas auf, was ihn sehr stutzig machte und ihn zugleich peinigte und erfreute. Als er nämlich die Rechnungsbücher des Majors für sein Mündel und die Mutter des Knaben durchsah, bemerkte er, daß ein Teil des Geldes, von dem die arme Witwe mit ihrem Kind gelebt hatte, aus Dobbins eigener Tasche gekommen war.

Er drängte Dobbin um Aufschluß, und der Major errötete und stotterte sehr, aber legte endlich doch ein volles Bekenntnis ab, denn er konnte ja nicht lügen. »Die Heirat«, sagte er (dabei verfinsterte sich das Gesicht seines Gegenübers) »war hauptsächlich mein Werk. Ich glaubte, mein armer Freund sei so weit gegangen, daß ein Lösen der Verlobung Ehrlosigkeit für ihn bedeutet hätte und für Mrs. Osborne den Tod. Und ich konnte, als sie ganz mittellos zurückblieb, nichts anderes tun, als ihr soviel Geld, wie mir entbehrlich war, zur Unterstützung zu geben.«

»Major Dobbin«, sagte Mr. Osborne, blickte ihn fest an und wurde ebenfalls rot, »Sie haben mich tief verletzt, aber erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie ein ehrlicher Kerl sind. Hier ist meine Hand; es wäre mir wirklich nie in den Sinn gekommen, daß mein eigen Fleisch und Blut auf Ihre Kosten gelebt hat.« Die beiden schüttelten sich die Hände, und Major Dobbin war sehr verwirrt, daß auf diese Art seine barmherzige Heuchelei entdeckt worden war.

Er bemühte sich, den alten Mann zu erweichen und ihn mit dem Andenken seines Sohnes auszusöhnen. »Er war so ein [378] feiner Kerl«, sagte er, »daß wir ihn alle liebten und alles für ihn getan hätten. Ich war damals noch ein junger Mann und war ungeheuer geschmeichelt, daß er mich so vorzog. Ich fand mehr Vergnügen daran, in seiner Gesellschaft gesehen zu werden als in der des Oberkommandierenden. Ich kenne niemanden, der ihm an Mut, Tollkühnheit und anderen guten Soldateneigenschaften gleichkommt.« Und Dobbin erzählte nun dem alten Vater alle Geschichten, an die er sich noch entsinnen konnte, von der Tapferkeit und den Talenten seines Sohnes. »Georgy ist ihm so ähnlich«, fügte der Major hinzu.

»Er ist ihm so ähnlich, daß ich manchmal zittere«, sagte der Großvater.

Ein paarmal kam der Major zu Mr. Osborne zum Diner (es war während Mr. Sedleys Krankheit), und als die beiden nach dem Essen beisammensaßen, unterhielten sie sich nur von dem dahingegangenen Helden. Der Vater prahlte nach seiner Gewohnheit mit ihm und verherrlichte sich selbst durch die Erzählung von den Ruhmestaten und der Tapferkeit seines Sohnes. Seine Stimmung in bezug auf den armen Kerl war jetzt jedenfalls besser und liebevoller als bisher, und das christliche Herz des guten Majors freute sich über diese Anzeichen zurückkehrenden Friedens und Wohlwollens. Am zweiten Abend nannte ihn der alte Osborne »William«, gerade wie zu jener Zeit, als Dobbin und George noch als Knaben zusammen gewesen waren, und der ehrliche Major war von diesem Zeichen der Aussöhnung ergriffen.

Als am nächsten Morgen beim Frühstück Miss Osborne mit der Verbissenheit ihres Alters und Charakters sich geringschätzig über Aussehen und Benehmen des Majors zu äußern versuchte, unterbrach sie der Herr des Hauses: »Du wärst recht froh gewesen, wenn du ihn für dich bekommen hättest, Miss O.; aber diese Trauben sind zu sauer. Haha! Major William ist ein feiner Kerl.«

»Das stimmt, Großpapa«, sagte Georgy beifällig, trat dicht an den alten Herrn heran, faßte ihn, gutmütig lachend, an seinem [379] langen, grauen Backenbart und küßte ihn. Am Abend erzählte er die Geschichte seiner Mutter, die mit dem Jungen völlig einer Meinung war.

»Das ist er wirklich«, sagte sie. »Dein lieber Vater hat es auch immer gesagt. Er ist ein sehr guter und rechtschaffener Mensch.« Dobbin kam zufälligerweise kurz nach diesem Gespräch herein, und das war wahrscheinlich der Grund, weshalb Amelia errötete, und der junge Taugenichts erhöhte ihre Verwirrung noch, indem er Dobbin den zweiten Teil der Geschichte erzählte.

»Hör mal, Dobbin«, sagte er, »ich kenne ein ungewöhnlich nettes Mädchen, das dich gern heiraten möchte. Sie hat eine Unmenge Geld, trägt falsche Haare und schimpft von früh bis spät mit den Dienstboten herum.«

»Wer ist es denn?« fragte Dobbin.

»Tante Osborne«. entgegnete der Knabe, »der Großpapa hat es gesagt. Und stell dir mal vor, Dobbin, wie prima es wäre, wenn du mein Onkel würdest.« Die zitternde Stimme des alten Sedley im Nebenzimmer rief in diesem Augenblick nach Amelia, und das Lachen hörte auf.

Daß sich die Einstellung des alten Osborne änderte, war deutlich zu merken. Er fragte George zuweilen nach seinem Onkel und lachte über den Knaben, wenn dieser nachahmte, wie Joseph »Gott behüte mich!« sagte und seine Suppe verschlang. Dann erklärte er: »Es ist respektlos, wenn ihr jungen Burschen eure Verwandten verspottet. Miss Osborne, wenn du heute ausfährst, so gib meine Karte bei Mr. Sedley ab, hörst du? Mit ihm habe ich ja keinen Streit.«

Die Karte wurde erwidert, und Joseph und der Major wurden zum Diner geladen – wohl dem glänzendsten und langweiligsten, das Mr. Osborne je gegeben hatte. Jedes Stück des Familiensilbers wurde ausgestellt, und die beste Gesellschaft war geladen. Mr. Sedley führte Miss Osborne zu Tisch, und sie war sehr gnädig gegen ihn, während sie kaum ein Wort an den Major richtete, der furchtsam fern von ihr neben[380] Mr. Osborne saß. Joseph sagte feierlich, es sei die beste klare Schildkrötensuppe, die er im Leben gegessen habe, und fragte Mr. Osborne, wo er seinen Madeira herhabe.

»Er ist von Sedley«, flüsterte der Butler seinem Herrn zu.

»Ich habe ihn schon lange und mußte eine Stange Geld dafür bezahlen«, sagte Mr. Osborne laut zu seinem Gast, und seinem Nachbar zur Rechten flüsterte er zu, er habe ihn »auf der Auktion des Alten« gekauft.

Mehr als einmal fragte er den Major nach – nach Mrs. George Osborne – ein Thema, bei dem der Major sehr beredt sein konnte, wenn er wollte. Er erzählte dem alten Osborne, was sie alles erdulden mußte und von ihrer leidenschaftlichen Liebe zu ihrem Mann, dessen Andenken sie noch in Ehren halte, wie zärtlich und pflichtgetreu sie ihre Eltern unterstützt und wie sie ihren Knaben hingegeben habe, da sie dies für ihre Pflicht hielt. »Sie wissen nicht, was sie durchgemacht hat«, sagte der ehrliche Dobbin mit zitternder Stimme, »und ich hoffe und glaube, Sie werden sich mit ihr aussöhnen. Wenn sie Ihnen den Sohn genommen hat, so hat sie Ihnen dafür ihren eigenen gegeben. Wie sehr Sie auch Ihren George geliebt haben mögen, Sie können sich doch darauf verlassen, daß sie den ihrigen noch zehnmal mehr liebte.«

»Bei Gott, Sie sind ein guter Bursche«, war alles, was Mr. Osborne sagte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß der Witwe die Trennung von ihrem Sohn schmerzlich sein könnte oder daß es ihr Kummer bereiten könnte, zu sehen, wie er reich wurde. Man sprach schon von einer bevorstehenden und unvermeidlichen Versöhnung, und Amelias Herz begann bei dem Gedanken an die furchtbare Zusammenkunft mit Georges Vater bereits zu klopfen.

Zu dieser Versöhnung sollte es jedoch nicht kommen. Die langwierige Krankheit und der Tod des alten Sedley kamen dazwischen, und danach war eine Zusammenkunft eine Zeitlang unmöglich. Jene Katastrophe und andere Ereignisse mögen ihre Spuren in Mr. Osborne zurückgelassen haben. Er [381] war in der letzten Zeit sehr hinfällig, stark gealtert, und seine Gedanken beschäftigten sich mit vielem. Er ließ seine Rechtsanwälte kommen und änderte offensichtlich etwas an seinem Testament. Der behandelnde Arzt erklärte ihn für sehr schwach und erregt und sprach von einem kleinen Aderlaß und Seeluft; er benutzte aber keines dieser Heilmittel.

Eines Tages vermißte ihn sein Diener beim Frühstück und ging in sein Ankleidezimmer hinauf. Dort fand er ihn, auf dem Boden vor seinem Toilettentisch, vom Schlag getroffen. Miss Osborne wurde benachrichtigt, die Ärzte geholt, Georgy blieb der Schule fern, die Aderlasser und Schröpfer kamen. Osborne gewann zeitweise das Bewußtsein zurück, konnte aber nicht mehr sprechen, obwohl er sich ein paarmal krampfhaft bemühte.

Vier Tage später starb er. Die Ärzte gingen, die Leute des Leichenbestatters kamen; die Fensterläden zum Russell Square wurden geschlossen. Bullock erschien in rasender Eile aus der City. »Wieviel hat er dem Jungen hinterlassen? Doch sicherlich nicht die Hälfte? Sicherlich doch gleiche Teile für alle drei?« Es war ein aufregender Augenblick.

Was war es, was der arme alte Mann ein paarmal vergeblich auszudrücken versucht hatte? Hoffentlich der Wunsch, Amelia zu sehen, um sich, ehe er die Welt verließ, mit der lieben, treuen Frau seines Sohnes zu versöhnen. Das wird es höchstwahrscheinlich gewesen sein, denn sein Testament bewies, daß der Haß, den er solange genährt, aus seinem Herzen verschwunden war.

In der Tasche seines Schlafrockes fand man den Brief mit dem großen roten Siegel, den ihm George von Waterloo geschrieben hatte. Er hatte auch die anderen Papiere seines Sohnes durchgesehen, denn der Schlüssel zu dem Kasten, in dem er sie aufbewahrte, war ebenfalls in seiner Tasche, und die Siegel und Umschläge waren erbrochen. Das war höchstwahrscheinlich in der Nacht vor dem Schlaganfall geschehen; der Butler hatte ihm noch den Tee in sein Studierzimmer [382] gebracht und ihn dabei vorgefunden, wie er in der großen roten Familienbibel las.

Als das Testament geöffnet wurde, stellte es sich heraus, daß die eine Hälfte des Vermögens George und die andere Hälfte zu gleichen Teilen den beiden Schwestern vermacht war. Mr. Bullock sollte zum gemeinsamen Vorteil aller die Geschäfte des Handelshauses weiterhin leiten oder die Firma löschen, wie er es für richtig hielt. Eine Jahresrente von fünfhundert Pfund auf Kosten des Vermögens von George sollte seine Mutter bekommen, »die Witwe meines geliebten Sohnes George Osborne«, die die Vormundschaft über den Knaben wieder übernehmen sollte.

»Major Dobbin, der Freund meines geliebten Sohnes«, war zum Testamentsvollstrecker ernannt, »und da er aus eigener Güte und Freigebigkeit aus seinem Privatvermögen meinen Enkel und die Witwe meines Sohnes unterhielt, als sie ohne andere Unterstützung waren« (fuhr der Testator fort), »danke ich ihm hiermit herzlich für seine Liebe und Achtung ihnen gegenüber und bitte ihn, eine Summe anzunehmen, die zum Kauf eines Oberstleutnantspatentes ausreichen wird, oder sie nach seinem Ermessen anders zu verwenden.«

Als Amelia hörte, daß ihr Schwiegervater sich mit ihr ausgesöhnt hatte, schmolz ihr Herz, und sie war dankbar für das ihr hinterlassene Geld. Als sie aber vernahm, daß Georgy ihr wiedergegeben sei und wie und von wem und daß Williams Güte sie in ihrer Armut unterstützt habe und daß ihr der Mann und der Sohn von William gegeben worden sei – oh, da sank sie auf die Knie und flehte Segen auf das treue, gütige Herz herab. Sie beugte sich demütig nieder und küßte gleichsam die Füße dieser schönen, großmütigen Liebe.

Dankbarkeit war alles, womit sie diese bewundernswürdige Hingabe und die Wohltaten lohnen konnte – nur Dankbarkeit! Wenn sie an eine andere Vergeltung dachte, so erhob sich das Bild Georges aus dem Grab und sagte: »Du bist mein, nur mein – jetzt und für immer.«

[383] William kannte ihre Gefühle, hatte er nicht sein ganzes Leben damit zugebracht, sie zu erraten?


Als der Inhalt von Mr. Osbornes Testament der Welt bekannt wurde, war es sehr aufschlußreich, zu beobachten, wie Mrs. George Osborne in der Achtung ihres Bekanntenkreises stieg. Die Dienstboten in Josephs Haus, die ihre bescheidenen Aufträge in Frage stellten und meinten, sie wollten »den Herrn fragen«, ob sie gehorchen sollten oder nicht, dachten jetzt nicht mehr daran. Die Köchin vergaß, über die schäbigen alten Kleider zu lächeln (die durch den Putz der Küchendame am Sonntagabend zum Kirchgang wirklich in den Schatten gestellt wurden). Die anderen brummten nicht mehr, wenn ihre Klingel ertönte, oder vergaßen gar eine Zeitlang, dem Ruf zu folgen. Der Kutscher, der sonst knurrte, daß seine Pferde schon wie der heraus müßten und sein Wagen in ein Krankenhaus für den alten Kerl und Mrs. Osborne verwandelt würde, fuhr sie jetzt mit größter Bereitwilligkeit und zitterte, daß er durch Osbornes Kutscher ersetzt werden könnte. Er fragte, was diese Kutscher da vom Russell Square denn schon von der Stadt verstünden und ob sie es überhaupt fertigbrächten, vor einer Dame auf dem Bock zu sitzen. Josephs Freunde und Freundinnen interessierten sich plötzlich für Emmy, und die Beileidskarten häuften sich auf dem Tisch in der Halle. Joseph selbst, der sie als gutmütige, harmlose Bettlerin betrachtet hatte, der er aus Pflichtbewußtsein Nahrung und Obdach gab, behandelte nun sie und den reichen kleinen Jungen, seinen Neffen, mit der größten Achtung. Er war eifrig darauf bedacht, daß sie Abwechslung und Unterhaltung bekam nach all ihren Sorgen und Prüfungen – »das arme liebe Mädchen«. Er erschien jetzt sogar am Frühstückstisch und erkundigte sich angelegentlich, wie sie den Tag zu verbringen wünsche.

In ihrer Eigenschaft als Georges Vormund bot sie mit Zustimmung des Majors, ihres Mitbevollmächtigten, Miss [384] Osborne an, in dem Haus am Russell Square wohnen zu bleiben, solange es ihr beliebe. Die Dame erklärte aber mit Dank, daß sie nicht daran denke, allein in dem traurigen Haus zu bleiben, und, begleitet von zwei alten Dienern, reiste sie in tiefer Trauer nach Cheltenham. Die übrigen Dienstboten wurden großzügig entlohnt und entlassen. Der treue, alte Butler, den Mrs. Osborne zu behalten vorschlug, lehnte ab und zog es vor, seine Ersparnisse in einem Gasthaus anzulegen, wo es ihm hoffentlich nicht schlecht erging. Da Miss Osborne nicht am Russell Square wohnen wollte, lehnte es Mrs. Osborne nach einigen Besprechungen ebenfalls ab, das düstere alte Haus zu beziehen. Es wurde also ausgeräumt, die prächtigen Möbel und Einrichtungsgegenstände, die schrecklichen Kronleuchter und die trostlosen Spiegel verpackt und verstaut, die prachtvollen Rosenholzmöbel vom Salon wurden in Stroh gehüllt, die Teppiche zusammengerollt und verschnürt, die kleine auserlesene Bibliothek gutgebundener Bücher wurde in zwei Weinkisten gepackt, und all diese Kostbarkeiten wurden auf mehreren riesigen Möbelwagen in die Gewerbehalle gebracht, wo sie bis zu Georgys Volljährigkeit liegen sollten. Die großen, schweren, dunklen Silberkästen wanderten in die Keller der bedeutenden Bank von Stumpy und Rowdy, um dort denselben Zeitpunkt zu erwarten.

Eines Tages besuchte Emmy mit George an der Hand, in tiefe Trauer gekleidet, das verlassene Haus, das sie seit ihren Mädchenjahren nicht mehr betreten hatte. Der Platz davor, wo die Möbelwagen beladen worden und weggerollt waren, war strohbedeckt. Sie begaben sich in die großen, leeren Räume. An den Wänden sah man noch die Spuren der Gemälde und Spiegel, dann gingen sie die große, glatte Steintreppe hinauf zu den oberen Räumen, in den, wo der Großpapa gestorben war, wie George flüsternd bemerkte, und dann noch höher in Georges eigenes Zimmer. Der Knabe hielt sich noch immer an ihrer Hand fest, aber sie dachte an einen [385] anderen. Sie wußte, daß das Zimmer seinem Vater gehört hatte, wie es später ihm gehörte.

Sie trat an eins der offenen Fenster (zu denen sie kranken Herzens emporgestarrt hatte, nachdem ihr das Kind weggenommen worden war) und konnte von dort aus über die Bäume vom Russell Square hinweg das alte Haus erblicken, in dem sie geboren war und wo sie in ihrer Jugend so viele glückliche Tage verlebt hatte. Alles tauchte wieder vor ihr auf: die schönen Ferien, die freundlichen Gesichter, die sorglose, fröhliche Vergangenheit und die langen Schmerzen und Prüfungen, die sie später zu Boden geworfen hatten. Sie dachte daran und an den Mann, der ihr treuer Beschützer, ihr guter Genius, ihr einziger Wohltäter, ihr zärtlicher, großmütiger Freund gewesen war.

»Sieh mal, Mutter«, rief George, »hier ist ein G.O. mit einem Diamanten in das Glas geritzt. Ich habe es noch nie gesehen. Ich war es aber nicht.«

»Es war deines Vaters Zimmer, lange, lange vor deiner Geburt, George«, sagte sie und küßte den Knaben errötend.

Als sie nach Richmond zurückfuhren, war sie sehr schweigsam. Dort hatten sie vorläufig ein Haus gemietet, und dort statteten ihr lächelnde Rechtsanwälte diensteifrige Besuche ab (die sie sicher auf die Rechnung setzten), und dort gab es natürlich auch ein Zimmer für Major Dobbin, der häufig herübergeritten kam, da er für sein kleines Mündel sehr viel Geschäftliches zu erledigen hatte.

Nun wurde auch Georgy auf unbegrenzten Urlaub aus Mr. Veals Schule genommen, und dieser erhielt den Auftrag, eine Inschrift für eine schöne Marmorplatte anzufertigen, die in der Findelhauskirche unter dem Monument Hauptmann Georges Osbornes angebracht werden sollte.


Obwohl die Dame Bullock, Georges Tante, durch dieses kleine Ungeheuer um die Hälfte der Summe gebracht worden war, die sie von ihrem Vater erwartet hatte, bewies sie ihre [386] christliche Gesinnung doch dadurch, daß sie sich mit der Mutter und dem Knaben aussöhnte. Roehampton ist nicht weit von Richmond entfernt. Eines Tages fuhr daher die Kutsche mit dem goldenen Bullenwappen am Wagenschlag und den schwammigen Kindern im Innern an Amelias Haus in Richmond vor, und die Familie Bullock fiel in den Garten ein, wo Amelia ein Buch las, Joseph in einer Laube gelassen Erdbeeren in Wein tauchte und der Major in einer indischen Jacke gebückt stand und Georgy seinen Rücken zum Bockspringen lieh. Der Junge sprang über Dobbins Kopf hinweg geradewegs in die kleine Vorhut der Bullocks hinein, die mit ungeheuren schwarzen Schleifen an den Hüten und breiten schwarzen Schärpen ihre trauernde Mama bei diesem Besuch begleiteten.

Er hat gerade das richtige Alter für Rosa, dachte die zärtliche Mutter und blickte auf ihr liebes Kind, ein ungesund aussehendes kleines Fräulein von sieben.

»Rosa, geh und gib deinem lieben Cousin einen Kuß«, sagte Mrs. Frederick. »Kennst du mich nicht, George? Ich bin deine Tante.«

»Ich kenne dich sehr gut, aber ich will nicht gern geküßt werden«, sagte George und wich vor der gehorsamen Liebkosung seiner Cousine zurück.

»Führe mich zu deiner lieben Mama, du drolliges Kind«, sagte Mrs. Frederick, und die beiden Damen sahen sich nun nach fünfzehn Jahren zum ersten Male wieder. In der Zeit, als Emmy mit Armut und Sorgen zu kämpfen hatte, war es der anderen nie eingefallen, sie zu besuchen; da es ihr aber jetzt leidlich gut ging, verstand es sich von selbst, daß die Schwägerin kam.

So kamen auch viele andere. Unsere alte Freundin, Miss Swartz, kam mit ihrem Mann von Hampton Court herbeigedonnert, begleitet von Lakaien in quittegelber Livree, und sie liebte Amelia so ungestüm wie eh und je. Die Swartz hätte Amelia stets gern gehabt, wenn sie sie nur gesehen hätte, die [387] Gerechtigkeit muß man ihr widerfahren lassen. Aber que voulez-vous? In dieser Riesenstadt hat man nicht die Zeit, seine Freunde zu suchen. Wenn sie aus Reih und Glied fallen, dann verschwinden sie, und wir marschieren ohne sie weiter. Wer wird denn schon vermißt auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit?

Kurz gesagt, sah sich Emmy noch vor Ende der Trauerzeit um Mr. Osborne im Mittelpunkt eines wirklich sehr vornehmen Kreises, dessen Mitglieder sich nicht vorstellen konnten, daß jemand, der dazugehörte, nicht sehr glücklich sein könnte. Es gab unter den Damen kaum eine, die nicht einen Peer in der Verwandtschaft gehabt hätte, wenn auch ihr Gemahl selbst nur Ladenbesitzer in der City war. Einige der Damen waren sehr gut unterrichtet und blaustrümpfig, sie lasen Mrs. Somerville 3 und besuchten das Königliche Institut 4. Andere waren streng evangelisch und hielten sich an die Exeter Hall 5. Emmy kam sich in ihrem Geschwätz recht verloren vor, und bei ein paar Gelegenheiten, wo sie Mrs. Bullocks Gastfreundschaft annehmen mußte, litt sie entsetzlich. Diese Dame mußte sie unbedingt begönnern und hatte großzügigerweise beschlossen, sie umzuformen. Sie verschaffte Amelia Modistinnen und brachte ihren Haushalt und ihre Manieren in Ordnung. Sie fuhr sehr oft von Roehampton herüber und unterhielt ihre Freundin mit fadem Modeklatsch und lauem Hoftratsch. Joseph hörte ihr gern zu, aber der Major entfernte sich stets brummend, wenn diese Frau mit ihrer Pseudovornehmheit erschien. Bei einer der besten Gesellschaften von Frederick Bullock schlief er nach dem Essen direkt unter dem kahlen Schädel des Bankiers ein. Fred war immer noch darauf bedacht, daß das Osbornesche Vermögen von Stumpy und Rowdy in seine Firma überführt werden sollte, während Amelia, die weder Latein verstand noch wußte, wer den letzten Bombenartikel in der »Edinburgh Review« geschrieben hatte, die auch Mr. Peels neuerliches ungewöhnliches Schwanken bei dem verhängnisvollen Gesetz [388] zur Unterstützung der Katholiken 6 weder bedauerte noch lobte, stumm unter den Damen in dem großartigen Salon saß, der auf samtigen Rasen, wohlgepflegte Gartenwege und glänzende Gewächshäuser hinausging.

»Sie scheint gutmütig, aber fade zu sein«, sagte Mrs. Rowdy, »der Major scheint ungemein verliebt zu sein.«

»Es fehlt ihr bedauerlicherweise an Lebensart«, meinte Mrs. Hollycock. »Mein liebes Herz, es wird Ihnen niemals gelingen, sie umzuformen.«

»Sie ist entsetzlich unwissend oder gleichgültig«, erklärte Mrs. Glowry mit Grabesstimme und einem traurigen Schütteln ihres Kopfes und Turbans. »Ich fragte sie, ob sie glaubte, daß der Papst im Jahre 1836, wie Mr. Jowls, oder 1839, wie Mr. Wapshot meint, fallen werde, und sie antwortete: ›Der arme Papst, ich will's nicht hoffen. Was hat er denn getan?‹«

»Sie ist die Witwe meines Bruders, meine teuren Freundinnen«, entgegnete Mrs. Frederick. »Und als solche, meine ich, sind wir verpflichtet, ihr bei ihrem Eintritt in die Welt alle nur mögliche Aufmerksamkeit und Belehrung angedeihen zu lassen. Sie können sich wohl vorstellen, daß bei jemandem, dessen Mißgeschick bekannt ist, keine eigennützigen Motive obwalten.«

»Die arme, liebe Mrs. Bullock«, sagte Mrs. Rowdy zu Mrs. Hollycock, als sie zusammen abfuhren. »Sie schmiedet stets Pläne und Ränke. Sie möchte gern, daß Mrs. Osborne ihr Bankkonto bei uns löscht und in ihrer Firma anlegt – und die Art und Weise, wie sie dem Jungen schmeichelt und es so einrichtet, daß er bei ihrer triefäugigen kleinen Rosa sitzt, ist wahrhaftig lächerlich.«

»Ich wollte, die Glowry erstickte an ihrem ›Mann der Sünde‹ und ihrer ›Schlacht von Armageddon‹«, rief die andere, und der Wagen rollte über die Putney Bridge davon.

Diese Gesellschaft war für Emmy zu graulich vornehm, und alle machten Freudensprünge, als eine Reise ins Ausland vorgeschlagen wurde.

Fußnoten

1 im Alten Testament der vierte und der zweite Sohn Jakobs mit Lea (1. Mose 35, 23).

2 im Alten Testament der jüngste Sohn Jakobs mit Rahel (1. Mose 35, 24).

3 Mary Somerville (1780-1872), eine der ersten englischen Naturwissenschaftlerinnen; verfaßte verschiedene physikalische Werke.

4 eines der ersten naturwissenschaftlichen Forschungsinstitute Großbritanniens, das 1799 gegründet wurde und an dem auch öffentliche Vorträge gehalten wurden.

5 große Versammlungshalle in London, in der vornehmlich Treffen religiöser und philanthropischer Institutionen stattfanden. In übertragener Bedeutung steht der Name oft für die Low Church (engl. = Niederkirche), die bürgerlich-demokratische, zum Protestantismus neigende Richtung innerhalb der anglikanischen Kirche, der englischen Staatskirche.

6 Der erste Schritt zur Beseitigung der Streitigkeiten zwischen der englischen Staatskirche und den unterdrückten Katholiken, vor allem in Irland, wurde 1778 mit dem Gesetz zur Unterstützung der Katholiken (Catholic Relief Bill) getan. Thackeray verwechselt dieses Gesetz hier offenbar mit dem Gesetz zur Gleichstellung der Katholiken (Catholic Emancipation Bill), das 1829 unter dem damaligen Innenminister Sir Robert Peel (1788-1850) im englischen Parlament durchgesetzt wurde.

[389] 62. Kapitel
Am Rhein

Nach den obenerwähnten Alltagsbegebenheiten waren ein paar Wochen vergangen. Das Parlament hatte Ferien, der Sommer war schon vorgerückt, und die bessere Gesellschaft Londons stand im Begriff, die Stadt zu verlassen und ihre jährliche Reise zum Vergnügen oder zur Erholung anzutreten. Eines schönen Morgens verließ der Dampfer »Batavier« mit einer zahlreichen Gesellschaft von Englandflüchtigen die Anlegestelle bei den Tower Stairs. Das Zelt über dem Achterdeck war gespannt, und auf den Bänken und in den Gangways tummelten sich Dutzende rosiger Kinder, geschäftige Kindermädchen, Damen in den hübschesten rosa Hauben und Sommerkleidern, Herren in Reisemützen und Leinenjacken und mit Schnurrbärten, die für die bevorstehende Tour gerade zu keimen anfingen, und mit gestärkten Halstüchern und säuberlich gebürsteten Hüten, dicke, nette, alte Veteranen, wie sie Europa seit Ende des letzten Krieges überschwemmten, um ihren Nationalpatriotismus in jede Stadt des Kontinents zu tragen. Die Ansammlung von Hutschachteln, verschließbaren Schreibpulten und Toilettenkästen war ungeheuer. Da waren elegante junge Studenten von Cambridge, die mit ihrem Tutor eine Studienreise nach Nonnenwerth oder Königswinter antraten. Da waren irische Herren mit prächtigen Backenbärten und Juwelen, die ununterbrochen von Pferden sprachen und ungeheuer höflich gegenüber den jungen Damen an Bord waren, die wiederum mit mädchenhafter Scham die Cambridger und ihren bleichgesichtigen Tutor mieden. Da waren Müßiggänger von der Pall Mall, die nach Ems oder Wiesbaden zu einer Brunnenkur fuhren, um die Diners der Saison hinwegspülen, und zu einem Spielchen Roulette oder Rot und Schwarz, um den Kreislauf zu beleben. Da war der alte Methusalem, der eine junge Frau geheiratet hatte, und Hauptmann Papillon von der Garde, der ihren Sonnenschirm [390] und ihre Reiseführer trug. Da war der junge May, der mit seiner jungen Frau eine Vergnügungsreise machte (sie war eine ehemalige Mrs. Winter und mit Mays Großmutter zur Schule gegangen). Da waren Sir John und seine Lady mit einem Dutzend Kindern und den entsprechenden Kindermädchen, und da war die zahlreiche adlige Familie Bareacres, die ganz für sich in der Nähe des Steuerrades saß, alle anstarrte und mit niemandem sprach. Ihre Wagen mit den Grafenkronen, auf denen sich glänzende Gepäckkästen häuften, standen eingezwängt zwischen einem Dutzend anderer derartiger Fahrzeuge, so daß es schwer war, an sie heranzukommen, und die armen Insassen der Vorderdeckkabinen sich kaum rühren konnten.

Dort wohnten einige prächtig gekleidete Herren aus Houndsditch, die ihren eigenen Proviant mitbrachten, doch die Hälfte der lustigen Menschen im großen Salon hätten auskaufen können; dann ein paar ehrliche Burschen mit Schnurrbärten und Mappen, die sich ans Skizzieren machten, noch ehe sie eine halbe Stunde an Bord waren. Es wohnten dort auch einige französische Zofen, die schon schrecklich seekrank waren, ehe der Dampfer Greenwich passiert hatte, und weiterhin zwei, drei Reitknechte, die sich in der Nähe der ihnen anvertrauten Pferde umhertrieben oder neben den Schaufelrädern über die Reling lehnten und besprachen, wer wohl beim Sankt-Leger-Pferderennen starten dürfe und was man beim Goodwood-Pokal gewinnen oder verlieren könnte.

Nachdem die Reisediener auf dem Schiff herumgeklettert waren und ihre verschiedenen Herren in den Kajüten oder auf dem Deck untergebracht hatten, versammelten sie sich und begannen zu schwatzen und zu rauchen. Die hebräischen Herren gesellten sich zu ihnen und sahen sich die Wagen an. Darunter befand sich Sir Johns große Kutsche, die dreizehn Personen aufnehmen konnte, Lord Methusalems Kutsche, drei verschiedene Wagen von Lord Bareacres, die bezahlen mochte, wer Lust hatte. Es war nur ein Wunder, wo Mylord [391] das Bargeld hernahm, um seine Reisekosten zu bestreiten. Die hebräischen Herren wußten, wie er dazu gekommen war. Sie wußten, wieviel Geld der Lord in diesem Augenblick in der Tasche hatte und wieviel Zinsen er dafür bezahlte und wer es ihm gegeben hatte. Schließlich befand sich unter den Kutschen auch ein sehr hübscher Reisewagen, über den die Herren ihre Vermutungen austauschten.

»A qui cette voiture là?« 1 fragte ein herrschaftlicher Diener mit einer großen Saffiangeldtasche und Ohrringen einen anderen, ebenfalls mit Ohrringen und einer großen Saffiangeldtasche.

»C'est à Kirsch je bense – je l'ai vu tout à l'heure – qui brenait des sangviches dans la voiture« 2, erwiderte dieser im schönsten Sächsisch-Französisch.

Kirsch tauchte kurz darauf aus dem Schiffsraum auf, wo er den Matrosen, die das Reisegepäck verstauten, mit vielsprachigen Flüchen gewürzte Instruktionen gegeben hatte. Er gab nun seinen Dolmetscherkollegen selbst einen Bericht. Er sagte ihnen, der Wagen gehöre einem ungeheuer reichen Nabob aus Kalkutta und Jamaika, der ihn für die Reise angestellt habe. In diesem Augenblick erweckte ein junger Herr ihre Aufmerksamkeit. Er war von der Brücke zwischen den Schaufelrädern vertrieben worden und hatte sich von dort auf das Verdeck von Lord Methusalems Wagen herabgelassen. Von da aus kletterte er über die anderen Wagen und Gepäckkästen, bis er sich auf seine eigene Kutsche geschwungen hatte, und nun stieg er unter dem Beifall der zuschauenden Diener durch das Fenster in das Wageninnere.

