Johanna Schopenhauer
Die Tante
Ein Roman

[Motto]

[1] Even so it was with me, when I was young:

It is the show and seal of nature's truth,

Where love's strong passion is impress'd in youth:

By our remenbrances of days foregone,

Such were our faults; – or then we thougt them none.

SHAKESPEARES All's well that ends well.

Act I. Scene III.

Erster Band

Babet und Agathe, zwei sehr hübsche Mädchen von sechszehn und siebenzehn Jahren, saßen an einem rauhen Herbstabende, in der trübseligsten Stimmung von der Welt, ganz allein bei einander. Draußen peitschte der Sturm mit lautem Geprassel Regen und Hagel gegen das Fenster des Kabinets, und im Nebenzimmer lag ihre todtkranke Verwandte Vicktorine, die einzige Tochter des reichen Handelsherrn Kleeborn, der seit dem frühen Tode ihrer Eltern sich als der Bruder ihrer Mutter der armen verwaiseten Kinder väterlich annahm.

Wenn sie auch der Kranken wegen sich nicht hätten Zwang anthun müssen, so war doch ohnehin, den beiden Mädchen nicht so zu Muthe, daß sie wie sonst hätten mit einander um die Wette plaudern mögen; denn seit Jahr und Tag, das heißt, seit [1] sie aus der Pensionsanstalt in das Haus ihres Oheims kamen, waren ihnen zum erstenmale zwei tödtlich lange Wochen ohne Ball, ohne Theater, ohne irgend eine Art von Gesellschaft, langsam vorüber geschlichen. Daher wußten sie auch gar nichts ordentliches zu reden; am liebsten wären sie aus lauter Langerweile gleich zu Bette gegangen, obgleich es eben erst Abend ward; aber das ging auch nicht an, denn es war an ihnen die Reihe, diese Nacht bei der kranken Kusine zu wachen. Es schämte sich nur eine vor der andern, sonst hätte jede sich gern in einen Winkel hingesetzt, und nach Herzenslust drauf los geweint, so beklommen war ihnen zu Muthe.

Nachdem sie eine feine Weile so trübseelig da gesessen hatten, begannen sie so leise als möglich auf den Fußspitzen nebeneinander in dem kleinen Zimmer umher zu schleichen, bis Babet sehr nachdenklich am Fenster stehen blieb, den zierlichen Finger an die hübsche Nase legte, und nach einer kleinen Pause mit fast heroischem Anstande ausrief: »richtig! der Schwarze!« so daß Agathe darüber, der [2] draussen herrschenden Dunkelheit vergessend, mit dem Köpfchen neugierig gegen das Fenster fuhr. Die Scheiben klirrten, Agathe klagte weinerlich: »Das war recht maliziös von dir!« und rieb sich die schmerzende Stirn. »Ich weis gar nicht was du darunter suchst,« setzte sie hinzu. »Und ich weis gar nicht was es dich angeht,« erwiederte Babet. »So? und hast du mir nicht gesagt?« eiferte Agathe. Babet meinte, das hätte sie eben nicht, und nun gieng der Zwist wieder los, gerade wie gestern Abend, da sich beide blos für die Langeweile recht tüchtig mit einander herumgestritten hatten.

Manch heisses Thränchen war schon von beiden Seiten geflossen, als Babet endlich heraus schluchzte: »es ist doch zu arg, daß man nun nicht einmal mehr überlegen darf, was man morgen in der Kirche für einen Huth aufsetzen will« »Was? Huth aufsetzen?« fragte, schnell sich erheiternd, Agathe, »liebste Babet! ich meinte wahrhaftig, du sähest draussen den Schwarzen, ach du weist ja, wen [3] wir so nennen; den hübschen Lieutenant meinte ich!«

Die unwiederstehlichste Lust zum Lachen hemmte jetzt aufs schnellste den Erguß der Thränen bei beiden Mädchen; vergebens tönte gleich einem nahenden Gewitter, das warnende Husten der alten französischen Mamsell aus dem Krankenzimmer zu ihnen herüber; sie waren nicht im Stande sich zu fassen. Das Lachen hörte nicht auf, selbst als die Mamsell ein sehr ernsthaftes: »fi donc, mes enfants!« zur halbgeöffneten Thüre hereinflüsterte; sie stopften sich zwar die kleinen Batisttücher in den niedlichen Mund, aber es half wenig. Endlich schmiegten sich alle beide in des Onkels großen Lehnstuhl hinein, und legten, noch immer kichernd, die Lockenköpfchen dicht aneinander.

Nach und nach war es jetzt im Zimmer beinah ganz dunkel geworden, denn man hatte vergessen ihnen Licht zu bringen; dazu orgelte der Wind im Kamin, und pfiff in schneidenden Tönen durch die langen Gänge des weitläuftigen Hauses, so daß den Mädchen, trotz dem Lachen, ein kleines Grauen [4] anwandelte. Sie mochten sich weder regen, noch einander los lassen, und fiengen daher lieber an von ihren Herzensangelegenheiten mit einander zu plaudern; denn dieses war so recht ein Stündchen dazu.

»Sage einmal,« flüsterte Agathe, »geht er denn in die Kirche, wenn du den schwarzen Huth aufsetzest?« »Ei bewahre!« antwortete Babet, »aber er wartet ja alle Sonntage mit den Andern an der Kirchthüre, um die Damen zu sehen, die hineingehen; mich grüßt er dann immer ganz absonderlich, den schwarzen Huth kennt er aber noch gar nicht an mir, weil der noch neu ist, und er kleidet mich doch am besten, wie du weißt.« »Ach Gott! nun habe ich den armen Theodor schon seit acht Tagen nicht gesehen!« setzte Babet mit einem recht kläglichen Seufzer hinzu, »wären nur die Ferien nicht so schnell vorüber! wie lange wird es währen, so muß er wieder nach Göttingen! Das alberne Studiren! Ach und nun ist Montag die neue große Oper und Dinstag Ball im Kassino! Was hilft es mir nun, daß ich zum ersten Walzer, zur zwoten [5] Quadrille und zum Kotillion mit ihm engagirt bin? Da haben sie nun alle mich so beneidet! und nun bin ich doch so unglücklich!«

»Ach ja! es ist eine rechte Noth,« seufzte Agathe, »und darum will ich mich auch niemals verlieben, all' mein Lebtage nicht.« »Ich dächte gar!« rief lachend Babet, »willst du eine alte Jungfer werden wie die Tante?« »Ach die adliche Tante, sprich nur nicht von der!« erwiederte Agathe ganz ärgerlich. »Ich wollte die säße wo der Pfeffer wächst, oder wo sie bis jezt gesessen hat. Der Onkel hätte auch nicht nöthig gehabt, sie Vicktorinen wegen zu verschreiben, die hätten wir wohl ohne ihre Hülfe gepflegt, und wäre auch wohl so gesund geworden. Ich kenne zwar die Tante noch gar nicht.« »Ich auch nicht,« fiel Babet ein, »aber sie ist mir doch auch eben so fatal als dir. Gieb nur Acht, wie die uns wird behofmeistern wollen, als wenn wir nicht schon mit der Mamsell Noth genug hätten. Und eigentlich ist sie nicht einmal unsere rechte Tante, denn unsere Mutter war doch die leibliche Schwester des Onkels Kleeborn, [6] sie aber ist nur die Schwester seiner seeligen Frau, und obendrein eine Nonne oder so etwas.«

»Stiftsdame ist sie,« fiel Agathe belehrend ein, »doch wir wollen schon sehen, wie wir mit ihr fertig werden,« fuhr sie fort, »laß uns jezt nur wieder auf den Schwarzen kommen. Siehst du, ich thue nur so, als ob ich Theil an ihm nähme, denn man muß in der Welt alles mitmachen, aber ich heurathe ihn nicht, wenn er auch um mich anhält, das kann ich dir auf Ehre versichern.« Hiermit lehnte sich Agathe sehr gravitätisch in den Lehnstuhl zurück, und that dabei so ernsthaft, daß Babet wieder laut auflachen mußte. »Kennst du ihn denn so gut?« fragte diese. »Bewahre!« war die Antwort, »ich meinte nur, wenn ich ihn kennte, und eigentlich kenne ich ihn doch. Du weißt, wie oft wir mit einander getanzt haben, und er ist auch schon zweimal hier nebenan bei Obristens zum Besuch gewesen, da habe ich jedes Wort gehört was er gesagt hat, und ich kann dich versichern, es war alles sehr vernünftig, du kannst es mir glauben.« »Warst du denn bei Obristens zum Besuch? Das [7] hast du mir ja noch gar nicht erzählt,« fragte Babet. »Ach nein,« antwortete Agathe, »ich hatte nur wegen des Geldbeutels, den ich dem Onkel zu Weihnachten häckeln will, mit Amelie nothwendig zu sprechen, und da stand ich ein wenig hinter der Thüre.« »Ja so!« erwiederte Babet bedächtig, »nun ich wollte, mein Theodor machte jezt nur auch bald ein Ende, und spräche mit dem Onkel. Eigentlich hat er auf Ostern ausstudirt, Pfingsten kann er sich examiniren lassen, dann wird er auf Johanni angestellt« – »und heurathet dich auf Michaeli, das geht ja alles Quartalweise bei dir,« fiel Babet lachend ein.

»Das Fräulein Tante kommt!« rief jezt ein vorübereilender Bediente ins Kabinet hinein, und beide Mädchen nahmen sich schnell zusammen, um der Gefürchteten entgegen zu gehen.


Sie fanden die Ankommende noch auf der, mit Marmor getäfelten Hausflur, von vorleuchtenden Bedienten umgeben, welche sie in die für sie bereiteten [8] Zim mer führen wollten. Es war eine hohe, schlanke, Ehrfurcht gebietende Gestalt, die in dem schwarzen, knapp anschließenden Reisekleide, mit dem schwarzen Spitzenschleier über dem dicht anliegenden, weissen Häubchen wirklich ein ziemlich nonnenartiges Ansehen hatte. Die edlen, etwas scharf gezeichneten Züge des blassen Gesichts trugen noch unverkennbare Spuren ehemaliger seltner Schönheit; die leicht beweglichen feinen Lippen des noch immer schönen Mundes bezeichneten, wie bei Andern das Auge, jede vorübergehende Empfindung mit einem ganz eigenthümlichen Ausdrucke. Die großen hellblauen Augen hingegen schienen auf den ersten Anblick beinahe farblos und unbedeutend, doch wenn sie, während die Tante sprach, sich belebten, so drang eine solche innere Lebensgluth aus ihnen hervor, daß man sie für ungewöhnlich schön anerkennen mußte. Es lag etwas Südlich-schwärmendes im Aufschlage dieser, noch immer von langen dunkeln Wimpern beschatteten Augen, das an jene herrlichen Darstellungen der[9] Mater dolorosa erinnerte, wie wir sie noch in alten Kirchen zuweilen sehen.

Uebrigens schien die Tante kaum funfzig Jahre zu zählen, obgleich sie fast zehn Jahre älter war. Die Hand der Zeit hatte die etwas stolze Haltung des hohen Wuchses nicht gebeugt, und das noch immer weiche blonde Haar zeigte nur fast unmerkbare Spuren von Reife des Alters. Die ganze Erscheinung dieser Dame stellte sich als eine jener begünstigten Ausnahmen dar, welche die Zeit zuweilen nur mit mildem schonenden Hauche zu berühren wagt, um ein seltenes Meisterwerk der Natur so spät als möglich verblühen zu lassen.

So hatten weder Agathe noch Babet sich die Tante gedacht. Sie begrüßten sie ängstlich verlegen, und zogen dann so ehrfurchtsvoll hinter ihr drein, um sie in ihre Zimmer zu begleiten, als wäre sie eine Königin. Obgleich Beide nur noch vor wenigen Minuten sehr vorlaut über sie abgesprochen hatten, so waren sie jetzt doch so befangen, daß sie nur verstohlen es wagten, den prüfenden Blick zu ihr und zu einem sehr jungen, sehr schönen und sehr [10] bleichen Mädchen zu erheben, das, sichtbar ermattet, auf ihren Arm sich stüzte.

»Der Onkel ist nicht zu Hause, wir wollen ihn aber gleich holen lassen,« stotterte Agathe. »Er ist im Kassino, wo er alle Abend sein Parthiechen macht und gewöhnlich erst nach Mitternacht zu Hause kommt,« setzte Babet, sich ermuthigend, hinzu. »Dort laßt ihn in Ruhe, ich bitte, ich werde morgen ihn sehen, sprach die Tante sehr freundlich, »für jezt wünsche ich nun Mamsell Virnot zu sprechen, um genau zu erfahren, wie es mit unsrer Vicktorine steht. Euch aber, liebe Nichten – denn das seid ihr doch, denke ich?« »Ach ja, Babet und Agathe,« riefen beide Mädchen im Chor. »Nun denn, liebe Babet und liebe Agathe, euch beiden empfehle ich hier meine Pflegetochter, sie heißt Angelika. Ich bitte euch nicht, sie zu lieben, denn das findet sich gewiß von selbst, nehmt euch nur fürs erste ihrer freundlich an, und helft dem armen, reisemüden Kinde zur Ruhe zu kommen.«


[11] Mitternacht war längst vorüber; Vicktorine lag leise athmend im tiefen Schlummer, von dem der noch spät sie besuchende Arzt die heilsamsten Folgen gehofft hatte. Auch Agathe und Babet waren schon vor ein paar Stunden zu Bette geschickt worden, denn die Tante, welche sich von der heutigen sehr kurzen Tagereise gar nicht ermüdet fühlte, hatte darauf bestanden, an ihrer Stelle bei der Kranken zu wachen. Die Jugend, sprach sie zu ihrer alten Freundin Virnot, indem sie für die beiden schläfrigen Kinder vorbat, die Jugend bedarf zum Gedeihen des Schlafes, wie die erblühende Pflanze den erquickenden Thau. Anders ist es mit uns, deren Lebenstag sich schon dem Untergange zuneigt, da wird die Natur selbst genügsamer, und lehrt uns, mit den Stunden haushalten, die uns vielleicht nur noch sehr sparsam zugezählt sind.

