[19] Lebensansicht

Hört auf zu mir zu sprechen,
Ihr sprecht zu Stein und Holz,
Ihr sollt mir ihn nicht brechen,
Den freud'gen Jugendstolz.
Ihr sollt mich nicht bereden,
Daß alle Menschen schlecht,
Daß ganz in einem Jeden
Erstorben sei das Recht.
Das Licht, es ist so blaß nicht,
Als ihr es immer meint,
Der Nebel ist so graß nicht,
Als ihr es stets beweint.
Die Welt ist nicht so schändlich,
Als ihr es immer sagt,
Die Not nicht so unendlich,
Als ihr es stets beklagt.
Der Himmel hat von Sonnen
Noch eine große Schar,
Es ist von allen Wonnen
Die Erde noch nicht bar.
Noch gibt es Helden bieder
Mit Feder und mit Schwert,
Noch gibt es Heldenlieder
Von freier Helden Wert.
Noch gibt es zarte Dichter
Und Dichter wilder Art,
Es glühn als Sangeslichter
Noch Frauen wunderzart.
Es ist das Gold der Rebe
Noch lange nicht verglüht,
[20]
Des Lenzes Duftgewebe
Hat Jahr für Jahr geblüht.
Wo Herzen, stolze, starke,
Noch für das Rechte stehn,
Da darf der Hoffnung Barke
Nicht völlig untergehn.
Und wo der Hoffnung Flammen
Noch sprühn in einer Brust,
Da soll man nicht verdammen
Die frische Liedeslust.
Und häuft sich noch so trübe
Ums Herz der Nebeldunst,
Das Herz sei voll von Liebe,
Und fröhlich sei die Kunst.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Strachwitz, Moritz von. Gedichte. Lieder eines Erwachenden. Vermischte Gedichte. Lebensansicht. Lebensansicht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1F44-9