»Nous allons avoir une belle traversée, Monsieur George« 3, sagte der Kurier mit einem Grinsen und lüftete seine goldbetreßte Mütze.

»Zum Teufel mit Ihrem Französisch«, erwiderte der junge Herr. »Wo ist denn der Zwieback, he?« worauf ihm Kirsch auf englisch, oder jedenfalls in einer Nachahmung dieser Sprache, wie er gerade dazu fähig war, antwortete. Denn [392] wenn Herr Kirsch auch mit allen Sprachen vertraut war, so beherrschte er doch keine einzige und sprach alle gleich geläufig und fehlerhaft.

Der herrschsüchtige junge Gentleman, der an seinen Zwiebäcken kaute (es war tatsächlich höchste Zeit, daß er sich etwas erquickte, denn er hatte vor nunmehr drei langen Stunden in Richmond gefrühstückt), war unser junger Freund George Osborne.

Onkel Joseph und seine Mama saßen auf dem Achterdeck zusammen mit einem Herren, den sie sehr häufig um sich hatten, und die vier hatten gerade eine Sommerreise angetreten.

Joseph saß in diesem Augenblick an Deck unter dem Zelt und ganz nahe dem Grafen Bareacres und seiner Familie, deren Tun und Treiben die Aufmerksamkeit des Bengalen fast völlig in Anspruch nahm. Das edle Paar sah bedeutend jünger aus, als in dem ereignisreichen Jahre 1815, als Joseph sie in Brüssel gesehen hatte. (In Indien hatte er stets erzählt, er sei eng mit der Familie befreundet.) Lady Bareacres' Haar, damals dunkel, hatte jetzt eine schöne goldbraune Farbe, und Lord Bareacres' Backenbart, früher rot, war gegenwärtig schön schwarz und schimmerte purpurn und grün im Licht. Aber bei allen Veränderungen beschäftigten Joseph das Tun und Treiben des edlen Paares stark. Die Gegenwart eines Lords hielt ihn gefangen, und er konnte seine Blicke nicht abwenden.

»Die Leute dort scheinen dich sehr zu interessieren«, meinte Dobbin, der ihn beobachtet hatte, lachend. Amelia lachte ebenfalls. Sie trug einen Strohhut mit schwarzen Bändern und war auch sonst in Trauer, aber die harmlose Geschäftigkeit und die Ferienstimmung während der Reise gefielen ihr und regten sie an, und sie sah sehr glücklich aus.

»Was für ein himmlischer Tag!« sagte Emmy und fügte etwas naiv hinzu: »Ich hoffe, wir werden eine ruhige Überfahrt haben.«

[393] Joseph winkte verächtlich ab und warf einen verstohlenen Blick auf die vornehmen Leute ihm gegenüber.

»Wenn du solche Seereisen mitgemacht hättest wie wir«, antwortete er, »dann würdest du dich nicht um das Wettersorgen.« Aber trotz seiner großen Erfahrungen als Seereisender verbrachte er die Nacht, entsetzlich krank, in seinem Wagen, und sein Diener mußte ihn mit Kognak, Grog und anderen Delikatessen pflegen.

Zur festgesetzten Zeit landete die glückliche Gesellschaft im Hafen von Rotterdam, und von dort brachte sie ein anderer Dampfer nach Köln. Hier wurden Wagen und Familie an Land gebrach, und Joseph fühlte sich nicht wenig geschmeichelt, seine Ankunft in den Kölner Zeitungen als »Herr Graf Lord von Sedley, nebst Begleitung aus London« angezeigt zu sehen. Er hatte seinen Galaanzug mitgebracht und darauf bestanden, daß auch Dobbin seine Offiziersutensilien mitnehmen sollte. Er erklärte, er habe die Absicht, sich an einigen ausländischen Höfen vorstellen zu lassen und den Herrschern der Länder, die er mit seinem Besuch beehrte, seine Aufwartung zu machen.

Wo immer die Gesellschaft Aufenthalt hatte und sich eine Gelegenheit bot, gab Joseph seine und des Majors Visitenkarte bei »unserem Gesandten« ab. Es gelang nur mit großer Mühe, ihn davon abzubringen, dem englischen Botschafter in der Freien Stadt Judenstadt in Dreispitz und engen Beinkleidern seine Aufwartung zu machen, als dieser gastfreundliche Beamte unsere Reisenden zum Diner lud. Er schrieb ein Reisetagebuch, in dem er die Mängel oder Vorzüge der verschiedenen Gasthäuser, in denen er abstieg, und der Weine und Gerichte, die er genoß, sorgfältig aufzeichnete.

Emmy war sehr glücklich und vergnügt. Dobbin trug stets ihren Malerstuhl und ihr Skizzenbuch und bewunderte die Zeichnungen der gutmütigen kleinen Künstlerin, wie sie noch niemals bewundert worden waren. Sie saß auf Dampferdecks und zeichnete Felsen und Schlösser, oder sie bestieg Esel und [394] ritt zu alten Raubritterburgen hinauf, und stets wurde sie von ihren beiden Adjutanten, Georgy und Dobbin, begleitet. Sie lachte über die drollige Figur, die der Major auf dem Esel abgab, wenn seine langen Beine die Erde berührten, und er stimmte ein. Er spielte den Dolmetscher für die Gesellschaft, da er vom Militär her gut Deutsch konnte, und kämpfte mit dem begeisterten George noch einmal die Feldzüge am Rhein und in der Pfalz.

Im Laufe weniger Wochen machte Georgy durch beharrliche Unterhaltung mit Herrn Kirsch auf dem Kutschbock große Fortschritte im Deutschen, und er sprach mit den Kellnern und Postillionen in einer Weise, die seine Mutter entzückte und seinen Vormund amüsierte.

Joseph nahm an den Nachmittagsausflügen seiner Reisegefährten kaum teil. Nach dem Essen schlief er viel oder sonnte sich in den schönen Wirtshausgärten. Oh, die herrlichen Rheingärten. Liebliche Bilder des Friedens und Sonnenscheins! Ihr majestätischen rotglühenden Berge, deren Gipfel sich in dem prächtigen Strom spiegeln – wer hat euch je gesehen und bewahrte nicht ein dankbares Andenken an diese Szenen freundlicher Ruhe und Harmonie? Die Feder niederzulegen und nur an das schöne Rheinland zu denken macht schon glücklich. An diesen Sommerabenden kommen die Kühe in Scharen mit Gebrüll und Glockengeschepper von den Bergen in die alte Stadt mit ihren alten Gräben und Toren und Türmen und den Kastanienbäumen, die lange blaue Schatten über das Gras werfen. Der Himmel und der Fluß zu unseren Füßen flammen goldrot, und der Mond steht bereits am Himmel und blickt blaß auf den Sonnenuntergang. Die Sonne versinkt hinter den hohen burggekrönten Bergen, und plötzlich bricht die Nacht herein; der Fluß wird dunkler und dunkler, Lichterschein aus den Fenstern in den alten Wällen fällt zitternd aufs Wasser, und friedliches Licht schimmert auch in den Dörfern am Fuße des Berges am anderen Ufer.

[395] Joseph schlief also viel, sein indisches Taschentuch über das Gesicht gebreitet, und ließ es sich gut gehen. Er las alle Neuigkeiten aus England und jedes Wort in Galignanis bewundernswerter Zeitschrift (möge der Segen aller Engländer, die je im Ausland gewesen sind, mit den Gründern und Eigentümern dieses Raubdrucks sein!). Er wurde weder wach noch schlafend von seinen Freunden sehr vermißt. Ja, sie waren sehr glücklich. Abends gingen sie oft in die Oper – in die schmucken, anspruchslosen lieben alten Opernhäuser in den deutschen Städten, wo auf der einen Seite der Adel weinend und strümpfestrickend sitzt und die Bürgerschaft auf der anderen und wo Seine Durchlaucht der Herzog und die durchlauchtige Familie, alle sehr dick und gutmütig, die große Loge in der Mitte einnehmen und wo das Parkett voll ist von den elegantesten Offizieren mit schlanker Taille und strohgelben Schnurrbärten und einer Tagesgage von siebzehn Pfennig bei vollem Sold. Die Oper bereitete Emmy besonderes Entzücken, und hier wurde sie zum erstenmal in die Wunderwelt Mozarts und Cimarosas 4 eingeweiht. Wir haben schon früher die Vorliebe des Majors für die Musik erwähnt und sein Flötenspiel gerühmt. Sein größtes Vergnügen in der Oper bestand jedoch darin, zu beobachten, wie Emmy von den Klängen hingerissen wurde. Eine neue Welt der Liebe und Schönheit brach über sie herein, als sie diesen göttlichen Kompositionen lauschte. Sie besaß ein feines, empfindliches Gefühl, wie konnte sie daher gleichgültig bleiben, wenn sie Mozart hörte? Die zärtlichen Stellen im »Don Giovanni« riefen eine so heftige Begeisterung in ihr hervor, daß sie sich beim Abendgebet fragte, ob es nicht gottlos sei, so viel Freude zu spüren, wie sie »Vedrai carino« 5 und »Batti, batti« 6 in ihrem sanften kleinen Herzen erweckten. Der Major, den sie als ihren theologischen Ratgeber darüber befragte und der selbst eine fromme und ergebene Seele besaß, erklärte ihr jedoch, daß ihn selbst alles Schöne in der Kunst und in der Natur dankbar und glücklich mache und daß das Vergnügen, das [396] wir empfinden, wenn wir gute Musik hören, die Sterne am Himmel betrachten oder eine schöne Landschaft oder ein wertvolles Bild, eine Gnade sei, für die wir dem Himmel ebenso dankbar sein müßten wie für jede andere weltliche Segnung. Mrs. Amelia erhob einige schwache Einwände, die aus gewissen theologischen Werken wie die »Apfelfrau von Finchley« und anderen dieser Geistesrichtung stammten, mit denen sie während ihres Lebens in Brompton versorgt worden war. Als Antwort erzählte ihr der Major die orientalische Fabel von der Eule, die glaubte, der Sonnenschein sei unerträglich für die Augen und die Nachtigall werde von allen überschätzt.

»Es liegt eben in der Natur des einen, zu singen, und in der des anderen, zu heulen«, sagte er lachend. »Bei der süßen Stimme, die Sie selbst haben, müssen Sie ja zur Partei der Nachtigallen gehören.«

Ich verweile gern bei diesem Lebensabschnitt Amelias und freue mich, daß sie heiter und glücklich war. Bekanntlich hatte sie bisher noch nicht viel von diesem Leben gespürt und noch keine Mittel und Wege gefunden, ihren Geschmack oder Verstand zu bilden. Bis jetzt wurde sie von kleinen Geistern beherrscht. Das ist das Los mancher Frau, und da jede vom schönen Geschlecht die Rivalin ihrer Artgenossinnen ist, so gilt Schüchternheit als Torheit in ihrem barmherzigen Urteil und Sanftmut als Dummheit, und besonders Schweigsamkeit findet keine Gnade in den Augen der weiblichen Inquisition, denn diese Eigenschaft ist doch die schüchterne Absage an die lästige Anmaßung der Herrschenden und ein stummer Protest. Wenn also, mein lieber gesitteter Leser, du und ich heute abend in eine Gesellschaft von Grünkramhändlern gerieten, so würde unsere Unterhaltung wahrscheinlich kaum brillant werden. Wenn sich andererseits ein Gemüsehändler in deiner gebildeten, eleganten Teetischrunde einfinden würde, wo jedermann geistreich redet und alle die angesehenen Leute von Welt ihre Freunde auf reizende Art in Stücke zerreißen, [397] so wäre der Fremde möglicherweise auch nicht sehr gesprächig und würde weder interessiert noch interessant scheinen.

Wir müssen auch bedenken, daß die arme Dame bis zum Augenblick noch keinem wahren Gentleman begegnet war. Wahrscheinlich findet man die seltener, als mancher von uns annimmt. Wer von uns kann in seinem Kreis viele davon aufweisen? Männer, die nur edle Ziele verfolgen, Männer, die standhaft, aufrichtig und treu sind, Männer, die schlicht und einfach sind, weil ihnen alles Gemeine fremd ist, und die der Welt ehrlich ins Angesicht blicken, mit gleicher männlicher Sympathie für das Große wie für das Kleine. Wir alle kennen hundert, die gutgearbeitete Kleider tragen, und ein Dutzend mit ausgezeichneten Manieren und ein paar Glückliche, die sich in den sogenannten innersten Kreisen bewegen und in der vornehmen Welt das Zentrum der Scheibe getroffen, ins Schwarze geschossen haben. Aber wie viele wahre Gentlemen sind darunter? Nehmen wir jeder ein Stückchen Papier und schreiben wir eine Liste.

Meinen Freund, den Major, setze ich ohne Zögern auf meine. Er hatte sehr lange Beine, ein gelbes Gesicht und lispelte ein wenig, was ihn auf den ersten Blick etwas lächerlich erscheinen ließ. Seine Gedanken aber waren rechtschaffen, sein Verstand klar, sein Leben ehrlich und lauter und sein Herz warm und bescheiden. Sicher, er hatte sehr große Hände und Füße, die die beiden George Osbornes verspottet und belacht hatten, und vielleicht lenkten auch ihre Neckereien und ihr Lachen die kleine Emmy von seinen wahren Werten ab. Sind wir aber nicht schon alle hinsichtlich unserer Helden irregeführt worden, und haben wir nicht unsere Ansichten hundertmal geändert? Emmy stellte in dieser glücklichen Zeit fest, daß ihre Meinung über die Verdienste des Majors eine gründliche Änderung erfuhr.

Vielleicht war es die glücklichste Zeit im Leben beider, wenn sie es nur gewußt hätten – aber wer weiß das schon? Wer von uns kann mit dem Finger darauf deuten und sagen: [398] Dies war der Höhepunkt, der Gipfel menschlicher Freude? Auf jeden Fall war aber das Paar ganz zufrieden und genoß eine so angenehme Sommerreise wie nur irgendein Paar, das England in diesem Jahre verließ. George war immer mit im Theater, aber es war der Major, der Emmy hinterher den Schal umlegte, und bei den Spaziergängen und Ausflügen eilte der kleine Bursche stets voraus und kletterte auf einer Turmtreppe herum oder saß auf einem Baum, während das gesetztere Paar unten blieb, der Major beharrlich und seelenruhig seine Zigarre rauchte und Amelia die Landschaft oder die Ruine zeichnete. Es geschah auf dieser Reise, daß ich, der Verfasser dieser wortwörtlich wahren Geschichte, das Vergnügen hatte, sie zum erstenmal zu sehen und ihre Bekanntschaft zu machen.

In der kleinen gemütlichen großherzoglichen Stadt Pumpernickel (derselben, in der sich Sir Pitt Crawley als Attaché ausgezeichnet hatte; das war aber lange, lange vorher, noch ehe die Nachricht von der Schlacht bei Austerlitz eintraf und als alle englischen Diplomaten in Deutschland rechtsum kehrtmachen mußten) sah ich Oberst Dobbin und seine Gesellschaft zum erstenmal. Sie waren mit dem Wagen und dem Reisediener angekommen und im »Erbprinz«, dem besten Hotel der Stadt, abgestiegen, und die ganze Gesellschaft speiste an der Table d'hôte. Alle bemerkten sofort das majestätische Wesen Josephs und die Kennermiene, mit der er den Johannisberger, den er zum Diner bestellt hatte, schlürfte oder vielmehr einsaugte. Auch der kleine Knabe bezeigte einen guten Appetit und verspeiste Schinken und Braten und Kartoffeln und Preiselbeermarmelade und Salat und Pudding und gebratenes Huhn und Zuckerwerk mit einer Tapferkeit, die seiner Nation alle Ehre machte. Nach etwa fünfzehn Gängen beendigte er das Mahl mit dem Dessert, von dem er sogar noch etwas mit hinausnahm. Einige junge Herren am Tisch hatten ihn nämlich veranlaßt, von seiner Kaltblütigkeit und seinem unbekümmerten Wesen amüsiert, eine Handvoll [399] Makronen in die Tasche zu stecken, die er dann auf dem Wege zum Theater verspeiste. Dahin gingen alle in dem heiteren, geselligen deutschen Städtchen. Die Dame in Schwarz, die Mama des Knaben, lachte und errötete und blickte abwechselnd erfreut und betreten drein, als das Diner immer weiterging und ihr Sohn seine verschiedenen Heldenstückchen und Eulenspiegeleien verübte. Ich erinnere mich noch, wie der Oberst – denn das wurde er bald darauf – den Knaben mit ernsthaftem Gesicht aufzog, ihm Gerichte zeigte, die er noch nicht gekostet hatte, und ihn bat, seinem Appetit keine Zügel anzulegen, sondern von diesem oder jenem noch einmal zu nehmen.

Es gab einen sogenannten Gastrollenabend im Königlich-Großherzoglichen Hoftheater zu Pumpernickel, und Madame Schröder-Devrient 7, damals in der Blüte ihrer Schönheit und Kunst, spielte die Heldin in der wundervollen Oper »Fidelio«. Von unseren Sperrsitzplätzen aus konnten wir unsere vier Freunde von der Table d'hôte in der Loge sehen, die Schwendler, der Wirt vom »Erbprinz«, für seine besten Gäste gemietet hatte, und mir fiel sofort ins Auge, wie die herrliche Sängerin und die Musik auf Mrs. Osborne wirkte (so hatten wir den korpulenten Herrn mit Schnurrbart die Dame nennen hören). Während des wunderbaren Gefangenenchores, über den sich die prachtvolle Stimme der Sängerin in hinreißenden Harmonien erhob, nahm ihr Gesicht solch einen Ausdruck staunenden Entzückens an, daß es selbst dem kleinen Fipps, dem blasierten Attaché, auffiel und er, sein Theaterglas auf sie gerichtet, näselte: »Boi Gott, ös tut oinem wörklich wohl, oin Woib zu sehen, das oiner solchen Begoisterung fähig öst.« In der Gefängnisszene, wo Fidelio auf ihren Gatten zustürzt und ruft: »Nichts, nichts, mein Florestan!«, verlor sie die Beherrschung und bedeckte ihr Gesicht mit dem Taschentuch. Sämtliche Damen im Hause schnüffelten bei dieser Szene, und ich nehme an, daß sie mir nur deshalb besonders auffiel, weil es mir bestimmt war, ihre Memoiren zu schreiben.

[400] Am nächsten Tage führte man ein anderes Werk von Beethoven, »Die Schlacht bei Vitoria«, auf. Es fängt mit dem Spottlied auf Marlborough an, um das schnelle Vorrücken des französischen Heeres anzudeuten. Dann kommen Trommeln, Trompeten, Kanonendonner und das Ächzen der Sterbenden und schließlich in einem großartigen anschwellenden Schluß die englische Nationalhymne »Gott schütz den König«.

Es mochte ein reichliches Dutzend Engländer im Theater sein, und beim Erklingen dieser geliebten und bekannten Musik erhoben sich alle Briten, wir jungen Burschen im Parkett, Sir John und Lady Bullminster (die in Pumpernickel ein Haus gemietet hatten, um ihre neun Kinder zu erziehen), der dicke Herr mit dem Schnurrbart, der lange Major in den weißen Leinenhosen und die Dame mit dem kleinen Knaben, denen er soviel Aufmerksamkeit bewies, ja selbst der Diener Kirsch auf der Galerie, von ihren Plätzen und bekannten sich als Angehörige der guten alten britischen Nation. Tapeworm, der Legationssekretär, stand eben falls in seiner Loge auf und verbeugte sich und lächelte geziert, als ob er das ganze Königreich repräsentieren wollte. Tapeworm war der Neffe und Erbe des alten Marschalls Tiptoff, der in dieser Geschichte als General Tiptoff kurz vor Waterloo erwähnt worden ist. Er war Oberst des ...ten Regiments, in dem Major Dobbin diente, und starb in diesem Jahr ehrenvoll an einem Gericht von Kiebitzeiern in Aspik. Daraufhin übergab Seine Majestät das Regiment gnädig dem Befehl von Oberst Sir Michael O'Dowd, Komtur des Bathordens, der es durch viele ruhmvolle Schlachten geführt hatte.

Tapeworm mußte Major Dobbin im Hause des Vorgesetzten des Obersten, des Marschalls, getroffen haben, denn er erkannte ihn an diesem Abend im Theater, und der Gesandte Seiner Majestät kam mit der größten Herablassung aus seiner Loge und drückte dem neuen Freund öffentlich die Hand.

»Seht nur den verteufelten Schlauberger von Tapeworm an«, flüsterte Fipps, als er seinen Vorgesetzten vom Parkett aus [401] beobachtete. »Wo sich eine hübsche Frau zeigt, da schleicht er sich sofort ein.« Nun, ich möchte wissen, wozu denn Diplomaten da sind, wenn nicht dafür.

»Habe ich die Ehre, mit Mrs. Dobbin zu sprechen?« fragte der Sekretär mit schmeichlerischem Grinsen.

George brach in lautes Gelächter aus und sagte:

»Beim Zeus, das ist ein guter Witz.« Emmy und der Major erröteten; wir beobachteten sie von unseren Plätzen aus.

»Diese Dame ist Mrs. George Osborne«, sagte der Major, »und dies ist ihr Bruder, Mr. Sedley, ein hervorragender Beamter im bengalischen Zivildienst. Erlauben Sie mir, ihn Eurer Lordschaft vorzustellen.«

Bei dem bezaubernden Lächeln des Lords verlor Joseph beinahe das Gleichgewicht.

»Wollen Sie sich längere Zeit in Pumpernickel aufhalten?« fragte der Lord. »Es ist ein langweiliges Nest, und wir brauchen nette Leute. Wir werden versuchen, es Ihnen so angenehm wie möglich zu machen. Mr. – ehem – Mrs. – oho – ich werde die Ehre haben, Ihnen morgen in Ihrem Hotel meine Aufwartung zu machen.« Er ging weg mit einem sieghaften Lächeln und einem Blick, der Mrs. Osborne seiner Meinung nach völlig erledigen mußte.

Nach Schluß der Vorstellung trieben sich die jungen Leute im Foyer herum, und wir sahen die höheren Gesellschaften aufbrechen. Die Herzoginwitwe fuhr in ihrer klappernden alten Kutsche ab, begleitet von zwei treuen, verwelkten alten Hofdamen und einem kleinen, verdrießlichen, dürrbeinigen Kammerherrn in einer braunen Perücke und einem grünen, ordenbedeckten Rock, auf dem der Stern und das gelbe Band des Sankt-Michaels-Ordens von Pumpernickel besonders ins Auge fielen. Die Trommeln wirbelten, die Wache präsentierte, und die alte Kutsche fuhr ab.

Dann kam Seine Durchlaucht der Herzog mit der durchlauchtigen Familie nebst seinen hohen Staats-und Hofbeamten. Er verbeugte sich gelassen gegen jedermann, und [402] inmitten der salutierenden Wachen und der flackernden Fackeln, die von purpurgekleideten Lakaien getragen wurden, fuhren die durchlauchtigen Kutschen nach dem alten Herzogschloß mit seinen Türmen und Zinnen auf dem Schloßberg. In Pumpernickel kannte jeder jeden. Kaum war ein Fremder aufgetaucht, so begab sich auch schon der Minister des Auswärtigen oder auch irgendein hoher oder niedriger Staatsbeamter zum »Erbprinzen« und erkundigte sich nach dem Namen des Neuankömmlings.

Wir sahen auch sie das Theater verlassen. Tapeworm war gerade fortgegangen. Er war in seinen Mantel gehüllt, mit dem ihn sein riesiger Diener stets erwartete, und glich, soweit es ihm möglich war, Don Juan. Die Gemahlin des Ministerpräsidenten hatte sich soeben in ihre Sänfte gequetscht, und ihre Tochter, die bezaubernde Ida, hatte Kapuze und Galoschen angelegt, als die Engländer herauskamen. Der Knabe gähnte entsetzlich, der Major gab sich die größte Mühe, den Schal über Mrs. Osbornes Kopf am Rutschen zu hindern, und Mr. Sedley sah großartig aus mit dem Klapphut auf einem Ohr und der Hand in der Tasche seiner umfangreichen weißen Weste. Wir zogen den Hut vor unseren Bekannten von der Table d'hôte, und die Dame dankte uns mit einem Lächeln und einem kleinen Knicks. Jeder von uns konnte froh darüber sein. Die Kutsche des Gasthofs, unter der Aufsicht des geschäftigen Herrn Kirsch, stand bereit, um die Gesellschaft fortzubringen. Der dicke Herr erklärte jedoch, er wolle zu Fuß gehen und auf dem Heimweg seine Zigarre rauchen; so fuhren die anderen drei mit einem Kopfnicken und Lächeln für uns ohne Mr. Sedley ab, und Kirsch folgte mit dem Zigarrenetui der Spur seines Herrn.

Wir gingen miteinander und erzählten dem dicken Herrn von den Vergnügungen des Ortes. Das Leben war sehr angenehm für Engländer. Es gab Jagden und ganz speziell Treibjagden und eine Menge von Bällen und Unterhaltungen an [403] dem gastfreien Hof. Die Gesellschaft war im allgemeinen gut, das Theater vortrefflich und das Leben nicht teuer.

»Und unser Gesandter scheint ein sehr angenehmer und leutseliger Mensch zu sein«, meinte unser neuer Freund. »Bei so einem Repräsentanten und – und einem tüchtigen Arzt stelle ich mir vor, daß es sich in dieser Stadt gut leben läßt. Gute Nacht, meine Herren.«

Und damit stieg Joseph die knarrende Treppe hin auf, in Richtung auf sein Bett, gefolgt von Kirsch mit dem Leuchter. Wir hofften, daß sich die hübsche Frau bewegen lassen würde, einige Zeit in der Stadt zu verweilen.

Fußnoten

1 (franz.) Wem gehört dieser Wagen da?

2 verballhorntes Französisch, eigentlich: C'est à Kirsch je pense – je l'ai vu tout à l'heure – qui prenait des sandwiches dans la voiture = Ich glaube, er gehört Kirsch – ich habe soeben gesehen, wie er im Wagen Sandwiches aß.

3 (franz.) Wir werden eine schöne Überfahrt haben, Monsieur George.

4 Domenico Cimarosa (1749-1801), italienischer Opernkomponist. Sein bekanntestes Werk ist »Die heimliche Ehe«.

5 (ital.) »Du sollst erfahren«, Arie aus Mozarts »Don Giovanni«.

6 (ital.) »Schlage, schlag mich, mein Masetto«, Arie aus Mozarts »Don Giovanni«.

7 Wilhelmine Schröder-Devrient (1804-1860), deutsche Opernsängerin.

63. Kapitel
In dem wir eine alte Bekannte treffen

So ein höfliches Benehmen, wie es Lord Tapeworm an den Tag legte, verfehlte nicht seine günstige Wirkung auf Mr. Sedley, und am nächsten Morgen beim Frühstück gab Joseph seiner Ansicht Ausdruck, daß Pumpernickel doch das angenehmste Städtchen sei, das sie auf ihrer Reise gefunden hätten. Josephs Motive und Listen waren leicht zu durchschauen, und Dobbin lachte sich als echter Heuchler ins Fäustchen, als er aus der Kennermiene des Zivilisten und aus der Gesprächigkeit, womit er sich über Schloß Tapeworm und die übrigen Glieder der Familie ausließ, entnahm, daß Joseph an diesem Morgen schon seinen Adelskalender durchforscht hatte. Ja, er hatte sogar bereits den ehrenwerten Grafen von Bagwig, den Vater Seiner Lordschaft, gesehen. Er war überzeugt davon, daß er ihn schon getroffen hatte – beim – beim Empfang bei Hofe. Ob sich Dobbin nicht daran erinnern könne. Als dann der Diplomat, getreu seinem Versprechen, die Gesellschaft besuchte, empfing ihn Joseph mit einer Begrüßung und Ehrenbezeigungen, wie sie dem kleinen Gesandten selten zuteil [404] wurden. Als Seine Exzellenz kam, gab er Kirsch einen Wink, worauf der Diener, vorher gut instruiert, hinausging und für ein Frühstück sorgte, bestehend aus kaltem Fleisch, Gelees und anderen Delikatessen. Als er es auf Tabletts hineingebracht hatte, bestand Mr. Joseph darauf, daß sein edler Gast unbedingt daran teilnehmen müsse.

Solange Tapeworm die leuchtenden Augen von Mrs. Osborne bewundern konnte (ihre frische Gesichtsfarbe ertrug das Tageslicht vortrefflich), hatte er nichts gegen eine Einladung zum längeren Bleiben in Mr. Sedleys Wohnung einzuwenden. Er stellte ihm ein paar scharfsinnige Fragen über Indien und die Tempeltänzerinnen dort, erkundigte sich bei Amelia nach dem Knaben, der bei ihr gewesen sei, und machte der erstaunten kleinen Frau Komplimente über das ungeheure Aufsehen, das sie im Theater erregt hatte. Dobbin versuchte er durch Gespräche über den letzten Krieg und die Heldentaten des Pumpernickelschen Truppenkontingents unter dem Befehl des Erbprinzen, des jetzigen Herzogs von Pumpernickel, zu fesseln.

Lord Tapeworm hatte ein gut Teil der Familiengalanterie geerbt, er befand sich in dem glücklichen Glauben, daß jede Dame, der er freundliche Blicke zuwarf, sich in ihn verlieben müsse. Er verließ Emmy in der Überzeugung, daß sie von seinem Witz und seinen Reizen völlig geschlagen sei, und begab sich nach Hause, um ihr ein hübsches kleines Billett zu schreiben. Sie war ganz und gar nicht hingerissen, sondern nur verblüfft über sein Grinsen, sein geziertes Lächeln, sein parfümiertes Batisttaschentuch und seine hochhackigen Lackstiefel. Sie verstand kaum die Hälfte der Komplimente, die er ihr machte, hatte sie doch in ihrer geringen Erfahrung mit der Menschheit noch nie einen professionellen Galan kennengelernt. Sie betrachtete den Lord eher als komisch denn als angenehm, und wenn sie ihn auch nicht bewunderte, so wunderte sie sich doch über ihn. Joseph dagegen war entzückt. »Wie leutselig der Lord doch ist«, sagte er. »Wie gütig es doch [405] von dem Lord ist, daß er mir seinen Arzt schicken will. Kirsch, Sie werden sofort unsere Karten bei Graf von Schlüsselback abgeben. Es wird dem Major und mir höchst angenehm sein, so bald wie möglich unsere Aufwartung bei Hofe zu machen. Legen Sie meine Uniform zurecht, Kirsch – auch die Uniform des Majors. Als Zeichen der Höflichkeit sollte jeder englische Gentleman in den Ländern, die er besucht, den dortigen Herrschern und den Repräsentanten seines eigenen Landes seine Aufwartung machen.«

Tapeworms Arzt, Doktor von Glauber, Leibarzt Seiner Durchlaucht des Herzogs, überzeugte Joseph schnell, daß die Pumpernickelschen Mineralquellen und seine ärztliche Spezialbehandlung dem Bengalen unfehlbar wieder zur Jugend und Schlankheit verhelfen würden.

»Im vergangenen Jahr«, sagte er in nicht ganz englischem Englisch, »kam General Bulkeley, ein englischer General, hierher, der doppelt so dick war wie Sie, mein Herr. Nach drei Monaten habe ich ihn ganz gertenschlank wieder entlassen, und bereits nach zwei Monaten hatte er mit der Baronin Glauber getanzt.«

Josephs Entschluß stand fest. Die Mineralquellen, der Doktor, der Hof und der Gesandte überzeugten ihn, und er nahm sich vor, den Herbst in dieser herrlichen Gegend zu verbringen. Seinem Versprechen getreu, stellte der Gesandte am nächsten Tage Joseph und den Major Viktor Aurelius XVII. vor. Zur Audienz geleitete sie Hofmarschall Graf von Schlüsselback.

Sie wurden sofort zum Diner bei Hofe eingeladen, und als ihre Absicht, in der Stadt zu verweilen, bekannt wurde, machten die vornehmsten Damen des Ortes Mrs. Osborne sehr bald ihre Aufwartung. Da keine von ihnen, wie arm sie auch sein mochte, unter dem Rang einer Baronin war, kannte Josephs Begeisterung keine Grenzen. Er schrieb seinem Klubkameraden Chutney, daß die indischen Beamten in Deutschland hoch im Kurs ständen, daß er seinem Freund, dem Grafen [406] von Schlüsselback, zeigen werde, wie man Wildschweine auf indische Art mit dem Speer jage, und daß seine erlauchten Freunde, der Herzog und die Herzogin, die Güte selbst seien.

Auch Emmy wurde der hohen Familie vorgestellt, und da an gewissen Tagen Trauerkleidung bei Hofe nicht zulässig ist, erschien sie in einem rosa Kreppkleid mit einer Diamantbrosche, die ihr Bruder ihr geschenkt hatte. Sie sah in dieser Aufmachung so hübsch aus, daß der Herzog und der ganze Hof (der Major, der sie fast noch nie im Ballkleid gesehen hatte und schwor, sie sehe wie kaum fünfundzwanzig aus, gar nicht mitgerechnet) sie über alle Maßen bewunderten.

In dieser Kleidung tanzte sie mit Major Dobbin bei einem Hofball die Polonaise, und Mr. Joseph hatte bei diesem einfachen Tanz die Ehre, die Gräfin von Schlüsselback zu führen, eine alte Dame, die zwar einen Buckel, dafür aber sechzehn adlige Vorfahren hatte und mit der Hälfte aller Fürstenhäuser in Deutschland verwandt war.