So saß sie denn jezt in dem, an das Krankenzimmer stoßenden Kabinette, in dem nehmlichen Lehnstuhle, in welchem vor ein paar Stunden Babet und Agathe einander ihren Liebeskummer geklagt hatten, und ihr gegenüber, die beim Schein der [12] verdüsterten Lampe emsig strickende Französin. Die Thüre des Nebenzimmers stand offen, keine Bewegung der Kranken konnte ihren Wächterinnen entgehen, doch sie schlief fest und ruhig.

»Gute Virnot,« hob die Tante das leise flüsternde Gespräch an, »liebe alte treue Freundin, ich muß diese ersten Augenblicke ungestörten Beisammenseyns benutzen, um Ihnen für die unsägliche Liebe zu danken, mit der Sie meiner armen Vicktorine sich annehmen.«

»Ach das liebe Kind!« erwiederte freudig die Französin, »es ist ja, als wäre es das meine. Je l'ai vu naître; diese Arme haben sie von ihrer Kindheit an getragen; wie sollte ich sie nicht lieben? c'est un coeur excellent, ein wenig heftig, ein wenig hochfahrend zuweilen, doch das macht die Jugend; der Grund ist vortrefflich, c'est le vrai portrait de feu Madame sa mère. Wenn ich dagegen Babet und Agathe mit ihr vergleiche! ach Ihro Hochwürden! ces chers Enfants sind ein paar maliziöse kleine Kreaturen.«

[13] »Nicht doch, gute Virnot,« fiel die Tante lächelnd ein, »unartig mögen sie wohl zuweilen seyn, das gebe ich zu, aber nicht boshaft, denn die Jugend ist dies selten oder nie. Doch lassen Sie uns jezt lieber von unsrer Vicktorine sprechen. Es sind nun zwölf Jahre, daß ich weder sie noch ihren Vater gesehen habe, und ich stehe da mitten unter den Meinen, gleich einer Fremden. Dennoch hängt jezt mein ganzes Herz an dem theuern Ebenbilde meiner früh zur Ruhe gegangenen Schwester, das ich als sechsjähriges Kind verlassen habe, und jezt als achtzehnjährige Jungfrau wieder finde.«

»Und wie sie sich entwickelt hat, cette chère petite Victorine, rief die Guvernante. Belle comme le jour, Madame, je vous assure. In gesunden Tagen war keine von unsern jungen Demoiselles ihr zu vergleichen, sie war die Krone von allen, und jezt, hélas

»Sie wird es wieder, gute Virnot,« tröstete die Tante; doch diese seufzte, »ah Madame! ich fürchte, der Arzt wird für unsre Vicktorine nur wenig thun können, denn was sie heilen soll, ist in keiner Apotheke [14] zu finden. Hätte sie mir nur vertraut, aber da hat sie geschwiegen und geweint, und geweint und geschwiegen, und nun liegt sie da.«

»Liebe Virnot, wie Sie mich erschrecken!« rief die Tante, »ich beschwöre Sie, sagen Sie mir alles, was Sie von dem geliebten Kinde wissen oder vermuthen, es sei noch so wenig, noch so unbestimmt. Es ist durchaus nothwendig, daß ich einigermaßen vorbereitet sei, ehe ich es versuche, Vicktorinens Vertrauen mir zu gewinnen. Ich hoffe, sie wird zu mir ein Herz fassen, sie wird mich um ihrer Mutter willen lieben, obgleich sie mich nur aus den Briefen kennt, die wir bisher, selten genug, mit einander gewechselt haben. Leider war ich stets mit Vicktorinens Umgebungen zu wenig bekannt, um auf das Gemüth meiner Nichte entscheidend wirken zu können. Nur Sie kenne ich in diesem Hause, liebe Virnot, und die Treue, welche Sie so viele Jahre hindurch meiner Schwester und ihrem Kinde bewiesen, alle andern sind mir fremd, sogar Vicktorinens Vater; wir sind in geistiger Hinsicht einander nie näher gekommen. Liebe zu dem einzigen Kinde meiner [15] Schwester konnte allein mich bewegen, seinen dringenden Bitten nachzugeben und die geliebte Einsamkeit meines Stiftes mit dem Leben in dieser geräuschvollen Stadt auf einige Zeit zu vertauschen.«

»Et Dieu en soit loué mille fois,« rief die ehrliche Virnot; »denn dieses haus bedarf jezt mehr als je an seiner Spitze einer Dame, wie Ihro Hochwürden Gnaden sind, und unsre junge Demoiselle einer Leitung, wie Sie allein ihr gewähren können. Ich war ja von jeher nur ihre Bonne. Zwar obgleich ich nicht in Frankreich selbst, sondern nur in der französischen Kolonie zu Berlin geboren bin, französisch hat sie dennoch von mir gelernt. Madame, elle parle comme une petite parisienne, sie hat so ganz den ächten Accent in ihrer Gewalt, eh bien, das sind Gaben von Gott. Dabei hat sie ein gewisses maintien, gewisse Manieren, wie eine kleine Prinzessin. Das alles ist aber doch nicht genug, maintenant qu'elle est une grande Demoiselle, kann ich das liebe Kind doch nicht mehr überall hinbegleiten, überdem liegt die ganze Haushaltung auf mir, [16] und so ist es allerdings ein großes Glück, daß Ihro Hochwürden Gnaden sich der Noth annehmen wollen.«

»Lassen Sie mich vor allen Dingen Sie bitten, liebe Virnot, mich mit dem Titel zu verschonen, den ich außerhalb meines Stiftes, und besonders hier, übel angebracht finde; und nun machen Sie mich mit der Noth bekannt, welcher abzuhelfen, hier meine einzige Sorge sein soll;« sprach die Tante.

»Eh bien donc, Madame, vous le voulez,« erwiederte die Französin, nahm die Brille ab, legte ihr Strickzeug zusammen, und rückte im Sessel sich zurecht, dann fuhr sie folgendermaßen fort. »Au fond, glaube ich, liegt die Schuld wohl größtentheils amcher Papa. Herr Kleeborn ist zwar ein sehr braver Mann, der sein Kind liebt, wie ein rechtlicher Vater soll und muß. Er läßt es Vicktorinen an nichts fehlen, er hält ihr die theuersten maitres, in allem, was eine solche junge Demoiselle zu lernen hat, sein Haus ist das brillianteste in der Stadt. Ach Ihro Gnaden können gar nicht glauben, wie ich mich tummeln muß, bei den ewigen Feten, die wir geben; denn obgleich wir Bedienten die [17] Menge haben, liegt doch alles auf der alten Virnot, mais je le fais de bon coeur. Ja, was ich sagen wollte, um wieder auf unsern Text zu kommen, ja, und eine Garderobe hat unsre jeune Demoiselle, comme une petite Reine, je vous assure, Schmuck und alles, was dazu gehört.«

»Nun das alles will indessen nicht viel sagen, Herr Kleeborn besizt ein fürstliches Vermögen, Alle an der Börse ziehen den Huth vor ihm ab, und so kann er den Aufwand wohl ertragen. Mais, Madame, entre nous soit dit, das ist nicht immer so gewesen. Es kam einmal eine Zeit, nicht lange vor dem Ableben unsrer seligen Dame, es mögen zehn Jahre und drüber sein, das war eine sehr böse Zeit, in der die Stützen von Europa wankten, wie Herr Kleeborn zu sagen pflegt, wenn jetzt die Rede darauf kommt. Ein eigener Unglücksstern muß damals über der Handelswelt aufgegangen sein, denn, figurez vous, Madame, in Amsterdam, in London, überall in den bedeutendsten Handelsstädten fielen die größten Häuser. Ueberall herrschte Mistrauen, plus de confiance, plus de crédit, [18] nulle part. Jeder Tag brachte neue Hiobsposten, und Herr Kleeborn ward immer so bleich, wie hier mein Tuch, ehe er die Briefe, welche an ihn einliefen, im Zimmer von Madame erbrach; denn da trug er sie damals immer hin, weil er sich nicht mehr getraute, sie im Komtoir im Beisein seiner Leute zu eröffnen. Wahrscheinlich fürchtete er, sich zur Unzeit zu verrathen, wenn etwa böse Nachrichten kämen. Nun die blieben denn auch nicht aus, und Herr Kleeborn sah sich au bord d'un précipice, wie man zu sagen pflegt. Er war zwar nicht ruinirt, aber er gerieth doch, pour le moment, in sehr dringende Verlegenheit, und nur baares Geld konnte ihn retten, wenn er nicht, wie damals so viele andere, seine Zahlungen suspendiren wollte. Le pauvre homme! Der bloße Gedanke an einen solchen Schritt sezte ihn in Verzweiflung. Meine arme Dame hat in jenen Tagen recht viel mit ihm ausgestanden, denn nur ihr allein vertraute er alles. Ah! comme elle en a pleuré

»Meine arme Schwester! mir hat sie das alles verschwiegen!« seufzte die Tante. »Das glaube ich,« [19] erwiederte die Bonne, »denn sie klagte nie; aber sie hat seitdem wenig frohe Stunden mehr gehabt. Um den Herrn zu trösten, bat sie ihn mit Thränen, sich an ihre reiche Verwandte zu wenden, die sollten ihm helfen. Sie schrieb selbst an den Herrn Grosonkel, der die weitläuftigen Herrschaften in Schlesien besitzt. Auch an alle andere begüterte Mitglieder der Hochadeligen Familie wandten sich beide in dieser Noth, Herr Kleeborn sowohl als Madame; Namen und Reichthümer der hohen Herrschaften sind Ihro Gnaden gewis besser bekannt als mir, mais – hier stockte die gutmüthige Erzählerin, als scheue sie sich weiter zu sprechen, doch ihre Zuhörerin lies nicht ab mit Bitten, bis sie sich entschloß weiter fortzufahren.

»Enfin, Madame, vous le voulez ainsi,« fieng sie abermals an, »und so muß ich denn leider bekennen, daß eine abschlägige Antwort der andern folgte, und waren sie auch nicht alle mit dem feinsten ménagement abgefaßt. Den Zustand meiner beklagenswerthen Dame unter diesen Umständen, mag ich Ihro Gnaden nicht beschreiben, die Verzweiflung [20] ihres Gemals blieb indessen immer ihr größter Kummer, an sich dachte sie wenig. Leider aber verschonte sie auch Herr Kleeborn nicht mit Vorwürfen über das Benehmen ihrer Verwandten, et cependant, Dieu le sait, la pauvre chère femme n'en pouvait rien! Sie trug alles mit der größten Freundlichkeit, aber ich denke immer, jeder Tag in jener Zeit war ein Nagel zu ihrem Sarg.«

Die gute Alte brach bei diesen Worten in Thränen aus, auch ihre Zuhörerin weinte, endlich nahm die Bonne wieder das Wort. »Ah, Madame,« seufzte sie, »nous avons bien souffert. Endlich kam Hülfe, wo es der Herr am wenigsten erwartet hätte; ein reiches Amsterdammer Haus, welches schon mit seinem Vater in grossen Verbindungen gestanden hatte, an das er sich aber nicht hatte wenden mögen, weil es ebenfalls bei allen diesen Schlägen nicht verschont geblieben war, schickte Herrn Kleeborn aus eignem Antriebe grosse Summen ein, gab ihm offnen Kredit, zu einer Zeit da der Bruder dem Bruder nicht mehr vertrauen durfte. Herr Kleeborn war nun durch den Edelmuth [21] seiner Handelsfreunde gerettet, er blieb ein wohlbehaltner Mann, und gieng wie ein König, mit erhobnem Haupte an der Börse einher, doch meine arme Dame litt darum nicht weniger, denn er warf von diesem Augenblick an einen gewaltigen Haß, nicht nur auf ihre Familie, sondern auf die ganze Noblesse. Er sprach unablässig davon, wie thöricht die Bürgerlichen wären, die sich mit Adelichen verbänden, und versicherte, daß er seine Vicktorine – lieber Gott, la pauvre petite war damals kaum sieben Jahre alt! – daß er sie, sage ich, nie einem andern als einem Kaufmann geben würde. »Der wahre Kaufmann,« pflegte er zu sagen, »hat den achtungswerthesten, nützlichsten und darum ehrenvollsten Stand erwählt. Er allein verbindet beide Hemisphären, sein scharfer Blick entdeckt jeden Mangel in den entferntesten Ländern, und auf seinen Wink eilen reichbeladene Schiffe von einem Pole zum andern, um diesem Bedürfnis abzuhelfen. Sein Wort, sein Befehl gelten in der neuen Welt wie in der alten, und ein Federzug von ihm sezt hundert Meilen von ihm Millionen Goldes [22] und tausend fleissige Hände in Bewegung.« Ne vous étonnez pas, Madame, daß ich dies alles Ihnen so hersagen kann, ich habe die ganze Tirade so viel Hundertmal, fast immer in den nehmlichen Worten wiederholen gehört, daß ich sie endlich wohl auswendig behalten mußte. Am Ende dieser Rede sezte Herr Kleeborn gewöhnlich hinzu, »lassen Sie einmal einen Reichsgrafen, einen Freiherrn, oder welchen Ihrer edlen Verwandten Sie wollen, es versuchen, Madame, was im Auslande mehr gilt, Ihr uralter, Name, Ihr tausendjähriger Stammbaum, oder meine simple keine funfzig Jahre alte Firma, Martin Nikolaus Kleeborn, von meiner eignen Hand geschrieben. Kaiser und Könige nehmen zu uns ihre Zuflucht, wir müssen allen helfen, aber wenn wir Hülfe brauchen, und sie thörichter Weise bei andern als bei unsers gleichen suchen....« Damit ging denn das alte Lied wieder los, et Madame pleurait! Freilich kam es mir vor, als ob der Herr in der Hauptsache nicht ganz Unrecht haben mochte, aber wozu diese ewigen kränkenden Répétitions gegen meine unschuldige Dame?Aussi [23] en avait elle le coeur navré, obgleich sie nie litt, daß ich nur ein Wort darüber sprach. Sie ward endlich dabei des Lebens immer müder und müder, bis sie nach etwa sechs Monaten sich hinlegte und entschlief. Dieu aye pitié de son ame

