Die Tübinger Schloßlinde

1.

Und wie sollt' ich dein vergessen,
Du getreue Musenstadt,
Die mein ganzes Herz besessen
Und mich wohl gepfleget hat.
Von dir singen, von dir sagen
Könnt' ich gar viel Leid und Freud',
Doch, nicht ist's aus fernen Tagen,
Ach! mir ist, als wär's erst heut!
Aber heute gieb mir Kunde
Tief aus deiner alten Zeit,
Als dich von dem schwäb'schen Bunde
Ulrich, unser Herr, befreit.
[256]
Zwar er kam in schwerem Zorne,
Schlug dir ein dein zagend Schloß,
Daß die Sträucher und die Dorne
Standen auf den Trümmern bloß.
Doch er hat es neu erbauet,
Stark und fürstlich es erhöht;
Blickt, ihr Enkel, auf und schauet,
Wie es noch so stattlich steht!
Stolz auf seinem schlanken Renner
Ritt der Herzog mitten ein,
Hoher Rat der weisen Männer
Zog gemächlich hinterdrein.
Aus den Zellen, aus den Schenken,
Dicht in Mantel und in Bart,
Sah man Hut und Degen schwenken
Den Studenten alter Art.
Vor den Thoren vom Barette
Wirft der Fürst ein Lindenreis:
»Wachs' und blüh' an dieser Stätte
Als ein Bäumlein grün und weiß!«
Keiner wagt es drauf zu treten,
Frommer Boden hüllt es ein,
Unter Jubeln und Gebeten
Geht der Zug zur Burg hinein.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schwab, Gustav. Gedichte. Gedichte. 4. Romanzen, Balladen, Legenden. 3. Vermischte schwäbische Sagen. Die Tübinger Schloßlinde. 1. [Und wie sollt' ich dein vergessen]. 1. [Und wie sollt' ich dein vergessen]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-07AF-D