Pumpernickel liegt inmitten eines schönen Tales, durch das sich ein glitzerndes fruchtbarkeitspendendes Flüßchen, die Pump, schlängelt. Irgendwo – ich habe leider keine Karte zur Hand und kann den genauen Ort nicht bezeichnen, vereinigt sie sich mit dem Rhein. An einigen Stellen ist sie breit genug für eine Fähre, an anderen kann sie eine Mühle treiben. In Pumpernickel selbst hatte die vorvorletzte Durchlaucht, der große und berühmte Viktor Aurelius XIV., eine prachtvolle Brücke erbaut, auf der sich seine eigene Statue erhebt, umgeben von Wassernymphen und Symbolen des Sieges, des Friedens und des Überflusses. Sein Fuß ruht auf dem Nacken eines niedergeworfenen Türken. Die Historie berichtet, daß er bei der Entsetzung Wiens durch Sobieski 1 im Gefecht mit einem Janitscharen diesen durchbohrt habe. Gänzlich unbewegt jedoch von dem Todeskampf des geschlagenen Mohammedaners, der sich unter seinen Füßen in gräßlicher Weise krümmt, lächelt der Fürst milde und deutet mit seinem Feldherrnstab [407] zum Aureliusplatz, wo er angefangen hatte, einen neuen Palast zu erbauen. Hätte der hochherzige Fürst nur die Mittel gehabt, das Gebäude zu vollenden – es wäre ein Wunder seines Zeitalters geworden. Aus Mangel an Bargeld wurde der Bau von Monplaisir (Montblaisir sprechen es die braven Deutschen aus) nicht vollendet. Das Schloß mit Park und Garten befindet sich jetzt in einem ziemlich verfallenen Zustand, und es ist kaum mehr als zehnmal so groß, wie es für den Hofstaat des regierenden Fürsten nötig wäre.

Die Gärten hätten die von Versailles in den Schatten stellen sollen, und inmitten der Terrassen und Wäldchen stehen noch ein paar große allegorische Wasserkünste, die an Festtagen erstaunlich sprühen und spritzen und einen mit ihrem gewaltigen wäßrigen Aufruhr erschrecken. Es gibt dort auch eine Trophonioshöhle 2, in der vermittels einer künstlichen Vorrichtung die bleiernen Tritonen 3 nicht nur Wasser speien, sondern auch aus ihren bleiernen Muscheltrompeten ein entsetzliches Stöhnen ertönen lassen. Weiterhin gibt es dort ein Nymphenbad und den Niagarafall, den die Leute aus der Umgebung unaussprechlich bewundern, wenn sie zum Jahrmarkt anläßlich der Eröffnung der Kammer in die Stadt kommen oder zu den Festen, die das glückliche Ländchen immer noch an dem Geburts- oder Hochzeitstage seiner fürstlichen Herrscher feiert.

Dann kommen sie aus allen Städten des Herzogtums, das sich fast zehn Meilen weit erstreckt – aus Bolkum, das an der Westgrenze Preußen Trotz bietet, aus Grogwitz, wo das Jagdschloß des Fürsten liegt und wo die Pump seine Besitzungen von denen seines Nachbarn, des Fürsten von Potzental, trennt, aus all den kleinen Dörfern, die neben diesen drei großen Städten das glückliche Fürstentum übersäen, und aus den Bauernhöfen und Mühlen entlang der Pump. Sie kommen truppweise in rotem Rock und Samtmütze oder mit Dreispitz und der Pfeife im Mund und strömen in die Residenz und genießen die Freuden des Jahrmarkts und der Festlichkeiten [408] dort. Dann ist das Theater umsonst geöffnet, dann beginnen die Wasserkünste von »Montblaisir« zu spielen (zum Glück sind genug Zuschauer da, denn einer allein würde sich fürchten). Dann kommen Marktschreier und englische Reitkünstler (es ist bekannt, wie Seine Durchlaucht einst von einer Reiterin gefesselt worden war, und man glaubte sogar, la petite vivandière 4, wie sie genannt wurde, sei eine Spionin in französischen Diensten gewesen). Dem entzückten Volk wird gestattet, alle Zimmer des großherzoglichen Palastes zu durchwandern und die glatten Fußböden, prächtigen Tapeten und die Spucknäpfe an den Türen all der unzähligen Gemächer zu bewundern. Es gibt in »Montblaisir« einen Pavillon, den Aurelius Viktor XV. – ein bedeutender Fürst, aber zu vergnügungssüchtig – errichten ließ. Er soll ein wahres Wunderwerk ausschweifender Eleganz sein. Er ist mit Darstellungen aus der Sage von Bacchus und Ariadne 5 geschmückt, und der Tisch im Zimmer verschwindet oder erscheint mittels einer Winde, so daß der Gesellschaft ohne anwesende Diener aufgewartet wird. Die Herzogin Barbara, Witwe Aurelius' XV., eine strenge und fromme Fürstin aus dem Hause Bolkum, verschloß den Pavillon. Sie war während der glorreichen Minderjährigkeit ihres Sohnes Regentin des Großherzogtums, nachdem ihr Gemahl auf dem Höhepunkt seiner Vergnügungen dahingegangen war.

Das Theater von Pumpernickel ist in jenem Teil Deutschlands bekannt und berühmt. Es verlor ein wenig, als der gegenwärtige Herzog in seiner Jugend darauf bestand, seine eigenen Opern dort aufführen zu lassen, und eines Tages, als er an einer Probe teilnahm, soll er wütend über das zu langsame Dirigieren des Kapellmeisters aus seinem Orchestersitz aufgesprungen sein und ihm ein Fagott auf dem Kopf zerschlagen haben. Das Niveau sank auch, als die Herzogin Sophia Komödien schrieb, die sehr langweilig gewesen sein müssen. Jetzt führt der Herzog seine Musik jedoch in privatem Kreise auf, und die Herzogin bietet ihre Schauspiele nur [409] den vornehmen Fremden dar, die ihren netten kleinen Hof besuchen.

Man lebt dort sehr gemütlich und glanzvoll. Wenn Bälle gegeben werden, so bedient ein scharlachgekleideter Diener in Spitzen jeweils vier Gäste, und seien auch vierhundert zum Essen geladen. Alles Tafelgeschirr ist von Silber. Feste und Vergnügungen finden ununterbrochen statt, und der Herzog hat seine Kammerherren und seine Stallmeister und die Herzogin ihre Kammerfrau und ihre Hofdamen, genau wie alle anderen viel fürstlicheren Fürsten.

Die Verfassung ist oder war ein gemäßigter Despotismus, eingeschränkt durch eine Kammer, die gewählt werden konnte oder nicht. Ich habe jedenfalls während meines Aufenthalts in Pumpernickel nie etwas Bestimmtes von einer Sitzung gehört. Der Ministerpräsident wohnte irgendwo im zweiten Stock, und der Minister des Auswärtigen hatte die behagliche Wohnung über Zwiebacks Konditorei. Die Armee bestand aus einem großartigen Musikkorps, das gleichzeitig auf der Bühne Dienst tun mußte. Es war köstlich, abends die würdigen Burschen geschminkt, in türkischen Kostümen und mit hölzernen Säbeln oder als römische Krieger mit Ophikleiden 6 und Posaunen zu sehen, nachdem man ihnen früh auf dem Aureliusplatz gelauscht hatte, wo sie gegenüber dem Café auftraten, in dem wir frühstückten. Außer dem Musikkorps gab es noch einen prächtigen, umfangreichen Generalstab, und ich glaube, auch ein paar Mannschaften. Neben den regulären Schildwachen taten drei oder vier Mann in Husarenuniform am Palast Dienst. Ich habe sie aber nie zu Pferde gesehen. Aber au fait 7 – was soll man auch im tiefsten Frieden mit Kavallerie? Und wohin, zum Teufel, sollten die Husaren auch reiten?

Jeder – jeder Adlige natürlich, denn man kann doch wohl kaum von uns verlangen, daß wir von den Bürgerlichen Notiz nehmen – machte Besuche in der Nachbarschaft. Ihre Exzellenz, Frau von Wurst, empfing einmal wöchentlich. Ihre [410] Exzellenz, Frau von Schnurrbart, hatte ihren Abend, das Theater war zweimal in der Woche geöffnet, der Hof geruhte einmal zu empfangen, und so konnte das Leben dort wirklich eine ununterbrochene Kette von Vergnügungen in der bescheidenen Pumpernickelschen Weise sein. Es läßt sich allerdings nicht leugnen, daß es in der Stadt auch Fehden gab. Die Politik schlug hohe Wellen, und die Parteien kämpften erbittert. Es gab die Strumpffpartei und die Lederlungpartei, die eine unterstützte unser Gesandter, die andere der französische Geschäftsträger Monsieur de Macabau. Madame Strumpff war zweifellos die größte Sängerin der beiden und kam um drei Töne höher als ihre Rivalin Madame Lederlung. Die Parteinahme unseres Gesandten für die Strumpff bewirkte jedoch, daß er bei jeglicher Meinungsäußerung sofort den Widerspruch des französischen Diplomaten erntete.

Jedermann in der Stadt gehörte der einen oder der anderen Partei an. Die Lederlung war sicherlich ein hübsches Geschöpfchen, und ihre Stimme (das heißt, was sie davon besaß) war sehr süß. Zweifellos war auch die Strumpff nicht mehr in ihrer ersten Jugend und Schönheit und bestimmt etwas zu dick; wenn sie zum Beispiel in der letzten Szene der »Nachtwandlerin« 8 im Nachthemd mit der Lampe in der Hand aus dem Fenster klettern und die Planken des Mühlbachs überschreiten mußte, dann konnte sie sich kaum durch das Fenster zwängen, und die Planken krachten und bogen sich unter ihrer Last. Aber wie sie das Finale der Oper schmetterte und mit welchem Gefühlsausbruch sie sich in Elvinos Arme stürzte – fast erstickte sie ihn! Die kleine Lederlung dagegen – doch Schluß mit diesen Klatschgeschichten! Die Sache war die, daß diese beiden Sägerinnen die jeweilige Flagge der französischen und der englischen Partei in Pumpernickel waren, und die Gesellschaft teilte sich in die Anhänger dieser beiden großen Nationen.

Wir hatten auf unserer Seite den Minister des Innern, den Oberstallmeister, den Privatsekretär des Herzogs und den [411] Hofmeister des Prinzen, während zur französischen Partei der Minister des Auswärtigen gehörte und die Gemahlin des Generalfeldmarschalls, der schon unter Napoleon gedient hatte, und der Hofmarschall und seine Frau, die glücklich war, die neuesten Pariser Modelle zu erhalten. Sie bezog sie nebst ihren Hüten stets durch Monsieur de Macabaus Kurier. Sein Kanzleisekretär war der kleine Grignac, ein junger Bursche von satanischer Bosheit, der in alle Alben der Stadt Karikaturen von Tapeworm zeichnete.

Ihr Hauptquartier und ihre Table d'hôte befand sich im »Pariser Hof«, dem zweiten Gasthof der Stadt, und obwohl natürlich die Herren im öffentlichen Leben höflich zueinander sein mußten, so hieben sie doch mit rasiermesserscharfen Epigrammen aufeinander ein, etwa so, wie ich in Devonshire zwei Ringer gesehen habe, die sich gegenseitig die Schienbeine zerschlugen und doch mit keiner Miene ihren Schmerz verrieten. Weder Tapeworm noch Macabau schickten je eine Depesche an ihre Regierung ohne eine wütende Attacke gegen den Rivalen. Auf englischer Seite hieß es dann etwa: »Die Interessen Großbritanniens an diesem Ort und in ganz Deutschland sind gefährdet, wenn der gegenwärtige französische Gesandte weiter im Amt bleibt. Dieser Mensch besitzt einen schändlichen Charakter und scheut keine Lüge und kein Verbrechen, um seine Ziele zu erreichen. Er vergiftet die Stimmung des Hofes gegen den englischen Gesandten und stellt das Verhalten Großbritanniens im abscheulichsten und schändlichsten Licht dar. Unglücklicherweise beschützt ihn ein Minister, dessen Unwissenheit und Mängel ebenso notorisch sind, wie sein Einfluß verhängnisvoll ist.« Auf französischer Seite dagegen hieß es: »Monsieur de Tapeworm fährt in seiner dummen arroganten Inselpolitik und in den gemeinen Lügen gegen die größte Nation der Welt fort. Gestern soll er verächtlich von Ihrer Königlichen Hoheit der Herzogin von Berri gesprochen haben. Bei früherer Gelegenheit beleidigte er den tapferen Herzog von Angoulême und wagte anzudeuten, [412] daß Seine Königliche Hoheit der Herzog von Orléans sich gegen den erlauchten Thron der Französischen Lilien verschworen habe. Überall dort, wo seine dummen Drohungen keine Furcht erregen, verstreut er sein Gold. Durch beides hat er gewisse Kreaturen am hiesigen Hof gewonnen. Mit einem Wort, in Pumpernickel wird erst Ruhe herrschen, Deutschland erst dann still, Frankreich geachtet und Europa zufrieden sein, wenn diese giftige Viper zertreten ist« und so weiter. Hatte die eine oder die andere Seite eine besonders scharfe Depesche losgelassen, so konnte man sicher sein, daß die Einzelheiten bald durchsickerten.

Ehe der Winter weit vorgerückt war, wußte man doch tatsächlich zu berichten, daß Amelia einen Abend vorsah, an dem sie in allem Anstand und in größter Bescheidenheit Gesellschaft empfing. Sie hatte einen Französischlehrer, der ihr wegen der Reinheit ihres Akzents und ihrer leichten Auffassungsgabe Komplimente machte. Sie hatte schon vor langer Zeit einmal Französisch gelernt und sich später die Anfangsgründe der Grammatik beigebracht, damit sie George darin unterrichten konnte. Madame Strumpff gab ihr Gesangsunterricht, und sie sang so gut und sicher, daß die Fenster des Majors, der gegenüber unter dem Ministerpräsidenten wohnte, stets offenstanden, damit er dem Unterricht lauschen konnte. Einige deutsche Damen – sie sind sehr sentimental und wenig anspruchsvoll im Geschmack – verliebten sich sofort in sie und duzten sie. Dies sind unwichtige Einzelheiten, aber sie melden von glücklichen Zeiten. Der Major machte sich zu Georges Tutor und übte mit ihm Cäsar und Mathematik. Sie hatten auch einen Deutschlehrer, und abends ritten sie neben Emmys Kutsche her. Sie selbst war zu ängstlich zum Reiten und schrie jedesmal entsetzt auf, wenn sie zu Pferde saß und die geringste Unregelmäßigkeit vorkam. So fuhr sie im Wagen und nahm gewöhnlich eine ihrer lieben deutschen Freundinnen mit, während Joseph auf dem Rücksitz schlief.

Er verliebte sich in die Gräfin Fanny von Butterbrod, ein [413] sanftes, zärtliches, bescheidenes junges Geschöpf. Sie war zwar Gräfin und Stiftsdame, hatte aber ein Vermögen von kaum zehn Pfund pro Jahr. Fanny ihrerseits erklärte, daß der Himmel ihr keine größere Freude gewähren könne, als Amelias Schwester zu werden, und Joseph hätte eine Grafenkrone und ein gräfliches Wappen neben seines auf den Kutschenschlag und seine Gabeln setzen können. Aber – aber andere Ereignisse traten ein, als die großen Festlichkeiten anläßlich der Vermählung des Erbprinzen von Pumpernickel mit der lieblichen Prinzessin Amalie von Homburg-Schlippen-schloppen veranstaltet wurden.

Bei dieser Gelegenheit entwickelte man eine Pracht, wie die kleine deutsche Stadt sie seit den Tagen des verschwenderischen Viktor XIV. nicht erblickt hatte. Alle benachbarten Fürsten, Fürstinnen und Großen wurden zu dem Fest eingeladen. Der Bettenpreis in Pumpernickel stieg ins Ungeheuerliche, und die Armee war völlig überfordert, die Ehrenwachen all der Hoheiten, Durchlauchten und Exzellenzen zu stellen, die aus allen Richtungen ankamen. Die Prinzessin wurde in der Residenz ihres Vaters dem stellvertretenden Grafen von Schlüsselback angetraut. Es wurden Haufen Schnupftabakdosen verschenkt (wie wir vom Hofjuwelier erfuhren, der sie verkaufte und später wieder kaufte), und der Pumpernickelsche Sankt-Michaels-Orden wurde scheffelweise an den Hofadel verteilt, während Körbe voll Bänder und Sterne des Sankt-Katharinenrad-Ordens von Schlippen-schloppen an unseren Hof kamen. Der französische Gesandte erhielt beide. »Er ist mit Bändern bedeckt wie ein Pfingstochse«, sagte Tapeworm, dem seine Dienstvorschriften nicht gestatteten, Auszeichnungen anzunehmen. »Meinetwegen soll er die Orden haben, auf wessen Seite ist der Sieg?« Tatsächlich war es ein Triumph der britischen Diplomatie, denn die französische Partei hatte mit allen Mitteln versucht, die Heirat mit einer Prinzessin des Hauses Potztausend-Donnerwetter durchzusetzen, wogegen wir natürlich opponierten.

[414] Alles war zu den Hochzeitsfeierlichkeiten geladen. Man hatte Girlanden und Triumphbogen über die Straße gespannt, um die junge Braut zu begrüßen. Der große Sankt-Michaels-Brunnen spie Wein, der allerdings ungewöhnlich sauer war, während der auf dem Artillerieplatz von Bier schäumte. Die großen Wasserkünste spielten, und im Park und in den Gärten hatte man Kletterstangen für das glückliche Landvolk errichtet, von denen sie nach Belieben Uhren, silberne Gabeln und Preiswürste an roten Bändern herabholen konnten. Georgy erklomm zum Jubel der Zuschauer eine Stange, erwischte eine Wurst, riß sie ab und glitt mit der Schnelligkeit eines Wasserfalls wieder herab. Er hatte es aber nur um des Ruhmes willen getan. Der Knabe gab die Wurst einem Bauernburschen, der sie beinahe bekommen hätte und jetzt heulend am Fuße der Stange stand, weil er keinen Erfolg gehabt hatte.

In der französischen Gesandtschaft hatten sie sechs Lampions mehr zur Illumination als wir, aber unser Transparent, auf dem dargestellt war, wie das junge Paar ankam und die Zwietracht flüchtete (deren Gesicht eine drollige Ähnlichkeit mit dem französischen Gesandten besaß), lief dem französischen Bild den Rang ab und verschaffte Tapeworm zweifellos die Beförderung und den Bath-Orden, die ihm danach zuteil wurden.

Es kamen eine Menge Fremde zu den Feierlichkeiten und natürlich auch Engländer. Außer den Hofbällen wurden auch noch öffentliche Bälle im Rathaus und in der Redoute gegeben. Im Rathaus hatte man für die Zeit der Festwoche einer der großen deutschen Gesellschaften von Ems oder Aachen Erlaubnis gegeben, ein Zimmer für Trente-et-quarante und Roulette einzurichten. Den Beamten und Bewohnern der Stadt waren diese Spiele verboten, aber Fremde, Bauern, Damen und auch sonst alle, die Geld verlieren oder gewinnen wollten, waren zugelassen.

Unter den vielen kam auch der kleine Taugenichts Georgy [415] Osborne zum Ball ins Stadthaus. Seine Verwandten waren zum großen Hoffest gegangen, und er befand sich in Begleitung von seines Onkels Diener, Herrn Kirsch. George hatte ja stets die Taschen voll Taler. Er hatte früher einmal in einen Spielsaal geblickt – in Baden-Baden; er war damals an der Hand Dobbins und hatte natürlich nicht spielen dürfen. Deshalb drängte er sich eifrig zu diesem Teil der Unterhaltung und lungerte an den Tischen umher, wo Croupiers und Pointeurs bei der Arbeit waren. Auch Frauen spielten. Einige von ihnen waren maskiert; die Ausschweifung war ihnen in dieser wilden Karnevalszeit gestattet.

Eine Frau mit hellem Haar und tief ausgeschnittenem keineswegs neuem Kleid, mit einer schwarzen Maske, durch deren Augenschlitze ihr Blick seltsam funkelte, saß mit einer Karte und einer Nadel und ein paar Gulden vor sich an einem Roulettetisch. Wenn der Croupier Farbe und Zahl ausrief, stach sie regelmäßig sorgfältig ein Loch in die Karte und setzte nur dann, wenn Rot oder Schwarz ein paarmal herausgekommen waren. Sie bot einen merkwürdigen Anblick.

Trotz aller Sorgfalt und Mühe mutmaßte sie jedoch falsch, und die letzten beiden Gulden folgten einander unter dem Rechen des Croupiers, als er mit unerbittlicher Stimme Farbe und Zahl ausrief. Sie seufzte, zuckte die Schultern, die bereits etwas zu weit aus dem Kleid hervorblickten, stieß die Nadel durch die Karte in den Tisch und trommelte eine Weile darauf herum. Dann sah sie sich um und erblickte Georges ehrliches Gesicht, das auf die Szene starrte. Der kleine Bengel! Was hatte er hier zu suchen?

Sie sah den Knaben unter der Maske hervor mit funkelnden Augen durchdringend an und fragte:

»Monsieur n'est pas joueur?« 9

»Non, Madame« 10, entgegnete der Knabe. Aus seinem Tonfall mußte sie erkannt haben, wo er herkam, denn sie fuhr mit leichtem Akzent auf englisch fort:

[416] »Sie haben wohl noch nie gespielt – wollen Sie mir einen kleinen Gefallen tun?«

»Welchen bitte?« fragte Georgy und wurde erneut rot. Herr Kirsch war beim Rouge et noir beschäftigt und sah seinen jungen Herrn nicht.

»Spielen Sie dies für mich, bitte – setzen Sie es auf irgendeine Nummer, auf irgendeine.«

Während dieser Worte zog sie aus ihrem Busen eine Börse und entnahm ihr ein Goldstück – die einzige Münze darin. Sie drückte sie George in die Hand, und der Knabe tat lachend, was ihm aufgetragen war.

Die Zahl kam natürlich heraus. Es heißt ja, daß es eine Macht gibt, die das für Anfänger so einrichtet.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie und zog das Geld zu sich heran. »Ich danke Ihnen. Wie heißen Sie?«

»Osborne«, sagte Georgy. Dabei wühlte er in seinen Taschen nach Talern und wollte eben einen Versuch machen, als der Major in Uniform und Joseph in der Aufmachung eines Marquis vom Hofball kamen. Andere Leute, die diesen Ball langweilig gefunden und den Spaß im Stadthaus vorgezogen hatten, hatten den Palast schon eher verlassen; aber vielleicht waren der Major und Joseph auch schon zu Hause gewesen und hatten die Abwesenheit des Knaben bemerkt, denn Dobbin ging unverzüglich auf ihn zu, ergriff ihn bei der Schulter und zog ihn energisch weg von der Stätte der Versuchung. Dann sah er sich im Raum um und erblickte Kirsch bei der bereits erwähnten Beschäftigung. Er ging zu ihm und fragte ihn, wie er es wagen könne, Mr. George an so einen Ort zu führen?

»Laissez-moi tranquille«, sagte Herr Kirsch, sehr erregt von Spiel und Wein. »Il faut s'amuser, parbleu. Je ne suis pas au service de Monsieur.« 11

Da der Major den Zustand des Mannes erkannte, wollte er sich nicht weiter mit ihm einlassen, und er begnügte sich damit, George wegzuziehen und Joseph zu fragen, ob er mitkomme. [417] Dieser stand dicht bei der maskierten Dame, die jetzt mit einigem Glück spielte, und sah interessiert zu.

»Willst du nicht lieber mit George und mir mitkommen, Joseph?« fragte der Major.

»Ich werde noch etwas bleiben und mit dem Halunken Kirsch nach Hause gehen«, antwortete Joseph, und aus denselben Gründen der Zurückhaltung, die er glaubte vor dem Jungen haben zu müssen, wollte Dobbin Joseph keine Vorstellungen machen. Er verließ ihn also und ging mit Georgy heim.

»Hast du gespielt«, fragte der Major draußen, als sie auf dem Heimweg waren.

»Nein«, antwortete der Knabe.

»Gib mir dein Ehrenwort als Gentleman, daß du es nie tun wirst.«

»Warum?« fragte der Junge. »Es scheint doch Spaß zu machen.« Nun erklärte ihm der Major beredsam und eindringlich, warum er es nicht sollte, und er hätte ganz gern seine Lehren durch das Beispiel von Georgys eigenem Vater bekräftigt, aber er wollte nichts sagen, was das Andenken des anderen hätte verdunkeln können. Nachdem er ihn heimgebracht hatte, ging er ins Bett, und bald darauf sah er Georgys Licht in dem kleinen Zimmer neben Amelias verlöschen. Eine halbe Stunde später folgte Emmys Licht. Ich weiß nicht, weshalb es der Major so genau bemerkte.

Joseph war am Spieltisch zurückgeblieben; er war zwar kein Spieler, aber der kleinen Aufregung dieses Vergnügens von Zeit zu Zeit nicht abgeneigt, und in den gestickten Taschen seiner Hofweste klimperten ein paar Napoleons. Er setzte einen über die schöne Schulter der kleinen Spielerin vor ihm hinweg, und sie gewannen. Sie rückte ein wenig, um ihm an ihrer Seite Platz zu machen, und nahm den Saum ihres Kleides von einem leeren Stuhl herunter.

»Kommen Sie und bringen Sie mir Glück«, sagte sie, wieder mit ausländischem Akzent, ganz anders als das reine englische [418] »Dankeschön«, mit dem sie Georges Coup für sie begrüßt hatte. Der dicke Herr sah sich um, ob ihn auch niemand von Rang beobachtete, setzte sich nieder und murmelte: »Ach, wirklich, nun ja, Gott behüte mich. Ich habe immer Glück. Ich werde Ihnen sicher auch Glück bringen« – und andere schmeichelhafte und verwirrte Aussprüche.

»Spielen Sie oft?« fragte die fremde Maske.

»Mal ein paar Napoleons«, erwiderte Joseph mit überlegener Miene und warf ein Goldstück hin.

»Sie spielen nicht, um zu gewinnen«, meinte die Maske mit ihrem hübschen französischen Akzent. »Ich auch nicht. Ich spiele, um zu vergessen, aber ich kann es nicht. Ich kann die alten Zeiten nicht vergessen, Monsieur. Ihr kleiner Neffe ist das Ebenbild seines Vaters, und Sie – Sie haben sich nicht verändert – ja, doch, auch Sie sind anders geworden. Alle verändern sich, alle vergessen, keiner hat ein Herz.«

»Guter Gott, wer sind Sie nur?« fragte Joseph verwirrt.

»Können Sie es nicht erraten, Joseph Sedley?« sprach die kleine Frau mit trauriger Stimme, nahm ihre Maske ab und blickte ihn an. »Sie haben mich vergessen.«

»Gütiger Himmel! Mrs. Crawley!« stieß Joseph hervor.

»Rebekka!« sagte die andere und legte ihre Hand auf seine; aber obwohl sie ihn ansah, verfolgte sie doch aufmerksam das Spiel.

»Ich wohne im ›Elefanten‹«, fuhr sie fort. »Fragen Sie nach Madame von Raudon. Ich habe heute meine liebe Amelia gesehen. Wie hübsch sie aussieht und wie glücklich, und Sie auch! Alle, nur ich nicht, ich bin elend und unglücklich, Joseph Sedley!« Und während sie sich mit einem zerrissenen Spitzentüchelchen über die Augen fuhr, schob sie wie zufällig mit einer Armbewegung ihr Geld von Rot auf Schwarz. Rot kam von neuem heraus, und sie verlor ihren ganzen Einsatz.

»Kommen Sie«, sagte sie, »kommen Sie ein wenig mit mir hinaus; wir sind doch alte Freunde, nicht wahr, lieber Mr. Sedley?«

[419] Herr Kirsch, der inzwischen seine ganze Barschaft verloren hatte, folgte seinem Herrn hinaus in den Mondschein; die Illumination verlöschte langsam, und das Transparent über der englischen Gesandtschaft war kaum noch zu erkennen.

Fußnoten

1 Johann Sobieski (1624-1696), polnischer Feldherr, als Johann III. König von Polen von 1674 bis 1696; befreite 1683 im Kampf gegen die Türken das belagerte Wien.

2 in der griechischen Mythologie ein Unterweltsgott, der in einer Höhle Orakel verkündete.

3 in der griechischen Mythologie Meerdämonen.

4 (franz.) die kleine Marketenderin.

5 Nach der griechischen Sage verliebte sich Ariadne, die Tochter des Kreterkönigs Minos, in Theseus. Mit ihrer Hilfe drang er in das Labyrinth ein und befreite die Athener von dem Ungeheuer Minotaurus. Ariadne verließ Kreta mit Theseus, wurde aber von ihm auf Naxos schlafend zurückgelassen. Bacchus, der Gott der Fruchtbarkeit und des Weines, fand die Verzweifelte und vermählte sich mit ihr.

6 Blechblasinstrumente aus dem 18. Jahrhundert.

7 (franz.) im Grunde genommen.

8 Oper des italienischen Komponisten Vincenzo Bellini (1801-1835).

9 (franz.) Monsieur spielen nicht?

10 (franz.) Nein, Madame.

11 (franz.) Lassen Sie mich in Ruhe ... Zum Teufel, man muß sich amüsieren. Ich bin nicht Ihr Diener, Monsieur.

64. Kapitel
Ein Vagabundenkapitel

Wir müssen über einen Teil von Mrs. Rebekka Crawleys Biographie mit der Leichtigkeit und dem Takt hinweggehen, die die Welt fordert – die moralische Welt, die zwar keinen besonderen Abscheu gegen das Laster hat, jedoch eine unüberwindliche Abneigung dagegen, das Laster beim rechten Namen genannt zu hören. Es gibt Dinge, die wir auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit tun und kennen, aber nie aussprechen. Wie die Teufelsanbeter den Teufel niemals erwähnen, so kann das gebildete Publikum es ebensowenig ertragen, eine wahrhafte Beschreibung des Lasters zu lesen, wie eine wirklich vornehme Engländerin oder Amerikanerin nicht gestatten wird, daß in Gegenwart ihrer keuschen Ohren das Wort »Hosen« ausgesprochen wird. Und doch, Madame, läuft beides täglich vor unseren Augen in der Welt herum, ohne uns sehr zu entsetzen. Was für einen Teint würden Sie bekommen, wenn Sie jedesmal erröten sollten, wenn eins davon an Ihnen vorübergeht! Nur wenn ihr leichtfertiger Name genannt wird, findet Ihre Sittsamkeit Gelegenheit, Bestürzung oder Empörung zu zeigen. Es ist daher auch in unserer Geschichte der Wunsch des Verfassers gewesen, sich dieser gegenwärtig herrschenden Mode ehrfurchtsvoll zu unterwerfen und die Existenz des Schlechten nur leicht und leise und gefällig anzudeuten, um niemandes Feingefühl zu verletzen. Ich behaupte, daß niemand sagen kann, unsere sicher nicht lasterfreie Becky sei dem Publikum auf unanständige und beleidigende Weise[420] vorgestellt worden. Der Verfasser fragt mit bescheidenem Stolz alle seine Leser, ob er bei der Beschreibung dieser verführerischen, singenden und lächelnden Schmeichlerin auch nur einmal die Gesetze der Sittlichkeit vergessen und den gräßlichen Schweif des Ungeheuers über Wasser gezeigt hat? Nein! Diejenigen, die Lust haben, mögen in die recht durchsichtigen Wellen hinabblicken und können dann sehen, wie er in seiner teuflischen Häßlichkeit und Schlüpfrigkeit sich dreht und windet, gegen Gebeine anschlägt oder sich um Leichen schlingt; aber ich frage nochmals, ob über der Wasseroberfläche nicht alles anständig, angenehm und geziemend zugegangen ist oder ob der bedenklichste Moralist auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit das Recht hat, pfui zu schreien? Wenn allerdings die Sirene 1 verschwindet und hinabtaucht, hinab zu den Toten, dann wird natürlich das Wasser über ihr trübe, und es ist verlorene Mühe, neugierig hinabzuschauen. Hübsch genug sehen sie ja aus, wenn sie auf einer Klippe sitzen, auf der Harfe klimpern, sich das Haar kämmen, singen und euch bedeuten, hinzukommen und ihnen die Spiegel zu halten. Versinken sie aber in ihrem heimischen Element, so verlaßt euch darauf, daß die Meermädchen nichts Gutes im Schilde führen, und wir täten am besten daran, diese teuflischen Meerkannibalen beim Verschmausen ihrer elenden, eingesalzenen Opfer nicht zu belauschen. Wenn wir also Becky aus den Augen gelassen haben, so könnt ihr euch darauf verlassen, daß sie nicht zum besten beschäftigt war und wir gut daran tun, sowenig wie möglich von ihren Taten zu berichten.

Wenn wir einen ausführlichen Bericht ihres Schicksals in den wenigen Jahren nach der Katastrophe in der Curzon Street geben wollten, so könnte das Publikum wohl mit einigem Recht dieses Buch taktlos nennen. Die Handlungen eitler, herzloser und vergnügungssüchtiger Menschen sind oft sehr taktlos (wie manche von dir, mein Freund mit dem ernsten Gesicht und dem makellosen Ruf – aber das nur nebenbei),[421] und wie sollen dann die Taten einer Frau ohne Redlichkeit, Liebe und Charakter aussehen? Ich bin zu der Ansicht geneigt, daß es eine Zeitspanne in Mrs. Beckys Leben gab, wo nicht Reue, aber eine Art Verzweiflung sie ergriff und sie ihre eigene Person völlig vernachlässigte und sich nicht einmal um ihren Ruf kümmerte.

Diese Niedergeschlagenheit und Erniedrigung setzte jedoch nicht mit einemmal ein. Es kam allmählich nach dem Unglücksfall und nach vielen Kämpfen, Oberwasser zu behalten. Einer, der über Bord gefallen ist, klammert sich ja auch an einen Balken, solange er noch Hoffnung hat, aber wenn er merkt, daß der Kampf vergeblich ist, wirft er ihn weg und geht unter.