»Eh bien,« nahm nach kurzer Pause mit, vor innerer Rührung noch bebender Stimme, die Bonne wieder das Wort, »eh bien, nun war es an dem Herrn zu weinen, und das hat er denn auch redlich gethan, denn er liebte meine seelige Dame demohnerachtet. Sein Gewissen mochte ihm anfangs wohl manch böses Stündlein machen, wenn er der lezten Zeit gedachte die sie mit ihm verlebt hatte. Doch im Gewühle der Geschäfte gieng das bald vorüber. Einige glückliche Handelsconjuncturen traten bald darauf ein; so nennen sie es nehmlich an der Börse, wenn sie mit ihren Spekulationen viel Geld verdienen. Herr Kleeborn ward mit jedem Jahre immer reicher und reicher, und zulezt der Millionär der er jezt ist. Wärend Herr Kleeborn sein Hauswesen immer prächtiger einrichtete, wuchs ebenfalls unsre Vicktorine, seine einzige Erbin, zur [24] schönsten Demoiselle in der Stadt heran. Da gab es bei uns Bälle, Concerts, Assemblées, Théatres de Société; alle angesehenen Fremde, von jedem Range und Stande, sans distinction, fanden dabei Zutritt, et notre chère petite Victorine war wie eine kleine Königin, au beau milieu de tout cela

»Armes Kind!« seufzte die Tante. »Ja wohl! stimmte die Bonne mit ein, so ganz allein, dans ce tourbillon, ohne eine chère Maman sie zu souteniren! Indessen muß ich ihr zum Ruhm nachsagen, daß tausend andre junge Demoiselles sich an ihrem Plätz ganz anders benommen haben würden; da ist Mademoiselle Babet par exemple, mais passons là-dessus. Unsre Vicktorine war immer artig und freundlich gegen jedermann, immer sans prétentions. Die Freier blieben denn auch nicht lange aus; manche mochten wohl les beaux yeux de la Cassette de son père mit in Anschlag bringen, enfin, das ist so der Welt Lauf. Genug Grafen und Barone haben sich um unsre petite Demoiselle beworben, man spricht sogar von einem nahen Verwandten der apanagirten Linie eines [25] regierenden fürstlichen Hauses, mais cela reste entre nous

»Daß Herr Kleeborn an dem Succès seiner schönen Tochter ungemeine Freude hatte, war wohl ganz natürlich, indessen wies er doch alle die vornehmen Parthien, die sich ihr darboten, zwar sehr höflich, aber doch auch zugleich sehr bestimmt zurück.«

»Er blieb dabei, ihre Hand nur einem Kaufmanne, wie er selbst einer ist, geben zu wollen, und jezt Ihro Gnaden, nous voilà arrivé au point, jezt sind wir an dem Punkte, will ich sagen – »wie denn?« fragte ein wenig ungeduldig die Tante, »an welchem Punkte?« – »Nun an dem Punkte,« war die Antwort, »von welchem, wie ich glaube die Krankheit Vicktorinens ausgeht. Und gebe Gott, daß ich irre, daß meine Ahnung nicht in Erfüllung gehe, mais j'ai un pressentiment bien triste au fond du coeur. Ich fürchte, sie fühlt eine unglückliche Passion für einen der großen vornehmen Herrn, die sich vergeblich um ihre Hand bewarben. Und wenn der cher papa so fortfährt wie er angefangen hat, so kann sie wie ihre pauvre [26] chère maman ...« »Fassen Sie Muth, gute Virnot, fiel die Tante ein, »fürchten Sie nicht gleich das Aergste; ein junges Herz bricht nicht so leicht, weil es immer und gern an der Hofnung hält, und die läßt uns so nicht untergehen. Sagen Sie mir nur vor allen Dingen, kennen Sie den Mann, von dem Sie glauben könnten« – »Hélas non! ich kenne niemand,« seufzte die Bonne. »Wenn Société da ist,« fuhr sie nach einem kleinen Bedenken mit ihrer gewohnten Redseeligkeit fort, »so komme ich nie in den Salon, da habe ich im Hause genug zu thun, c'est la mer à boire. Wahrhaftig, Ihro Gnaden, es thäte Noth, daß ich hundert Augen hätte und Flügel dazu. Ich glaube es wohl, liebe Virnot,« erwiederte die Tante, »doch sprechen wir von Vicktorinen.«

Ah Madame,« fieng die Bonne wieder an, »que voulez vous, que je vous en dise? Ich weis nichts weiter, als daß der Papa vor einiger Zeit sie in sein Kabinet rufen ließ. Das wunderte mich eben nicht, denn es ist so seine Gewohnheit, wenn er einen neuen Freyer abgewiesen hat, damit [27] Vicktorine doch wisse, wie sie in Zukunft ihr Benehmen gegen den Monsieur en question einrichten soll. Sie blieben wohl eine Stunde bei einander, das war noch nie geschehen. Endlich kam sie zurück in ihr Zimmer, mais grand Dieu! dans quel état! Bleich wie eine Sterbende, sag' ich Ihnen, hélas! sie sah in dem Augenblick ihrerpauvre maman so ähnlich! Sie schlang ihre beiden lieben schönen Arme um meinen alten Nacken, und weinte so kläglich, wie noch nie seit dem Tode ihrer Mutter. Ich weinte mit, ich wußte zwar nicht, worüber? aber wie konnte ich anders? la pauvre petite me perçoit le coeur. Ich versuchte endlich ihr zuzureden, so gut ich es konnte in meiner Unwissenheit von dem, was zwischen ihr und ihrem Vater vorgegangen war, mais, du lieber Gott, was konnte das helfen? Sie hörte nicht einmal auf mich. Dabei war sie so heftig, ihre Augen blitzten so wild, ihre Bewegungen waren so égarés, ich vergieng bald vor Angst, und wußte nicht, quoi faire. Bald weinte sie, bald stieß sie Klagen und Reden aus, die ich zwar nicht verstand, die ich [28] aber doch nicht anders auslegen kann, que comme j'ai eu l'honneur de le dire à Madame. Das währte einige Zeit, sie wankte gleich einem Schatten umher, schrieb viel, weinte noch mehr, bis ein heftiges Fieber ihr Kraft und Besinnung raubte. Seitdem liegt sie da,comme Madame l'a trouvée

»Heute war ein entscheidender Tag, und der Arzt zufrieden; le bon Dieu en soit béni mille fois. Ich denke, die Gegenwart der chère Tante wird das beste Cordial für die arme Kranke sein. Wenn sie nur reden wollte! Reden bleibt doch immer der beste Trost!«

Unerachtet der großen Theilnahme, mit welcher die Tante der guten alten sprachseeligen Französin zugehört hatte, konnte sie dennoch bei dieser ihrer lezten Bemerkung ein leichtes Lächeln kaum unterdrücken. Indessen brach der Tag an, die Tante gieng um auszuruhen, und Vicktorine erwachte bald darauf mit allen Anzeigen einer nahen Genesung.


[29] Von nun an verlies die Tante Vicktorinen so wenig als möglich. Denn obgleich der Arzt diese für völlig ausser aller Gefahr erklärt hatte, so bedurfte die arme Kranke jezt dennoch einer weit aufmerksamern Pflege als damals, wo sie in dumpfer Bewußtlosigkeit am Scheidewege zwischen Tod und Leben dalag. Nach der Versicherung des Arztes konnte jede, selbst die freudigste Gemüthsbewegung ihr einen, wahrscheinlich tödtlichen Rückfall zuziehen; daher war es der Tante angelegentlichste Sorge, die ununterbrochendste Ruhe in ihrer Nähe zu erhalten und sogar jedes einigermassen interessante, oder auch nur anhaltende Gespräch mit ihr zu vermeiden.

Auch Angelika umschwebte fast unhörbar, gleich einem freundlichen Schutzgeist, das Lager der Kranken, und ohne dabei jemals durch sich übereilende polternde Hast lästig zu werden, suchte sie jeden Wunsch in ihren Augen zu lesen, um ihn gelassen und zuvorkommend zu erfüllen, ehe er noch ausgesprochen ward. Lieben und athmen waren gleichbedeutend für dieses, nur zu zart besaitete [30] Wesen, aus dessen tiefster Brust jeder Ton des Schmerzes einen wehmüthig verhallenden Nachklang hervor rief, und der Name Angelika hätte für sie erfunden werden müssen, wenn er nicht schon da gewesen wäre, so genau stimmte er zu ihrem Aeussern wie zu ihrem Innern.

Von ihrer frühsten Kindheit an hatte der armen Angelika die Freude fast nie anders als in fremden Augen gelächelt. An ihrer Wiege wachte nicht mütterliche Liebe, denn ihr Eintritt in das Leben gab der Mutter den Tod und vereinigte diese wieder mit dem geliebten, ihr einige Wochen früher vorangegangenen Gatten. Die erste Sorge für das ganz verwaiste Kind fiel also bezahlten Aufsehern zu. Denn Angelika ward, weit entfernt von allen ihren Verwandten, in einer kleinen Stadt, in der Nähe des Rheins geboren, wo ihre Eltern sich erst wenige Monate vorher niedergelassen hatten. Niemand beinahe hatte diese dort anders als dem Namen nach gekannt, selbst der Vormund des armen Kindes wußte wenig von ihnen, und nur der allgemeine Ruf, der diesem [31] braven Manne das Zeugniß strenger Rechtlichkeit gab, hatte Angelikas sterbende Mutter bewogen, ihr ganz verlassnes Neugebohrnes seinem Schutz zu empfehlen. Mit dem besten Willen von der Welt wußte er indessen für sein armes Mündel nichts besseres zu thun, als es für ein geringes Kostgeld der Pflege einer, ihm als redlich bekannten Frau zu übergeben, und indessen den nicht sehr bedeutenden Nachlaß der Eltern Angelikas so vortheilhaft als möglich für sie zu verwalten.

Angelika erreichte ihr achtes Jahr, ohne daß es ihr bei der Frau, der sie anvertraut war, besonders wohl oder übel ergangen wäre, und nun beschloß ihr Vormund, sie nach Frankreich in eine Erziehungsanstalt zu bringen. Denn er fühlte eine unendliche Vorliebe für dieses Land, in welchem er seine eigene Jugend verlebt hatte, und war fest überzeugt, daß ein mittelloses Fräulein wie Angelika sich nur dort die nöthigen Talente erwerben könne, um einst als Guvernante fürstlicher Kinder, oder als Gesellschafterin einer Dame von hohem Stande ihr Fortkommen in der Welt zu finden.

[32] Die weltberühmten Erziehungsanstalten in und um Paris waren freilich für die sehr beschränkten Vermögensumstände Angelikas viel zu kostbar, doch ein in Angouleme wohnender Jugendfreund ihres Vormundes empfahl diesem ein in jener Stadt bestehendes Institut dieser Art nicht nur als sehr wohlfeil, sondern auch als ganz vorzüglich. Der Vormund freute sich hier einen so vortreflichen Ausweg für sein Mündel gefunden zu haben, und entschloß sich um so eher, es dorthin zu schicken, da sich zufälliger Weise eine vorzüglich gute Gelegenheit ihm darbot, die Kleine in sicherer Begleitung hinzuschaffen.

So mußte denn die arme Waise fern vom Vaterlande, in einer der abschreckend schmuzigsten, traurigsten Städte des südlichen Frankreichs den schönen, nie wiederkehrenden Frühling ihres Lebens unter Menschen verleben, denen sie fremd blieb, selbst nachdem sie es gelernt hatte, deren Sprache zu verstehen. In dem Hause, dem sie anvertraut wurde, war alles klösterlicher Zwang, sogar das Vergnügen. Ueber eine ziemlich bedeutende Anzahl [33] aus allen Ecken der Welt, sogar aus Amerika dort zusammengekommner junger Mädchen, herrschten drei bis vier Unterguvernantinnen, gleich strengen Zuchtmeisterinnen, und diese selbst standen wiederum unter dem gewaltigen Scepter einer Vorgesezten, die sich fast wie eine Gottheit von ihren Untergebenen sclavisch verehren lies. Die Zöglinge waren mehrentheils alle durch Alter, Vaterland, Sprache, Talent und Gemüthsart wesentlich von einander verschieden, und wurden dennoch vollkommen gleich behandelt; alle waren strengen, ängstlichen Formen unterworfen, die einzig erdacht zu sein schienen, jede frohe Regung eines jugendlichen Gemüths zu ersticken.

Die arme Angelika glich hier vollkommen dem Epheu, der, in einen engen Scherben verpflanzt, mühseelig fortvegetirt, und vergebens die schlanken Zweige nach allen Seiten hinstreckt, um einen Gegenstand zu finden, den er liebend umfassen könnte. Ein einziges, ihr namenlos bleibendes Gefühl unendlicher Sehnsucht bemächtigte sich ihres ganzen Wesens, aber sie fand nicht einmal eine Seele, die [34] es der Mühe werth gehalten hätte, sich von ihr lieben zu lassen. Sie hatte Jugendgenossen, aber keine Jugendfreundin, und überhaupt niemanden in der weiten Welt, zu dem sie hätte sagen können: Dir gehöre ich an; oder der auch nur theilnehmend sich ihr zugeneigt hätte.

