Die Müllerstöchter.

Ein Mährchen.


Ein reicher, reicher Müller hatte drei Töchter, die es sich in den Kopf setzten, vornehme Frauen zu werden. Kam ein Freier von ihrem Stande, so wiesen sie ihn höhnisch ab. Wenn aber ein blutarmer Edelmann sich meldete, so meinte der Vater, es wäre doch eine Sünde das schöne Geld seiner Töchter, einen armen Schlucker zu geben. Endlich erschien ein schöngeputzter Herr, der ein reicher Graf seyn sollte, und verlangte die älteste zur Frau. Der Müller gab ihm die Tochter und sehr vieles Geld, und beide Eheleute reiseten weit, weit fort, in das Land, wo der Graf seine Grafschaft hatte. Nach einigen Monaten kam der Schwiegersohn wieder, und klagte mit großer Betrübniß, daß seine Frau gestorben. [41] Der Vater und die Schwestern weinten mit ihm, und endlich verlangte er die mittelste zur Ehe, und bekam sie auch und wieder vieles Geld. Diesesmal blieb er ein ganzes Jahr weg, und als er wieder kam, konnte er vor Kummer und Schmerz kaum aus der Kutsche steigen, denn auch diese, seine liebe Frau, war gestorben. Man hatte lange an ihn zu trösten; doch endlich meinte er, wenn Lottchen, die jüngste, Gräfin werden wollte, wäre es gut. Der Vater war es zufrieden, aber Lottchen war ein schlaues Mädchen und sehr neugierig, und wollte gern bald wissen, wo die Grafschaft des Herrn Grafen sei, und wie es da aussähe. Sie sagte einen Tag ja, und den andern nein, und darüber ward es Winter. Einmal sagte der betrübte Wittwer, er wolle eine kleine Reise machen. Lottchen nahm einen großen Knäuel Bindfaden, befestigte das eine Ende an seinen Schlitten und behielt den Knäuel. Dann setzte sie sich auch in einen Schlitten und fuhr immer dem Faden nach. Er führte in einen großen Wald, und immer tiefer ins Dickicht, bis zu einem kleinen Häuschen. Sie versteckte geschwind ihr Pferd und ihren Schlitten (das Fuhrwerk ihres Bräutigams fand sie leer vor der Thüre) und ging hinein. Es war Niemand darin, und sie öffnete die Thüre eines Kabinettes; aber, [42] o Himmel! was erblickte sie da? Eine Menge von Gebeinen und todten Körpern. Erschrocken wollte sie fliehen, da hörte sie Fußtritte vieler Männer nahen. Sie versteckte sich unter den Tisch und sahe den Grafen und noch viele andre Männer ein Frauenzimmer hereinschleppen, das sie tödteten, und in die Kammer dann den Leichnam warfen. Vorher wollten sie ihr einen Brillantring vom Finger ziehen, und da es nicht ging, hackten sie ihr die Hand ab, die unter den Tisch rollte. Sie hatten nicht Zeit nachzusuchen und gingen fort; Lottchen aber ging mit der Hand geschwind aus dem Häuschen, setzte sich in ihren Schlitten, fuhr nach Hause, und erzählte ihren Vater alles. Als der Herr Graf wieder kam und sich zu Tische setzte, nahm der Müller den Deckel von der Schüssel, auf der die Hand lag. Der Räuber wollte entfliehn, aber die Wache wartete schon auf ihn und nahm ihn fest. Wie bedauerte nun der Müller seinen und seiner unglücklichen Töchter thörigten Hochmuth.

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TextGrid Repository (2012). Stahl, Karoline. Märchen. Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Die Müllerstöchter. Die Müllerstöchter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-162B-F