Sie trieb sich in London herum, solange ihr Mann noch Vorbereitungen für die Abreise zu seinem Gouverneursposten traf. Wahrscheinlich versuchte sie immer wieder, ihren Schwager Sir Pitt Crawley zu sehen, um seine Gefühle zu bearbeiten, die sie ja schon fast für sich gewonnen hatte. Als Sir Pitt und Mr. Wenham zum Unterhaus gingen, erblickte Pitts Begleiter Mrs. Rebekka, in einen schwarzen Schleier gehüllt, wie sie in der Nähe des Parlamentsgebäudes umherschlich. Als ihre Augen denen Wenhams begegneten, machte sie sich davon, und ihr Anschlag auf den Baronet gelang niemals.

Wahrscheinlich legte sich Lady Jane ins Mittel. Ich habe gehört, daß sie ihren Gemahl durch den Mut, den sie in diesem Streit entwickelte, und ihre Entschlossenheit, sich von Mrs. Rawdon loszusagen, in Erstaunen setzte. Sie lud Rawdon aus eigenem Antrieb ein, bis zu seiner Abreise nach Coventry Island in der Gaunt Street zu wohnen, denn sie wußte, daß Mrs. Becky es nicht versuchen würde, sich Eingang zu verschaffen, wenn er als Wächter da war. Sie sah auch neugierig die Aufschriften aller an Sir Pitt gerichteten Briefe durch, damit er nicht etwa mit seiner Schwägerin korrespondierte. Nicht, daß Rebekka nicht hätte schreiben können, wenn sie die Absicht gehabt hätte, aber sie wollte Pitt nicht [422] in seinem eigenen Haus sprechen oder dorthin schreiben, und nach ein paar Versuchen gab sie seiner Forderung nach, daß die Korrespondenz hinsichtlich ihrer Eheangelegenheiten nur von den Rechtsanwälten geführt werden solle.

Sir Pitts Ansicht über sie war nämlich tatsächlich vergiftet worden. Kurze Zeit nach Lord Steynes Unfall war Wenham beim Baronet gewesen und hatte ihm ein derartiges Lebensbild von Mrs. Becky gegeben, daß der Parlamentsabgeordnete für Queen's Crawley aus dem Staunen nicht herauskam. Er wußte alles über sie: wer ihr Vater war, in welchem Jahr ihre Mutter beim Ballett war, wie ihre Jugend verlief und wie sie sich im Eheleben benahm. Da aber unzweifelhaft der größte Teil der Geschichte erlogen und von Böswilligkeit diktiert war, so will ich sie hier nicht wiederholen. Becky geriet aber dadurch in schlechtes, sehr schlechtes Licht in den Augen des Landedelmannes und Verwandten, der ihr einst sehr zugetan war.

Die Einnahmen eines Gouverneurs von Coventry Island sind nicht hoch. Einen Teil davon legte Seine Exzellenz zur Bezahlung gewisser Schulden und Verbindlichkeiten beiseite; die Spesen seiner hohen Stellung verschluckten beträchtliche Summen, und schließlich stellte es sich heraus, daß er für seine Frau nicht mehr als hundert Pfund jährlich erübrigen konnte, die er ihr unter der Bedingung zahlen wollte, daß sie sich verpflichtete, ihn nicht weiter zu behelligen. Sonst würden Skandal, Scheidung und das Gericht folgen. Es war aber Wenhams Anliegen, Lord Steynes Anliegen, Rawdons Anliegen, jedermanns Anliegen, sie aus dem Lande zu schaffen und diese höchst unangenehme Affäre zu vertuschen.

Wahrscheinlich war sie vom Ordnen dieser Geschäftsangelegenheiten mit den Anwälten ihres Mannes so sehr in Anspruch genommen, daß sie vergaß, auch nur das geringste in bezug auf ihren Sohn, den kleinen Rawdon, zu unternehmen, und es kam ihr nicht ein einziges Mal in den Sinn, ihn zu besuchen. Der junge Herr wurde nun völlig der Obhut von [423] Tante und Onkel übergeben; Lady Jane hatte ja stets einen großen Teil seiner kindlichen Liebe besessen. Als seine Mama England verlassen hatte, schrieb sie ihm einen netten Brief aus Boulogne, worin sie ihn aufforderte, hübsch zu lernen, und erklärte, sie wolle eine Reise auf dem Kontinent unternehmen und sie werde das Vergnügen haben, ihm wieder zu schreiben. Ein ganzes Jahr lang jedoch ließ sie nichts von sich hören und schrieb erst wieder, als Sir Pitts einziger Junge, der schon immer kränklich war, an Keuchhusten und Masern starb. Nun schickte Rawdons Mama ihrem geliebten Sohn ein sehr zärtliches Schreiben. Rawdon war nämlich durch dieses Ereignis Erbe von Queen's Crawley geworden und kam der gütigen Dame, deren zärtliches Herz ihn bereits an Kindes Statt angenommen hatte, näher denn je. Rawdon Crawley, nun schon ein hübscher schlanker Bursche, errötete, als er den Brief erhielt. »Oh, Tante Jane«, sagte er, »du bist meine Mutter, und nicht – nicht die da.« Trotzdem schrieb er einen freundlichen respektvollen Antwortbrief an Mrs. Rebekka, die damals in einer Pension in Florenz lebte. Aber wir greifen unserer Geschichte vor.

Der erste Flug trug unsere geliebte Becky nicht sehr weit. Sie ließ sich an der französischen Küste in Boulogne, diesem Zufluchtsort so mancher verbannten englischen Unschuld, nieder. Dort bewohnte sie mit einer Zofe ein paar Zimmer in einem Hotel und trat wie eine vornehme Witwe auf. Sie speiste an der Table d'hôte, und man fand sie sehr angenehm. Sie unterhielt ihre Tischnachbarn mit Geschichten von ihrem Schwager Sir Pitt und ihrem großen Londoner Bekanntenkreis. Dieses seichte Geschwätz über die feine Welt findet bei einer gewissen Schicht ungebildeter Leute stets ein Ohr. Viele hielten sie für eine bedeutende Persönlichkeit. Sie gab kleine Teegesellschaften in ihren Privaträumen und nahm teil an den unschuldigen Belustigungen des Ortes: sie badete im Meer, unternahm Ausflüge im offenen Wagen, ging am Strand spazieren und besuchte das Theater. Mrs. Burjoice, die Buchdruckersfrau, [424] die mit ihrer Familie den Sommer im Hotel verlebte und die jedes Wochenende von ihrem Burjoice besucht wurde, nannte sie bezaubernd, bis dieser kleine Schurke von einem Burjoice begann, ihr zuviel Aufmerksamkeit zu bezeigen. Es war aber wirklich nichts an der Sache. Becky war nun eben stets umgänglich, munter und gutherzig – besonders Männern gegenüber.

Am Ende der Saison gingen viele wie gewöhnlich ins Ausland, und Becky fand reichlich Gelegenheit, im Benehmen ihrer Bekannten aus der vornehmen Welt Londons abzulesen, wie die »Gesellschaft« über sie urteilte. Eines Tages ging sie sittsam an der Mole von Boulogne spazieren, und die Klippen Albions leuchteten aus der Ferne über das tiefblaue Meer herüber. Da stand sie plötzlich Lady Partlet und ihren Töchtern gegenüber. Mit einem Schwenk ihres Sonnenschirms versammelte die Lady alle ihre Töchter um sich und zog sich mit wütenden Blicken auf die arme Becky, die allein dort stand, von der Mole zurück.

An einem anderen Tage kam das Paketboot an. Es hatte ein frischer Wind geweht, und Becky fand immer besonderen Spaß daran, die drolligen leidenden Gesichter der Leute zu beobachten, wenn sie das Schiff verließen. Zufälligerweise war an diesem Tage Lady Slingstone an Bord. Der Dame war es in ihrem Wagen sehr schlecht ergangen, sie war sehr erschöpft und kaum imstande, auf dem Schiffssteg zum Land hinüberzugehen. Aber in dem Augenblick, als sie Becky unter einem rosa Hut schalkhaft hervorlächeln sah, kehrte all ihre Energie zurück; sie warf ihr einen verächtlichen Blick zu, der jede andere Frau vernichtet hätte, und ging ohne alle Unterstützung in das Zollhaus. Rebekka lachte nur, ich glaube aber nicht, daß es ihr sehr wohl dabei war. Sie fühlte, daß sie allein, mutterseelenallein war, und die in der Ferne leuchtenden Klippen Englands waren für sie unüberwindlich.

Auch das Benehmen der Männer hatte sich Gott weiß wie verändert. Grinstone entblößte die Zähne und lachte ihr unangenehm [425] vertraulich ins Gesicht. Der kleine Bob Suckling, der ihr vor drei Monaten noch so ergeben war und der eine Meile weit im Regen gelaufen wäre, um ihre Kutsche vor dem Gaunt-Haus zu sehen, unterhielt sich eines Tages auf dem Landungsplatz mit Fitzoof von der Garde (Lord Heehaws Sohn), als Becky dort ihren gewohnten Spaziergang machte. Der kleine Bob nickte ihr über die Schulter zu, ohne den Hut zu berühren, und fuhr in seiner Unterredung mit dem Erben von Heehaw fort. Tom Raikes versuchte, ihr Wohnzimmer im Gasthof mit der Zigarre im Mund zu betreten, aber sie machte ihm die Tür vor der Nase zu und hätte sie verschlossen, wenn er nicht seine Finger dazwischen gehabt hätte. Sie begann zu fühlen, daß sie wirklich sehr allein war. »Wenn er hiergewesen wäre«, sagte sie, »dann hätten es diese Feiglinge nie gewagt, mich zu beleidigen.« Sie dachte traurig und vielleicht auch sehnsüchtig an »ihn« – an seine ehrliche, dumme, beständige Güte und Treue, seinen unendlichen Gehorsam, seine gute Laune, seine Tapferkeit und seinen Mut. Wahrscheinlich weinte sie sogar, denn als sie zum Essen herabkam, war sie besonders lebhaft und hatte etwas mehr Rouge aufgelegt als sonst. Sie schminkte sich jetzt regelmäßig, und – und sie ließ sich von ihrem Mädchen Kognak besorgen, außer dem noch, der auf die Hotelrechnung gesetzt wurde.

Vielleicht waren ihr die Beleidigungen der Männer nicht so unerträglich wie die Sympathie gewisser Frauen. Lady Crackenbury und Mrs. Washington White kamen auf ihrem Wege zur Schweiz durch Boulogne. Die Gesellschaft stand unter dem Schutz von Oberst Horner, dem jungen Beaumoris und natürlich dem alten Crackenbury und Mrs. Whites kleinem Mädchen. Die mieden sie nicht. Sie lachten, schnatterten und plapperten, bedauerten und trösteten sie und behandelten sie so gönnerhaft, daß sie vor Wut bald platzte. Von denen ausgerechnet so von oben herab behandelt zu werden! dachte sie, als sie nach vielen Küssen geziert lächelnd fortgegangen [426] waren. Sie hörte Beaumoris auf der Treppe laut lachen und wußte seine Heiterkeit recht gut zu deuten.

Becky bezahlte die Wochenrechnungen pünktlich, sie machte sich jedermann im Hause angenehm, lächelte der Wirtin zu, nannte die Kellner »Monsieur« und entschädigte die Zimmermädchen für eine gewisse Knickrigkeit (von der Becky nie frei war) mit höflichen und entschuldigenden Worten. Aber nach diesem Besuch erhielt Becky von dem Wirt eine Aufforderung, das Hotel zu verlassen. Jemand hatte ihm beigebracht, sie sei nicht tragbar für sein Hotel und englische Ladys würden sich nicht neben ihr niederlassen. Sie war also gezwungen, ein Privatquartier zu nehmen, und dessen Einsamkeit und Langeweile gefielen ihr gar nicht.

Trotz all dieser Rückschläge hielt sie sich aufrecht und versuchte, sich einen neuen Ruf zu schaffen und den Skandal zum Schweigen zu bringen. Sie ging regelmäßig zur Kirche und sang lauter als alle anderen. Sie nahm sich der Witwen ertrunkener Fischer an und stiftete Handarbeiten und Zeichnungen für die Quashibu-Mission. Sie zeichnete für die Subskriptionsbälle und wollte auf keinen Fall Walzer tanzen. Mit einem Wort, sie tat alles, was anständig war, und aus diesem Grunde verweilen wir auch länger bei diesem Lebensabschnitt als bei den späteren, nicht so angenehmen Teilen ihrer Geschichte. Sie sah, daß die Leute sie mieden, und bewahrte doch mühsam ihr Lächeln. Man konnte ihr am Gesicht nicht ablesen, unter welchen Qualen der Demütigung sie innerlich litt.

Nach allem blieb ihre Geschichte doch ein Geheimnis. Die Meinungen über sie waren geteilt. Einige, die sich die Mühe machten, sich mit der Sache zu beschäftigen, erklärten, sie sei die Schuldige, während andere beteuerten, sie sei so unschuldig wie ein Lamm und ihr abscheulicher Mann sei im Unrecht. Eine ganze Anzahl gewann sie dadurch, daß sie über ihren Sohn in Tränen ausbrach und leidenschaftlichen Schmerz zeigte, wenn sein Name erwähnt wurde oder sie jemanden [427] sah, der ihm ähnlich war. Auf diese Weise gewann sie das Herz der guten Mrs. Alderney, die so ungefähr die Königin der Engländer in Boulogne war und die meisten Diners und Bälle gab. Master Alderney kam nämlich in den Ferien aus Doktor Swishtails Lehranstalt nach Boulogne zu seiner Mutter, und Becky sagte mit schmerzerstickter Stimme, er sei im selben Alter wie Rawdon und sehe ihm so ähnlich. In Wirklichkeit waren die beiden Knaben fünf Jahre auseinander, und sie ähnelten sich nicht mehr als mein verehrter Leser und sein gehorsamer Diener. Als Wenham auf dem Wege nach Kissingen, wo er Lord Steyne treffen wollte, durch Boulogne kam, klärte er Mrs. Alderney über diesen Punkt auf und meinte, daß er den kleinen Rawdon besser beschreiben könne als seine Mama, denn es sei ja stadtbekannt, daß sie ihn hasse und nie besuche. Er sei dreizehn, der kleine Alderney dagegen bloß neun, und er sei blond, während der andere liebe Junge doch dunkel sei. Mit einem Wort, er brachte die betreffende Dame dahin, ihre Gutmütigkeit zu bereuen.

Sooft sich Becky mit unglaublicher Mühe einen kleinen Bekanntenkreis geschaffen hatte, kam stets jemand und zerstörte mit roher Hand alles wieder, und sie mußte mit der ganzen Arbeit von neuem beginnen. Es war hart, sehr hart, einsam und entmutigend.

Mrs. Newbright nahm sie eine Zeitlang auf. Sie war gefesselt von ihrem lieblichen Gesang in der Kirche und ihren richtigen Ansichten über gewisse ernsthafte Themen, von denen Mrs. Becky in früheren Tagen in Queen's Crawley sehr viele hatte hören müssen. Sie nahm nicht nur Traktate mit, sondern sie las sie auch. Sie fertigte Flanellunterröcke für die Quashibus, baumwollene Nachtmützen für die Kokosnußindianer, malte Schirme für die Bekehrung des Papstes und der Juden, ging mittwochs zu den Predigtversammlungen bei Mrs. Rowls, donnerstags zu denen von Mrs. Huggleton, besuchte sonntags zweimal die Kirche und abends außerdem noch Mr. Bawler von der Brüdergemeinde der Darbysten – [428] aber alles umsonst. Mrs. Newbright hatte Gelegenheit, mit der Gräfin Southdown über den Wärmflaschenfonds für die Bewohner der Fidschiinseln zu korrespondieren. Beide Damen gehörten zu einem weiblichen Komitee, das dieses barmherzige Werk leitete. In einem Brief erwähnte sie ihre »süße Freundin«, Mrs. Rawdon Crawley, worauf ihr die verwitwete Gräfin mit einem Brief antwortete, der von Andeutungen, Tatsachen, Lügen und Androhungen himmlischer Strafen ganz allgemein nur so strotzte. Jeglicher vertraulicher Umgang zwischen Mrs. Newbright und Mrs. Crawley hörte augenblicklich auf, und die ganze fromme Welt von Tours, wo dieses Unglück passierte, brach sofort den Verkehr mit der Ruchlosen ab. Wer die englischen Kolonien im Ausland kennt, weiß, daß wir unseren Stolz, unsere Pillen, unsere Vorurteile, unsere Harveysoße, unseren Cayennepfeffer und andere Hausgötter mitnehmen und überall, wo wir uns niederlassen, ein kleines Britannien gründen.

Becky nun floh ratlos von einer Kolonie zur anderen, von Boulogne nach Dieppe, von Dieppe nach Caen, von Caen nach Tours – versuchte überall mit aller Kraft, ein anständiges Leben zu führen, aber o weh – eines Tages wurde sie doch stets entlarvt, und die echten Krähen hackten sie aus dem Nest.

An einem Ort nahm sie Mrs. Hook Eagles auf, eine Frau mit einem makellosen Charakter und einem Haus am Portman Square. Sie wohnte in dem Hotel in Dieppe, wohin Becky geflohen war, und sie lernten sich beim Schwimmen im Meer kennen und sahen sich an der Table d'hôte des Hotels wieder. Mrs. Eagles hatte einiges über die Steyne-Affäre gehört – wer hatte denn das nicht? Nach einer Unterredung mit Becky verkündete sie jedoch, Mrs. Crawley sei ein Engel, ihr Mann ein Schuft, Lord Steyne ein charakterloser Bösewicht, wie es ja auch bekannt sei und die ganze Anschuldigung gegen Mrs. Crawley sei eine infame, gottlose Lüge dieses Schurken Wenham. »Wenn du nur ein bißchen Mut hättest, Mr. Eagles, so [429] würdest du den Kerl ohrfeigen, wenn du ihn das nächste Mal im Klub triffst«, sagte sie zu ihrem Mann. Eagles war jedoch ein ruhiger alter Herr und der Mann von Mrs. Eagles, mit einer Neigung zur Geologie, und außerdem zu klein, um die Ohren anderer Leute überhaupt erreichen zu können.

Nun begönnerte die Eagles Mrs. Rawdon, nahm sie mit in ihr Haus nach Paris, zankte sich mit der Frau des Gesandten, weil sie ihren Schützling nicht empfangen wollte, und tat alles, was in der Macht der Frauen steht, um Becky auf dem Pfade der Tugend und des guten Rufes zu halten.

Becky war anfänglich sehr sittsam und bescheiden, das Einerlei der Tugend wurde ihr jedoch in kurzer Zeit sehr lästig; jeden Tag war es dasselbe, dieselbe Langeweile und Gemächlichkeit, dieselbe Spazierfahrt in demselben eintönigen Bois de Boulogne, dieselbe Abendgesellschaft, dieselbe Predigt von Blair am Sonntagabend, dieselbe Oper, die immer und immer wieder aufgeführt wurde. Becky starb fast vor Langeweile, als glücklicherweise der junge Mr. Eagles von Cambridge kam, und sobald seine Mutter bemerkte, welchen Eindruck ihre kleine Freundin auf ihn machte, entließ sie Becky sofort.

Nun versuchte sie zusammen mit einer Freundin zu wirtschaften. Aber dieser gemeinsame Haushalt zankte sich bald und geriet in Schulden. Dann entschloß sie sich, in einer Pension zu leben, und blieb eine Weile in dem berühmten Haus der Madame de Saint-Amour in der Rue Royal in Paris, wo sie ihre Reize auf schäbige Stutzer und schlampige Schönheiten verschwendete, die die Salons ihrer Wirtin besuchten. Becky liebte Gesellschaft und konnte ohne sie ebensowenig existieren wie ein Opiumesser ohne seinen Stoff. Während ihres Pensionslebens war sie einigermaßen glücklich. »Die Frauen hier sind ebenso unterhaltend wie die in Mayfair«, erzählte sie einer alten Londoner Freundin, die sie besuchte, »nur ihre Kleider sind nicht ganz so neu. Die Männer tragen gereinigte Handschuhe und sind traurige Schelme, aber sie[430] sind nicht schlechter als Jack Dings und Tom Bums. Die Wirtin ist zwar etwas ordinär, aber ich glaube, nicht so ordinär wie Lady ...« Hier nannte sie den Namen einer großen Dame der feinen Welt, den ich für mich behalten werde, und sollte es mir das Leben kosten. Wenn abends Madame de Saint-Amours Salon erleuchtet war und man die Männer mit Orden und Bändern an den Ecartétischen sitzen sah und die Damen in gewisser Entfernung bemerkte, konnte man sich wirklich für kurze Zeit einbilden, in guter Gesellschaft zu sein, und meinte, Madame sei eine echte Gräfin. Viele Leute glaubten das, und Becky war für eine geraume Zeit eine der elegantesten Damen in den Salons der Gräfin.

Wahrscheinlich machten sie aber hier ihre alten Gläubiger von 1815 ausfindig und bewirkten, daß sie Paris verließ, denn die arme kleine Frau mußte plötzlich aus der Stadt fliehen und ging nun nach Brüssel.

Wie gut sie sich doch an diesen Ort erinnerte! Sie lächelte, als sie zu dem kleinen Zwischengeschoß hinaufblickte, das sie einst bewohnt hatte, und an die Familie Bareacres dachte, die nach Pferden und Flucht schrie, als ihr Wagen schon in der Einfahrt des Hotels stand. Sie fuhr nach Waterloo und Laeken, wo George Osbornes Grabdenkmal sie sehr beeindruckte. Sie machte eine kleine Skizze davon. »Der arme Kupido!« sagte sie. »Wie schrecklich verliebt war er doch in mich, und was für ein Narr war er! Ich möchte wissen, ob die kleine Emmy noch lebt. Sie war ein gutes Geschöpfchen; und ihr dicker Bruder! Ich habe das ulkige Bild von dem Dicken noch unter meinen Papieren. Es waren gute, einfache Leute!«

In Brüssel empfahl Madame de Saint-Amour Becky ihrer Freundin, der Gräfin Borodino, Witwe von Napoleons berühmtem General Graf Borodino, die der dahingeschiedene Held bis auf eine Table d'hôte und einen Ecartétisch mittellos zurückgelassen hatte. Zweitrangige Stutzer und Müßiggänger, ewig prozessierende vornehme Witwen und sehr einfältige Engländer, die sich einbilden, in solchen Häusern die »Gesellschaft [431] des Kontinents« zu finden, setzten ihr Geld auf Madame de Borodinos Tischen oder speisten daran. An der Table d'hôte bewirteten die galanten jungen Burschen die ganze Gesellschaft mit Champagner, ritten mit den Frauen aus oder mieteten Pferde für ländliche Ausflüge, legten Geld zusammen, um Logen fürs Theater oder für die Oper zu nehmen, wetteten über die schönen Schultern der Damen hinweg am Ecartétisch und schrieben an ihre Eltern in Devonshire über ihre glückliche Einführung in die ausländische Gesellschaft.

Hier wie in Paris war Becky die Königin, und sie regierte in den auserlesenen Pensionen. Sie lehnte weder Champagner ab noch Blumen, weder Ausflüge aufs Land noch Privatlogen, aber am liebsten war sie abends beim Ecarté – und sie spielte kühn. Anfangs setzte sie nur wenig, dann Fünffrancsstücke, dann Napoleons, dann Banknoten, dann konnte sie die Pension für den Monat nicht mehr bezahlen, dann borgte sie bei den jungen Herren, dann hatte sie wieder Geld und tyrannisierte Madame de Borodino, die sie vorher umschmeichelt und beschwatzt hatte, dann spielte sie um bloße zehn Sous und war wieder in entsetzliche Armut geraten, dann kam ihre vierteljährliche Rente, und sie bezahlte Madame de Borodinos Rechnung, und dann griff sie wieder zu den Karten und spielte gegen Monsieur de Rossignol oder den Chevalier de Raff.

Als Becky Brüssel verließ, schuldete sie – das ist die traurige Wahrheit – Madame de Borodino die Pension für drei Monate. Dies und das Spielen und Trinken und den Kniefall vor Ehrwürden Mr. Muff, dem anglikanischen Geistlichen, um Geld von ihm zu borgen, und ihr Schmeicheln und Kokettieren mit Mylord Noodle, Sohn Sir Noodles und Zögling von Ehrwürden Mr. Muff, den sie oft in ihre Privaträume mitnahm und dem sie dann im Ecarté große Summen abgewann – all das und hundert andere Schurkenstücke berichtet die Gräfin Borodino jedem Engländer, der in ihre Pension [432] kommt, und erklärt, Madame Rawdon sei nicht besser als eine Viper.

So schlug unsere kleine Wanderin ihre Zelte in vielen Städten Europas auf, und rastlos wie Odysseus oder Bamfylde Moore Carew 2 reiste sie umher. Ihr Hang zur Unsolidität wurde täglich auffallender. Es dauerte nicht lange, und sie wurde ein echter Bohemien und gesellte sich zu Leuten, bei deren Anblick uns schon die Haare zu Berge stehen würden.

Jede europäische Stadt von einiger Bedeutung hat ihre kleine Kolonie von englischen Taugenichtsen – Männer, deren Namen Mr. Hemp, der Gerichtsbeamte, in bestimmten Abständen im Gerichtshof verliest. Oft sind es junge Leute aus sehr guter Familie, nur daß die sie verstoßen hat. Sie besuchen Billardzimmer und Kneipen und sind bei ausländischen Rennen und an Spieltischen zu finden. Sie bevölkern die Schuldgefängnisse – trinken und prahlen – prügeln sich und lärmen – prellen die Zeche – duellieren sich mit französischen und deutschen Offizieren – betrügen Mr. Spooney beim Ecarté – verschaffen sich Geld und fahren in einer prächtigen offenen Kutsche nach Baden – versuchen ihre unfehlbaren Kartentricks und lungern mit leeren Taschen um die Spieltische herum, schäbige Prahler, bettelarme Stutzer, bis es ihnen gelingt, einen jüdischen Bankier mit einem falschen Wechsel zu betrügen oder noch einen Mr. Spooney zu finden, den sie ausnehmen können. Der Wechsel von Glanz und Elend bei diesen Leuten bietet einen seltsamen Anblick. Ihr Leben muß stets sehr aufregend sein, Becky – sollen wir es gestehen? – verfiel dieser Lebensweise, und nicht mit Widerwillen. Sie zog mit diesen Bohemiens von Stadt zu Stadt. Die glückliche Mrs. Rawdon war an jedem Spieltisch in Deutschland bekannt. Sie führte einen gemeinsamen Haushalt mit Madame de Cruchecassée in Florenz. Aus München soll sie ausgewiesen worden sein, und mein Freund, Mr. Frederick Pidgeon, behauptet, man habe ihn in ihrem Haus in Lausanne betrunken gemacht und darauf habe er achthundert Pfund an Major [433] Loder und den ehrenwerten Mr. Deuceace verloren. Sie sehen, wir fühlen uns verpflichtet, einiges von Beckys Lebenslauf mitzuteilen; von diesem Abschnitt jedoch ist es am besten, sowenig wie möglich zu berichten.

Wenn Mrs. Crawley in besonders mißlicher Lage war, soll sie hier und da Konzerte und Musikunterricht gegeben haben. Auf jeden Fall hat eine Madame de Raudon in Wildbad, begleitet von Herrn Spoff, dem ersten Pianisten des Hospodars 3 von der Walachei, eine musikalische Matinee gegeben; und mein kleiner Freund Mr. Eaves, der jedermann kannte und überall gewesen war, erzählte immer wieder, daß 1830, als er in Straßburg war, eine gewisse Madame Rebecque in der Oper »Die weiße Dame« 4 auftrat und einen ungeheuren Theaterskandal verursachte. Das Publikum zischte sie von der Bühne, teilweise wegen ihrer Unfähigkeit, hauptsächlich aber wegen der unbesonnenen Sympathiekundgebungen einiger Personen im Parkett (wo die Offiziere der Garnison saßen), und Eaves meinte ganz sicher, die unglückliche Debütantin sei niemand anders als Mrs. Rawdon Crawley gewesen.

Sie war auf dieser Erde wirklich nichts Besseres als eine Vagabundin. Wenn sie ihr Geld erhielt, so spielte sie; wenn sie es verspielt hatte, so mußte sie zu Kunstgriffen Zuflucht nehmen, um zu leben. Wer weiß, wie und mit welchen Mitteln ihr das gelang? Man will sie sogar einmal in Sankt Petersburg gesehen haben, von der Polizei soll sie aber kurz entschlossen aus dieser Hauptstadt ausgewiesen worden sein. Daher kann das Gerücht, sie sei in Teplitz und später in Wien russische Spionin gewesen, unmöglich wahr sein. Ich habe sogar erfahren, sie habe in Paris eine Verwandte entdeckt, und zwar niemand Geringeres als ihre Großmutter mütterlicherseits, die keineswegs eine Montmorency war, sondern eine abscheuliche alte Logenschließerin in einem Boulevardtheater. Das Treffen der beiden – von dem wie gesagt auch andere zu wissen scheinen, muß rührend verlaufen sein. Der Verfasser kann aber keine sicheren Einzelheiten davon berichten.

[434] Einmal geschah es in Rom, daß Mrs. Rawdons halbjährliche Rente gerade beim größten Bankier am Platze eingezahlt worden war, und da alle, die ein Konto von mehr als fünfhundert Scudi hatten, zu den Winterbällen eingeladen wurden, die dieser Fürst der Handelsleute gab, so wurde auch Becky mit einer Karte beehrt und erschien bei einer der glänzenden Abendunterhaltungen des Fürsten und der Fürstin Polonia. Die Fürstin kam aus der Familie Pompili und stammte in gerader Linie von dem zweiten König in Rom und seiner Gemahlin Egeria aus dem Hause Olympus ab. Der Großvater des Prinzen dagegen, Alessandro Polonia, verkaufte noch Seifenkugeln, Essenzen, Tabak und Taschentücher, erledigte Aufträge für vornehme Herren und betrieb den Geldverleih im kleinen. Die große Gesellschaft Roms drängte sich in seinen Salons – Fürsten, Herzöge, Gesandte, Künstler, Geigenvirtuosen, geistliche Würdenträger und Adlige auf Reisen mit ihren Begleitern – Männer jeden Ranges und Standes. Seine Gemächer funkelten von Licht und Pracht, strahlten von Goldrahmen (es waren auch Bilder darin) und zweifelhaften Antiken. Die ungeheuren vergoldeten Kronen und Wappen des fürstlichen Besitzers, ein goldener Pilz auf rotem Felde (die Farbe der Taschentücher, die er verkaufte), und die silberne Fontäne der Familie Pompili glänzten überall auf dem Dach, an den Türen und auf der Täfelung des Hauses und über den großartigen Samtbaldachinen für den Empfang von Päpsten und Kaisern.

Becky, die in der Postkutsche von Florenz gekommen war und sehr bescheiden in einem Wirtshaus wohnte, erhielt also eine Einladung zum Fest des Fürsten Polonia. Ihr Mädchen kleidete sie mit ungewöhnlicher Sorgfalt an, und sie ging zu diesem feinen Ball, auf den Arm von Major Loder gelehnt, mit dem sie damals zufällig reiste. Es war derselbe Loder, der im Jahr darauf in Neapel den Fürsten Ravioli erschoß und den Sir John Buckskin durchprügelte, weil er außer den vier Königen im Ecarté noch weitere vier im Hut mit herumtrug. [435] Das Paar wandelte durch die Räume, und Becky erblickte viele bekannte Gesichter aus glücklicheren Tagen, da sie zwar nicht unschuldig, aber noch nicht entlarvt war. Major Loder kannte eine Menge Ausländer, bärtige Männer mit scharfem Blick, schmutzigen Ordensbändern im Knopfloch und sehr wenig Aufwand an Wäsche. Seine eigenen Landsleute jedoch mieden den Major.

Auch Becky kannte hie und da einige Damen – französische Witwen, zweifelhafte italienische Gräfinnen, die von ihren Ehemännern schlecht behandelt worden waren. Aber pfui, was sollen wir, die wir uns doch auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit in der besten Gesellschaft bewegt haben, von diesem Abschaum von Schurken noch sagen? Wenn wir spielen, so spielen wir mit sauberen Karten und nicht mit diesem schmutzigen Pack. Jeder aus dem zahllosen Heer von Reisenden hat jedoch schon diese irregulären Marodeure gesehen, die wie Nym und Pistol 5 mit der Hauptmacht herumziehen, die Farben des Königs tragen und mit dem königlichen Offizierspatent prahlen, aber auf eigene Faust plündern und zuweilen am Wege aufgehängt werden.

Major Loder und sie wandelten also Arm in Arm durch die Gemächer, tranken eine große Menge Champagner an dem Büfett, wo die Gäste und besonders die irregulären Truppen des Majors wütend um Erfrischungen kämpften. Als das Paar genug davon hatte, gingen sie weiter, bis sie den rosa Plüschsalon der Herzogin am Ende der Zimmerflucht erreicht hatten, wo die Venusstatue steht und die großen venezianischen silbergerahmten Spiegel hängen. Dort bewirtete die fürstliche Familie ihre vornehmsten Gäste an einem runden Tisch. Es war genauso ein kleines erlesenes Bankett wie das, an dem Becky bei Lord Steyne teilgenommen hatte, wie sie sich entsann, und da – da erblickte sie ihn an Polonias Tafel.

Die Narbe von dem Schnitt des Diamanten auf seiner weißen, kahlen, glänzenden Stirn war feuerrot. Sein roter Backenbart hatte eine purpurne Tönung, die das bleiche Gesicht noch [436] bleicher machte. Er trug das Blaue Band und seinen Hosenbandorden und noch ein paar Auszeichnungen. Er war ein bedeutenderer Fürst als alle anderen dort, obwohl ein regierender Herzog und eine Königliche Hoheit mit ihren Prinzessinnen anwesend waren. Neben dem Lord saß die schöne Gräfin Belladonna geborene Glandier. Ihr Gemahl, Graf Paolo della Belladonna, sehr bekannt durch seine herrliche Insektensammlung, war schon seit langer Zeit abwesend: als Gesandter beim Kaiser von Marokko.