Die Zeit vergeht indessen dem Glücklichen wie dem Unglücklichen, und so flog sie denn auch an Angelika vorüber, und nahm deren freudenarme Kindheit mit sich fort. Wie auf einsamer Alpe die, im nakten Felsen dürftig wurzelnde Pflanze oft schöner ihr Haupt erhebt, als ihre im Garten sorgsam gepflegte, glücklichere Schwester, so wuchs auch die Verlassne unter Entbehrungen aller Art und Uebung sehr herber Pflichten, mit ihrem vereinsamten Herzen, nicht minder schön zur Jungfrau heran als eine Glückliche. Sie hatte das Wort Liebe nie anders als im religiösen Sinn gehört, nie einen Roman gesehen, viel weniger gelesen; sie war nie im Theater gewesen, sah keinen Mann ausser den Lehrern in ihrem Institut, und diese waren alle in ihrem mühseeligen Berufe grau geworden, [35] dankten Gott, wenn die Stunde schlug, die ihnen das Ende ihres peinlichen Tagewerks verkündete. Und dennoch schwebte vor dem innern Sinne der armen Angelika ein namenloses Ideal, das ihre stille Fantasie mit den herrlichsten Eigenschaften zu schmücken wußte. Es verschönte, im Wachen wie im Schlummer ihren Traum, es lieh der ihr ganz unbekannten Welt einen zauberischen Glanz und lehrte dem einsamen Mädchen mitten im Zwange seiner verarmten Jugend, alles Entzücken der ungemessensten Aufopferung, der zartesten Anhänglichkeit, ja die ganze unendliche Seeligkeit zweier, Liebe um Liebe hingebender Wesen vorahnend empfinden.

Als Angelika ihr sechzehntes Jahr erreicht hatte, entschloß sich ihr Vormund, sie selbst aus Angouleme abzuholen, um sie nach dem nördlichen Deutschland, in das Haus eines nahen Verwandten ihres verstorbenen Vaters zu geleiten, der es endlich für gut gefunden hatte, der Existenz seiner Nichte sich zu erinnern. In der Familie desselben sollte sie denn noch ein Jahr lang verweilen, um deutsche [36] Sprache und Sitte zu lernen, ehe sie eine Hofdamenstelle bei einer einsam lebenden verwittweten Fürstin anträte, zu welcher ihre Verwandten ihr indessen die Anwartschaft zu verschaffen bemüht gewesen waren. Angelika zitterte vor banger Freude als sie das Haus betrat, in welchem sie zum erstenmal in ihrem Leben Personen finden sollte, die ihren Namen trugen, und an deren Theilnahme sie Anspruch zu haben glaubte. Sie war so fest entschlossen, sie innigst zu lieben; doch auch hier kam gleich beim Empfange ihrem, von heisser Sehnsucht erfüllten Gemüthe, die kälteste Berechnung steifer Förmlichkeiten entgegen, so daß sie davor zusammenschrack, wie die Sensitive wenn der kalte Hauch des Nordwindes über sie hinfährt.

Angelika empfand gleich in der ersten Stunde, wel che sie unter ihren Verwandten verlebte, daß sie durch Sprache und Anstand, sogar durch ihre Kleidung ihnen höchstens ein Gegenstand der Duldung, doch nie der Liebe werden könne. Sie stand mitten unter ihnen wie eine Fremde, denn sie schien durch diese Aeusserlichkeiten einem Volke anzugehören, gegen[37] dessen, alles zertretenden Uebermuth gerade in jenem Momente sich jedes deutsche Herz empörte, jeder waffenfähige Arm sich erhob.

Indessen war Angelika trotz dem äussern Scheine, den man ihr ohne ihr Zuthun aufgedrungen hatte, dennoch sehr weit davon entfernt, Frankreich zu lieben, von dem sie nichts weiter kannte, als die alte düstre Stadt, und in dieser das Haus, wo sie ihre erste Jugendzeit in trübseeliger Beschränktheit hingeschmachtet hatte. Denn alles übrige war ihr sogar bis auf den Namen davon fremd geblieben.

Sie hatte immer mit heisser Sehnsucht, diesem Grundtone ihres Daseins, an ihrem Vaterlande festgehalten, dessen Bild ihr noch aus ihren Kinderjahren vorschwebte, verherrlicht durch jenen Zauberglanz, mit welchem Entfernung und Entbehren jeden Gegenstand schmücken.

Sie war sogar heimlich bemüht gewesen, ihre Muttersprache nicht ganz zu vergessen, und hatte, gleich einem werthen Heiligthume, ein paar kleine Kinderbüchelchen sorgfältig aufbewahrt, die sie aus ihrer Geburtsstadt mit sich nach Frankreich gebracht. [38] So lange sie in dem Erziehungsinstitute war, las sie in mancher einsamen Viertelstunde sich selbst aus diesen Büchern laut vor, um nur die süssen vaterländischen Töne zu hören, und sezte dieses sogar dann noch fort, als der Inhalt ihrer ärmlichen Bibliothek ihrem höher entwickelten Geiste schon längst nicht mehr zusagen konnte.

So vorbereitet war es ihr nicht schwer, ihrer Muttersprache bald wieder ganz mächtig zu werden. Das ihr bis jezt unbekannte Familienleben im Hause ihrer Verwandten, die herzlichere Sitte ihres Volkes, der Genuß der Natur in einer schönen Gegend, den sie seit ihrer ersten Kindheit entbehren mußte, alles dieses vereint, machte ihr Vaterland ihr unendlich theuer, aber sie mußte es auch lieben wie sie es liebte, um mit ihrem sanften weichen Gemüthe das Gefühl des Nazionalhasses zu ertragen, welches damals, unzertrennlich von der Vaterlandsliebe, neben dieser herzog, und sich in allen ihren Umgebungen auf das deutlichste aussprach.

Angelikas Rückkehr ins Vaterland fiel in jene unvergesliche Zeit, in der ein neu erwachter Heldengeist[39] jede deutsche Brust beseelte. Ein frischer Jugendhauch wehte durch die neu belebte Welt, die so lange unter dem Druck eines Einzigen geseufzet hatte; jedes Herz klopfte in frommer Hoffnung und von allen Seiten eilte Deutschlands streitbare Jugend herbei, und fand bei der gastlichsten Aufnahme in jedem Hause die eben verlassne Heimath wieder.

Auf diese Weise kam auch Ferdinand von Klarenau in das Haus des Barons Sternwald, – so hies Angelikas Oheim, bei welchem diese jezt lebte, – und in dem einzigen Wesen, das ihr jemals beim ersten Anblicke liebend und vertrauend entgegengetreten war, glaubte das sehnsuchtsvolle Gemüth des so lange vereinsamten Mädchens jezt das Urbild ihres Jugendideals gefunden zu haben. Alles zeigte sich ihr von nun an in verschönerndem Lichte, und die Welt erblühte ihr in nie gesehener Pracht an Ferdinands Hand, denn er war Jüngling, Dichter, und Krieger für Vaterland und Recht. Der freudige Enthusiasmus, der ihn beseelte, theilte auch ihr sich mit; ihr Leben schien ihr jezt erst zu beginnen, und jeder ihrer Athemzüge war ein stilles [40] Dankgebet für die unendliche Seeligkeit, welche ihr, der Freude ungewohntes Herz kaum zu tragen vermochte.

Da auch die äussern Verhältnisse die Liebenden begünstigten, so schied Ferdinand aus der geliebten Nähe seiner Angelika als ihr, von ihren Verwandten anerkannter, verlobter Bräutigam. Bei seiner Zurückkunft aus dem Felde sollte ihre Hand den Lohn der Tapferkeit ihm reichen, und die hohe, schöne Siegeshoffnung, die aus seinen Augen ihr entgegen stralte, erhob auch sie über den Schmerz der Scheidestunde, und führte diese linde und leise an Beiden vorüber. Ferdinand gieng nun für die Geliebte zu streiten, Angelika blieb, um für ihn zu beten.

Als er gieng, kam kein Gedanke daran in das Herz der Armen, daß er gegangen sein könne, um nie wiederzukehren, und doch war es so. Er hatte den Lützowschen Jägern sich zugesellt, und fand mit diesen seinen tapfern Gesellen im schändlichsten Verrathe den Untergang. Wie er geendet hatte? wußte keiner genau zu berichten; aber er war verschwunden, [41] spurlos, rettungslos, wie so Viele, die mit ihm kämpften und fielen.

Gleich einer verstummten Nachtigall, wenn der Frühling dahin ist, so klagelos, so einsam blieb Angelika zurück. Ihr ganzes Dasein war von nun an nur ein leises Ach; sie gieng ganz still umher, sie war unendlich freundlich gegen Alle, sie athmete wie sonst, doch jeder Schlag ihres Herzens war ein nie endendes Sterben. Oft dünkte ihr, als müsse sie gegen einen bangen Traum ankämpfen, dann bat sie Gott mit Thränen: er möge sie erwachen lassen; denn sie konnte an die Wahrheit ihres Elends nicht glauben, bis das heftiger wiederkehrende Weh im Innersten ihrer Brust, sie von neuem fühlen ließ, daß es dennoch so sei, wie es war.

Ihre im Grunde gutmüthigen Verwandten thaten zwar nach ihrer Art alles, was sie vermochten um die Arme zu trösten, doch mit dem besten Willen von der Welt verwundeten sie oft, wo sie zu heilen gedachten. Sie führten sie endlich nach Pyrmont in der Hoffnung, daß das Gewühl des Badelebens sie zerstreuen würde, aber sie verflochten sich bald [42] selbst so gewaltig in das allgemeine Treiben der Gesellschaft, daß sie gar nicht bemerken konnten, wie Angelika immer bleicher und stiller ward, je lauter und bunter es in ihrer Nähe zugieng.

Doch gerade hier erbarmte sich endlich ein guter Engel der Leidenden, und führte ihr in Vicktorinens Tante, der Stiftsdame Anna von Falkenhayn, den einzigen Trost zu, der auf Erden für sie noch zu finden war, den Trost einer weisen, wahrhaft theilnehmenden Freundin. Das allgemeine Mitleid, welches die interessante Erscheinung des bleichen trauernden Mädchens jedem einflößte, der es sah, lösete sich in Annas edlem Gemüthe gar bald in wahrhaft mütterliche Zuneigung auf, und Angelika erwiederte diese Liebe mit all der Innigkeit, welche von jeher die Lust und die Quaal ihres Lebens gewesen war.

Obgleich Angelika in ihrer stillen Demuth sich nie die leiseste Andeutung von Unzufriedenheit mit ihrer äussern Lage erlaubte, so sah das Fräulein Anna von Falkenhayn doch nur zu bald ein, daß die Umgebungen, in welchen ihre junge Freundin leben [43] mußte, einem gebrochenen Herzen durchaus nicht wohlthun konnten. Schon die Art bewies dies, mit der Angelikas Verwandte sich über das harte Geschick ausliessen, welches diese zarte Pflanze so tief gebeugt hatte. Die Bereitwilligkeit, mit der sie nicht nur das Fräulein, sondern sonst auch noch jedermann, der darnach fragte, zum Vertrauten in dieser Angelegenheit machten, hatte in der That etwas beleidigendes, obgleich sie selbst dieses weder fühlten, noch wollten; denn sie waren wirklich wohlmeinend und wünschten der armen Angelika zu helfen, nur war sie ihnen von jeher zu ferne geblieben, um von ihnen verstanden zu werden. Endlich entschloß sich Anna von Falkenhayn, vom innigsten Mitleid durchdrungen, zu erbitten, was Angelikas Verwandte ihr mit tausend Freuden gewährten, um so mehr, da bei der Gemüthsstimmung des armen Mädchens und dessen mit jedem Tage tiefer sinkenden Lebenskraft, ohnehin an die Hofdamenstelle nicht mehr gedacht werden durfte. Und so zog sie denn mit ihrer älteren Freundin in deren Heimath, und ward von Letzterer als die Tochter [44] ihres Herzens mit unaussprechlicher Zartheit gepflegt und gewartet wie eine kranke Blume, die man gern wieder aufrichten möchte.

Anna gewann, nach Art aller edlen Frauen, die Leidende immer lieber, je mehr sie für sie that, und Angelikas Leben hieng dagegen einzig an der wohlthuenden Gegenwart ihrer Beschützerin. Die Möglichkeit, auch nur wenige Monate fern von dieser leben zu können, war ihr undenkbar, und so wurde denn das geliebte Kind bei dem Besuch im Kleebornischen Hause Annas Begleiterin, und theilte freudig mit ihr die liebende Sorge für Vicktorinen.


Nicht nur Vicktorine, deren Genesung mit jedem neuen Tage neue erfreuliche Fortschritte machte, sondern auch alle übrige Mitglieder der Hausgenossenschaft, empfanden das Wohlthuende der, Ruhe und Ordnung wieder herstellenden Gegenwart der Tante. Die gute alte Virnot wanderte wieder ganz wohlgemuth in gewohnter Geschäftigkeit Trepp' auf, Treppe nieder, ihr Schlüsselkörbchen in der [45] Hand, und führte in Küche und Speisekammer das Regiment über die zahlreiche, weibliche Dienerschaft.