Als Becky dieses vertraute, erlauchte Gesicht erblickte, wie ordinär kam ihr plötzlich Major Loder vor und wie abscheulich der ewig nach Tabak riechende Hauptmann Rook. Augenblicklich gewann sie die Haltung einer Dame zurück und versuchte auszusehen und sich zu fühlen, als ob sie von neuem in Mayfair wäre. Dieses Weib scheint geistlos und schlechtgelaunt zu sein, dachte sie. Ich glaube bestimmt, daß sie ihn nicht unterhalten kann. Nein, er muß sich bei ihr langweilen – das hat er bei mir nie getan. Hundert rührende Hoffnungen, Befürchtungen und Erinnerungen klopften in ihrem kleinen Herzen, als sie mit strahlenden Augen (das Rouge, das sie bis zu den Augenlidern auftrug, ließ sie funkeln) den hohen Adligen ansah. An Abenden, wo er mit dem Hosenbandorden auftrat, legte Lord Steyne auch sein großartigstes Benehmen an und sah aus und sprach wie der Fürst, der er war. Becky bewunderte ihn, wie er leicht, stolz und majestätisch lächelte. Ah, bon Dieu, was für ein angenehmer Gesellschafter war er doch, was für einen brillanten Witz, welch köstliche Unterhaltungsgabe, welch großartiges Benehmen er doch hatte! Und das hatte sie eingetauscht gegen Major Loder, der nach Zigarren und Schnaps duftete, und Hauptmann Rook mit seinen Pferdestallwitzen und seiner Boxersprache. Mal sehen, ob er mich erkennt, dachte sie. Lord Steyne scherzte gerade mit einer sehr vornehmen Dame an seiner Seite, als er aufsah und Becky erblickte.

Sie zitterte am ganzen Körper, als sich ihre Augen trafen; [437] dabei setzte sie ihr schönstes Lächeln auf und machte ihm einen kleinen, schüchternen, flehenden Knicks. Er starrte sie offenen Mundes eine Minute lang entsetzt an, wie Macbeth, als er Banquos Geist an seiner Tafel erblickt 6, bis sie der schreckliche Major Loder hinwegzog.

»Kommen Sie ins Speisezimmer, Mrs. Rawdon«, sagte dieser Herr. »Wenn ich die Pomadenhengste da drin einhauen sehe, bekomme ich auch Appetit. Kommen Sie, wir wollen den Champagner des Alten noch einmal versuchen.« Becky glaubte allerdings, der Major habe schon etwas zuviel davon.

Am nächsten Tage ging sie auf dem Pinciushügel, dem Hyde Park der römischen Müßiggänger, spazieren, vielleicht in der Hoffnung, Lord Steyne wiederzusehen. Sie traf dort jedoch einen anderen Bekannten, Monsieur Fiche, den treuen Diener des Lords, der mit einem vertraulichen Nicken auf sie zukam und mit einem Finger an den Hut tippte.

»Ich wußte, daß Madame hier ist«, sagte er. »Ich bin ihr vom Hotel aus gefolgt. Ich habe Madame einen Rat zu geben.«

»Von Marquis von Steyne?« fragte Becky unter Aufbietung aller ihrer Würde, von Hoffnungen und Erwartungen erregt.

»Nein«, erwiderte der Diener. »Er kommt von mir. Rom ist sehr ungesund.«

»Nicht zu dieser Jahreszeit, Monsieur Fiche. Erst nach Ostern.«

»Ich erkläre, Madame, es ist auch jetzt ungesund. Ein paar Leute können immer Malaria bekommen. Der verfluchte Sumpfwind fordert zu jeder Jahreszeit seine Opfer. Sehen Sie, Madame Crawley, Sie sind stets ein bon enfant 7 gewesen, und ich nehme Anteil an Ihnen, parole d'honneur 8! Lassen Sie sich warnen! Ich sage Ihnen, verlassen Sie Rom, oder Sie werden krank werden und sterben.«

Becky lachte, allerdings vor Zorn und Wut. »Was, mich armes Wesen ermorden?« rief sie. »Wie romantisch! Hat der Lord Meuchelmörder als Reisediener und Dolche in seinem Packwagen? Pah! Ich werde bleiben, und wenn auch nur, um [438] ihn zu quälen. Ich habe auch Leute, die mich verteidigen werden, solange ich hier bin.«

Nun war es an Monsieur Fiche, zu lachen.

»Sie verteidigen!« rief er. »Aber wer? Der Major, der Hauptmann? Jeder von diesen Spielern, mit denen Madame Bekanntschaft pflegt, würde Sie für hundert Louisdor umbringen. Wir wissen Dinge von Major Loder (der ebensowenig Major ist, wie ich Marquis bin), die ihn auf die Galeeren bringen würden oder noch Schlimmeres. Wir wissen alles und haben Freunde überall. Wir wissen, mit wem Sie in Paris zusammen waren und was für Verwandte Sie dort gefunden haben. Ja, Madame, Sie mögen große Augen machen, aber es stimmt. Wie kommt es, daß kein Gesandter auf dem Kontinent Madame empfangen hat? Madame hat jemanden beleidigt, der niemals vergibt – dessen Wut sich verdoppelte, als er Sie sah. Gestern abend, als er nach Hause kam, benahm er sich wie ein Wahnsinniger. Madame de Belladonna hat ihm Ihretwegen eine Szene gemacht und einen ihrer Wutanfälle gehabt.«

»Ach so, Madame de Belladonna!« meinte Becky ein wenig erleichtert, denn die Mitteilung von eben hatte sie doch erschreckt.

»Nein – sie spielt keine Rolle – sie ist immer eifersüchtig. Ich sage Ihnen, es war der gnädige Herr. Sie taten nicht gut daran, sich ihm zu zeigen, und wenn Sie hierbleiben, dann werden Sie es bereuen. Denken Sie an meine Worte. Gehen Sie. Da ist Mylords Wagen« – und er ergriff Becky am Arm und zog sie in eine Allee des Gartens hinein, als Lord Steynes wappenschimmernde Kutsche, gezogen von unschätzbar teuren Pferden, herangedonnert kam. Neben Madame de Belladonna, der dunklen verdrossenen Schönheit mit einem Wachtelhündchen im Schoß und einem weißen Schirm über dem Kopf, lehnte totenblaß mit gespenstischem Blick der alte Lord Steyne. Haß, Zorn und Begierde vermochten seine Augen ab und zu noch zu beleben. Gewöhnlich aber waren sie tot und schienen es müde zu sein, in eine Welt zu blicken, [439] deren Freuden und Schönheiten für den zerrütteten lasterhaften Alten ihren Reiz verloren hatten.

»Der gnädige Herr hat sich von der Erschütterung jener Nacht nie mehr erholt, nie«, flüsterte Monsieur Fiche Mrs. Crawley zu, als der Wagen vorüberschoß und sie ihm aus dem schützenden Gebüsch nachblickte. Das ist auf jeden Fall noch ein Trost, dachte Becky.

Ob nun der Marquis wirklich Mordabsichten gegen Mrs. Becky hegte, wie Monsieur Fiche erklärt hatte (nach dem Tod seines Herrn kehrte er übrigens in sein Vaterland zurück und lebt dort sehr geachtet, nachdem er von seinem Fürsten den Titel eines Baron Ficci gekauft hat), und ob bloß das Faktotum sich weigerte, etwas mit dem Mord zu tun zu haben, oder ob er einfach den Auftrag hatte, Mrs. Crawley aus der Stadt zu verscheuchen, wo der Lord den Winter zubringen wollte, da ihr Anblick dem hohen Adligen sehr unangenehm sein würde – dies ist eine Frage, die niemals geklärt worden ist. Die Drohung wirkte jedoch bei der kleinen Frau, und sie machte keine Versuche mehr, sich ihrem alten Gönner aufzudrängen.

Jeder kennt das traurige Ende dieses Edelmannes, das ihn zwei Monate nach der französischen Revolution von 1830 in Neapel ereilte. Der sehr ehrenwerte George Gustavus Marquis von Steyne, Graf von Gaunt und Schloß Gaunt, Peer im irischen Adel, Viscount Hellborough, Baron Pitchley und Grillsby, Ritter des Hosenbandordens, des Goldenen Vlieses von Spanien, des russischen Sankt-Nikolaus-Ordens erster Klasse, des türkischen Halbmondordens, erster Lord des Haarpuderkabinetts und Kammerherr der Hintertreppe, Oberst der Gauntschen Miliztruppen des Königs, Vorstandsmitglied des Britischen Museums, Prior des Trinity-Hauses, Vorsteher der Weißen Mönche und Dr. jur. civ., starb nach einer Reihe von Schlaganfällen, die, nach Ansicht der Zeitungen, der Kummer über den Sturz des französischen Thrones bewirkt hatte.

[440] In einer Wochenschrift erschien eine beredte Aufstellung seiner Tugenden, seiner Großmut, seiner Talente und seiner guten Taten. Seine Gefühle für das erlauchte Haus der Bourbonen und seine Liebe zu ihnen, mit denen er verwandt zu sein angab, ließen ihn das Unglück seiner hohen Vettern nicht überleben. Seinen Körper begrub man in Neapel, aber sein Herz – das Herz, das stets nur in edlem und großmütigem Bestreben schlug, wurde in einer silbernen Urne nach Schloß Gaunt gebracht. »Mit ihm«, erklärte Mr. Wagg, »haben die Armen und die schönen Künste einen wohltätigen Gönner, die Gesellschaft eine ihre glänzendsten Zierden und England einen seiner erhabensten Patrioten und Staatsmänner verloren« und so weiter und so fort.

Sein Testament brachte viel Streit mit sich. Es wurde versucht, Madame de Belladonna den unter dem Namen Judenaugen-Diamant berühmten Juwel zu entreißen, den der Lord stets am Zeigefinger getragen hatte und den sie ihm nach seinem beklagenswerten Hinscheiden abgezogen haben sollte. Sein vertrauter Freund und Diener Monsieur Fiche bewies jedoch, daß der Marquis der besagten Madame de Belladonna den Ring zwei Tage vor seinem Tod geschenkt hatte, ebenso wie die Banknoten und Juwelen, die neapolitanischen und französischen Staatspapiere und andere Dinge, die sich in dem Sekretär des Lords fanden und die seine Erben von der beleidigten Frau zurückforderten.

Fußnoten

1 in der griechischen Sage eine Meerjungfrau, die durch wunderbaren Gesang ihre Opfer anlockt und dann tötet.

2 (1693-1770), Sohn eines englischen Geistlichen; lief aus der Schule davon und schloß sich umherziehenden Zigeunern an; führte bis zu seinem Tode ein abenteuerliches Leben.

3 Titel der ehemaligen Fürsten von der Moldau und der Walachei.

4 Oper des französischen Komponisten François-Adrien Boieldieu.

5 zwei prahlerische und betrügerische Soldaten aus der Armee Heinrichs V. in Shakespeares Drama »König Heinrich V.«.

6 In Shakespeares Tragödie »Macbeth« erscheint dem Titelhelden der Geist des von ihm ermordeten Banquo an der gedeckten Tafel und setzt sich auf seinen Platz (III, 4).

7 (franz.) gutes Kind.

8 (franz.) Ehrenwort!

65. Kapitel
Voller Geschäfte und Vergnügungen

Am Tage nach der Begegnung am Spieltisch ließ sich Joseph mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Eleganz ankleiden und machte sich frühzeitig auf den Weg, ohne es für notwendig zu halten, einem Mitglied seiner Familie ein Wort über die Geschehnisse [441] des vergangenen Abends zu sagen, oder jemanden zu bitten, ihn bei seinem Spaziergang zu begleiten. Bald darauf konnte man ihn am Eingang zum »Elefanten« sehen, wo er sich nach etwas erkundigte. Wegen der Festlichkeit war das Haus voll besetzt, die Tische an der Straße waren bereits von Personen umringt, die rauchten und das nationale Dünnbier tranken. Die Gastzimmer waren von dicken Rauchwolken erfüllt, und man wies Mr. Joseph auf seine unbeholfen auf deutsch, aber wie gewöhnlich majestätisch gestellte Frage nach der Person, die er suchte, fast unter das Dach des Hauses. Er mußte durch den ersten Stock, wo ein paar reisende Händler wohnten, die ihre Schmuckgegenstände und Stoffe ausgestellt hatten, vorbei an den Zimmern im zweiten Stock, die der Stab der Spielbank eingenommen hatte, an den Zimmern im dritten Stock, wo die berühmten fahrenden Leute, die Kunstreiter und Gaukler, hausten, und weiter bis zu den kleinen Mansardenkämmerchen, wo Becky inmitten von Studenten, Handwerksburschen, kleinen Handwerkern und Landleuten, die zum Fest hereingekommen waren, ein kleines Nest gefunden hatte – ein so schmutziger kleiner Zufluchtsort, wie er nur je der Schönheit als Versteck gedient hat.

Becky liebte dieses Leben; sie stand mit den Händlern, Spielbankleuten, Gauklern, Studenten, kurz, mit allen, auf gutem Fuß. Von ihren Eltern, die beide aus Neigung und Notwendigkeit ein Zigeunerleben geführt hatten, hatte sie die wilde, rastlose Natur geerbt. Wenn nicht gerade ein Lord zugegen war, so sprach sie auch mit dem größten Vergnügen mit seinem Diener. Der Lärm, das Getümmel, das Trinken und Rauchen, das Geschwätz der jüdischen Händler, das feierliche, prahlerische Benehmen der armen Gaukler, das geheimnisvolle Gerede der Spielbankleute, die Lieder und die Aufschneidereien der Studenten und das allgemeine geräuschvolle Treiben des Ortes sagten der kleinen Frau zu und reizten sie, selbst wenn sie gerade tief im Unglück steckte und [442] nichts besaß, um ihre Rechnung zu begleichen. Wie angenehm war dieser Betrieb ihr jetzt erst, da ihre Börse voll von dem Geld war, das der kleine Georgy am Abend zuvor für sie gewonnen hatte.

Als Joseph ächzend die letzten Stufen heraufgekeucht kam, blieb er atemlos auf dem Treppenabsatz stehen und wischte sich das Gesicht. Dann blickte er sich nach Nummer 92 um, wo er die gesuchte Person finden sollte, und sah gegenüber die Tür von Zimmer Nummer 90 offen. Ein Student in Reitstiefeln und schmutzigem Schlafrock lag auf dem Bett und rauchte eine lange Pfeife, während ein anderer Student mit langem, blondem Haar und einem bortenbesetzten Rock, ebenfalls außerordentlich elegant und schmutzig, doch tatsächlich vor Nummer 92 auf den Knien lag und durch das Schlüsselloch der Person drin flehentlich etwas zuschrie.

»Gehen Sie«, sagte eine wohlbekannte Stimme, bei deren Ton Joseph erbebte. »Ich erwarte jemanden; ich erwarte meinen Großpapa. Er darf Sie hier nicht sehen.«

»Engelhafte Engländerin!« brüllte der kniende Student mit den fahlen Locken und dem großen Fingerring. »Haben Sie Mitleid mit uns, kommen Sie zum Stelldichein, essen Sie mit mir und Fritz im Parkgasthaus. Wir werden gebratenen Fasan und Porter, Plumpudding und französischen Wein bestellen. Wir werden sterben, wenn Sie nicht kommen.«

»Ja, das werden wir«, sagte der junge Edelmann auf dem Bett. Joseph hörte diese Unterredung, obgleich er nichts davon verstand, aus dem einfachen Grunde, weil er die Sprache, in der sie geführt wurde, nie gelernt hatte.

»Njumero kattervang duse, si vous plaît« 1, sagte Joseph würdevoll, als er wieder sprechen konnte.

»Gatterfang tus!« rief der Student aufspringend. Dann eilte er in sein Zimmer, verschloß die Tür, und Joseph hörte, wie er mit seinem Kameraden auf dem Bett lachte.

Der bengalische Gentleman stand noch, mißvergnügt von dieser Szene, da, als sich die Tür von Nummer 92 von selbst [443] öffnete und Beckys Köpfchen kokett und mutwillig herauslugte.

Sie strahlte Joseph an.

»Sie sind es«, sagte sie und trat heraus. »Wie habe ich auf Sie gewartet! Halt! Noch nicht. In einer Minute können Sie hereinkommen.« In der Zwischenzeit steckte sie ein Schminktöpfchen, eine Schnapsflasche und einen Teller mit Fleischresten ins Bett, strich sich glättend übers Haar und ließ endlich den Besucher ein.

Als Morgenrock trug sie einen ausgeblaßten und fleckigen rosa Domino, der verschiedentlich Spuren von Pomade zeigte, aber ihre Arme leuchteten aus den weiten Ärmeln des Gewandes weiß und schön. Sie hatte es um die schmale Taille gegürtet, damit die hübsche Figur der Trägerin zur Geltung gebracht würde. Sie führte Joseph an der Hand in ihre Dachkammer hinein.

»Treten Sie ein«, sagte sie. »Kommen Sie, und erzählen Sie mir etwas. Nehmen Sie Platz in dem Stuhl dort.« Damit preßte sie die Hand des Zivilisten und drückte ihn lachend hinein. Sie selbst ließ sich auf dem Bett nieder – ganz gewiß nicht auf Flasche und Teller, auf die sich Joseph sicher gesetzt hätte, hätte er diesen Platz gewählt. So saß sie nun und unterhielt sich mit ihrem alten Bewunderer.

»Wie wenig die Jahre Sie verändert haben«, sagte sie mit einem Blick zärtlichen Interesses. »Ich hätte Sie überall erkannt. Welch ein Trost, unter Fremden wieder einmal das offene, ehrliche Gesicht eines alten Freundes zu sehen.«

Das offene, ehrliche Gesicht trug allerdings in diesem Augenblick keineswegs einen Ausdruck von Offenheit und Ehrlichkeit, es war im Gegenteil unruhig und verwirrt. Joseph sah sich in dem seltsamen kleinen Zimmer um, in dem er seine alte Flamme fand. Eins ihrer Kleider hing über dem Bett, ein anderes an einem Haken an der Tür, ihr Hut verdeckte den Spiegel halb, davor lag ein hübsches Paar bronzebrauner Stiefelchen; auf dem Nachttisch neben dem Bett befand sich [444] ein französischer Roman und eine Kerze, aber nicht aus Wachs. Becky hatte daran gedacht, auch das ins Bett zu stecken, aber sie hatte nur die kleine Papiernachthaube weggepackt, mit der sie beim Schlafengehen das Licht gelöscht hatte.

»Ich hätte Sie überall erkannt«, fuhr sie fort. »Eine Frau vergißt gewisse Dinge nie, und Sie waren der erste Mann, den ich je – je sah.«

»Wirklich?« sagte Joseph. »Gott behüte mich, nein so was!«

»Als ich mit Ihrer Schwester von Chiswick kam, war ich fast noch ein Kind«, meinte Becky. »Wie geht es dem lieben Mädchen? Oh, ihr Mann war ein arger Bösewicht, und die Ärmste war natürlich auf mich eifersüchtig; hach, als ob ich mir etwas aus ihm gemacht hätte, da es doch jemanden gab – aber nein – wir wollen nicht von alten Zeiten sprechen.« Und sie fuhr sich mit dem zerrissenen Spitzentüchelchen über die Augen.

»Ist das nicht ein seltsamer Ort«, fuhr sie fort, »eine Frau wiederzusehen, die in einer ganz anderen Welt gelebt hat? Ich habe sehr viel Unrecht und Kummer erdulden müssen, Joseph Sedley, ich habe so entsetzlich leiden müssen, daß ich zuweilen fast wahnsinnig bin. Nirgends kann ich Ruhe finden, stets wandere ich rastlos und unglücklich umher. Alle meine Freunde sind mir untreu geworden – alle. Es gibt keinen ehrlichen Menschen mehr auf der Welt. Ich war die treueste Ehefrau, die je gelebt hat, obwohl ich meinen Mann nur aus gekränkter Eitelkeit heiratete, weil ein anderer – doch lassen wir das. Ich war ihm treu, doch er trat mich mit Füßen und verließ mich. Ich war die zärtlichste Mutter. Ich hatte nur ein Kind, eine Herzenswonne, eine Hoffnung, eine Freude, das ich mit wahrer Mutterliebe ans Herz drückte, das mein Leben war, mein Gebet, meine Seligkeit, und sie – sie entrissen es mir – entrissen es mir.« Bei diesen Worten preßte sie die Hand mit leidenschaftlicher Verzweiflung ans Herz und vergrub ihr Gesicht einen Augenblick im Bett.

Die Schnapsflasche unter der Bettdecke klirrte gegen den Teller mit dem kalten Fleisch. Beide waren zweifellos gerührt [445] von diesem traurigen Schauspiel. Max und Fritz lauschten an der Tür und hörten mit Verwunderung Mrs. Beckys Weinen und Schluchzen. Auch Mr. Joseph war recht erschrocken und bewegt, als er seine alte Flamme in diesem Zustand sah. Nun erzählte sie ihm ihre Geschichte – eine Geschichte, so nett, einfach und harmlos, daß eins ganz klar wurde: Hätte es je einen weißgekleideten Engel gegeben, der dem Himmel entflohen war, um sich hier auf Erden den teuflischen Ränken und Schurkereien böser Menschen zu unterwerfen, dann säße diese unglückliche lautere Märtyrerin auf dem Bett vor Joseph – auf dem Bett, und fast auf der Schnapsflasche.

Sie hatten ein sehr langes, freundschaftliches und vertrautes Gespräch, in dessen Verlauf Joseph erfuhr (und zwar auf eine Weise, die ihn nicht im mindesten verletzte oder beleidigte), daß Beckys Herz erst in seiner bezaubernden Gegenwart zu klopfen gelernt hatte, da George Osborne ihr zwar ungerechtfertigterweise den Hof gemacht habe, was Amelias Eifersucht und ihren kleinen Bruch erklärte, daß aber Becky den unglücklichen Offizier nie auch nur im geringsten ermutigt habe, und von dem Tag an, da sie Joseph zum erstenmal erblickt habe, habe sie niemals aufgehört, an ihn zu denken, obwohl sie natürlich zuallererst ihre Pflichten als verheiratete Frau erfüllen mußte – Pflichten, denen sie stets nachgegangen sei und bis zum Tode nachgehen werde, beziehungsweise bis das sprichwörtlich schlechte Klima, in dem Oberst Crawley lebte, sie von einem Joch befreien würde, das seine Grausamkeit ihr verhaßt gemacht habe.

Joseph verließ sie in der Überzeugung, daß sie die tugendhafteste aller bezaubernden Frauen sei, und wälzte eine Menge wohlwollender Pläne für ihr Glück im Kopf. Ihre Verfolgungen mußten aufhören, sie sollte in die Gesellschaft zurückkehren, deren Zierde sie war; er wollte sehen, was sich tun ließe. Sie mußte dieses Haus verlassen und in eine ruhige Wohnung ziehen. Amelia sollte sie besuchen und sich ihrer annehmen. Er wollte die Sache in Ordnung bringen und sich [446] mit dem Major beraten. Sie weinte beim Abschied Tränen inniger Dankbarkeit und preßte seine Hand, als sich der galante dicke Herr bückte, um ihre zu küssen.

Becky entließ Joseph aus ihrer Dachkammer mit einer Grazie, als ob sie die Herrin eines Palastes wäre. Als der gewichtige Gentleman auf der Treppe verschwunden war, kamen Max und Fritz mit der Pfeife aus ihrem Loch hervor, und Becky belustigte sich damit, Joseph nachzuahmen. Dabei kaute sie ihr kaltes Fleisch und Brot und nahm ab und zu einen Zug aus ihrer geliebten Schnapsflasche.

Joseph begab sich feierlich in Dobbins Wohnung hinüber und machte ihn mit der rührenden Geschichte bekannt, die er soeben gehört hatte, ohne jedoch die Spielgeschichte vom Abend zuvor zu erwähnen. Die beiden Herren steckten die Köpfe zusammen und berieten darüber, wie man Mrs. Becky am besten nützlich sein könne, während sie ihr unterbrochenes Gabelfrühstück beendete.

Wie war sie in dieses Städtchen gekommen? Wie kam es, daß sie freundlos und allein umherwanderte? Die kleinen Schulknaben lernen in ihrem ersten Lateinbuch, daß der Pfad zum Avernus 2 hinab leicht gangbar ist. Wir wollen den Abschnitt in der Geschichte, der ihre Abwärtsbewegung beinhaltet, überspringen. Sie war jetzt nicht schlechter als in den Tagen ihres Wohllebens – nur das Glück hatte sie verlassen.

Mrs. Amelia nun war eine Frau von so weichem, törichtem Gemüt, daß ihr Herz sofort dahinschmolz, wenn sie von jemandem hörte, der unglücklich war. Da sie nie etwas Sündhaftes gedacht oder getan hatte, verabscheute sie das Laster nicht so, wie es eingeweihtere Moralisten tun. Jeden, der in ihre Nähe kam, verwöhnte sie mit freundlichen Worten und Komplimenten; ihre Dienstboten bat sie um Verzeihung, sie mit ihrem Klingeln bemüht zu haben; bei einem Verkäufer, der ihr ein Stück Seide zeigte, entschuldigte sie sich, und vor einem Straßenfeger würde sie einen Knicks machen und ihn [447] wegen des vornehmen Aussehens seiner Kreuzung loben – ja all dieser Torheiten war sie fähig. So mußte allein schon die Vorstellung, daß es einer alten Bekannten schlecht gehe, ihr Herz besänftigen, und sie wollte auch nie etwas davon hören, daß jemand sein Unglück verdient habe. Eine Welt unter einer Gesetzgebung wie der ihren wäre nicht gerade ein geordneter Aufenthaltsort. Es gibt aber nicht viele Frauen, wenigstens unter den herrschenden, von ihrer Art. Diese Dame würde wahrscheinlich Gefängnisse, Strafen, Handschellen, Auspeitschen, Armut, Krankheit und Hunger auf der Welt abschaffen und wäre ein so verzagtes Geschöpf, daß sie – wir müssen es bekennen – sogar eine tödliche Beleidigung vergessen könnte.

Als der Major von dem sentimentalen Abenteuer erfuhr, das Joseph soeben zugestoßen war, nahm er daran, wie wir bekennen müssen, nicht halb so großen Anteil wie der Gentleman aus Bengalen. Im Gegenteil, er war alles andere als freudig erregt, und unziemlich drückte er sich über die arme unglückliche Frau aus und sagte tatsächlich: »Na, ist das kleine Weibstück wieder aufgetaucht?« Er hatte sie nie leiden können. Nein, im Gegenteil, vom ersten Moment an, da sie ihn mit ihren grünen Augen angesehen und sich abgewendet hatte, empfand er ein tiefes Mißtrauen ihr gegenüber.

»Diese kleine Teufelin bringt Unheil, wohin sie auch kommt«, sagte der Major respektlos. »Wer weiß, was für ein Leben sie geführt hat und was sie hier allein im Ausland sucht. Erzähl mir nichts von Verfolgern und Feinden! Eine anständige Frau hat immer Freunde und wird sich nie von ihrer Familie trennen. Warum hat sie ihren Mann verlassen? Vielleicht ist er verrufen und schlecht gewesen, wie du sagst. Ja, er war es. Ich kann mich noch an diesen verdammten Gauner entsinnen, wie er den armen George betrogen und hintergangen hat. Gab es nicht einen Skandal bei ihrer Trennung? Ich glaube, ich habe so etwas gehört«, rief Major Dobbin, der sich nicht viel um Gerüchte kümmerte. Joseph versuchte umsonst, [448] ihn zu überzeugen, daß Mrs. Rebekka in jeder Hinsicht eine mißhandelte tugendhafte Frau sei.

»Na ja, wir wollen Mrs. George fragen«, sagte der durchtriebene Diplomat von Major. »Wir wollen sie zu Rate ziehen. Du wirst wohl zugeben müssen, daß sie auf jeden Fall ein guter Richter ist und weiß, was sich in solchen Dingen gehört.«

»Hm, Emmy ist ganz in Ordnung«, erwiderte Joseph, der zufällig nicht in seine Schwester verliebt war.

»In Ordnung? Bei Gott, sie ist die feinste Dame, die ich je in meinem Leben gesehen habe«, platzte der Major heraus. »Ich sage noch einmal, wir wollen sie fragen, ob wir dieses Weib besuchen sollen oder nicht. Ihrer Entscheidung will ich mich beugen.« Nun dachte dieser abscheuliche, gerissene Schurke von einem Major, daß er seiner Sache sicher sei. Emmy war, wie er sich erinnerte, einst nicht ohne Grund schrecklich eifersüchtig auf Rebekka gewesen und hatte ihren Namen stets nur schaudernd und mit Entsetzen genannt. Eine eifersüchtige Frau vergißt nie, dachte Dobbin, und so begaben sich die beiden über die Straße in Amelias Haus, wo sie gerade in einer Singstunde bei Madame Strumpff zu deren Zufriedenheit zwitscherte.

Sobald diese Dame sich verabschiedet hatte, trug Joseph mit seinem üblichen Aufwand an Worten sein Anliegen vor. »Meine liebe Amelia«, sagte er, »mir ist soeben ein außerordentliches – ja – Gott behüte mich – ein außerordentliches Abenteuer widerfahren – eine alte Freundin – ja – eine sehr interessante, alte Freundin von dir, und noch dazu aus alten Zeiten, ist soeben hier angekommen, und ich möchte gern, daß du sie besuchst.«

»Eine Freundin«, fragte Amelia. »Wer ist es denn? Major Dobbin, bitte, machen Sie meine Schere nicht kaputt.« Der Major wirbelte sie nämlich an der kleinen Kette herum, an der sie zuweilen vom Gürtel ihrer Herrin herabhing, und gefährdete damit seine eigenen Augen.

[449] »Es ist eine Frau, die ich ganz und gar nicht leiden kann«, sagte der Major störrisch, »und auch Sie haben keinen Grund, sie zu lieben.«

»Es ist Rebekka, ganz bestimmt ist es Rebekka«, rief Amelia sehr erregt und wurde rot.

»Sie haben recht, wie immer«, entgegnete Dobbin. Brüssel, Waterloo, alte vergangene Zeiten, kummervolle und schmerzliche Erinnerungen stürzten sich in Amelias sanftes Herz und verursachten darin eine grausame Erregung.

»Ich will sie nicht sehen«, fuhr Emmy fort. »Ich kann sie nicht sehen.«

»Habe ich es nicht gesagt?« meinte Dobbin zu Joseph.

»Sie ist sehr unglücklich und – und so weiter«, bemerkte Joseph nachdrücklich. »Sie ist sehr arm und schutzlos und ist krank gewesen – schwerkrank – und ihr Mann, der Schuft, hat sie verlassen.«

»Ach«, sagte Amelia.

»Sie besitzt keinen Freund auf der Welt«, fuhr Joseph nicht ungeschickt fort. »Und sie sagte, sie hoffe dir vertrauen zu können. Sie ist so unglücklich, Emmy. Vor Kummer ist sie fast wahnsinnig geworden. Ihre Geschichte hat mich gerührt – wirklich, auf Ehrenwort. Noch niemand hat eine grausame Verfolgung engelhafter ertragen. Ihre Familie ist sehr schlecht gegen sie gewesen.«

»Armes Geschöpf!« sagte Amelia.

»Und wenn sie keine Freundin findet, dann wird sie wohl sterben, meint sie«, fuhr Joseph mit leiser, zitternder Stimme fort. »Gott behüte mich, weißt du, daß sie schon versucht hat, Selbstmord zu begehen? Sie hat Opium bei sich, ich habe die Flasche in ihrem Zimmer gesehen – so ein erbärmliches Zimmerchen in einem Gasthaus dritten Ranges, im ›Elefanten‹, ganz oben unterm Dach. Ich bin dort gewesen.«

Dies schien Emmy nicht besonders zu berühren. Sie lächelte sogar ein wenig; vielleicht stellte sie sich Joseph vor, wie er die Treppen hinaufkeuchte.

[450] »Sie ist außer sich vor Kummer«, fuhr er fort. »Es ist entsetzlich anzuhören, was diese Frau durchgemacht hat. Sie hat einen kleinen Knaben im gleichen Alter wie Georgy.«

»Ja, ja, ich glaube, ich kann mich entsinnen«, bemerkte Emmy, »na und?«

»Das schönste Kind, das man je gesehen hat«, sagte Joseph, der wie alle Dicken leicht zu rühren und von Beckys Geschichte sehr ergriffen war. »Ein wahrer Engel, der seine Mutter anbetete. Die Schurken haben ihr das schreiende Kind aus den Armen gerissen und ihm nicht erlaubt, sie jemals wiederzusehen.«

»Lieber Joseph«, rief Emmy und sprang plötzlich auf. »Wir wollen unverzüglich zu ihr.« Sie lief in ihr Schlafzimmer, setzte hastig den Hut auf, kam mit dem Schal über dem Arm wieder heraus und befahl Dobbin, ihr zu folgen.

Er kam und legte ihr den Schal über die Schultern. Es war ein weißer Kaschmirschal, den der Major aus Indien für sie hatte kommen lassen. Er sah ein, daß ihm nichts übrigblieb, als zu gehorchen. Sie schob ihre Hand in seinen Arm, und sie gingen los.

»Es ist Nummer 92, vier Treppen hoch«, sagte Joseph, der offenbar keine große Lust hatte, noch einmal hinaufzusteigen. Er stellte sich jedoch ans Fenster seines Wohnzimmers, wo er den Platz überblicken konnte, an dem der »Elefant« liegt, und sah die beiden über den Markt gehen.

Auch Becky sah sie von ihrer Dachkammer aus. Sie saß darin mit den beiden Studenten, und sie plauderten und lachten und machten sich lustig über Beckys Großpapa, dessen Ankunft und Abmarsch sie beobachtet hatten. Sie hatte gerade noch genug Zeit, sie wegzuschicken und ihr Zimmerchen in Ordnung zu bringen, ehe der Wirt vom »Elefanten«, der Mrs. Osbornes Beliebtheit am durchlauchtigsten Hof kannte und sie entsprechend achtungsvoll behandelte, ihnen voran die Treppe hinauf bis zum Dachgeschoß ging und der Lady und dem Herrn Major beim Aufstieg gut zuredete.

[451] »Gnädige Frau, gnädige Frau!« rief der Wirt und klopfte an Beckys Tür.

Er hatte sie tags zuvor bloß »Frau« genannt und war keineswegs höflich gegen sie gewesen.

»Wer ist da?« sagte Becky und steckte den Kopf heraus. Dann stieß sie einen schwachen Schrei aus. Vor ihr standen die zitternde Emmy und Dobbin, der lange Major, mit seinem Stock.

Er blieb stehen und beobachtete das Schauspiel mit großem Interesse. Emmy jedoch sprang mit offenen Armen auf Rebekka zu, vergab ihr in einem Augenblick und umarmte und küßte sie herzlich. Ach, du arme Unglückliche. Wann hast du je so reine Küsse auf deinen Lippen gespürt?

Fußnoten

1 verballhorntes Französisch, das den englischen Akzent wiedergeben soll; eigentlich: Numéro quatre-vingt-douze, s'il vous plaît = Nummer zweiundneunzig bitte.

2 Kratersee in Süditalien; war im Altertum Mittelpunkt vieler Sagen von der Unterwelt.

66. Kapitel
Amantium irae 1

Die Offenheit und die Güte Amelias mußten selbst eine so verstockte kleine Sünderin wie Becky rühren. Sie erwiderte Emmys Liebkosungen und freundliche Worte mit so etwas wie Dankbarkeit und einem Gefühl, das zwar nicht dauernd, aber doch einen Augenblick echt zu nennen war. Sie hatte mit dem »schreienden Kind, das man ihr aus den Armen gerissen hatte«, eine glückliche Idee gehabt. Durch dieses herzzerreißende Unglück hatte Becky die Freundin wiedergewonnen, und ganz sicher war das auch eins der ersten Themen, über die unsere arme einfältige kleine Emmy mit ihrer wiedergefundenen Freundin sprach.

»Man hat dir also dein geliebtes Kind entrissen?« rief unser kleiner Einfaltspinsel aus. »O Rebekka, meine arme, liebe, gequälte Freundin. Ich weiß, was es heißt, einen Knaben zu verlieren, und ich fühle mit denen, die einen verloren haben. So der Himmel will, wird dir dein Sohn zurückgegeben werden, [452] wie eine allzu gütige Vorsehung mir auch meinen zurückgegeben hat.«

»Das Kind, mein Kind? Ach ja, meine Qualen waren entsetzlich!« gestand Becky, vielleicht nicht ohne einen kleinen Gewissensbiß. Es beunruhigte sie, diesem schlichten Vertrauen sofort wieder mit Lügen begegnen zu müssen. Das ist eben das Unglück, wenn man erst einmal mit derartigen Unwahrheiten anfängt. Wenn eine Lüge gleichermaßen fällig wird, so muß man eine andere aussprechen, um die alte zu honorieren. Dadurch erhöht sich die Summe der zirkulierenden Lügen unvermeidlich, und die Gefahr der Entdeckung wächst täglich.

»Meine Qualen«, fuhr Becky fort, »waren schrecklich« (hoffentlich setzt sie sich nicht auf die Flasche), »als sie ihn mir entrissen; ich dachte, ich müsse sterben. Glücklicherweise bekam ich aber eine Gehirnhautentzündung, und die Ärzte gaben mich schon auf. Aber – aber ich genas, und – und hier bin ich, arm und verlassen.«

»Wie alt ist er?« fragte Emmy.

»Elf«, sagte Becky.

»Elf?« rief die andere. »Aber er ist doch im selben Jahr geboren wie Georgy, und der ist ...«

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Becky, die das Alter des kleinen Rawdon tatsächlich ganz vergessen hatte. »Durch den Kummer habe ich so manches vergessen, liebste Amelia. Ich bin sehr verändert, zuweilen halb wild. Er war elf, als sie ihn mir wegnahmen. Gott segne sein liebes Gesicht, ich habe es seitdem nicht wieder gesehen.«

»War er blond oder dunkel?« fragte die alberne kleine Amelia weiter. »Zeig mir doch sein Haar!«

Becky mußte über diese Einfalt fast lachen. »Heute nicht, Liebste – ein andermal, wenn meine Koffer von Leipzig ankommen, von wo ich hierhergereist bin. Auch eine kleine Zeichnung von ihm, die ich in glücklichen Tagen angefertigt habe.«

[453] »Arme Becky, arme Becky!« sagte Amelia. »Wie dankbar, wie dankbar sollte ich sein.« (Ich bezweifle allerdings, daß die Dankbarkeit, die uns die Frauen in frühester Jugend einschärfen, nämlich dankbar zu sein, daß es uns besser geht als unseren Nächsten, ein sehr vernünftiges und religiöses Gefühl ist.)

Hierauf verfiel Emmy wie üblich in den Gedanken, daß ihr Sohn der schönste, beste und klügste Knabe auf der ganzen Welt sei.

»Du wirst meinen Georgy sehen«, war der einzige Trost für Rebekka, der Emmy einfiel. Wenn irgend etwas ihr helfen konnte, dann das!

Die beiden Frauen unterhielten sich eine Stunde oder noch länger miteinander, und das gab Becky Gelegenheit, ihrer wiedergewonnenen Freundin eine vollständige Fassung ihrer Geschichte zu geben. Sie zeigte, daß ihre Heirat mit Rawdon Crawley von der Familie stets feindselig betrachtet worden sei und daß ihre Schwägerin – eine gerissene Frau – die Gefühle ihres Mannes gegen sie vergiftet habe. Außerdem habe er schlechte Bekanntschaften geschlossen, die seine Liebe zu ihr erkalten ließen. Sie habe Armut, Vernachlässigung, Kälte, alles von dem Wesen ertragen, das sie am meisten liebte, und alles nur um ihres Kindes willen. Schließlich sei sie durch die schändlichste Schmach dazu getrieben worden, die Trennung von ihrem Mann zu fordern. Der Elende sei darauf nicht zurückgeschreckt, von ihr zu fordern, ihren guten Ruf zu opfern, damit er durch Vermittlung eines sehr hochgestellten und mächtigen, aber charakterlosen Mannes – des Marquis von Steyne – eine gute Stellung erlangen könne. Das grausame Ungeheuer!

Diesen Teil ihrer ereignisreichen Geschichte schilderte Becky mit sehr großem weiblichem Taktgefühl und der Miene entrüsteter Tugend. Durch diese Beleidigung sei sie gezwungen gewesen, das Haus ihres Mannes zu fliehen, und der Feigling hatte seine Rache weiter verfolgt, indem er ihr das Kind [454] nahm. Und so sei sie ein armer, schutzloser, einsamer und unglücklicher Wanderer geworden, erklärte sie.

Emmy nahm diese lange Geschichte auf, wie es bei ihrem Charakter zu erwarten war. Sie bebte vor Entrüstung über das Benehmen des erbärmlichen Rawdon und des lasterhaften Steyne; ihre Augen setzten das Ausrufezeichen hinter jeden Satz, in dem Rebekka ihre Verfolgung durch die aristokratischen Verwandten und den Abfall ihres Mannes beschrieb. (Becky beschimpfte ihn nicht, sie sprach von ihm mehr traurig als zornig. Sie hatte ihn nur zu zärtlich geliebt, und war er nicht der Vater ihres Sohnes?) Während Becky die Trennungsszene von dem Kind zitierte, zog sich Emmy ganz hinter ihr Taschentuch zurück, so daß die vollendete kleine Tragödienspielerin von der Wirkung ihrer Vorstellung auf das Publikum bezaubert gewesen sein muß.

Während die Damen ihr Gespräch fortsetzten, stieg Amelias ständige Begleitung, der Major, in das Erdgeschoß des Hauses hinab und begab sich in das große Gastzimmer. Er hatte die Unterredung nicht unterbrechen wollen, war es aber überdrüssig, auf dem engen Treppengang hin und her zu gehen und sich von den Dachsparren den Flor vom Hut fegen zu lassen. Dieser Raum steht allen Besuchern vom »Elefanten« zur Verfügung und ist stets in Rauchwolken gehüllt. Bier ist allenthalben verschüttet, und auf einem schmutzigen Tisch stehen Dutzende von ebenfalls schmutzigen Messingleuchtern mit Talgkerzen für die Bewohner des Hauses, deren Schlüssel in Reih und Glied über den Kerzen hängen. Emmy war errötend durch das Zimmer geeilt (von diesem Raum geht nämlich die Treppe aus), wo sich alle möglichen Leute zusammengefunden hatten: Tiroler Handschuhverkäufer und rumänische Leinwandkrämer mit ihren Packen; Studenten, die sich mit Butterbrot und Fleisch versahen; Müßiggänger, die an den schlüpfrigen biernassen Tischen Karten oder Domino spielten; Gaukler, die sich während ihrer Auftrittspausen erfrischten – kurz, der ganze Schall und Rauch eines deutschen [455] Gasthauses zur Jahrmarktszeit. Der Kellner brachte dem Major wie selbstverständlich einen Krug Bier, und Dobbin zog eine Zigarre heraus und beschäftigte sich mit diesem schädlichen Gewächs und einer Zeitung, bis sein Schützling herabkommen und ihn wieder mit Beschlag belegen würde.

Bald darauf kamen auch Max und Fritz sporenklirrend die Treppe herab, die Mütze schief auf dem Kopf, mit ihren prächtig mit Wappen und Quasten verzierten Pfeifen. Sie hingen den Schlüssel von Nummer 90 ans Brett und riefen nach einer Portion Butterbrot und Bier. Sie ließen sich neben dem Major nieder und begannen ein Gespräch, das er gezwungenermaßen zum großen Teil mit anhören mußte. Es fielen hauptsächlich Worte wie »Fuchs« und »Philister«, und es drehte sich um Schlägereien und Trinkgelage in der benachbarten Universität von Schoppenhausen. Von diesem berühmten Sitz der Gelehrsamkeit waren sie gerade im Eilwagen gekommen, anscheinend in Gesellschaft Beckys, um den Vermählungsfeierlichkeiten von Pumpernickel beizuwohnen.

»Die kleine Engländerin scheint en bays de gonnaissance 2 zu sein«, sagte Max, der Französisch konnte, zu seinem Kameraden Fritz. »Nachdem der fette Großvater fort war, kam eine hübsche kleine Landsmännin. Ich habe gehört, wie sie zusammen im Zimmer der kleinen Frau geschnattert und geheult haben.«

»Wir müssen noch Karten zu ihrem Konzert kaufen«, meinte Fritz. »Hast du Geld, Max?«

»Pah!« erwiderte der andere »Das Konzert ist ein Konzert in nubibus 3. Hans hat erzählt, sie habe schon einmal eins in Leipzig angekündigt, und die Burschen hätten viele Karten gekauft; aber sie ist abgereist, ohne zu singen. Gestern im Wagen hat sie gesagt, ihr Pianist sei in Dresden krank geworden. Ich glaube nicht, daß sie überhaupt singen kann. Sie hat genauso eine krächzende Stimme wie du, du prahlerischer Säufer.«

[456] »Sie ist krächzend, das stimmt; ich habe sie gehört, wie sie eine schreckliche englische Ballade aus dem Fenster gesungen hat, die ›Die Ros‹ an meinem Fensterlein' hieß.«

»Saufen und Singen verträgt sich nicht«, bemerkte Fritz mit der roten Nase, der offensichtlich den erstgenannten Zeitvertreib vorzog. »Nein, du sollst keine Karte von ihr kaufen, sie hat gestern abend Geld beim Trente-et-quarante gewonnen. Ich habe sie beobachtet. Sie hat einen kleinen englischen Jungen für sich spielen lassen. Wir wollen dein Geld lieber verspielen oder fürs Theater ausgeben oder ihr französischen Wein und Kognak im Aureliusgarten spendieren. Aber Karten wollen wir nicht kaufen. Was meinst du? – Noch einen Krug Bier!«

Und nachdem sie nacheinander ihren blonden Schnurrbart in die schale Flüssigkeit getaucht hatten, zwirbelten sie ihn und stolzierten hinaus auf den Jahrmarkt.

Dem Major, der sah, wie der Schlüssel von Nummer 90 an den Nagel gehängt wurde, und der die Unterredung der beiden jungen Universitätsburschen gehört hatte, fiel es nicht schwer, zu begreifen, daß sich ihr Gespräch um Becky drehte. Der kleine Satan arbeitet wieder mit den alten Tricks, dachte er lächelnd. Er rief sich die vergangenen Zeiten ins Gedächtnis zurück, wo er ihren verzweifelten Flirt mit Joseph und das komische Ende dieses Abenteuers miterlebt hatte. Er hatte später mit George oft darüber gelacht, bis wenige Wochen nach seiner Heirat, als der junge Osborne sich ebenfalls in den Netzen der kleinen Circe verfangen zu haben schien und sich in einer Weise mit ihr einließ, die der andere zwar argwöhnte, aber lieber übersehen wollte. Es war am Morgen von Waterloo, als die jungen Männer im Regen in vorderster Linie beisammenstanden und auf die dunkle Masse der Franzosen blickten, die auf den gegenüberliegenden Höhen lagen. »Ich bin in eine dumme Geschichte mit einer Frau geraten«, sagte George. »Ich bin froh, daß wir abmarschiert sind. Wenn ich falle, hoffe ich, daß Emmy nie etwas von der Sache erfährt. [457] Bei Gott, ich wünschte, ich hätte niemals damit angefangen.« William freute sich darüber und besänftigte auch die Witwe des armen George häufig damit, daß Osborne am Tage, nachdem er seine Frau zurückgelassen hatte, gleich nach dem Gefecht von Quatre-Bras mit seinem Kameraden ernst und liebevoll von seinem Vater und seiner Frau gesprochen habe. Das hatte William auch immer wieder in seinen Gesprächen mit dem älteren Osborne betont, und deshalb war es ihm wohl auch gelungen, den Alten noch kurz vor seinem Ende mit dem Andenken seines Sohnes zu versöhnen.

So betreibt diese Teufelin also immer noch ihre Machenschaften, dachte William, wäre sie doch nur hundert Meilen weit weg. Wohin sie auch kommt – sie bringt nur Unheil mit. Er brütete noch weiter über diesen Ahnungen und unangenehmen Gedanken, den Kopf zwischen den Händen und die »Pumpernickeler Zeitung« von der vergangenen Woche ungelesen vor der Nase, als jemand ihm mit dem Sonnenschirm an die Schulter tippte. Er sah auf und erblickte Mrs. Amelia.

Mrs. Osborne tyrannisierte Dobbin auf ihre Weise, denn auch die Schwächsten beherrschen gern andere. Sie kommandierte ihn herum, gab ihm einen Klaps und ließ ihn apportieren, gerade als ob er ein großer Neufundländer wäre. Wenn sie nach ihm rief, so sprang er sozusagen gern ins Wasser und trottete mit ihrem Strickbeutel im Maul hinter ihr her. Diese Geschichte hat ihren Zweck fast verfehlt, wenn der Leser noch nicht gemerkt hat, daß der Major ein verliebter Tropf war.

»Warum haben Sie nicht auf mich gewartet und mich die Treppe hinabbegleitet?« fragte sie, warf das Köpfchen in den Nacken und machte einen höchst spöttischen Knicks.

»Ich konnte in dem Gang nicht aufrecht stehen«, erwiderte er mit komisch-bittendem Blick, und erfreut, ihr den Arm reichen und sie aus dem dumpfen, verqualmten Raum fortführen zu können, wäre er ohne einen Gedanken an den Kellner davongegangen, aber der junge Bursche lief ihm nach und [458] hielt ihn auf der Schwelle vom »Elefanten« zurück, um ihn zur Bezahlung des Biers aufzufordern, das er gar nicht getrunken hatte. Emmy lachte. Sie nannte ihn einen bösen Mann und machte noch ein paar Witze, die zu der Gelegenheit und zu dem Dünnbier paßten. Sie war bester Laune und trippelte eiligst über den Marktplatz. Sie sagte, sie müsse Joseph augenblicklich sehen. Der Major lachte über die ungestüme Liebe von Mrs. Amelia, da es sonst nicht oft vorkam, daß sie ihren Bruder »augenblicklich« sehen mußte.

Sie fanden den Zivilisten in seinem Salon im ersten Stock. Während der letzten Stunde war er mindestens hundertmal in seinem Zimmer auf und ab gegangen, hatte an den Nägel gekaut und über den Marktplatz zum »Elefanten« geblickt, zur gleichen Zeit, als Emmy mit ihrer Freundin in der Dachkammer die Unterredung hatte und der Major unten im Gastzimmer auf dem schmutzigen Tisch herumtrommelte. Auch er war sehr begierig, Mrs. Osborne zu sehen.

»Nun?« meinte er.

»Das arme gute Geschöpf! Wie hat sie gelitten!« sagte Emmy.

»Gott behüte mich, jawohl«, sagte Joseph und wackelte mit dem Kopf, daß seine Wangen wie Gelee zitterten.

»Sie kann das Zimmer der Payne haben, die muß dann höher hinaufziehen«, fuhr Emmy fort. Die Payne war eine gesetzte englische Zofe und Mrs. Osbornes persönliche Dienerin. Der Reisediener machte ihr den Hof, wie es seine Stellung verlangte, und Georgy trieb seinen Schabernack mit ihr und erzählte ihr von deutschen Räubern und Gespenstern. Sie verbrachte ihre Zeit hauptsächlich damit, zu murren, ihre Herrin herumzukommandieren und ihre Absicht kundzutun, am nächsten Morgen in ihr Heimatdorf, nach Clapham, zurückzukehren. »Sie kann das Zimmer der Payne haben«, sagte Emmy.

»Wie, Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß Sie das Weib im Hause haben wollen?« platzte der Major heraus und sprang auf.

[459] »Natürlich, das wollen wir«, entgegnete Amelia mit der unschuldigsten Miene der Welt. »Bitte, regen Sie sich nicht auf und machen die Möbel kaputt, Major Dobbin. Natürlich soll sie hierherkommen.«

»Natürlich, meine Liebe!« bestätigte Joseph.

»Das arme Geschöpf! Nach allem, was sie durchgemacht hat«, fuhr Emmy fort. »Ihr schurkischer Bankier hat Bankrott gemacht und ist durchgegangen, ihr Mann – der gottlose Bösewicht – hat sie verlassen und ihr das Kind entrissen.« (Bei diesen Worten ballte sie die kleinen Fäuste und hielt sie drohend vor sich hin, so daß der Major bezaubert war, eine so kühne Amazone zu sehen.) »Das arme liebe Ding! Ganz allein und gezwungen, Gesangunterricht zu geben, um sich ihr Brot zu verdienen – und nun sollen wir sie nicht ins Haus nehmen.«

»Lassen Sie sich Gesangstunden geben, meine liebe Mrs. Osborne«, rief der Major, »aber nehmen Sie sie nicht ins Haus; ich flehe Sie an, tun Sie es nicht.«

»Pah!« sagte Joseph.

»Sie, der Sie immer gut und freundlich sind, zumindest waren – ich bin erstaunt über Sie, Major William«, rief Amelia. »Wann, wenn nicht jetzt, wo es ihr so schlecht geht, soll man ihr denn helfen? Jetzt ist die Zeit, um ihr nützlich zu sein. Meine älteste Freundin, und nicht ...«

»Sie ist nicht immer Ihre Freundin gewesen, Amelia«, sagte der Major, der jetzt wirklich ärgerlich wurde. Diese Andeutung war zuviel für Emmy. Beinahe wütend blickte sie dem Major ins Gesicht und sagte: »Schämen Sie sich, Major Dobbin!« Nachdem sie diesen Schuß abgefeuert hatte, schritt sie majestätisch aus dem Zimmer und schlug die Tür heftig hinter sich und ihrer beleidigten Würde zu.

»Darauf anzuspielen«, sagte sie, nachdem die Tür zu war. »Oh, es war grausam von ihm, mich daran zu erinnern.« Und sie sah auf Georges Bild, das zusammen mit dem Porträt des Knaben an seinem gewöhnlichen Platz hing. »Das war grausam [460] von ihm; durfte er davon sprechen, da ich doch verziehen habe? – Nein! Und von seinen eigenen Lippen weiß ich, wie schlecht und grundlos meine Eifersucht war und daß du rein warst. Ja, du warst rein, mein Heiliger im Himmel!«

Zitternd und entrüstet durchschritt sie das Zimmer. Sie lehnte sich auf die Kommode, über der das Bild hing, und sah es lange an. Seine Augen schienen sie mit einem Vorwurf anzublicken, der immer deutlicher wurde, je länger sie hinaufschaute. Die teure, teure Erinnerung an die frühe kurze Liebe drängte sich ihr wieder auf. Die Wunde, die durch lange Jahre hindurch kaum vernarbt war, blutete von neuem, und – ach, wie schmerzlich! Sie konnte die Vorwürfe ihres Mannes da vor ihr nicht ertragen. Es konnte nicht sein. Nie, niemals!

Armer Dobbin, armer alter William. Dieses unglückselige Wort hat das Werk vieler Jahre vernichtet – das lange mühsame Gebäude eines Lebens voller Liebe und Treue, errichtet auf geheimem verborgenem Grund, in dem Leidenschaften, ungezählte Kämpfe, unbekannte Opfer begraben lagen. Ein kleines Wort war gesprochen worden, und der schöne Hoffnungspalast stürzte zusammen – ein Wort, und der Vogel, den er sein ganzes Leben hindurch anzulocken versucht hatte, flog davon.

Obwohl William aus Amelias Blick ersehen hatte, daß eine große Krisis eingetreten war, fuhr er doch fort, Sedley mit energischen Worten zu bitten, sich vor Rebekka zu hüten. Er beschwor ihn eifrig, ja fast leidenschaftlich, sie nicht aufzunehmen. Er bat Joseph, doch wenigstens erst Erkundigungen über sie einzuziehen. Er erzählte, er habe gehört, sie befinde sich in Gesellschaft von Spielern und Leuten von schlechtem Ruf. Er machte ihn auf das Unheil aufmerksam, das sie in früheren Tagen gestiftet habe, daß sie und Crawley den armen George ruiniert hätten und daß sie, wie sie selbst zugab, jetzt von ihrem Mann geschieden sei und vielleicht aus gutem Grund. Er erklärte, was für eine gefährliche Gesellschaft sie[461] für seine Schwester sein werde, die doch die Welt nicht kenne! William flehte Joseph mit aller Beredsamkeit an, die ihm zu Gebote stand, und mit bedeutend mehr Energie, als der ruhige Herr sonst zeigte, Rebekka von seinem Haus fernzuhalten.

Wäre er weniger heftig oder etwas geschickter gewesen, so hätten seine Bitten bei Joseph vielleicht Gehör gefunden; der Zivilist war jedoch nicht wenig eifersüchtig auf die überlegene Miene, die der Major seiner Ansicht nach gegen ihn aufsetzte. Er hatte seine Meinung schon dem Reisediener, Herrn Kirsch, mitgeteilt, und da Major Dobbin auf dieser Reise Kirschs Rechnungen kontrollierte, schlug er sich völlig auf die Seite seines Herrn. So begann Joseph jedoch mit einer schwülstigen Rede, des Inhalts, daß er imstande sei, seine Ehre selbst zu verteidigen, daß er keine Einmischung in seine Angelegenheiten wünsche, kurz, daß er beabsichtige, sich gegen den Major aufzulehnen – als der langen und stürmischen Unterredung in der einfachsten Weise ein Ende bereitet wurde – nämlich durch die Ankunft von Mrs. Becky in Begleitung eines Hausknechts vom »Elefanten«, der ihr mageres Gepäck trug.

Sie begrüßte ihren Gastgeber mit wohlwollender Höflichkeit und begrüßte Major Dobbin freundschaftlich, aber zurückhaltend. Ihr Instinkt sagte ihr sofort, daß er ihr Feind sei und gegen sie gesprochen habe. Die mit ihrer Ankunft verbundene lärmende Geschäftigkeit rief Amelia aus ihrem Zimmer hervor. Sie kam herbei und umarmte ihren Gast mit großer Wärme. Von dem Major nahm sie weiter keine Notiz. Sie warf ihm nur einen zornigen Blick zu – wahrscheinlich den ungerechtesten und verächtlichsten Blick, der seit ihrer Geburt auf dem Gesicht der armen kleinen Frau erschienen war. Sie hatte dazu jedoch ihre geheimen Gründe und hatte sich vorgenommen, auf ihn zornig zu sein. Dobbin dagegen, aufgebracht nicht über seine Niederlage, sondern über ihre Ungerechtigkeit, entfernte sich mit einer Verbeugung, die [462] ebenso hochmütig war wie der Knicks, mit dem die kleine Frau ihn verabschiedete.

Nachdem er fort war, war Emmy besonders munter und liebevoll zu Rebekka. Sie machte sich in der Wohnung zu schaffen und richtete das Zimmer für ihren Gast mit einer Geschäftigkeit, die man bei unserer ruhigen kleinen Freundin sonst selten bemerkte. Wenn aber schon eine Ungerechtigkeit verübt werden soll, besonders von schwachen Menschen, dann sollte sie am besten schnell getan werden, und Emmy glaubte, ihr gegenwärtiges Benehmen beweise große Standhaftigkeit, schöne Gefühle und Verehrung für das An denkendes seligen Hauptmann Osborne.

Georgy kam zum Essen von den Festlichkeiten nach Hause und fand vier Gedecke wie gewöhnlich, aber den einen Platz nahm eine Dame ein statt Major Dobbin. »Holla, wo ist Dob?« fragte der junge Herr in seiner gewöhnlichen schlichten Sprechweise.

»Ich nehme an, Major Dobbin speist auswärts«, sagte seine Mutter. Sie zog den Knaben an sich, bedeckte ihn mit Küssen, strich ihm das Haar aus der Stirn und stellte ihn Mrs. Crawley vor. »Dies ist mein Junge, Rebekka«, sagte Mrs. Osborne. Was soviel heißen sollte wie: Gibt es auf der ganzen Welt noch einen wie diesen? Becky blickte ihn entzückt an und drückte ihm zärtlich die Hand. »Der liebe Junge«, sagte sie. »Er ist gerade wie mein ...« Ihre Erregung erstickte jedes weitere Wort, aber Amelia verstand so gut, als ob sie selbst gesprochen hätte, daß Becky an ihr eigenes teures Kind dachte. Die Gesellschaft ihrer Freundin tröstete Mrs. Crawley jedoch, und sie aß mit gutem Appetit.

Während des Mahles sprach sie verschiedentlich, und jedesmal blickte Georgy sie scharf an und lauschte ihrer Stimme. Beim Dessert ging Emmy einmal hinaus, um weitere Haushaltsanordnungen zu treffen. Joseph saß in seinem Lehnstuhl und döste über dem »Galignani«, und Georgy und der Neuankömmling saßen nebeneinander. Er hatte sie mehrere Male [463] mit wissender Miene angesehen, und schließlich legte er den Nußknacker nieder.

»Hören Sie mal!« sagte Georgy.

»Was willst du sagen?« fragte Becky lachend.

»Sie sind die Dame mit der Maske, die ich beim Rouge et noir gesehen habe.«

»Pst, du kleiner Schlauberger«, sagte Becky, ergriff seine Hand und küßte sie. »Dein Onkel ist ja auch dort gewesen, aber Mama braucht es nicht zu wissen.«

»O nein, auf keinen Fall!« erwiderte der kleine Bursche.

»Du siehst, wir sind bereits gute Freunde«, sagte Rebekka zu Emmy, die gerade wieder hereinkam. Wir müssen schon sagen, daß Mrs. Osborne eine verständige und reizende Genossin in ihrem Haus aufgenommen hatte.


William durchstreifte die Stadt in wilder Aufregung kreuz und quer, obwohl ihm der bevorstehende Verrat noch unbekannt war, bis er auf den Gesandtschaftssekretär Tapeworm stieß, der ihn zum Essen einlud. Während des Essens benutzte er die Gelegenheit, den Sekretär zu fragen, ob er etwas über eine gewisse Mrs. Rawdon Crawley wisse, die seines Erachtens in London einigen Staub aufgewirbelt habe. Tapeworm, der natürlich allen Londoner Klatsch kannte und außerdem ein Verwandter von Lady Gaunt war, erzählte nun dem erstaunten Major eine Geschichte von Becky und ihrem Mann, daß dem Frager der Mund vor Erstaunen offenblieb und der gegenwärtige Geschichtenschreiber alle Einzelheiten für seine Erzählung erfuhr, denn an dieser Tafel hatte der Verfasser vor vielen Jahren die Freude, die Geschichte zu hören. Tufto, Steyne, die Crawleys und ihre Geschichte – alles, was Becky und ihr früheres Leben betraf, tischte der unfreundliche Diplomat auf. Er wußte alles und noch viel mehr von der Welt – mit einem Wort, er machte dem guten Major die überraschendsten Enthüllungen. Als Dobbin erzählte, daß Mrs. Osborne und Mr. Sedley sie ins Haus genommen [464] hätten, brach er in ein Gelächter aus, das den Major sehr erschreckte, und fragte, ob sie nicht lieber nach dem Gefängnis schicken und ein paar von den Herren mit den geschorenen Köpfen und gelben Jacken, die paarweise zusammengekettet die Straßen von Pumpernickel kehrten, in Kost und Logis aufnehmen und als Hauslehrer für den kleinen Taugenichts Georgy anstellen wollten.

Diese Nachricht nahm der Major mit staunendem Entsetzen auf. Am Morgen (vor dem Zusammentreffen mit Rebekka) war beschlossen worden, daß Amelia an diesem Abend zum Hofball gehen sollte. Dobbin glaubte, das werde der geeignete Ort sein, um ihr alles zu sagen. Er ging also nach Hause, legte seine Uniform an und begab sich in der Hoffnung, Mrs. Osborne zu sehen, zum Hof. Sie erschien nicht. Als er in seine Wohnung zurückkehrte, war schon alles Licht im Sedleyschen Haus verlöscht. Er konnte sie also erst am nächsten Morgen sprechen. Ich weiß nicht, wie seine Nachtruhe mit diesem furchtbaren Geheimnis als Bettgenossen war.

So früh es der Anstand erlaubte, schickte er am nächsten Morgen seinen Diener mit einem Billett hinüber, in dem er ihr schrieb, daß er Wichtiges mit ihr zu besprechen habe. Als Antwort erhielt er die Botschaft, daß Mrs. Osborne sich nicht wohl fühle und ihr Zimmer hüte.

Auch sie hatte die ganze Nacht über wach gelegen. Sie hatte sich mit einem Gedanken beschäftigt, der ihr Gemüt schon hundertmal erregt hat. Schon hundertmal auf dem Punkt, nachzugeben, war sie doch stets wieder vor einem Opfer zurückgewichen, das nach ihrem Gefühl zu groß für sie war. Sie konnte einfach nicht, trotz seiner Liebe und Treue und ihrer eigenen anerkannten Neigung, Achtung und Dankbarkeit. Was sind schon Wohltaten, Treue und Verdienste? Eine einzige Locke vom Haar eines Mädchens, ein einziges Barthaar gibt sofort den Ausschlag gegen sie. Bei Emmy wogen die drei Dinge ebensoviel wie bei anderen Frauen. Sie [465] hatte sie ausprobiert, hatte versucht, sie gelten zu lassen. Es ging nicht, und nun hatte die unbarmherzige kleine Frau einen Vorwand gefunden und beschlossen, frei zu bleiben.

Als am Nachmittag der Major endlich Zutritt zu Amelia erhielt, empfing er statt des herzlichen, liebevollen Grußes, an den er jetzt seit langem gewöhnt war, einen Knicks und eine kleine behandschuhte Hand, die sich nach der Begrüßung augenblicklich wieder zurückzog.

Rebekka befand sich ebenfalls im Zimmer und ging ihm lächelnd mit ausgestreckter Hand entgegen. Dobbin trat etwas verwirrt zurück.

»Ich – ich bitte um Verzeihung, Madame«, sagte er. »Aber ich muß Ihnen leider sagen, daß ich nicht als ihr Freund hierhergekommen bin.«

»Dummes Zeug, verdammt noch mal, komm doch jetzt nicht mit so was!« rief Joseph unruhig in dem Verlangen, eine Szene zu vermeiden.

»Ich möchte wissen, was Major Dobbin gegen Rebekka vorzubringen hat?« sprach Amelia mit leiser, deutlicher, etwas zitternder Stimme und entschlossenem Blick.

»Ich will in meinem Haus nichts davon hören«, sagte Joseph. »Ich wiederhole, ich will nichts davon hören, und Dobbin – ich bitte dich, hör auf damit.« Er blickte sich zitternd um, wurde sehr rot und ging schnaufend zur Tür.

»Lieber Freund«, sagte Rebekka mit engelhafter Milde, »hören Sie doch, was Major Dobbin gegen mich vorzubringen hat.«

»Ich will es nicht hören!« kreischte Joseph in den höchsten Tönen, raffte seinen Schlafrock und verließ das Zimmer.

»Wir sind nur zwei Frauen«, meinte Amelia. »Sie können jetzt sprechen, Sir!«

»Dieses Benehmen gegen mich kommt Ihnen kaum zu, Amelia«, antwortete der Major hochmütig. »Ich glaube auch nicht, mich je einer Unhöflichkeit gegenüber Frauen schuldig gemacht zu haben. Es ist nicht angenehm für mich, mich der Pflicht zu entledigen, derentwegen ich hierherkam.«

[466] »Ich bitte Sie, schnell damit fertig zu werden, Major Dobbin«, sagte Amelia, die immer ärgerlicher wurde. Wenn sie so herrisch sprach, war Dobbins Gesichtsausdruck nicht sehr angenehm.