Auch Babet und Agathe seegneten ihres Theils die Tante und Angelika, weil diese beiden sie der steten Gegenwart in der beengenden Luft des Krankenzimmers überhoben. Die guten Kinder durften jezt doch wenigstens am Fenster die Vorübergehenden mustern, und da gab es denn einstweilen manches zu besprechen, mitunter auch manchen interessanten Gruß zu erwiedern, denn der schwarze Lieutnant und der blonde Theodor schienen täglich in der Nähe des Kleebornschen Hauses viel zu thun zu haben. Dieser Umstand und die Ueberlegungen, welche man in Hoffnung auf nahe bessre Zeiten, hinsichtlich der Wintergarderobe anzustellen für nöthig fand, gaben unversiegbaren Stoff zur Unterhaltung, so daß fürs erste unter den Beiden von Streit oder übler Laune nicht mehr die Rede sein durfte.

Nur Herr Kleeborn selbst, der alles angewendet hatte, seiner Schwägerin Gegenwart sich zu gewinnen, [46] nur er allein fühlte sich jezt durch dieselbe einigermaßen gedrückt, ohne dieses jedoch jemals sich selbst gestehen zu wollen. Die fast übertriebne Zartheit, mit der sie die größte Anspruchslosigkeit, die strengste Diskrezion in allen häuslichen Verhältnissen beobachtete, ihre mitunter ein wenig altmodisch sich äussernde Vorliebe für Schicklichkeit und Anstand selbst im engsten Familienleben, machten ihn oft etwas beklommen und verlegen, wenn er der Tante gegenüber sich befand. Es entgieng ihm nicht, wie sie allein durch ihre Persönlichkeit nicht nur das ganze Haus, sondern sogar ihn selbst beherrschte, ohne doch jemals irgend etwas, einem Befehl Aehnliches auszusprechen. Alles richtete sich nach ihren Blicken, und jedem, vom Herrn an bis zu dem Geringsten der Dienenden, war es so zu Muthe, als dürfte dieses gar nicht anders sein.

»Es ist das verfluchte adlige Vornehmthun,« dachte Herr Kleeborn, oder gab sich vielmehr Mühe es zu denken und im Ganzen half ihm dies wenig, denn er gewann dennoch nicht den Muth, mit ihr von Dingen zu reden, über die sie noch nicht Lust [47] hatte ihn zu hören. Ihr Wunsch war, Vicktorinen erst genauer kennen zu lernen, ehe sie sich auf die Absichten einließ, welche ihr Vater mit dieser etwa haben mochte; Herr Kleeborn hingegen, der die Krankheit seiner Tochter für gar nicht so bedeutend hielt, hatte Vicktorinens Pflege eigentlich nur als Vorwand zur dringenden Einladung seiner Schwägerin gebraucht; seine eigentliche Absicht dabei war aber, durch die Tante auf Vicktorinen zu wirken, und sie in Güte seinem Willen geneigter zu stimmen. Indessen hielt er ihre Gegenwart nebenher für höchst nöthig, um durch dieselbe den Glanz und die Würde der vielen Feste zu erhöhen, welche Vicktorinens Genesung sowohl, als die zu hoffende Erfüllung seiner Pläne mit ihr, bald herbeiführen mußten. Denn nächst dem Gelderwerb liebte Herr Kleeborn nichts so sehr als Glanz und Pracht in seinen Umgebungen; gern wetteiferte er hierin mit den Vornehmsten, und unerachtet seiner laut erklärten Geringschätzung des angebornen Adels, that er sich dennoch in seinem Innern nicht wenig darauf zu gute, eine Dame von dem Range und Ansehen des [48] Fräuleins von Falkenhayn unter seine nächsten Verwandten zählen zu dürfen. Er betrachtete oft mit innerm Behagen ihre majestätische Gestalt, den, jede ihrer Bewegungen bezeichnenden vornehmen Anstand und freute sich im voraus auf den Augenblick, wo sie in dem schönen Ordenskleide ihres Stiftes mit dem grossen diamantnen Kreuze, das sie als Pröbstin desselben trug, in seinem Hause die Honneurs machen würde. Uebrigens tröstete er sich mit dem Glauben, daß aufgeschoben nicht aufgehoben sei, er hoffte, daß nach Vicktorinens völliger Genesung sich schon ein günstiger Augenblick finden würde, um die Tante für sich zu gewinnen, und überließ sich täglich in vollkommner Gemüthsruhe den gewohnten Erholungen nach vollbrachter Arbeit, die er jezt ausser seinem Hause aufsuchen mußte, da ihm das Innere desselben in seinem durch Vicktorinens Krankheit verödeten Zustande wenig Freuden darbieten konnte.


[49] Der helle Sonnenschein eines heitern klaren Herbstmorgens, an welchem Vicktorine sich auffallend wohl befand, hatte die Tante mit ihrer Angelika hinaus ins Freie gelockt. Müller, der alte Buchhalter, stand eben in der Hausthüre, als beide von ihrem Spaziergange zurückkehrten, und die Tante beeilte ihre Schritte, um dem Greise, den sie seit ihrer Ankunft im Kleebornischen Hause noch nicht gesehen, ein paar freundliche Worte sagen zu können. Sie kannte ihn schon lange und ehrte ihn als einen treuen vieljährigen Diener des Hauses ihres Schwagers, bei dessen Vater er schon in Ehre und Ansehen gestanden hatte. Als die Damen näher traten, gieng ein junger Mann mit ehrerbietigem Grüßen an ihnen vorüber, der bis dahin mit Herrn Müller in anscheinend eifrigem Gespräch begriffen gewesen war. Sein Anblick schien der Tante auf eigne Weise aufzufallen, sie sah sichtbar befangen, ihm eine Weile nach, und war sogar etwas bleicher als gewöhnlich, als sie die zum Hause führenden Stufen hinauf stieg, so daß Herr Müller sie von einem plötzlichen Unwohlsein ergriffen [50] glaubte, und ihr entgegen eilte, um sie in das zum Empfange der Fremden bestimmte Eintrittszimmer neben dem Komtoir zu führen. Dort sezte sich die Tante zwar gleich, erklärte aber dabei, daß sie sich vollkommen wohl befinde, nur habe sie am Krankenbette ihrer Nichte sich der freien Luft entwöhnt, die heut, unerachtet des hellen Sonnenscheins, ungewöhnlich scharf sei. Beruhigt gieng Angelika zu Vicktorinen hinauf, während die Tante noch unten blieb, um mit Herrn Müller ein paar Minuten zu plaudern.

Wer war der junge Mann? fragte sie einigermassen eifrig, so wie Angelika die Thüre hinter sich angezogen hatte. Herr Müller besann sich eine Weile, denn er verstand sie nicht gleich. Der junge Holm, der eben bei mir war, meinen Ihro Gnaden den?« erwiederte er ihr endlich, »ja das ist ein recht lieber, gutherziger junger Mensch. Seit unser Fräulein Vicktorine krank ist, versäumt er nie, alle Tage zweimal zu mir in mein Kabinet zu kommen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, denn von mir erhält er doch immer umständlichern [51] Bericht als von den Bedienten. Nun gottlob heute konnte ich ihm recht viel Gutes sagen, er war auch darüber recht erfreut.«

»Also wohl ein sehr genauer Freund des Hauses?« fragte die Tante.

»Das nun wohl nicht,« war die Antwort, »denn der junge Herr Holm ist noch gar nicht selbst etablirt, und auch sonst eben nicht von Familie, Ihro Gnaden. Niemand wußte, was man aus seinem seeligen Vater machen sollte, denn der war zwar ein Gelehrter, aber weder Jurist noch Mediziner. Er wohnte mit diesem seinem einzigen Sohne lange Jahre hindurch in der Vorstadt, niemand hat ihn sonderlich gekannt, denn er führte ein sehr eingezogenes Leben. Ja du lieber Gott, es ist hier ein sehr theuer Pflaster, und wer nicht reich ist, thut am besten sich ganz still zu verhalten.«

»Ist der Vater lange tod?« fragte die Tante wieder, mit sichtbarem Antheil.

»Seit drei Jahren ungefähr,« erwiederte Herr Müller. »Der alte Holm soll aber übrigens ein recht grundgelehrter Mann gewesen sein,« sezte er [52] hinzu, »sehr bewandert in der Mathematik und in fremden Sprachen, auch soll er ein Lexicon oder so etwas im Druck herausgegeben haben. Nun, der Sohn artet dem Vater nach, man sagt, er habe auf der Universität seine Zeit sehr gewissenhaft angewendet. Das wird ihm denn nun auch freilich in seinem jetzigen Stande recht gut zu statten kommen, denn in unsern Tagen kann der Kaufmann nie zu viel wissen, und das Gelehrtsein, oder wenigstens Gelehrtthun ist unter unsern jungen Herrn obendrein Mode.«

»Der junge Mann war also nicht von jeher zum Kaufmann bestimmt?« fragte die Tante mit steigendem Interesse.

»Ei was wollte er!« erwiederte der Buchhalter, »nein Ihro Gnaden, der junge Holm ist Doctor Juris, er hat ordentlich studirt. Erst vor kaum anderthalb Jahren hat er umgesattelt, und was das sonderbarste ist, niemand hat früher die mindeste Neigung zum Kaufmannsstande an ihm bemerkt, das ist so ganz mit einemmal von selbst gekommen. Aber da sieht man recht, wie der Mensch alles kann, [53] was er ernstlich will. Vor zwei Jahren wußte der junge Holm noch keinen Kurs zu berechnen, nicht einmal einen Wechsel ordentlich auszustellen, von Waarenkenntnis war bei ihm vollends gar nicht die Rede, und jezt ist er der Herren Fischer et Compagnie rechte Hand. Geben Ihro Gnaden nur Acht, der macht gewis noch sein Glück in der Welt.« Die Tante, in immer tieferes Nachdenken versinkend, schien auf die lezten Worte des freundlichen Greises kaum zu hören, weshalb die ser denn auch mit gewohnter Ehrerbietung stille schwieg, bis sie, wie aus einem Traume erwachend, die Bemerkung hinwarf, daß der junge Holm doch wohl öfters an den Gesellschaften hier im Hause Antheil nehmen müsse, da ihn die Ereignisse in demselben so zu interessiren schienen.

»Ins Komtoir kommt er zwar oft in Geschäften, seit er den Kaufmannsstand erwählt hat,« erwiederte Herr Müller, »sonst aber nie ins Haus, daß ich wüßte, ausser ein paarmal bei Konzerten, denn er singt einen herrlichen Tenor. Daß er sich aber so fleissig nach der Gesundheit unsers Fräuleins [54] erkundigt, ist dennoch ganz natürlich, da er sie doch einigermassen kennt, die halbe Stadt thut ja dasselbe. Sehen, Ihro Gnaden, hier liegt der Zettel, mit den Namen derer, die nur diesen Morgen nachgefragt haben. Zwei volle Bogen, man kann die Hälfte kaum lesen, denn die Bedienten schreiben meistens so schlecht, daß es eine Schande ist. Aber hier sind doch einige zierliche Handschriften, denn die jungen Herren haben fast alle eigenhändig ihre Namen angeschrieben, weil sie gewöhnlich selbst kommen, sich nach des Fräuleins Befinden zu erkundigen. Sehen Ihro Gnaden, Sir Robert Beverley, John Simpson Esquire, Comte de Beauchamp, Graf Nordhausen, Baron Engeström, lauter Fremde die an uns addressirt sind.«

Angelikas blondes Lockenköpfchen, das diese, über dem langen Ausbleiben der Tante besorgt, zur Thüre herein steckte, machte jezt der Unterhaltung ein Ende.

Anna begab sich zu Vicktorinen, sie fand diese auf ihrem Sopha, von einer Schaar junger, sie besuchender Mädchen umlagert, unter denen auch [55] Babet und Agathe nicht fehlten. Alle sprachen zugleich, denn es war von gar interessanten Gegenständen die Rede, denen aber die Tante keinen Antheil abzugewinnen wußte. Sie sezte sich daher in ihren Lehnstuhl in der fernsten Ecke des Zimmers. Ihre Gedanken flogen zurück in eine längst dahin geschwundene Vergangenheit, deren Abglanz in diesem Augenblick in ungewohnter Klarheit sie umschwebte. So zaubert ein einziger heller Sonnenblick uns oft mitten im Winter den Frühling mit allen seinen längst in Staub versunknen Blüthen herbei. Anna gab dem schmerzlich-schönen Traume mit ganzer Seele sich hin; sie forschte nicht weiter, was gerade jezt ihn herbeigerufen haben könne? sie versank immer tiefer in sich selbst, und achtete wenig auf das, was in dem jugendlichen Kreise, in ihrer Nähe laut genug abgehandelt ward.

Die Mädchen zählten indessen die Bälle, welche sie in den nächsten Wochen zu hoffen hatten, und jezt waren die Tänzer an der Reihe. »Mit denen sieht es windig aus,« seufzte Babet, »wenn nicht etwa der Himmel ein Einsehen hat und frische [56] Zufuhr uns einsendet.« »Leider ja,« stimmte Amelie, die Tochter des benachbarten Obristen, in diese Klage ein, Theodor geht morgen fort, und auch Baron Sillborn reist nach Wien.« »Und Lieutenant Horsten hat nur noch vierzehn Tage Urlaub,« rief Lilli dazwischen. So währte das Herüber und Hinübersprechen noch eine feine Weile fort, der Gegenstand des Gesprächs beschäftigte alle, so daß keine dabei auf Vicktorinen Acht gab, bis die eben ins Zimmer tretende Angelika durch einen Schrei des Entsezens sie darauf aufmerksam machte, daß die Arme bleich und starr gleich einer Todten in ihre Kißen zurück gesunken dalag.