»Ich komme, um zu sagen – und da Sie bleiben, Mrs. Crawley, muß ich es in Ihrer Gegenwart sagen –, daß Sie meiner Ansicht nach sich nicht in die Familie meiner Freunde drängen sollten. Eine Dame, die von ihrem Mann geschieden ist, die unter falschem Namen reist, die öffentliche Spiellokale besucht ...«

»Ich war doch beim Ball!« rief Becky.

»... ist keine passende Gesellschaft für Mrs. Osborne und ihren Sohn«, fuhr Dobbin fort. »Und ich kann hinzufügen, daß es hier Leute gibt, die Sie kennen und über Sie Sachen wissen, die ich vor – vor Mrs. Osborne nicht einmal erwähnen möchte.«

»Ihre Anschuldigungen, Major Dobbin, sind sehr bescheiden und schicklich«, sagte Rebekka. »Sie lassen mich unter der Wucht einer Anklage, die nach alledem nicht einmal ausgesprochen wird. Was ist es? – Ist es Untreue gegenüber meinem Mann? Ich verachte es und möchte den sehen, der etwas beweisen kann, ja, das möchte ich. Meine Ehre ist makellos wie die des bittersten Feindes, der mich je verleumdet hat. Klagen Sie mich der Armut, Verlassenheit und des Elends an? – Ja, dieser Vergehen bin ich schuldig und werde täglich dafür bestraft. Laß mich gehen, Emmy. Ich brauche bloß anzunehmen, daß ich dich nicht getroffen hätte, dann geht es mir heute nicht schlimmer als gestern. Ich muß mir nur vorstellen, daß die Nacht vorüber und der arme Wanderer wieder unterwegs ist. Erinnerst du dich noch an das Lied, das wir in der alten, in der guten alten Zeit gesungen haben? Ich bin seitdem stets auf der Wanderschaft gewesen – eine arme Ausgestoßene, verachtet wegen ihres Elends, beleidigt wegen ihrer Einsamkeit. Laß mich gehen; mein Aufenthalt in diesem Haus stört die Pläne dieses Herrn.«

[467] »Jawohl, das stimmt, Madame«, sagte der Major. »Wenn ich in diesem Haus auch nur etwas zu sagen habe ...«

»Zu sagen habe? Nichts!« stieß Amelia hervor. »Rebekka, du bleibst. Ich werde dich nicht allein lassen, weil du verfolgt bist, und dich nicht verletzen, weil – weil Major Dobbin es tut. Komm, meine Liebe!« Und die beiden Frauen wandten sich zur Tür.

William öffnete ihnen. Als sie hinausgingen, ergriff er jedoch Amelias Hand und sagte: »Wollen Sie noch einen Augenblick bleiben und mich anhören?«

»Er will allein mit dir sprechen«, sagte Becky mit Märtyrermiene. Amelia drückte ihr zur Antwort die Hand.

»Auf meine Ehre, ich will nicht über Sie sprechen«, sagte Dobbin. »Kommen Sie zurück, Amelia.« Und sie kam. Dobbin verbeugte sich gegen Mrs. Crawley, als er die Tür hinter ihr schloß. Amelia lehnte am Spiegel und blickte ihn an; Gesicht und Lippen waren sehr blaß.

»Ich war etwas durcheinander, als ich eben sprach«, sagte der Major nach einer Pause. »Ich habe es falsch ausgedrückt, als ich eben davon sprach, wer in diesem Haus etwas zu sagen hat.«

»Ja, das haben Sie«, sagte Amelia zähneklappernd.

»Zumindest habe ich Anspruch darauf, daß man mich anhört«, fuhr Dobbin fort.

»Es ist sehr großzügig, mich daran zu erinnern, wie wir Ihnen verpflichtet sind«, erwiderte die Frau.

»Der Anspruch, den ich meine, wurde mir von Georges Vater hinterlassen«, sagte William.

»Ja, und Sie haben sein Andenken beleidigt. Gestern haben Sie es getan. Das wissen Sie. Und ich werde Ihnen nie verzeihen. Niemals!« rief Amelia. Jedes Wort schoß sie bebend vor Zorn und Erregung hervor.

»Das meinen Sie doch nicht im Ernst, Amelia?« fragte William trübe. »Sie meinen doch nicht, daß diese in Übereilung geäußerten Worte ein ganzes Leben voller Hingabe [468] aufwiegen können? Ich glaube, ich habe Georges Andenken so, wie ich gesprochen habe, nicht beleidigt, und wenn wir Vorwürfe miteinander austauschen wollen, so verdiene ich zumindest keine von seiner Witwe und der Mutter seines Sohnes. Denken Sie darüber nach, später, wenn – wenn Sie Zeit haben, und Ihr Gewissen wird diese Anklage zurückziehen. Das tut es übrigens schon jetzt.« Amelia senkte den Kopf.

»Es sind nicht die gestrigen Worte«, fuhr er fort, »die Sie dazu veranlassen. Das ist bloß ein Vorwand, Amelia, oder ich habe Sie fünfzehn Jahre lang umsonst geliebt und beobachtet. Habe ich nicht in dieser Zeit gelernt, in Ihren Gefühlen und Gedanken zu lesen? Ich weiß, wozu Ihr Herz fähig ist; es kann sich treu an eine Erinnerung hängen und ein Phantasiegebilde hegen, kann aber nicht die Neigung fühlen, mit der meine erwidert zu werden verdient und die ich von einer großherzigen Frau auch erlangt hätte. Nein, Sie verdienen die Liebe nicht, die ich Ihnen geweiht habe. Ich weiß schon lange, daß der Preis, auf den ich mein Leben gesetzt habe, des Gewinnes nicht wert war, daß ich ein Tor war, als ich mit liebevoller Einbildung meine ganze Treue und glühende Leidenschaft gegen Ihr schwaches Restchen Liebe eintauschte. Mein Handel ist beendet, ich ziehe mich zurück. Ich tadle Sie nicht, Sie sind sehr gutmütig und haben Ihr Bestes getan, aber Sie konnten – Sie konnten sich nicht zu den Höhen der Liebe aufschwingen, die ich Ihnen entgegengebracht und die eine erhabenere Seele als Ihre zu erwidern wohl stolz gewesen wäre. Leben Sie wohl, Amelia! Ich habe Ihren Kampf beobachtet. Beenden Sie ihn. Wir sind beide seiner müde.«

Amelia stand niedergeschlagen und schweigend da, als William so plötzlich die Kette zerriß, an der sie ihn festhielt, und seine Unabhängigkeit und Überlegenheit erklärte. Er hatte so lange zu ihren Füßen gelegen, daß sich die arme kleine Frau daran gewöhnt hatte, auf ihm herumzutreten. Sie [469] wollte ihn zwar nicht heiraten, aber festhalten wollte sie ihn. Sie wollte ihm nichts geben, aber sie wollte, daß er ihr alles gab. Dies ist ein Handel, wie er in der Liebe nicht selten vorkommt.

Williams Ausbruch hatte sie völlig geschlagen und zerschmettert. Ihr Angriff war schon längst vorüber und zurückgeschlagen.

»Muß ich aus Ihren Worten entnehmen – daß Sie weg – gehen – William?« fragte sie.

Er lachte traurig auf. »Ich bin schon einmal fortgegangen«, sagte er, »und nach zwölf Jahren zurückgekommen. Wir waren damals jung, Amelia. Leben Sie wohl! Ich habe genug von meinem Leben für dieses Spiel geopfert.«

Während sie sprachen, hatte sich die Tür von Mrs. Osbornes Zimmer ein wenig geöffnet, denn Rebekka hatte die Klinke in der Hand behalten und in dem Augenblick, als Dobbin sie losließ, herumgedreht. Nun hörte sie jedes Wort von der Unterhaltung zwischen den beiden. Was für ein edles Herz hat doch dieser Mann, dachte sie, und wie schändlich die Frau damit spielt. Sie bewunderte Dobbin, sie hegte keinen Groll gegen ihn wegen der Rolle, die er gegen sie gespielt hatte. Er hatte offen und ehrlich gespielt. Ach! dachte sie, wenn ich doch auch solch einen Mann gehabt hätte – einen Mann mit Herz und Verstand. Dann hätte ich auch nichts gegen seine großen Füße gesagt. Sie eilte auf ihr Zimmer, überlegte etwas und schrieb ihm ein Billett, worin sie ihn ersuchte, noch ein paar Tage zu bleiben und noch nicht ans Weggehen zu denken. Sie könne ihm in bezug auf Amelia behilflich sein.

Der Abschied war vorüber. Wieder ging der arme William zur Tür und war fort. Die kleine Witwe, die Urheberin des Ganzen, hatte ihren Willen durchgesetzt, den Sieg errungen und konnte sich nun nach Herzenslust daran freuen. Mögen die Damen sie um ihren Triumph beneiden.

Zur romantischen Essensstunde erschien Mr. Georgy und [470] bemerkte wiederum die Abwesenheit des »alten Dob«. Die Gesellschaft nahm das Mahl schweigend ein, Josephs Appetit hatte nicht gelitten, aber Emmy rührte nichts an.

Nach dem Essen lehnte sich George auf einem Kissen in das alte Fenster, ein großes Erkerfenster, das auf einer Seite den Marktplatz mit dem »Elefanten« überschaute und gegenüber »die andere Seite der Goswell Street« 4, wie das unsterbliche Fenster des Mr. Pickwick.

Georgy sah also hinaus, während sich seine Mutter dicht neben ihm zu schaffen machte, und plötzlich bemerkte er Zeichen einer Bewegung im Hause des Majors.

»Holla!« rief er. »Das ist ja Dobbins Mausefalle – sie holen sie aus dem Hof heraus.« Die besagte »Mausefalle« war ein Wagen, den der Major für sechs Pfund gekauft hatte und dessentwegen man ihn allenthalben aufzog.

Emmy fuhr ein wenig zusammen, sagte aber nichts.

»Holla!« fuhr George fort. »Da kommt ja Francis mit den Reisetaschen heraus, und Kunz, der einäugige Postillion, kommt mit drei Schimmeln über den Markt. Seht nur mal seine Stiefel und die gelbe Jacke; ist er nicht ein komischer Kauz? – Aber was denn – die spannen die Pferde ja vor Dobs Wagen. Verreist er denn?«

»Ja«, antwortete Emmy. »Er fährt weg.«

»Aha, und wann kommt er zurück?«

»Er kommt – nicht zurück!« antwortete Emmy.

»Kommt nicht zurück?« schrie Georgy und sprang auf.

»Bleib hier!« rief Joseph.

»Bleib, Georgy!« sagte seine Mutter mit sehr traurigem Gesicht.

Der Knabe blieb, lief im Zimmer umher, kniete sich auf das Fensterbrett, sprang wieder herunter und zeigte alle Symptome von Unruhe und Neugier.

Die Pferde waren angespannt, das Gepäck festgeschnallt. Francis kam mit dem Degen seines Herrn und dem zusammengebundenen Stock und Schirm und steckte sie in das [471] Flaschenfutter und mit seinem Schreibpult und der alten zinnernen Dreispitzschachtel, die er unter den Sitz stellte. Francis brachte auch den mit rotem Wollstoff gefütterten, fleckigen blauen Mantel heraus, der den Besitzer seit fünfzehn Jahren stets umhüllt und »so manchen Sturm erlebt« hatte, wie es in einem bekannten Lied jener Tage heißt. Er war vor der Schlacht bei Waterloo neu gewesen und hatte ihn und George in der Nacht nach Quatre-Bras zugedeckt.

Der alte Burcke, der Hauswirt, kam heraus, dann Francis mit mehr Gepäck – dem letzten –, dann Major William selbst. Burcke wollte ihn küssen. Alle Leute, mit denen der Major zu tun hatte, vergötterten ihn, und er konnte sich nur schwer diesen Liebesbeweisen entziehen.

»Beim Zeus, ich will gehen!« schrie George.

»Bring ihm das«, sagte Becky teilnahmsvoll und gab dem Knaben einen Zettel in die Hand. Binnen einer Minute war er die Treppe hinabgestürzt und über die Straße geeilt. Der gelbe Postillion knallte leise mit der Peitsche.

William war von den Umarmungen seines Wirtes losgekommen und in den Wagen gestiegen. George sprang nach und schlang die Arme um den Hals des Majors (das konnten sie vom Fenster aus beobachten) und stelle ihm Fragen über Fragen. Dann faßte er in die Westentasche und gab ihm das Billett. William griff begierig danach und öffnete es zitternd. Aber sofort veränderte sich sein Gesichtsausdruck, er zerriß das Papier und ließ es aus dem Wagen flattern. Er küßte Georgy auf das Haar, und der Knabe stieg mit Francis' Hilfe aus, beide Fäuste vor die Augen gepreßt. Zögernd hielt er sich noch mit einer Hand am Schlag fest.

»Fort, Schwager!« Der gelbe Postillion knallte ungestüm mit der Peitsche, Francis sprang auf den Bock, die Schimmel zogen an, und Dobbin ließ den Kopf auf die Brust sinken. Er blickte nicht auf, als sie unter Amelias Fenster vorbeikamen, und Georgy, allein auf der Straße zurückgeblieben, brach vor der versammelten Menge in Tränen aus.

[472] Emmys Zofe hörte ihn in der Nacht erneut Schluchzen und brachte ihm eingemachte Aprikosen, um ihn zu trösten. Sie vermischte ihre Klagen mit seinen. Alle armen, alle niedrigen, alle ehrlichen Leute, alle guten Menschen, die ihn kannten, liebten den freundlichen, schlichten Herrn.

Und Emmy? Hatte sie nicht ihre Pflicht getan? Sie konnte sich ja mit ihrem Bild von George trösten.

Fußnoten

1 (lat.) Der Zorn der Liebenden.

2 verballhorntes Französisch, eigentlich: en pays de connaissance = unter Bekannten.

3 (lat.) in den Wolken.

4 In dem Roman »Die Pickwickier« von Charles Dickens stellt Mr. Pickwick philosophische Betrachtungen an, während er aus seinem Fenster lehnt und die Goswell Street überblickt.

67. Kapitel
Enthält Geburten, Hochzeiten und Todesfälle

Wie auch Beckys geheime Pläne sein mochten, mit denen sie Dobbins treuer Liebe zum Erfolg verhelfen wollte, so glaubte die kleine Frau doch, daß sie das Geheimnis noch für sich behalten könnte. Da ihr das eigene Wohlergehen über alles ging, hatte sie noch eine ganze Menge zu bedenken, was sie selbst betraf und ihr weit wichtiger schien als Major Dobbins irdisches Glück ...

Sie fand sich plötzlich und unerwartet in einer bequemen, hübschen Wohnung, umgeben von Freunden, Güte und gutmütigen, einfachen Menschen, wie sie sie seit langem nicht getroffen hatte. Wenn sie auch aus Zwang und Neigung eine Wanderin war, so gab es doch Augenblicke, wo sie sich nach Ruhe sehnte. Auch der stärkste Araber, der je auf dem Rücken eines Dromedars die Wüste durchquerte, ruht zuweilen gern unter den Dattelpalmen am Wasser aus oder sucht gern Städte auf und wandert in den Basaren umher, erfrischt sich im Bade und sagt sein Gebet in der Moschee, ehe er wieder auf Raubzüge ausgeht. Josephs Zelte und Pilau gefielen der kleinen Ausgestoßenen. Sie band ihr Roß an, hängte ihre Waffen auf und wärmte sich an seinem Feuer. Der Halt in ihrem rastlosen Vagabundenleben war ihr unaussprechlich beruhigend und angenehm.

[473] So mit sich selbst zufrieden, tat sie ihr möglichstes, auch alle anderen zufriedenzustellen. Wir wissen ja, daß sie in der Kunst des Freudespendens geschickt und erfolgreich war. Ein gut Teil des Wohlwollens von Joseph hatte sie schon während der kurzen Unterredung in der Dachkammer des »Elefanten« zurückzuerobern gewußt. Im Laufe einer Woche war der Zivilist ihr ergebener Sklave und rasender Bewunderer geworden. Er schlief nach dem Essen nicht mehr wie sonst in der weit weniger lebhaften Gesellschaft Amelias. Er fuhr im offenen Wagen mit Becky aus. Ihr zu Ehren lud er zu kleinen Gesellschaften ein und gab Feste. Tapeworm, der Gesandtschaftssekretär, der sie so entsetzlich beschimpft hatte, kam zu Joseph zum Essen und dann täglich, um Becky seine Aufwartung zu machen. Die arme Emmy, die nie sehr redselig gewesen war, aber nun nach Dobbins Abreise ernster und schweigsamer war als je, geriet ganz in Vergessenheit, als dieser überragende Geist auftauchte. Der französische Gesandte war ebenso entzückt von ihr wie sein englischer Rivale. Die deutschen Damen, die in bezug auf Moral nie sehr bedenklich sind, vor allem nicht bei Engländern, waren von der Klugheit und dem Witz der bezaubernden Freundin von Mrs. Osborne entzückt, und obwohl sie nicht bei Hofe vorgestellt zu werden verlangte, so hörten doch sogar die erlauchten Persönlichkeiten dort von ihren Reizen und waren wirklich neugierig, sie kennenzulernen. Bald sprach es sich herum, sie sei von Adel, stamme aus einer alten englischen Familie, ihr Mann sei Oberst bei der Garde und Gouverneur einer Insel und lebe von seiner Frau getrennt wegen geringer Differenzen, die in einem Lande, wo man noch den »Werther« liest und wo man Goethes »Wahlverwandtschaften« für ein erbauliches und moralisches Buch hält, keine Rolle spielen. Es weigerte sich nun kein Mensch mehr, sie selbst in den höchsten Kreisen des kleinen Herzogtums zu empfangen, und die Damen waren sogar noch schneller bereit, sie zu duzen und ihr ewige Freundschaft zu schwören, als sie es früher bei Amelia gewesen [474] waren, der sie die gleichen unschätzbaren Wohltaten erwiesen hatten. Die einfachen Deutschen legen Liebe und Freiheit in einer Weise aus, die die braven Leute in Yorkshire oder Somersetshire kaum verstehen würden, und in einigen philosophischen und zivilisierten Städten könnte eine Dame wer weiß wie oft von ihrem jeweiligen Mann geschieden sein und doch ihre Stellung in der Gesellschaft behaupten.

Seit Joseph ein eigenes Haus hatte, war es nie so unterhaltsam gewesen, wie es jetzt durch Rebekka wurde; sie sang, sie spielte, sie lachte, sie unterhielt sich in mehreren Sprachen, sie schleppte allerlei Leute ins Haus und brachte Joseph zu dem Glauben, daß seine gesellschaftlichen Talente und sein Witz die große Gesellschaft des Ortes um ihn versammelte.

Emmy war überhaupt nicht mehr die Herrin ihres eigenen Hauses, außer wenn es Rechnungen zu bezahlen galt, aber Becky entdeckte bald, wie man sie besänftigen und sich ihr angenehm machen konnte. Sie plauderte ihr beständig etwas von Major Dobbin vor, den sie fortgeschickt hatte, und war skrupellos genug, ihre Bewunderung für diesen vortrefflichen hochherzigen Mann auszudrücken und Amelia zu zeigen, wie grausam sie ihn behandelt habe. Emmy verteidigte ihr Verhalten und erklärte, daß nur rein religiöse Grundsätze es ihr diktiert hatten, daß eine Frau nur einmal und so weiter und so fort, und wenn sie dann noch mit solch einem verheiratet gewesen sei, wie der, den das Glück ihr gegeben habe, dann sei sie verheiratet für ewig. Sie hatte aber nichts dagegen, daß Becky den Major pries, soviel sie Lust hatte, und brachte selbst das Gespräch täglich wohl zwanzigmal auf Dobbin.

Es gelang Becky leicht, die Gunst Georges und der Dienstboten zu gewinnen. Amelias Zofe war, wie schon erwähnt, dem großmütigen Major von ganzem Herzen zugetan; obgleich sie anfänglich Becky, als der Ursache seiner Trennung von ihrer Herrin, abgeneigt gewesen war, söhnte sie sich doch später wieder mit Mrs. Crawley aus, weil diese Dame Williams eifrigste Bewunderin und Verteidigerin wurde. In den[475] wichtigen geheimen Beratungen, die die beiden Damen nach den Gesellschaftsabenden hielten, während Miss Payne ihnen die Haare bürstete, die gelben Locken der einen und die weichen braunen Flechten der anderen, legte das Mädchen stets ein Wort für den guten lieben Herrn, Major Dobbin, ein. Ihre Fürsprache machte Amelia ebensowenig zornig wie Rebekkas Bewunderung für ihn. Sie veranlaßte George, regelmäßig an ihn zu schreiben, und ließ in einer Nachschrift stets die freundlichen Grüße der Mama mitschicken. Und wenn sie abends das Bild ihres Mannes betrachtete, dann machte es ihr keine Vorwürfe mehr – vielleicht machte sie ihm nur Vorwürfe, da William fort war.

Emmy war nach ihrem heroischen Opfer nicht sonderlich glücklich. Sie war sehr zerstreut, nervös, still und unduldsam. Die Familie hatte sie nie so launisch gesehen, sie wurde blaß und kränklich. Sie sang ab und zu ganz bestimmte Lieder, zum Beispiel »Einsam bin ich, nicht allein«, jenes sanfte Liebeslied von Weber, das in der alten Zeit, als Sie, meine jungen Damen, kaum geboren waren, bewies, daß diejenigen, die vor Ihnen lebten, ebenfalls lieben und singen konnten, ganz bestimmte Lieder also, die der Major besonders gern gehabt. Wenn sie sie in der Dämmerung im Gesellschaftszimmer trillerte, brach sie häufig in der Mitte ab, begab sich in ihr angrenzendes Zimmer und nahm dort zweifellos Zuflucht zu dem Miniaturbild ihres Mannes.

Dobbin hatte bei seiner Abreise einige Bücher mit seinem Namen darin zurückgelassen, zum Beispiel ein deutsches Wörterbuch mit »William Dobbin ...tes Reg.« auf dem Vorsatzblatt, ein Reiseführer mit seinen Initialen und ein paar andere Bände, die dem Major gehörten. Emmy räumte sie weg und legte sie auf die Kommode, wo sie ihr Arbeitskästchen, ihr Schreibpult, ihre Bibel und ihr Gebetbuch hatte, unter die Bilder der beiden Georges. Der Major hatte beim Fortgehen auch seine Handschuhe dagelassen, und es ist tatsächlich geschehen, daß Georgy einige Zeit später beim Kramen [476] im Pult seiner Mutter die Handschuhe, nett zusammengefaltet, im sogenannten Geheimfach fand.

Da sie an Gesellschaften kein Vergnügen fand und sich dort langweilte, war Emmys Hauptvergnügen, an Sommerabenden lange Spaziergänge mit Georgy zu machen. Rebekka wurde in Mr. Josephs Gesellschaft zurückgelassen, und Mutter und Sohn sprachen dann von dem Major in einer Weise, daß selbst der Knabe lächeln mußte. Sie erzählte ihm, daß sie den Major für den besten, sanftesten und gütigsten, tapfersten und bescheidensten Menschen auf der Welt hielt; sie betonte immer wieder, daß sie alles, was sie auf der Welt besaß, der wohlwollenden Sorge dieses lieben Freundes verdanke, daß er sich ihrer in Armut und Unglück angenommen habe, über sie gewacht habe, als sich niemand um sie kümmerte, daß ihn all seine Kameraden bewunderten, obgleich er nie von seinen mutigen Taten sprach, daß Georges Vater ihm von allen am meisten vertraut habe und daß der gute William sich stets seiner angenommen habe. »Dein Papa hat mir oft erzählt«, sagte sie, »daß er als kleiner Junge in der Schule, in die sie beide gingen, von William gegen einen Tyrannen verteidigt wurde, und von diesem Tage an bis zu dem letzten, an dem dein lieber Vater fiel, hat ihre Freundschaft nie aufgehört.«

»Hat Dobbin den Mann getötet, der Papa getötet hat?« fragte Georgy. »Bestimmt hat er es, oder er hätte es getan, wenn er ihn erwischt hätte, nicht wahr, Mutter? Wenn ich erst bei den Soldaten bin, dann werde ich die Franzosen auch hassen, nicht wahr?«

Mit solchen Unterhaltungen verbrachten Mutter und Kind einen großen Teil ihrer Zeit gemeinsam. Die schlichte Frau hatte ihren Sohn zum Vertrauten gemacht. Er war Williams Freund, wie überhaupt alle, die ihn kannten.


Übrigens hatte Mrs. Becky, um Amelia an Sentimentalität nicht nachzustehen, ebenfalls ein Miniaturbild in ihrem Zimmer hängen, zur Überraschung und Belustigung der meisten [477] und dem Entzücken des Originals, das kein anderer war als unser Freund Joseph. Als die kleine Frau Familie Seldey mit ihrem Besuch beehrte, schämte sie sich wahrscheinlich, daß sie weder mit großen Koffern noch Hutschachteln erschienen war, sondern nur mit einem auffallend schäbigen Holzköfferchen, und sprach achtungsvoll von ihrem in Leipzig zurückgebliebenem Gepäck, das sie sich kommen lassen müsse. Wenn dir ein Reisender ständig von seinem großartigen Gepäck erzählt, das er zufällig nur nicht bei sich hat, so hüte dich vor diesem Reisenden, mein Sohn! Er ist zehn gegen eins ein Betrüger.

Weder Joseph noch Emmy kannten diesen wichtigen Grundsatz. Es spielte für sie keine Rolle, ob Becky eine ganze Anzahl feiner Kleider in unsichtbaren Koffern besitze; da aber ihre gegenwärtige geringe Ausstattung sehr schäbig war, versorgte Emmy sie aus ihren eigenen Vorräten oder brachte sie zur besten Modistin in der Stadt und verschaffte ihr, was sie brauchte. Von nun an, das können Sie glauben, gab es keine zerrissenen Kragen und keine verblichene Seide mehr, die ihr von den Schultern herabhing. Mit ihrer Lebensstellung änderte Becky auch ihre Gewohnheiten. Der Schminktopf wurde beiseite gestellt – und auch ein anderes Reizmittel, an das sie sich gewöhnt hatte, oder sie frönte ihm jedenfalls nur insgeheim, zum Beispiel an Sommerabenden, wenn Emmy und ihr Knabe spazierengingen und Joseph sie bewog, einen kleinen Schnaps zu sich zu nehmen. Wenn sie auch nichts trank, der Reisediener trank jedenfalls. Der bübische Kirsch war nicht von der Flasche wegzubringen, und er konnte auch nie sagen, wieviel er getrunken hatte. Er war oft selbst darüber erstaunt, wie schnell Mr. Sedleys Kognak zur Neige ging. Nun, das ist ein peinliches Thema, aber Becky trank wahrscheinlich nicht mehr so viel wie früher, ehe sie in eine anständige Familie eintrat.

Endlich trafen die vielgerühmten Koffer aus Leipzig ein – es waren drei, und sie waren weder groß noch prächtig. Becky [478] schien auch weder Kleider noch Schmuck herauszunehmen, als sie endlich angekommen waren. Aus dem einen, der ihre ganzen Papiere enthielt (es war derselbe, den Rawdon Crawley auf seiner wütenden Jagd nach Rebekkas verstecktem Geld geplündert hatte), holte sie strahlend ein Bild, das sie in ihrem Zimmer aufhängte und Joseph zeigte. Es war eine Bleistiftzeichnung von einem Herrn, und sein Gesicht war sehr vorteilhaft rosa getönt. Er ritt auf einem Elefanten vor ein paar Kokospalmen und einer Pagode im Hintergrund. Der Schauplatz war eine orientalische Landschaft.

»Gott behüte mich! Das ist ja mein Porträt!« rief Joseph. Er war es tatsächlich in der Blüte seiner Jugend und Schönheit und in einer Nankingjacke nach der Mode von 1804. Es war das alte Bild, das am Russell Square gehangen hatte.

»Ich habe es gekauft«, sagte Becky mit vor Bewegung zitternder Stimme. »Ich ging damals hin und wollte sehen, ob ich meinen gütigen Freunden irgendwie behilflich sein könnte. Ich habe mich von dem Bild nie getrennt und werde es auch niemals tun.«

»Tatsache?« rief Joseph mit einem Blick der Genugtuung und des unaussprechlichen Entzückens. »Schätzen Sie es wirklich um – um – um meinetwillen?«

»Das wissen Sie ja«, antwortete Becky. »Warum aber jetzt davon reden – warum daran denken – warum zurückblicken? Nun ist es zu spät!«

Die Unterhaltung dieses Abends war für Joseph köstlich. Emmy kam nur herein, um zu sagen, daß sie müde sei und sich nicht wohl fühle und zu Bett gehe. Joseph und sein schöner Gast hatten ein bezauberndes Tête-à-tête, und seine Schwester, die im angrenzenden Zimmer wach lag, konnte hören, wie Rebekka Joseph die alten Lieder von 1815 vorsang. In dieser Nacht konnte er merkwürdigerweise ebensowenig schlafen wie Amelia.

Es war Juni und demnach Hochsaison in London. Joseph, der täglich den unvergleichlichen »Galignani«, den besten [479] Freund im Exil, las, erfreute die Damen beim Frühstück mit Auszügen aus seiner Zeitung. Einmal wöchentlich bringt dieses Blatt einen vollständigen Bericht über Truppenbewegungen, für den Joseph als Mann, der auch Pulver gerochen hatte, sich besonders interessierte. Eines Tages las er vor: »Ankunft des ...ten Regiments. – Gravesend, den 20. Juni. Der Ostindienfahrer ›Ramchunder‹ lief heute früh mit vierzehn Offizieren und 132 Soldaten dieses tapferen Regiments an Bord in die Themse ein. Sie waren vierzehn Jahre von England abwesend. Sie spielten eine aktive Rolle in der glorreichen Schlacht bei Waterloo und wurden im darauffolgenden Jahr nach Indien eingeschifft. Später haben sie sich im burmesischen Krieg ausgezeichnet. Gestern landeten hier der altgediente Oberst Sir Michael O'Dowd, Träger des Bathordens, mit seiner Gemahlin und seiner Schwester sowie die Hauptleute Posky, Stubble, Macraw, Malony, die Leutnants Smith, Jones, Thompson, F. Thomson und die Fähnriche Hicks und Grady. Das Musikkorps auf der Mole spielte die Nationalhymne, und die Menge ließ die tapferen Veteranen hochleben, als sie zu Waytes Hotel gingen, wo ein prächtiges Bankett die Verteidiger des guten alten Englands erwartete. Während des Festmahls, das selbstverständlich im besten Wayteschen Stil vor sich ging, dauerten die begeisterten Hochrufe immer noch an, so daß Lady O'Dowd und der Oberst auf den Balkon heraustraten und die Gesundheit ihrer Landsleute mit einem Glas von Waytes bestem Rotwein ausbrachten.«

Bei anderer Gelegenheit las Joseph eine kurze Mitteilung: »Major Dobbin hat sich dem ...ten Regiment in Chatham angeschlossen.« Und etwas später verlas er die Berichte über die Vorstellung bei Hofe, und zwar von Oberst Sir Michael O'Dowd, Lady O'Dowd (durch Mrs. Molloy Malony von Ballymalony) und Miss Glorvina O'Dowd (durch Lady O'Dowd). Kurze Zeit danach erschien Dobbins Name unter den Oberstleutnants. Der alte Marschall Tiptoff war während der Überfahrt des ...ten Regiments von Madras gestorben, [480] und der König hatte geruht, Oberst Sir Michael O'Dowd bei seiner Rückkehr nach England zum Generalmajor zu befördern. Er sollte aber weiterhin das Kommando seines tapferen Regiments, das er so lange geführt hatte, behalten.


Amelia hatte einige dieser Ereignisse schon gewußt. Die Korrespondenz zwischen George und seinem Vormund war keineswegs eingeschlafen, und William hatte auch seit seiner Abreise ein paarmal ihr selbst geschrieben, aber in einem so ungezwungenen kühlen Ton, daß die arme Frau nun fühlte, wie sie die Herrschaft über ihn verloren hatte, und daß er, wie er selbst gesagt hatte, frei war.

Er hatte sie verlassen, und sie war unglücklich. Seine unzähligen Dienste und seine liebevolle Verehrung standen ihr vor Augen und machten ihr Tag und Nacht Vorwürfe. Sie brütete nach ihrer Gewohnheit über diesen Erinnerungen, erkannte die Reinheit und Schönheit seiner Liebe, mit der sie gespielt hatte, und tadelte sich, einen solchen Schatz weggeworfen zu haben.

Diese Liebe war tatsächlich verschwunden. William hatte sie gänzlich aufgebraucht. Er glaubte sie nicht mehr so zu lieben, wie er sie geliebt hatte. Er würde sie auch nie wieder so lieben können. Eine Zuneigung dieser Art, die er ihr so viele Jahre hindurch treu entgegengebracht hatte, kann nicht weggeworfen und zerbrochen und dann wieder ausgebessert werden, ohne daß man die Spuren bemerkt. Die kleine unbekümmerte Tyrannin hatte sie auf diese Weise zerstört. William dachte immer wieder: Ich habe mich selbst betrügerischen Illusionen hingegeben. Wäre sie meiner Liebe würdig gewesen, sie hätte sie schon längst erwidert. Es war ein teurer Irrtum. Besteht aber nicht das ganze Leben aus solchen Irrtümern, und angenommen, ich hätte sie errungen – wäre ich nicht am Tage nach meinem Sieg entzaubert worden? Warum sollte ich mich meiner Niederlage schämen oder über sie bekümmert sein? Je mehr er diese lange Periode seines Lebens [481] überdachte, desto klarer wurde ihm, daß er sich getäuscht hatte. »Ich will die Uniform wieder anziehen«, sagte er, »und meine Pflicht dort tun, wo der Himmel mich hingestellt hat. Ich werde aufpassen, daß die Köpfe der Rekruten gehörig geputzt sind und die Unteroffiziere in ihren Berichten keine Fehler machen. Ich werde in der Offiziersmesse speisen und mir die Geschichten des schottischen Regimentsarztes anhören. Wenn ich alt und gebrechlich bin, werde ich mich auf Halbsold setzen lassen und meine alten Schwestern werden mich ausschelten. ›Ich habe gelebt und geliebet‹ 1, wie das Mädchen im ›Wallenstein‹ sagt. Ich bin fertig. – Bezahl die Rechnung und bringe mir eine Zigarre, Francis, und sieh nach, was heute im Theater gespielt wird. Morgen fahren wir mit der ›Batavier‹ rüber.«

Diese Rede, von der Francis nur die beiden letzten Zeilen hörte, hielt er, während er die Boompjes in Rotterdam auf und ab ging. Die »Batavier« lag im Hafen. Er konnte die Stelle auf dem Achterdeck sehen, wo er und Emmy auf der glücklichen Hinfahrt gesessen hatten. Was hatte ihm die kleine Mrs. Crawley nur zu sagen? – Pah, morgen stechen wir in See und kehren nach England zurück – zur Heimat und zur Pflicht!


Anfang Juli zerstreute sich die ganze kleine Hofgesellschaft von Pumpernickel nach deutscher Sitte in hundert verschiedene Badeorte, wo sie tranken, auf Eseln ritten, in den Kursälen spielten, wenn sie Geld und Lust hatten, mit Hunderten ihres Standes zu ihren Schlemmermahlen an die Table d'hôte eilten und den Sommer im Müßiggang verbrachten. Die englischen Diplomaten gingen nach Teplitz und Kissingen, ihre französischen Nebenbuhler schlossen ihre Kanzlei und eilten zu ihrem geliebten Boulevard de Gand. Die regierende durchlauchtige Familie fuhr ebenfalls in die Bäder oder zog sich auf ihre Jagdschlösser zurück. Jeder, der Ansprüche erhob, zur großen Welt gerechnet zu werden, verreiste, und unter [482] ihnen natürlich auch der Hofarzt Doktor von Glauber und seine Baronin.

Die Badesaison war stets die einträglichste Periode in des Doktors Praxis – er vereinigte das Geschäftliche mit dem Vergnügen und ging gewöhnlich nach Ostende, das sehr viel von Deutschen besucht wird, und dort behandelte der Doktor sich und sein Ehegespons mit »Seewasserspülungen«, wie er es nannte.

Sein interessanter Patient Joseph war eine regelrechte Milchkuh für den Doktor, und es fiel ihm nicht schwer, den Zivilisten zu überreden, um seiner selbst willen und wegen der erschütterten Gesundheit seiner reizenden Schwester den Sommer in dieser häßlichen Hafenstadt zu verbringen. Emmy war es gleichgültig, wohin sie ging. Georgy machte Freudensprünge bei dem Gedanken an eine Veränderung. Für Becky verstand es sich von selbst, daß sie den vierten Platz in der schönen Reisekutsche einnahm, die Mr. Joseph gekauft hatte, während die beiden Diener vorn auf dem Bock saßen. Vielleicht hegte sie einige Befürchtungen, daß sie dort Freunde treffen würde, die möglicherweise häßliche Geschichten erzählen könnten – doch pah! sie war stark genug, sich zu behaupten. Sie war jetzt so fest bei Joseph verankert, daß schon ein schwerer Sturm kommen mußte, um sie zu erschüttern. Der Vorfall mit dem Bild hatte ihm den Rest gegeben. Becky nahm ihren Elefanten von der Wand und legte ihn in die kleine Kiste, die sie vor langen Jahren von Amelia bekommen hatte. Auch Emmy nahm ihre Hausgötter – die beiden Gemälde – mit, und schließlich quartierte sich die Gesellschaft in einem außerordentlich teuren und unbequemen Haus in Ostende ein.

Hier nun begann Amelia Bäder zu nehmen und das Beste daraus zu machen. Obwohl Dutzende Bekannte an Rebekka vorübergingen und sie schnitten, erfuhr Mrs. Osborne, die mit ihr ging, aber keinen Menschen kannte, nichts davon, wie die Freundin, die sie sich so verständig zur Gefährtin erwählt [483] hatte, behandelt wurde. Becky hielt es auch für angemessen, ihr nicht mitzuteilen, was unter ihren unschuldigen Augen vor ging.

Einige Bekannte schlossen sich Mrs. Rawdon Crawley jedoch bereitwillig an – bereitwilliger vielleicht, als es ihr wünschenswert erschien. Zu diesen gehörte Major Loder (ohne Anstellung) und Hauptmann Rook (früher bei den Schützen), die täglich auf dem Seedamm zu sehen waren, wo sie rauchten und den Frauen nachstarrten. Sie fanden schnell Zutritt zu der gastfreien Tafel und dem auserlesenen Kreis von Mr. Joseph Sedley und ließen sich in keiner Weise abschütteln. Sie brachen ins Haus ein, ganz gleich, ob Becky daheim war oder nicht, gingen in Mrs. Osbornes Salon, den sie mit dem Duft ihrer Röcke und Schnurrbärte parfümierten, nannten Joseph »alter Bursche«, stürzten sich auf seine Mittagstafel und lachten und tranken dort stundenlang.

»Was meinen sie nur«, fragte Georgy, der diese Herren nicht leiden mochte. »Ich hörte gestern, wie der Major zu Mrs. Crawley sagte: Nein, nein, Becky, den alten Burschen sollen Sie nicht für sich allein bekommen. Wir wollen da auch ein bißchen mitmischen, oder, verdammt noch mal, ich beichte. Was meinte der Major bloß damit, Mama?«

»Major! Nenn den bitte nicht Major!« sagte Emmy. »Ich weiß wirklich nicht, was er meinte.« Seine und seines Freundes Gegenwart flößten der kleinen Frau Abneigung und unerträgliches Entsetzen ein. Sie machten ihr trunkene Komplimente und beäugelten sie bei Tisch lüstern. Der Hauptmann machte ihr Anträge, die sie mit gräßlichem Schrecken erfüllten, und sie ging ihm aus dem Wege, wenn sie nicht gerade George bei sich hatte.

Auch Rebekka wollte nicht, um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, daß einer von diesen Männern allein bei Amelia blieb. Der Major hatte ebenfalls Absichten und schwor, er werde sie gewinnen. Zwei Wüstlinge kämpften um dieses unschuldige Geschöpf und spielten an ihrem eigenen [484] Tisch um sie. Wenn sie auch nicht wußte, was für Absichten die Schurken auf sie hatten, so fühlte sie doch in ihrer Gegenwart Unruhe und Schrecken und wäre gern geflüchtet.

Sie bat, sie flehte Joseph an, nach Hause zurückzukehren. Er wollte aber nicht. Er war langsam in Gang zu bringen und an seinen Arzt gekettet, und dann war er wohl auch an einem anderen Gängelband. Becky wenigstens war nicht darauf erpicht, nach England zu gehen.

Endlich faßte Amelia einen großen Entschluß und tat den entscheidenden Schritt. Sie schrieb einem Freund auf der anderen Seite des Wassers einen Brief. Keinem Menschen sagte sie ein Sterbenswörtchen davon und trug ihn selbst unter ihrem Schal zur Post. Niemand bemerkte etwas davon, nur sah sie sehr rot und aufgeregt aus, als Georgy sie sah, und küßte ihn an jenem Abend viele Male. Nach der Rückkehr von ihrem Spaziergang kam sie nicht wieder aus ihrem Zimmer hervor, und Becky glaubte, sie fürchte sich vor Major Loder und dem Hauptmann.

Hier darf sie nicht bleiben, sagte sich Becky; sie muß fort, das dumme Närrchen, sie weint immer noch um ihren Einfaltspinsel von Mann, der nun schon fünfzehn Jahre tot ist. Geschah ihm ganz recht. Sie soll keinen von diesen Männern heiraten. Es ist gemein von Loder; nein, sie soll den Bambusstock heiraten. Das werde ich noch heute abend in Ordnung bringen!

Becky brachte also Amelia eine Tasse Tee in ihr Zimmer, wo sie die Dame melancholisch und nervös in Gesellschaft ihrer Miniaturbilder vorfand. Sie setzte die Teetasse vor sie hin.

»Dankeschön«, sagte Amelia.

»Hör mal, Amelia«, sagte Becky und ging vor Emmy im Zimmer auf und ab, dabei betrachtete sie die andere mit einer gewissen verächtlichen Freundlichkeit. »Ich muß mit dir sprechen, du mußt weg von hier, weg von der Unverschämtheit dieser Männer. Ich will nicht, daß sie dich belästigen, [485] und wenn du hierbleibst, dann werden sie dich beleidigen. Ich sage dir, es sind Schurken, Männer, die man eigentlich ins Gefängnis stecken sollte. Kümmere dich nicht darum, woher ich sie kenne. Ich kenne alle Welt. Joseph kann dich nicht beschützen, er ist zu dick und schwach und braucht selbst einen Beschützer. Du bist ebenso untauglich für das Leben in dieser Welt wie ein Säugling. Du mußt heiraten, oder du und dein Prachtjunge werden zugrunde gehen. Du mußt einen Mann haben, du Närrchen, und einer der besten Männer, die ich je sah, hat schon hundertmal um dich geworben, und du hast ihn abgewiesen, du einfältiges, herzloses, undankbares kleines Geschöpf.«

»Ich habe – ich habe mein möglichstes versucht, wirklich, Rebekka«, erwiderte Amelia eindringlich. »Aber ich konnte nicht vergessen, daß ...«, und sie beendete den Satz mit einem Augenaufschlag zu dem Porträt.

»Konntest den da nicht vergessen?« rief Becky. »Diesen egoistischen Aufschneider, diesen ungebildeten, ordinären Stutzer, diesen auswattierten Tölpel, der weder Witz noch Benehmen, noch Herz besaß und der mit deinem Freund mit dem Rohrstock ebensowenig zu vergleichen ist wie du mit der Königin Elisabeth. Hach, der Mann hatte dich längst satt und hätte dich sitzenlassen, wenn Dobbin ihn nicht gezwungen hätte, sein Wort zu halten. Er hat es mir selbst gestanden. Er hat sich nie etwas aus dir gemacht. Er hat sich soundso oft bei mir über dich lustig gemacht, und schon eine Woche nachdem er dich geheiratet hatte, hat er mit mir geflirtet.«

»Das ist Lüge, das ist Lüge, Rebekka!« rief Amelia und sprang auf.

»Sieh dir doch das einmal an, du Närrin«, sagte Becky, noch immer aufreizend gut gelaunt, und holte ein Zettelchen aus ihrem Gürtel. Sie öffnete es und warf es Emmy in den Schoß. »Du kennst seine Handschrift. Das hat er mir geschrieben, er hat gewollt, daß ich mit ihm durchbrennen sollte. Vor deinen [486] Augen hat er es mir gegeben, einen Tag bevor er fiel – das geschah ihm ganz recht«, wiederholte Becky.

Emmy hörte sie nicht. Sie sah den Brief an. Es war derjenige, den George in das Bukett gesteckt und Becky in der Ballnacht beim Herzog von Richmond gegeben hatte. Es war, wie sie sagte. Der törichte junge Mann hatte sie aufgefordert, mit ihm zu fliehen.

Emmy ließ den Kopf sinken, und zum letzten Male in dieser Geschichte soll sie mit dem Weinen beschäftigt werden. Der Kopf sank ihr auf die Brust, die Hände fuhren an die Augen, und so gab sie sich eine Zeitlang ihrer Bewegung hin, während Becky dabeistand und sie anblickte. Wer könnte sagen, ob diese Tränen süß oder bitter waren? War sie sehr betrübt, weil das Götzenbild ihres Lebens gestürzt und zerschmettert vor ihren Füßen lag, oder entrüstet, daß ihre Liebe so geringgeschätzt worden war, oder froh, weil die Schranke der Schamhaftigkeit zwischen ihr und einer neuen, einer wahren Liebe gefallen war? Nichts kann mich jetzt mehr hindern, dachte sie, nun darf ich ihn von ganzem Herzen lieben. Oh, ich will, ich will, wenn er es mir nur erlaubt und mir vergibt. Ich glaube, dieses Gefühl stürzte sich vor allen anderen in die sanfte kleine Brust.

Sie weinte nicht so sehr wie Becky erwartete. Rebekka beruhigte und küßte sie – ein seltsames Zeichen der Sympathie bei Mrs. Rebekka. Sie behandelte Emmy wie ein Kind und streichelte ihr das Haar.

»Und nun wollen wir Feder und Tinte nehmen und ihm schreiben, daß er sofort kommen soll«, sagte sie.

»Ich – ich habe heute morgen schon an ihn geschrieben«, sagte Emmy und wurde sehr rot.

Becky schrie vor Lachen. – »Un biglietto!« sang sie mit Rosina 2, »eccolo quà!« 3 Ihr schriller Gesang schallte durch das ganze Haus.

Zwei Tage nach dieser kleinen Szene stand Amelia zeitig auf. Obwohl es regnerisch und windig war und obwohl sie [487] eine unruhige Nacht verbracht hatte, dem Brausen des Windes gelauscht und alle Reisenden zu Lande und zu Wasser bemitleidet hatte, bestand sie darauf, mit Georgy einen Spaziergang auf dem Seedamm zu machen. Dort ging sie auf und ab, während ihr der Regen ins Gesicht schlug, und sie blickte westwärts über die hohen Wogen, die schäumend auf die Küste zustürzten, zu dem dunklen Horizont. Keiner der beiden sprach viel, nur ab und zu richtete der Knabe einige teilnehmende und ermutigende Worte an seine ängstliche Begleiterin.

»Ich hoffe, er wird bei diesem Wetter die Überfahrt nicht wagen«, meinte Emmy.

»Ich wette zehn gegen eins, daß er es doch tut«, antwortete der Knabe. »Sieh mal, Mutter, dort ist der Rauch vom Dampfer.« Ganz sicher, es war das erste Anzeichen.

Zwar war der Dampfer unterwegs, aber er brauchte deshalb doch nicht an Bord zu sein. Vielleicht hatte er den Brief nicht erhalten, vielleicht wollte er nicht kommen. Hundert Befürchtungen stürzten sich auf das kleine Herz ebenso schnell wie die Wellen auf den Seedamm.

Nach dem Rauch kam bald der Dampfer in Sicht. Georgy besaß ein hübsches Fernrohr, und geschickt bekam er das Schiff ins Blickfeld und gab nun passende seemännische Kommentare darüber, in welcher Weise sich der Dampfer näherte, der sich im Wasser hob und senkte. Das Signal »Englischer Dampfer in Sicht« stieg flatternd an dem Mast auf der Mole hoch. Ich glaube, Mrs. Amelias Herz flatterte ähnlich.

Emmy versuchte über Georges Schulter durch das Fernrohr zu blicken, konnte aber nichts erkennen. Sie sah nur etwas Dunkles vor ihren Augen auf und nieder tanzen.

George ergriff das Glas von neuem und bestrich damit das Schiff. »Wie es stampft«, sagte er. »Da, gerade klatscht wieder eine Welle über den Bug. Außer dem Steuermann sind nur zwei Leute auf Deck. Ein Mann liegt auf den Planken, und der andere – ein Kerl in einem – Mantel, mit einem ... Hurra! [488] Es ist Dobbin! Tatsache.« Er schob das Fernrohr zusammen und schlang die Arme um seine Mutter. Was sie tat, können wir mit den Worten eines beliebten Dichters sagen: δαχρυόεν γελάδαδα 4. Sie war sicher, daß es William war. Ein anderer konnte es nicht sein. Als sie ihre Hoffnung ausdrückte, er werde nicht kommen, hatte sie geheuchelt. Natürlich würde er kommen, konnte er denn anders? Sie wußte, daß er kommen würde.

Das Schiff näherte sich schnell. Als sie zum Landeplatz am Kai hinübergingen, zitterten Emmy die Knie, und sie konnte kaum gehen. Sie hätte sich gern niedergekniet und ein Dankgebet gesprochen. Oh, dachte sie, mein ganzes Leben soll ein Dankgebet sein.

Als das Schiff einlief, hatten sich wegen des schlechten Wetters keine müßigen Zuschauer eingefunden, und kaum ein Zollbeamter kümmerte sich um die wenigen Schiffspassagiere.

Der kleine Taugenichts George hatte sich ebenfalls aus dem Staube gemacht, und als der Herr in dem alten, rotgefütterten Mantel das Ufer betrat, war dort kaum ein Mensch, der Zeuge des folgenden geworden wäre:

Eine Dame mit triefendem weißem Hut und Schal lief ihm mit ausgestreckten Händchen entgegen und war im nächsten Augenblick gänzlich unter den Falten des alten Mantels verschwunden. Sie küßte aus Leibeskräften seine eine Hand, während die andere wahrscheinlich damit beschäftigt war, sie ans Herz zu drücken (ihr Kopf reichte gerade bis da hinauf) und sie am Fallen zu hindern. Sie murmelte allerlei, etwa: vergib ... lieber William ... lieber, lieber, liebster Freund ... küß ... küß ... küß ... und so weiter, und redete noch viel mehr solche albernen Dinge unter dem Mantel.

Als Emmy wieder auftauchte, hielt sie noch immer eine Hand von William fest und blickte ihm ins Gesicht. Es war voller Traurigkeit, zärtlicher Liebe und Mitleid. Sie verstand seinen Vorwurf und ließ den Kopf hängen.

[489] »Es war höchste Zeit, daß du mich geholt hast, liebe Amelia«, sagte er.

»Und du wirst nie wieder fortgehen, William?«

»Nein, niemals!« erwiderte er und drückte das liebe Seelchen noch einmal ans Herz.

Als sie aus dem Zollhaus traten, stürzte ihnen Georgy, das Fernrohr vor dem Auge, entgegen. Er tanzte um das Paar herum und schnitt allerlei possierliche Grimassen, während er sie nach Hause geleitete. Joseph war noch nicht aufgestanden, Becky nicht sichtbar (obwohl sie die drei durch die Fenstervorhänge beobachtete). Georgy lief fort, um nach dem Frühstück zu sehen, Emmy, der Miss Payne im Hausflur schon Schal und Hut abgenommen hatte, nestelte jetzt die Schnallen an Dobbins Mantel auf und ... gehen wir, wenn es recht ist, mit George mit und sehen nach dem Frühstück für den Oberst. Das Schiff liegt im Hafen. Er hat den Preis errungen, den er sein ganzes Leben lang erstrebt hat. Endlich ist der Vogel gefangen. Da ist er, hat den Kopf an Dobbins Schulter gelehnt und schnäbelt und girrt dicht an seinem Herzen mit ausgestreckten, weichen, flatternden Schwingen. Das hat er achtzehn Jahre lang täglich und stündlich erhofft. Das ist es, wonach er sich sehnte. Das ist es nun, das Ende, der Höhepunkt – die letzte Seite des zweiten Bandes. Leb wohl, Oberst – Gott behüte dich, ehrlicher William – auf Wiedersehen, liebe Amelia. Grüne von neuem, zarte kleine Schlingpflanze, rund um die rauhe alte Eiche, an welche du dich schmiegst!


Vielleicht war es Zerknirschung gegenüber dem gütigen, einfachen Geschöpf, das das erste in ihrem Leben gewesen war, das sie beschützt hatte, oder auch Abneigung gegen sentimentale Szenen – jedenfalls begnügte sich Rebekka mit ihrem Anteil an dem Geschehenen und zeigte sich nicht wieder vor Oberst Dobbin und der Dame, die er heiratete. »Spezielle Geschäfte« riefen sie nach Brügge, erklärte sie. Dorthin [490] ging sie auch, und bei den Hochzeitsfeierlichkeiten waren nur Georgy und sein Onkel anwesend. Als das vorüber war und Georgy mit seinen Eltern abgefahren war, kehrte Rebekka (nur auf ein paar Tage) zurück, um den einsamen Junggesellen, Joseph Sedley, zu trösten. Er zog vor, wie er sagte, auf dem Kontinent zu leben, und lehnte es ab, mit seiner Schwester und ihrem Mann zusammen zu wohnen.

Emmy war von Herzen froh bei dem Gedanken, daß sie an ihren Mann geschrieben hatte, bevor sie den Brief von George gelesen oder etwas davon erfahren hatte. »Ich wußte es die ganze Zeit über«, sagte William, »aber konnte ich denn diese Waffe gegen das Andenken des armen Burschen gebrauchen? Das ist der Grund, weshalb es mir so weh tat, als du ...«

»Sprich nie wieder von diesem Tag«, rief Emmy so demütig und reuevoll, daß William das Gespräch auf ein anderes Thema brachte und von Glorvina und der lieben alten Peggy O'Dowd erzählte, bei denen er gerade saß, als der Brief eintraf, mit dem sie ihn rief. »Wenn du mich nicht geholt hättest«, fügte er lachend hinzu, »wer weiß, wie Glorvina dann jetzt heißen würde.«

Gegenwärtig heißt sie Glorvina Posky (jetzt Frau Majorin Posky). Sie nahm ihn nach dem Tode seiner ersten Frau, da sie beschlossen hatte, nie jemanden zu heiraten, der nicht zum Regiment gehörte. Lady O'Dowd liebt es ebenfalls so sehr, daß sie sagt, wenn ihrem Michael etwas zustoßen sollte, dann würde sie ganz bestimmt zum Regiment zurückkehren und einen von dort heiraten. Dem Generalmajor geht es jedoch blendend, er lebt glanzvoll in O'Dowdstown, hält ein Rudel Jagdhunde und ist (vielleicht nur mit Ausnahme seines Nachbars Hoggarty von Schloß Hoggarty) der erste Mann der Grafschaft. Seine Lady tanzt noch immer Gigue, und sie bestand beim letzten Ball des Gouverneurs darauf, es mit dem Stallmeister aufzunehmen. Sie und Glorvina erklärten, daß sich Dobbin schändlich benommen habe; als aber Posky frei[491] wurde, tröstete sich Glorvina bald, und ein schöner Turban von Paris besänftigte Lady O'Dowds Zorn.

Oberst Dobbin hängte unmittelbar nach der Hochzeit den Dienst an den Nagel und mietete sich einen hübschen kleinen Landsitz in Hampshire, nicht weit von Queen's Crawley, wo Sir Pitt und seine Familie nach der Annahme des Reformgesetzes 5 ständig lebten. Von einem Aufstieg in den höheren Adel konnte jetzt keine Rede mehr sein, nachdem der Baronet seine beiden Parlamentssitze eingebüßt hatte. Durch diese Katastrophe hatte sein Geldbeutel wie auch sein Lebensmut gelitten.. Er kränkelte und prophezeite den baldigen Untergang des Königreiches.

Lady Jane und Mrs. Dobbin wurden gute Freundinnen. Es gab ein ständiges Hin und Her in der Ponykutsche zwischen dem Schloß und »Haus Immergrün«, dem Landsitz des Obersten (er hatte ihn von seinem Freund Major Ponto gemietet, der sich mit seiner Familie im Ausland befand). Die Lady stand bei Mrs. Dobbins Kind Pate, das ihren Namen erhielt. Getauft wurde es von Ehrwürden James Crawley, der die Pfründe von seinem Vater übernahm. Zwischen den beiden jungen Burschen George und Rawdon bestand eine enge Freundschaft. Sie jagten und schossen in den Ferien zusammen, besuchten beide dasselbe College in Cambridge und stritten sich um Lady Janes Tochter, in die natürlich beide verliebt waren. Eine Verbindung zwischen George und der jungen Dame war lange der Lieblingsplan der beiden Mütter, obgleich ich gehört habe, daß Miss Crawley mehr ihrem Cousin gewogen war.

Keine der beiden Familien erwähnte jemals Mrs. Rawdon Crawleys Namen. Es gab Gründe genug, weshalb man lieber über sie schwieg, denn wohin auch Mr. Joseph Sedley reiste, sie ging stets mit, und der betörte Mann schien völlig ihr Sklave geworden zu sein. Dem Oberst wurde von seinem Rechtsanwalt mitgeteilt, daß sein Schwager eine sehr hohe Lebensversicherung abgeschlossen habe. Das deutete darauf[492] hin, daß er Geld aufgenommen hatte, um Schulden zu bezahlen. Er ließ seinen Urlaub von der Ostindischen Kompanie verlängern, und tatsächlich verschlechterte sich seine Gesundheit täglich.

Als Amelia von der Lebensversicherung erfuhr, flehte sie in großer Bestürzung ihren Mann an, nach Brüssel zu gehen, wo sich Joseph gerade aufhielt, und Nachforschungen über seine Lage anzustellen. Der Oberst verließ sein Haus nur widerwillig (er war nämlich eifrig in eine »Geschichte des Pandschab 6« vertieft, mit der er noch heute beschäftigt ist, und außerdem war er sehr in Sorge um sein Töchterchen, das eben die Windpocken überstanden hatte und das er sehr vergötterte). Er fuhr also nach Brüssel und fand Joseph in einem der riesigen Hotels dieser Stadt. Mrs. Crawley, die einen Wagen hielt, Gesellschaften gab und sehr vornehm auftrat, bewohnte eine andere Zimmerflucht in demselben Hotel.

Der Oberst hatte natürlich kein Bedürfnis, diese Dame zu sehen, und hielt es auch nicht für angemessen, seine Ankunft in Brüssel anzumelden. Er ließ Joseph nur ganz heimlich durch seinen Diener melden, daß er kommen werde. Joseph bat den Oberst, ihn am Abend zu besuchen, da Mrs. Crawley bei einer Gesellschaft sein würde und sie sich allein sprechen könnten. Er fand seinen Schwager wirklich in einem bemitleidenswerten Zustand vor. Joseph hatte entsetzliche Angst vor Rebekka, obwohl er ihres Lobes voll war. Sie hatte ihn während einiger unerhörter Krankheiten mit bewunderungswürdiger Ausdauer gepflegt. Sie war ihm wie eine Tochter gewesen. »Aber – aber – oh, um Gottes willen, kommt und wohnt in meiner Nähe, und – und – besucht mich ab und zu«, wimmerte der Unglückliche.

Die Stirn des Obersten verdüsterte sich bei diesen Worten. »Wir können nicht, Joseph«, sagte er. »Wenn man die Umstände berücksichtigt, kann Amelia dich nicht besuchen.«

»Ich schwöre dir – ich schwöre dir auf die Bibel«, keuchte Joseph und versuchte das Buch zu küssen, »daß sie so unschuldig [493] ist wie ein Kind, so makellos wie deine eigene Frau.«

»Das mag sein«, sagte der Oberst düster. »Aber Emmy kann nicht zu dir kommen. Sei ein Mann, Joseph, brich diese schimpfliche Verbindung ab. Komm zu deiner Familie nach Hause. Wir haben gehört, daß du in Geldverlegenheiten bist.«

»Ich?« rief Joseph. »Wer hat dir solche Lügen erzählt? Mein ganzes Vermögen ist äußerst vorteilhaft angelegt. Mrs. Crawley ... das heißt ... ich meine ... es ist zu den besten Zinsen angelegt.«

»So hast du also keine Schulden? Warum hast du dann eine Lebensversicherung abgeschlossen?«

»Ich dachte – ein kleines Geschenk für sie – falls mir etwas zustößt, weißt du, meine Gesundheit ist so angegriffen – bloße Dankbarkeit, weißt du! Ich beabsichtige, euch mein ganzes Vermögen zu hinterlassen – und ich kann es von meinem Einkommen ersparen, wirklich, das kann ich!« rief Williams schwacher Schwager.

Der Oberst bat Joseph, sofort zu fliehen – nach Indien zurückzugehen, wohin ihm Mrs. Crawley nicht folgen könnte, alles zu tun, um ein Verhältnis abzubrechen, das verhängnisvolle Folgen für ihn haben könne.

Joseph faltete die Hände und rief, er wolle nach Indien zurückkehren, er wolle alles tun, er müsse nur Zeit haben. »Du darfst bloß Mrs. Crawley nichts sagen – sie – sie würde mich umbringen, wenn sie es wüßte. Du hast keine Ahnung, was für eine schreckliche Frau sie ist«, sagte der arme Kerl.

»Warum willst du dann nicht mit mir gehen?« entgegnete Dobbin, aber Joseph hatte nicht den Mut dazu. Dobbin solle am nächsten Morgen noch einmal wiederkommen, er dürfe aber auf keinen Fall erzählen, daß er dagewesen sei; er müsse nun gehen. Becky könne jeden Augenblick zurückkommen. Dobbin verließ ihn mit trüben Ahnungen.

Er sah Joe nie wieder. Joseph Sedley starb drei Monate [494] später in Aachen. Es stellte sich heraus, daß sein ganzes Vermögen in Spekulationen vertan wor den war und in unzähligen wertlosen Aktien verschiedener Schwindelgesellschaften vorlag. Sein ganzer Nachlaß bestand in den zweitausend Pfund aus seiner Lebensversicherung, die er zu gleichen Teilen seiner »geliebten Schwester Amelia, Frau des ... und so weiter, und seiner Freundin und unschätzbaren Krankenpflegerin Rebekka, Frau von Oberstleutnant Rawdon Crawley«, hinterlassen hatte. Becky war zur Testamentsvollstreckerin ernannt.

Der Rechtsanwalt der Versicherungsgesellschaft schwor, es sei der dunkelste Fall, der je vor ihn gekommen sei. Er sprach davon, eine Kommission nach Aachen zu schicken, um den Todesfall genau zu untersuchen, und die Gesellschaft weigerte sich, die Police zu bezahlen. Mrs. oder Lady Crawley, wie sie sich nannte, kam jedoch sofort nach London, begleitet von ihren Anwälten, den Herren Burke, Thurtell und Hayes von Thavies Inn, und drohte der Gesellschaft, sie solle nur wagen, ihr die Zahlung zu verweigern. Sie forderte sie auf, Untersuchungen anzustellen, erklärte, daß sie das Opfer einer infamen Verschwörung, die sie ihr ganzes Leben lang verfolgt habe, sei, und trug schließlich den Sieg davon. Das Geld wurde ausgezahlt und ihr guter Ruf wiederhergestellt. Oberst Dobbin schickte aber seinen Anteil der Versicherungsgesellschaft zurück und lehnte es entschieden ab, irgendwelche Verbindung mit Rebekka aufrechtzuerhalten.

Sie wurde nie Lady Crawley, obwohl sie sich weiterhin so nannte. Seine Exzellenz Oberst Rawdon Crawley starb am gelben Fieber auf Coventry Island, allgemein beliebt und betrauert, sechs Wochen vor dem Tode seines Bruders Pitt. Das Vermögen ging daher auf den gegenwärtigen Sir Rawdon Crawley, Baronet, über.

Auch er hat es abgelehnt, seine Mutter zu sehen. Er hat ihr jedoch eine auskömmliche Jahresrente ausgesetzt, aber sie schien auch so ganz wohlhabend zu sein. Der Baronet lebt [495] ständig mit Lady Jane und ihrer Tochter in Queen's Crawley, während sich Rebekka, Lady Crawley, hauptsächlich in Bath oder Cheltenham aufhält; eine einflußreiche Partei vortrefflicher Leute hält sie für eine Frau, der man Unrecht getan hat. Sie hat auch ihre Feinde. Wer hätte die nicht? Mit ihrem Leben gibt sie denen eine Antwort. Sie beschäftigt sich mit frommen Werken. Sie geht in die Kirche, aber nie ohne Lakaien. Ihr Name ist auf allen Wohltätigkeitslisten zu finden. Das notleidende Apfelsinenmädchen, die vernachlässigte Waschfrau, der arme Brezelmann finden in ihr eine treue, großzügige Freundin. Auf Wohltätigkeitsbasaren hat sie stets einen Stand, um diesen unglücklichen Wesen zu helfen. Emmy, ihre Kinder und der Oberst waren vor einiger Zeit in London und sahen sich ihr auf einem die ser Basare plötzlich gegenüber. Sie schlug bescheiden die Augen nieder und lächelte, als sie zurückfuhren. Emmy eilte am Arm Georges (er ist jetzt ein eleganter junger Herr geworden) davon, und der Oberst hob seine kleine Jane auf, die er mehr liebt als alles auf der Welt, mehr sogar als seine »Geschichte des Pandschab«.

Mehr sogar als mich! denkt Emmy seufzend, aber er hat nur freundliche und sanfte Worte für sie und versucht, ihr alle Wünsche zu erfüllen.


Ach, vanitas vanitatum 7! Wer von uns ist glücklich auf dieser Welt? Wer von uns hat alles, was er wünscht, oder ist zufrieden, wenn er es hat? Kommt, Kinder, wir wollen die Puppen wegpacken und die Kiste schließen, denn unser Spiel ist zu Ende.

Fußnoten

1 Zeile aus dem Lied der Thekla in Friedrich Schillers Drama »Wallenstein« (Die Piccolomini, III, 7).

2 Gestalt aus der Oper »Der Barbier von Sevilla« des italienischen Komponisten Gioacchino Rossini (1792-1868).

3 (ital.) »Das Billettchen, das wäre da«.

4 (griech.) »Lächelnd, mit Tränen im Blick«, Zitat aus Homers »Ilias« (VI, 484).

5 1832 erlassenes Wahlgesetz, das die Neuaufteilung der bevölkerungsarmen Wahlbezirke zugunsten der bevölkerungsdichten vorsah (s. auch Anm. den man als »abgewirtschaftet« ... zu S. 94 des 1. Bandes); bedeutete eine Demokratisierung des Wahlrechts.

6 ehemalige britische Provinz in Indien.

7 (lat.) Eitelkeit der Eitelkeiten.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Thackeray, William Makepeace. Roman. Jahrmarkt der Eitelkeit. Jahrmarkt der Eitelkeit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-4F73-F