Der Aufruhr, der jezt entstand, ist nicht zu beschreiben. Die Mädchen liefen vor Angst wie sinnlos durch einander, der Schellenzug riß von dem gewaltigen Sturmläuten; laut schreiend, »bon Dieu! qu'est il donc arrivé à ma pauvre petite,« stürzte die Bonne herein, und dieser folgte, zum Glück bald, der schnell herbeigerufne Arzt. Vicktorinens bewußtloser Zustand, den die vielen, ohne Wahl und Zweck angewandten Mittel nur [57] verschlimmerten, ohne daß die vor Schrecken selbst halb todte Tante dem Unheil hatte steuern können, wich endlich seinen vernünftigern Anordnungen. Jezt aber hob der wackre Mann auch eine tüchtige Strafpredigt an, während welcher sich indessen die fremden Mädchen ganz in der Stille fortschlichen; er schrieb Vicktorinens Zufall einzig dem lärmenden Besuche zu, und empfahl nochmals die ungestörteste Ruhe und Stille in der Nähe der Kranken. Babet und Agathe wurden gänzlich aus dem Zimmer derselben verbannt, jeder fremde Besuch hoch verpönt, und nur Angelika, für deren stilles Betragen sich die Tante verbürgte, erhielt die Erlaubnis nach wie vor die Sorge für Vicktorinens Pflege mit ihrer geliebten Wohlthäterin zu theilen.


[58] Es war schon später Abend, und die Tante saß ganz allein an Vicktorinens Bette, als diese aus ihrem unruhigen Schlummer auffahrend, die Vorhänge zurückschlug, und mit ängstlicher Hast im ganzen Zimmer umher sah.

»Tante!« flüsterte sie leise und beklommen, »Tante, sind wir allein? werden wir es bleiben?« Die Tante versicherte sie dessen, und bat sie, nur ruhig sich zu verhalten. »Ruhig! ruhig!« erwiederte Vicktorine mit ungewohnter Heftigkeit, »gebieten sie doch auch dem Sturm, der eben heulend das Haus umtobt, daß er ruhig sei, oder dem Meere, oder der Flamme, die verzehrend wüthet.« »Kind, geliebtes Kind,« unterbrach die Tante sie »du richtest dich und mich und uns alle zu Grunde, wenn du so fortfährst! komm, sei mein gutes Mädchen, lege dich wieder, sei geduldig und ich verspreche dir – –« »Was? –« rief Vicktorine »was können sie mir versprechen für mein Leben, Tante, für die Ruhe meines Lebens, für all' mein Glück auf Erden, und vielleicht auch dort! Nein Sie müssen mich hören, Sie müssen [59] jezt mich hören, in dieser Minute, wenn Sie mich nicht wollen wahnsinnig werden lassen. Sie werden mich hören, Sie werden mich retten, denn Sie sind ja die einzige Schwester meiner lieben, lieben Mutter!« Schwer und einzeln rollten große Thränen aus Vicktorinens weit offnen starren Augen über die glühenden Wangen, auf die krampfhaft zitternde Brust hinab, die Tante hielt schmeichelnd sie umfaßt und bat sie in den zärtlichsten Worten nur jetzt sich zu schonen. »Ich will dich ja hören, ich will ja alles thun, ich will dich retten, dir helfen, für dich nur leben« sprach sie, »ich bin ja nur deinetwegen hier, aber halte dich jezt nur ruhig, damit du Kräfte gewinnst, späterhin, Morgen vielleicht« – – »Späterhin ist zu spät,« rief Vicktorine mit immer steigender Heftigkeit »späterhin, wenn alles vorüber ist, was für Trost, was für Hülfe können Sie mir dann gewähren, wenn Gott selbst das Geschehene nicht mehr ungeschehen machen kann. Nein jezt, jezt in dieser Stunde.« Vergebens suchte die Tante durch Erinnerung an das Verbot des Arztes sie [60] zum Schweigen, zur Schonung ihrer Kräfte, zu bewegen. »Was weis der Arzt, der überkluge Thor! was wissen sie Alle,« rief Vicktorine, »Sie sehen es ja Tante, sie müssen es sehen, ich habe Kraft, aber Schweigen in dieser Stunde vernichtet mich; diese gränzenlose Angst kann ich nicht verschliessen, sie zersprengt mir die Brust; Sie müssen mich hören, wenn Sie vom Untergange mich retten wollen.«

Vicktorinens immer heißeres Bitten, die zunehmende Fieberglut, die aus ihren Augen blizte, bewogen endlich die Tante, sich mit ihr auf Bedingungen einzulassen, um sie nur einigermassen zu beruhigen. »So sprich denn, meine Vicktorine,« bat sie schmeichelnd, »sage mir, was ich in diesem Augenblick thun soll um dich zu beruhigen. Ich will es vollbringen, wenn es zu vollbringen ist, doch was ich nicht jezt gleich wissen muß, das spare für eine bessre Stunde auf, wenn du ruhiger, kräftiger bist, nur unter dieser Bedingung will ich es wagen, des Arztes Gebot zu überschreiten und dich reden zu lassen.«

[61] »Wohlan denn,« rief Vicktorine, »lassen Sie den alten Müller herauf kommen, hier herauf, ins Nebenzimmer dort, und die Thüre muß offen stehen, und flüstern Sie nicht etwa mit ihm, ich muß alles hören, jedes Wort, das Sie miteinander sprechen; ich will nicht getäuscht sein.« »Was denn Vicktorine, was willst du wissen?« fragte die Tante. »Ob er nach Odessa geht, o Gott! o Gott! er ist vielleicht schon fort!« rief laut jammernd Vicktorine.

Die Tante erschrack heftig, denn sie glaubte jezt in der That, zum wenigsten eine in fieberhaften Träumen Verlorne vor sich zu haben. »So besinne dich doch, so fasse dich doch, Liebe,« redete sie Vicktorinen begütigend zu; »was willst du mit Odessa? was soll der gute alte Müller dort?« –

»Wer spricht von dem!« rief zürnend Vicktorine, »Raimund, Tante, Raimund Holm geht nach Odessa, ist vielleicht schon dort! hörten Sie es denn nicht? Es klang doch so laut! so furchtbar! mir war, als ob die Decke des Zimmers [62] sich in dem Momente zusammen brechend über mich herabsenkte, und Sie hörten es nicht? Luzie sprach es aus, als die Mädchen ihre Tänzer aufzählten; »der beste von allen,« sprach sie, »Holm geht heut oder morgen nach Odessa ab.«

Die Tante blickte jezt mit unbeschreiblicher Wehmuth auf das arme Mädchen hin, das in wilder Angst sie anstarrte, dann das Gesicht verhüllend, »er ist fort! er ist fort! auf ewig fort!« in herzzerschneidenden Klagetönen wimmerte. »Holm ist nicht fort,« sprach jezt die Tante, nachdem sie mühsam ihre gewohnte heitre Fassung wieder errungen hatte, »ich habe ihn kurz vor deiner Ohnmacht heut Vormittags gesehen, als er bei Müllern sich nach deinem Befinden erkundigte. Der gute Alte hat mich nachher lange von ihm unterhalten, von seinen lobenswerthen Eigenschaften, von seinen Aussichten in die Zukunft. Odessa ward dabei gar nicht erwähnt und Müller hätte nicht davon geschwiegen, wenn die ganze Reise nicht ein Mährchen wäre. Wer wird auch in dieser Jahreszeit, bei einbrechendem Winter [63] nur daran denken so etwas zu unternehmen!« Vicktorine richtete sich im Bette auf, sie sah der Tante lange und forschend ins Gesicht, dann ergriff sie ihre Hände und drückte sie fest an ihr hörbar klopfendes Herz, an ihre heissen Augen, sie bewegte die zitternden Lippen, aber, von ihrem Gefühl überwältigt, vermochte sie es nicht, nur einen Laut hervor zu bringen.

»Du liebes Ebenbild meiner Schwester,« sprach die Tante sehr bewegt, »du sollst mich immer nicht nur mild und theilnehmend, sondern auch wahr finden. Armes, armes, Kind! Beruhige dich für jezt, ich will es auch. Wir wollen Kräfte sammeln, denn wir werden beide sie brauchen.«

»Ich weis es Tante,« erwiederte ihr die jezt zwar minder heftige, aber doch noch immer sehr aufgeregte Vicktorine, »ich weis es. Auch was Ihnen selbst vielleicht noch unbekannt blieb, ist mir es nicht mehr, denn ich weis, warum man Sie, gerade Sie zu mir gerufen hat. Ich kenne Sie nur wenig, liebe Tante, doch weit [64] ich mehr, als ich es sagen kann, mich hingezogen fühle, Sie gleich einer zweiten Mutter zu ehren und zu lieben, so wage ich es, Sie, bittend, zu warnen. Unternehmen Sie es nicht, zu versuchen, was man von Ihnen fordern wird, denn, ich sage es Ihnen im voraus, Sie und mein Vater können zwar das Herz mir brechen, aber nie mich verleiten, der treuen, alles opfernden Liebe unwürdig zu lohnen. Wollen Sie mir nicht glauben, meine Bitte nicht erfüllen, nun wohlan, dann versuchen Sie Ihre Ueberredungskünste, die ganze wunderbare Macht, die Ihnen gegeben ward über die Gemüther Anderer zu herrschen. Mich sollen Sie standhaft finden, nie sollen Sie mich verleiten, die Stimme zu ersticken, die in mir laut über Recht und Unrecht entscheidet.

Die Tante erwiederte der noch immer unnatürlich Aufgeregten nur wenig, und in den mildesten Ausdrücken, und so gelang es ihr endlich, sie nach und nach einigermassen zu besänftigen. Was ihr indessen Vicktorine an diesem [65] Abend und in den nächst folgenden Tagen nur stückweise, oft von Gefühlsergiessungen der Erzählerin, zuweilen von Gegenbemerkungen der Tante unterbrochen, mittheilen konnte, findet der Leser im folgenden Abschnitt in zusammenhängender Form.


Raimund Holm war der Sohn eines Mannes dem wohl anzusehen war, daß während eines nicht sehr langen Lebens die Welt ihm oft und vielfach wehe gethan haben mochte. Mehr noch als sein früh ergrautes Haar und seine augenscheinlich, durch langen und herben Gram verdüsterten Züge, bezeigte dies die tiefe Abgeschiedenheit, welche er mit einer Art Aengstlichkeit aufsuchte, und die Scheu, mit der er alles floh, was nur von ferne dahin abzwecken konnte, ihn aus seiner Verborgenheit ans Licht zu ziehen.

Der Vielerfahrne kannte das Leben zu gut, um nicht zu wissen, daß man in einer grossen [66] volkreichen Stadt weit unbemerkter und einsamer nach eigenem Plane sein Dasein hinbringen kann, als in einem kleinen Orte, oder selbst auf dem Lande. Denn in Städtchen und Dörfern zieht jeder neue Ankömmling die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich, und jeder gilt für einen bemerkenswerthen Sonderling, der nicht genau so leben mag, wie alle Uebrige um ihn her. Raimunds Vater wählte deshalb lieber eine grosse berühmte Handelsstadt zu seinem Wohnorte, wo er einige zwanzig Jahre hindurch bis an seinen Tod, ein von aller Gesellschaft, fast von aller Bekanntschaft abgesondertes Leben führte, gleich weit entfernt von Dürftigkeit und Ueberfluß. Seine feinern Sitten und Lebensgewohnheiten, eine gewisse Eleganz in seinem Aeussern, – die niemand, auch in der tiefsten Einsamkeit ablegen kann, der sie von Jugend auf sich aneignete, – verriethen indessen, daß er die Welt kannte die er floh, und daß er sogar in ihrem Umgange seine erste Bildung erhalten haben mußte.

[67] Durch frühe Gewöhnung theilte er auch seinem Sohn diese Eigenschaften mit, und gab ihm dadurch gewissermassen einen Freibrief für den künftigen Ein tritt in die Gesellschaft, den viele entbehren, die in der Einsamkeit aufwuchsen, und dessen Mangel dennoch, selbst bei sonst ausgezeichneten und hochbegabten Menschen, die in dieser Hinsicht meistens unerbittliche Welt selten zu übersehen pflegt.

Des Knaben Erziehung, den er als ganz unmündiges Kind mit sich gebracht hatte, war das einzige Geschäft des Vaters; Kunst und Litteratur die Freude und der Schmuck seines Lebens. Raimund wuchs heran, unter fröhlichen muthigen Spielgesellen der fröhlichste und muthigste von allen, denn sein Vater, der kein Glück der Jugend ihn entbehren lassen mochte, versäumte es nicht, neben dem häuslichen Unterrichte, den er ihm selbst ertheilte, ihn auch die öffentliche Schule besuchen zu lassen. Ueberhaupt war er weit entfernt von dem Gedanken, seinen Sohn nur für ein kontemplatives Leben, in steter Entfernung [68] von der Welt, erziehen zu wollen, obgleich er ein solches am früh einbrechenden Abend seines Lebens für sich selbst erwählt hatte. Er wünschte vielmehr ein nützliches und thätiges Mitglied der Gesellschaft aus ihm zu bilden. Denn wie man erst nach vollbrachter Arbeit den vollen Genuß der Ruhe lernen kann, so lernt man auch nur nach langem Treiben im Gewirre der Welt den hohen Werth der Einsamkeit erst recht empfinden. Dies wußte Raimunds Vater aus eigner Erfahrung.

Des Knaben beglückte Kindheit zog, gleich einem Frühlingstraum, an ihm vorüber und unvermerkt kam so die Zeit herbei, in welcher er zum erstenmale seinen Vater verlassen sollte, um die Universität zu beziehen.

Nichts stellt den Jüngling am Anfang seines ersten Ausflugs in die Welt so fest, so sicher, so kräftig in diese hin, als die frühere Erziehung an der Seite eines edlen, durch Geist und Gemüth ausgezeichneten Vaters, der, ohne berühmt zu sein, dennoch durch Lehre und Beispiel ihm [69] stets gegenwärtig bleibt, und zu dessen Bilde er sich flüchtet, wenn er im Gedränge der ihm neuen Verhältnisse des Lebens Rath und Hülfe bedarf. Ein durch den Vater berühmt gewordner Name ist hingegen beim ersten Eintritte in die Welt wohl eher ein Hindernis zu nennen, denn diese hängt stets am Klange des Worts. Und so wie der schuldlose Sohn eines als unwürdig bekannten Mannes, unerachtet seines eignen Werths und seiner Unschuld, dennoch stets mit tausend Vorurtheilen und Widerwärtigkeiten zu kämpfen hat, die einzig um seines Namens willen sich überall ihm entgegen stellen, so tritt auch dem, der sein Leben einem grossen berühmten Vater verdankt, ein Vorurtheil andrer Art in den Weg. Man verlangt von einem solchen, daß er besser und geistreicher sei, als alle andere seines Gleichen, und zwingt dadurch oft eine gewisse Unsicherheit in sein Wesen hinein, die ihm, mit einem andern Namen geboren, stets ferne geblieben wäre.

Raimund hatte das Glück, auch in dieser Hinsicht ganz frei und ungehindert da zu stehen. [70] Mit der von seinem Vater ihm mitgetheilten Ruhe alter Erfahrung zog er in blühender rüstiger Jugend aus, ein reiner Jüngling an Seele und Leib, und kehrte zur bestimmten Zeit eben so ins Vaterhaus wieder zurück. Im klaren Bewußtsein seines Zwecks hatte er die Universitätsjahre wohl angewendet, doch der Rath seines Vaters bewog ihn, sich einstweilen noch ernstlicher auf das thätige Leben vorzubereiten, theils durch stille Fortsetzung seines Strebens in wissenschaftlicher Hinsicht, theils indem er mit der geselligen Welt sich näher bekannt zu machen suchte, ehe er es wagte, in ihr als Geschäftsmann öffentlich aufzutreten. Er knüpfte auf den Rath seines Vaters manche erfreuliche Bekanntschaft in der Stadt an, besuchte Gesellschaften, Bälle, das Theater, kehrte aber jeden Abend mit gewohnter Liebe und Treue zu seinem Vater zurück. So strebte er, dessen kränkelndes Alter durch Erzählungen aus jenem bunten Treiben zu erheitern, das der Greis seit mehr als fünf und zwanzig Jahren nicht mehr sah, und das er [71] dennoch in den Beschreibungen des Jünglings als wenig verändert wieder erkannte. Anfangs schien es, als ob Raimunds Vater in diesem genußreichen Beisammenleben mit seinem Sohne gewissermassen begönne, neue Jugendkraft wieder zu gewinnen; doch leider war dieser freudenverkündende Schein nur das lezte Aufflackern der Lampe vor dem völligen Erlöschen. Die längst in den Stürmen des Lebens erschöpften Kräfte brachen in dieser heitern Stille bald gänzlich zusammen, und Raimund blieb verwaiset und verlassen am Grabe seines Vaters zurück, ehe noch das zu seiner völligen Ausbildung bestimmte Jahr vorüber war.

Dieser Verlust hatte in Raimunds äussrer Lage nichts verändert, denn bei gewohnter Mässigkeit sicherte ihm das hinterlassne väterliche Vermögen zwar keine glänzende, aber dennoch eine völlig unabhängige Existenz. Dagegen fühlte er in seinem Innern nun die schmerzlichste Oede. Er hatte für niemanden mehr zu sorgen, niemanden mehr zu erfreuen, keinen einzigen Vertrauten seiner Gedanken und Empfindungen. Und gerade in jener [72] weichen sehnsüchtigen Stimmung, in die uns ein Verlust, wie der seine, so leicht versezt, und der wir so gern nachgeben, trat Vicktorinens glänzend schöne Erscheinung zuerst ihm entgegen.

Der berühmteste Musicklehrer der Stadt hatte nach Zelters preiswürdigem Beispiel einen Singverein errichtet, der sich wöchentlich ein paarmal versammlete, und in dem fast alle, die sich dazu eigneten, eifrig Theil nahmen. Raimund, dessen schöne Tenor-Stim me dem Stifter der Gesellschaft längst bekannt war, durfte nicht dabei fehlen, und auch Vicktorine behauptete mit Necht den Rang der ersten Sängerin unter den Damen. Daß der erste Tenor und der erste Sopran durch ihr Talent einander näher gebracht wurden, war wohl ganz natürlich; es fehlte Beiden nicht an Anlässen, sich gegenseitig, auch über andere als blos musikalische Gegenstände auszusprechen, und dabei den inneren Reichthum ihres Geistes vor einander zu entfalten. Raimund hatte schon früher Vicktorinen zuweilen gesehen und ihre seltene Schönheit bewundert, doch der im Kleebornschen Hause [73] herrschende grosse Ton hielt bis dahin den stolzbescheidenen Jüngling davon ab, Zutritt in demselben zu suchen. Und auch jezt, bei näherer Bekanntschaft mit Vicktorinen, vermied er es noch immer, den Schein von Zudringlichkeit dadurch auf sich fallen zu lassen, obgleich Vicktorinens jugendlich schöne Gestalt, der dunkle Feuerstrahl ihrer Augen ihm öfter als sonst in wachen Träumen vorschwebte, und der seelenvolle Ton ihrer hellen, glockenreinen Stimme hallte immer noch lange in seiner tiefsten Brust wieder, wenn er schon längst den Singverein verlassen hatte.

Ein glänzender Ball, zu dem auch Raimund geladen war, bot diesem indessen einige Zeit nach Errichtung des Singvereins Gelegenheit, Vicktorinen zum erstenmal im vollen Glanze zu erblicken. Schon bei ihrem Eintritte in den Saal hörte er jenes leise Flüstern der Bewunderung, den höchsten Triumph der Schönheit, ihr entgegen rauschen, so wie die Wipfel des Waldes sich flüsternd regen wenn die Sonne aufgehen will. Dieser schmeichelhafte Ton begleitete sie durch die lange Reihe der größtentheils [74] schon versammelten Gesellschaft, so wie sie durch den Saal hingieng und verkündete in ihr schon im Voraus die Königin des Festes.

Raimunds Blick hieng unabwendbar an ihr und belauschte jede ihrer Bewegungen. Noch nie war ihm ein weibliches Wesen von so blendendem Reitze erschienen; ja er glaubte Vicktorinen selbst so zauberisch schön noch nie gesehen zu haben. Ihr sehr reicher Anzug trug, bei aller darin herrschender Pracht, dennoch das Gepräge edler kunstloser Einfachheit. Jugendliche Freude leuchtete aus ihren Augen, aus dem süssen Lächeln des lieblichen Mundes und verschönte sie unbeschreiblich. So stand sie in höchster Unbefangenheit da, mitten im dichten Kreise ihrer Bewunderer, lachte mit Diesem, scherzte mit Jenem, und betrug sich völlig wie Jemand welcher der Huldigungen zu gewohnt ist, um darauf noch grossen Werth legen zu können. Alle, die sich durch nähere Bekanntschaft nur einigermassen dazu berechtiget glaubten, drängten sich in ihre Nähe; die elegantesten jungen Herren nahten sich ihr ehrerbietig, als wäre [75] sie eine Fürstin, um einen Tanz von ihr zu erbitten, und jeder beneidete den Glücklichen, dem sie einen zusagte. Sogar die andern Mädchen suchten eine Ehre darin, mit Vicktorinen vertraut zu erscheinen, denn es fiel keiner ein, mit ihr wetteifern zu wollen, und alle liebten sie wegen ihrer anspruchslosen, immer gleichen Freundlichkeit.

Raimund sah aus einiger Entfernung dem Gedränge um Vicktorinen zu, und das Herz that ihm dabei weh, er wußte nicht warum? Er versuchte es, dieses bange Gefühl sich als Mitleid mit dem holden Wesen auszudeuten, das, so umgauckelt, am Ende doch wohl zu Grunde gehen müsse; doch fühlte er bei alle dem auch die Unmöglichkeit, ihr den ihr gebührenden Tribut der Bewunderung zu versagen.

Der Tanz begann, und gleich einer Göttin, von ihren Nymfen gefolgt, schwebte Vicktorine am Arm eines fremden Prinzen, der sich unter den anwesenden Gästen befand, dem glänzenden Reigen voran. Alle tanzten, nur ein einziges Mädchen [76] blieb unaufgefordert an ihrem Platze; ein junges blödes Kind, das niemand kannte, und dessen beinahe zu einfacher, etwas altmodischer Putz schon von Manchen bespöttelt worden war, weil er gegen die Eleganz der übrigen Tänzerinnen gar zu auffallend abstach. In der peinlichsten Stellung, mit hochglühenden Wangen, saß die Verlassene da, mit der noch niemand eine Silbe gesprochen hatte; aus den unschuldigen Augen strahlte das glühendste Verlangen, an der allgemeinen Jugendlust ebenfalls Antheil nehmen zu können, und zugleich zuckte ängstliche Verlegenheit um den kindlichen Mund, als ob die Arme sich bemühe Thränen zurück zu drängen, die das Gefühl des Zurückgesetztwerdens ihr eben auszupressen im Begriff war.

Raimund nahm an diesen und einigen folgenden Tänzen nicht Theil. In eine Ecke des Zimmers hingelehnt, verfolgte er jede Bewegung Vicktorinens mit seinen Blicken, und sah zu seinem Erstaunen, wie diese gleich in der ersten Pause dem unbekannten Mädchen sich nahte, ein Gespräch mit der augenscheinlich Verlegnen anknüpfte, sich eine [77] kleine Weile zu ihr hinsezte, dann, wieder aufstehend, ihren Arm ergriff, und einigemal mit ihr im Saal' auf und abgieng. Im Gewühle der Gesellschaft verlor er indessen beide bald aus dem Gesicht, und schon begann der böse Argwohn sich in seinem Gemüthe zu regen: als ob Vicktorine, im Übermuthe des Bewustseins ihrer alles besiegenden Schönheit, mit dem unscheinbaren Mädchen vielleicht ein unwürdiges Spiel treibe und es als Folie mit sich herumführe, um dadurch den Glanz ihrer eignen Erscheinung zu erhöhen. Da rief plötzlich eine sanfte Stimme seinen Namen und weckte ihn aus seinen Träumereien. Er fuhr auf, blickte um sich und dicht neben ihm stand Vicktorine und sah ihn freundlich bittend an.

»Ich möchte Sie wohl um einen Ritterdienst ansprechen, denn Sie sehen mir ganz darnach aus, als ob Sie mir ihn nicht abschlagen würden,« sagte sie mit unbeschreiblicher Anmuth, aber doch ein wenig erröthend. »Ich möchte Sie bitten,« fuhr sie fort, »den nächsten Tanz mit jener jungen Dame zu tanzen, die eben mit mir durch den [78] Saal gieng. Sie ist der Gesellschaft unbekannt, und unsere jungen Herren sind sämmtlich unartig genug, sie dies empfinden zu lassen.«

Raimunds frohes Erstaunen bei dieser unerwarteten Anrede erlaubte ihm nicht viel Worte zu machen. Er eilte, vor allen Vicktorinens Wunsch zu erfüllen, und nahte sich ihr dann wieder, um von ihr zu erfahren, wer das junge Mädchen sei, dessen sie so eifrig sich annahm.

»Ich kenne sie eben so wenig als Sie sie kennen,« gab Vicktorine ihm ruhig und einfach zur Antwort. »Indessen sie ist hier fremd, und da ich sie so ganz verlassen da sitzen sah, kam mir der Gedanke: wie mir zu Muthe sein würde, wenn mir einmal etwas ähnliches wiederführe. Da war es denn doch natürlich, daß ich nicht eher ruhen konnte, bis ich sie tanzen sah.«

»Aber wie war es möglich, daß Sie, gerade Sie mein Fräulein, sich eine solche Möglichkeit nur den ken konnten?« fragte Raimund.

»Und warum sollte ich dies nicht können?« erwiederte ihm Vicktorine. »Jene alte menschliche [79] Sitte, dem Fremdling freundlich entgegen zu treten, weil Fremdsein doch wenigstens für den Moment eine Art Unglück ist, kam längst aus der Mode, und da könnte es doch geschehen, daß ich an einem Orte, wo ich ganz unbekannt wäre, eben so verlassen da sitzen müßte als dieses arme Kind. Zu meiner grossen Freude werde ich indessen eben gewahr, daß man sie zum nächsten Tanze wieder auffordert, und nun tanze ich selbst mit verdoppelter Lust, da der Anblick der kleinen Verlassenen mich nicht mehr quält.« »Die Sie gar nicht kennen?« fragte Holm. »Die ich gar nicht kenne. Muß man denn alle Leute kennen?« erwiederte Vicktorine lachend, und hüpfte mit ihrem Tänzer davon, der in diesem Augenblick herantrat, um sie zum eben beginnenden Tanze abzuholen.

Nachdem letzterer vollendet war, setzte sich Vicktorine hin um auszuruhen, und Raimund nahte ihr von neuem. »Ich möchte wohl einmal, und wäre es auch nur für eine einzige Stunde, Sie sein, mein Fräulein,« sprach er lächelnd, »es ist [80] wohl ein verwegner Wunsch, aber ich kann ihn nicht unterdrücken. Ich möchte wissen, wie jemanden zu Muthe ist, der in der Gewisheit auftritt, mit jedem Lächeln, jedem Blick, Freude und Bewunderung um sich her zu verbreiten.«

»Sind Sie nicht kindisch!« rief Vicktorine, recht herzlich lachend. »Das wäre ja ein Bewustsein, wie es höchstens eine Prinzessin haben könnte, der man von Jugend auf solch albernes Zeug in den Kopf gesezt hat. Unser einem fällt so etwas gar nicht ein.«

»Fräulein, Sie sind zu bescheiden, und wenn ich dürfte, so sezte ich gerne hinzu: Sie sind auch in diesem Augenblicke nicht recht aufrichtig gegen sich selbst. Denn wie könnte Ihnen der Eindruck entgehen, den Sie durch ihr blosses Erscheinen überall hervorbringen!« sprach Raimund.

»Ich bin nicht halb so bescheiden als Sie es vielleicht denken,« erwiederte Vicktorine mit einer sehr gefälligen Zutraulichkeit in ihrem Wesen. »Ich wäre aber doch eine gar zu alberne Thörin,« fuhr sie fort, »wenn ich nicht merkte, wie viel, [81] oder eigentlich wie wenig von dem, was Sie die allgemeine Bewunderung nennen, ich mir selbst zuzuschreiben habe. Ich weis recht gut daß ich ziemlich häßlich und sogar etwas unangenehm sein könnte, ohne daß das Betragen der Gesellschaft gegen mich sonderlich dadurch abgeändert würde, wenn alles übrige meiner Existenz, was nicht Ich ist, nur so bliebe wie es ist. Dies sage ich mir recht oft, um hübsch in der Demuth zu bleiben,« sezte sie mit einem angenehmen Lächeln hinzu, und eilte mit ihrem sich nahenden Tänzer wieder fort.

Raimund blickte mit einem nie zuvor gekannten Gefühl ihr nach. Ihre Schönheit, ihr Geist, ihr musikalisches Talent hatten ihn schon oft zu lebhafter Bewunderung hingerissen; doch die Güte, die ächte Bescheidenheit, die liebenswürdige Offenheit und Einfachheit ihres Wesens, die er gerade an diesem Abend an ihr entdeckte, wo sie einen Triumph feierte, der tausend andre schwindlich gemacht hätte, zeigten sie ihm im fast überirdischen Lichte. Den ganzen übrigen Abend hindurch blieb er in ihrer Nähe, er bat sie um einen Tanz, den sie ihm [82] gleich und gern gewährte, und schwebte an ihrer Seite, wie von Himmelsflügeln getragen, in nie gekannter Seeligkeit durch den Saal. Bei Tische, wo nur die Damen saßen und die Herren sie bedienten, blieb er ihr gegenüber hinter dem Stuhle des jungen Mädchens stehen, das sie in Schutz genommen hatte. Durch Vicktorinens Beispiel dazu bewogen, suchte er das noch immer von der übrigen Gesellschaft ziemlich vernachlässigte Wesen durch die feinste Aufmerksamkeit über dessen Verlassenheit zu trösten. Vicktorine lohnte ihm dies von Zeit zu Zeit mit einem freundlichen Lächeln, oder durch ein paar queer über den Tisch hin ihm zugesprochne Worte, während sie mit unabänderlichem, an Stolz gränzenden Gleichmuthe die Huldigungen der jungen Herren hinnahm, die den fremden Prinzen in ihrer Mitte, sich schaarenweise hinter ihrem Stuhle drängten, mit einander wetteifernd um die Ehre, ihr zuweilen einen Teller oder ein Glaß Wasser reichen zu dürfen.

Im seeligsten Taumel kehrte Raimund vom Balle nach Hause; ihm war die ganze Nacht hindurch, [83] als schwebe er noch immer in einer bezauberten Welt. Er sah Vicktorinen wieder und wieder, sie behandelte ihn von nun an gleich einem alten Bekannten, dem man ohne ängstlichen Rückhalt sich zeigt wie man ist. Jedes Wiedersehen ließ ihn tief in das Innere eines reinen Gemüths voll Liebe und Milde blicken, jedes enthüllte ihm neue Beweise eines von Natur hellen lebhaften Geistes, reich begabt mit den günstigsten Anlagen, stets bereit, alles Gute, Hohe und Treffliche in sich aufzunehmen. Die Heftigkeit, zu welcher das Ungewohntsein jedes Widerspruchs sie zuweilen hinriß, die an Eigensinn gränzende Festigkeit, mit der sie hielt was sie einmal ergriffen, und achtlos durchzusetzen suchte, was sie für recht und gut anerkannte, konnte er freilich an ihr nicht entdecken, weil sich ihm dazu keine Gelegenheit bot.

Raimund sah nun in Vicktorinen das Wesen in entzückend blühender Jugendfülle, lebend und athmend vor sich stehen, das bis jezt nur, gleich einem unerreichbaren Traumbilde, seiner jugendlichen Fantasie vorgeschwebt hatte. Er fühlte sich [84] ihr zu eigen fürs ganze Leben, um so mehr, da er, ohne zu geckenhafter Einbildung herabzusinken, es sich nach wenigen Tagen nicht mehr verbergen konnte, daß auch Vicktorine ihn ebenfalls vor allen Andern auszeichnete. Ihr süsses Erröthen, das freudige Aufstrahlen ihrer Augen, wenn er sich nahte, das ihr ganz ungewohnte weiche Beben der Stimme, wenn sie ihn anredete, tausend kleine Züge in ihrem Benehmen, viel zu zart für jede Beschreibung, verkündeten ihm sein Glück lange ehe es ausgesprochen ward. Doch auch diese Stunde, die höchste Blüthe des Lebens, blieb nicht aus; aber wie sie herbeigeführt ward, was er sprach, was Vicktorine antwortete, wußte diese der Tante selbst nicht ausführlich zu vertrauen. Die Glücklichen hatten fast wortlos einander verstanden, fast wortlos hatten sie den Bund der Treue fürs ganze Leben geschlossen.

Das höchste ihm denkbare Ziel des Glückes so nahe vor Augen, beschloß Raimund jezt, ohne Aufschub die Kenntnisse, die er sich erworben, im bürgerlichen Leben thätig geltend zu machen, und [85] dann bei Vicktorinens Vater um ihre Hand zu werben. Freilich war Kleeborns Abneigung, sie einem andern, als einem Kaufmanne zu geben, zu stadtkundig geworden, als daß Raimund nichts davon hätte erfahren sollen; doch Vicktorine war überzeugt, oder wollte es sein, daß ihr Vater unter diesem Vorwande nur die Anträge ihrer adlichen Verehrer zu entfernen gesucht habe, weil er nur gegen diese stets einen unbesiegbaren Widerwillen laut aussprach, ohne dabei der andern bürgerlichen Stände zu erwähnen. Raimund glaubte Vicktorinen gerne, denn was glaubt hoffende Liebe nicht? In der freien Re chsstadt, in welcher sie lebten, konnte Raimund auf dem Wege, den er einzuschlagen gedachte, zu den höchsten Ehrenstellen gelangen, und er durfte um so eher hoffen alles zu erreichen, was er in dieser Hinsicht wünschen konnte, da er keine bedeutende Mitbewerber um sich sah, die ihm den Preis streitig gemacht hätten. Freilich stand das Ziel, das er zu erreichen streben wollte, ihm noch fern, doch beide, er und Vicktorine, waren [86] nicht nur jung genug um die Zeit ihrer völligen Vereinigung ruhig abwarten zu können, sondern auch zu seelig in der Gegenwart, um über diese nicht gern die Zukunft zu vergessen. Und überdem, welcher Glückliche gieng nicht jedem Wechsel seines Zustandes mit einem heimlichen Bangen entgegen, selbst wenn diese Veränderung zu noch Höherem zu führen verheißt!

Bei alle dem verhehlte Raimund es sich nicht, daß sein kleines Vermögen gegen den fürstlichen Reichthum, der Vicktorinen einst zufallen sollte, durchaus nicht in Anschlag gebracht werden könne; doch sein heller reiner Sinn war weit über jene edelmüthig sein wollende Armseeligkeit erhaben, die nicht minder ängstlich berechnend als der Eigennutz, das Geld der Geliebten wägt und zählt, und es höher stellt als ihre Liebe, um nur, wäre es auch auf Kosten ihres Glückes, mit romanhaft grosmüthiger Entsagung prunken zu können.

Vicktorine war sein, sie selbst hatte sich ihm gegeben; auch arm hätte er sie nicht weniger geliebt, und so konnte die Goldmasse, die einst als Eigenthum [87] ihr zufallen sollte, den Werth dieses Geschenks in seinen Augen weder erhöhen noch sein Necht daran vermindern. Auch fühlte er in sich Kraft, Muth und Talent mehr als hinlänglich, um die Geliebte seines Herzens in jedem Falle nicht nur vor Mangel zu schützen, sondern ihr auch alles zu verschaffen, was man zu einem bequemen, ehrenvollen Leben bedarf. Wie die Welt ihn beurtheilen könne? kam ihm dabei gar nicht in den Sinn, und wenn er auch daran gedacht hätte, sein Vater hatte ihm gelehrt, auf das Gespräch der Leute nicht mehr Werth zu legen, als es verdient, ihm durchaus nie ein entscheidendes Urtheil über seine Handlungen einzuräumen, wenn es das Glück eines ganzen Lebens galt.

Während Raimund zum Eintritt in das thätige Leben eines Geschäftsmannes die ernstlichsten Vorkehrungen traf, faßte Vicktorine ihrer Seits den Entschluß, ihm diesen Schritt dadurch zu erleichtern, daß sie ihrer Beider Hoffnung so sicher zu stellen suchte als möglich. Niemand wußte bis jezt um ihre Liebe, denn sie hatte keine einzige jener Vertrauten, [88] die im gewöhnlichen Laufe der Dinge in der Mädchenwelt eben so unentbehrlich sind, als auf dem französischen Theater. Vicktorine hatte nie jenes Bedürfniß gekannt, von sich und ihren Gefühlen unablässig zu reden oder gar lange Briefe darüber zu schreiben, welches so Viele verlockt, wa hre oder eingebildete Liebesgeschichten an- und auszuspinnen, um nur in den Augen ihrer Vertrauten als die Heldin eines kleinen Romans zu glänzen. Hingegen war aber auch ihrem offnen Gemüth alles Heimlichthun durchaus verhaßt, und sie beschloß daher, die erste schickliche Gelegenheit zu ergreifen, um ihrem Vater das stille Geheimniß ihres Herzens zu entdecken, und ihn im Voraus durch Bitten und Gründe für ihre Liebe zu gewinnen.

Der ihr für dieses Geständniß günstig scheinende Moment blieb nicht lange aus. Sie war mit ihrem Vater allein, und fand ihn in einer sehr freundlichen Stimmung, doch ihr Vertrauen ward leider ganz gegen ihre Erwartung erwiedert.

»So! du hast Romane gelesen, mein Kind, und sie sind dir, wie ich sehe, schlecht bekommen« [89] antwortete ihr Herr Kleeborn, sobald er nur erst begriff was sie meinte, und dies mit einer Art ironischer Gelassenheit, die Vicktorinen, gleich einem Dolchstiche, wehe that. »Doch das thut nichts, es wird sich schon wieder geben, denn du bist noch jung und kannst noch vieles lernen,« fuhr er im nemlichen Tone fort. »Du wirst schon mit der Zeit einsehen,« sezte er hinzu, »daß die Welt anders aussieht, als es in deinen Büchern steht. Indessen du magst dies bald begreifen, oder spät, oder auch gar nicht, so präge dir wenigstens fest in den Sinn, daß dein Vater nie auf den thörichten Einfall kommen kann, seine der ganzen Welt rühmlichst bekannte Firma mit seinem Tode erlöschen zu lassen, und sein einziges Kind nebst allem, was er mit Mühe und Sorge erworben hat, einem Federhelden zu übergeben, der ein so beträchtliches Vermögen weder zu verwalten noch zusammen zu halten weis.«

Vicktorine wollte hier das Wort nehmen, doch ihr Vater lies sie nicht dazu kommen. »Schlage dir diese und ähnliche Grillen gänzlich aus dem [90] Sinne, Vicktorine,« rief er mit zornfunkelndem Blick, vor dem die Erschrockene verstummen mußte. »Ich warne dich, auf nichts eigensinnig zu bestehen,« fuhr er fort, »denn es hilft dir nichts, ich fordre Gehorsam. Es steht fest wie die Sonne, daß kein Baron, kein Graf, selbst kein Prinz mein Schwiegersohn wird, aber auch kein Schulfuchs, sondern ein tüchtiger Mann meines Standes, des ersten glücklichsten und ehrenvollsten in der Welt, weil er der nützlichste ist. Uebrigens hast du vergessen, mir den Namen deines Seladons zu nennen. Schweige, ich verlange auch nicht, ihn zu erfahren, weil es mir gleichgültig ist, wie ein arroganter Thor heissen mag. Du weißt jezt meinen Willen; geh' und richte dich darnach.«

Die eisige Kälte, mit welcher Herr Kleeborn dieses Urtheil aussprach, und die vollkommenste Gleichgültigkeit gegen dessen sichtbaren Eindruck auf das Gemüth seiner Tochter, mit welcher er dieser sich zu entfernen winkte, überzeugten Vicktorinen nur zu sehr von dem Vergeblichen jedes [91] Versuches, den strengen Richter zu erweichen. Ueberdem war es ihr in diesem Augenblick' unmöglich, noch länger in seiner Gegenwart zu verweilen, so ergriffen fühlte sie sich von der ganz unerwarteten Aufnahme, die ihr herzliches Vertrauen gefunden hatte.

Mit unbeschreiblich-schmerzhaftem Erschrecken ward sie jezt den von ihr nie zuvor geahneten Ernst des Schicksals der Menschen gewahr, das nie vergißt, auch seinen Günstlingen Dornen unter die Rosen zu streuen, die scheinbar den Weg bedecken. Bis jezt war jeder Wunsch, selbst jede schnell vorübergehende Mädchenlaune der Verwöhnten in Erfüllung gegangen, nichts war ihr jemals verwehrt oder abgeschlagen worden, und nun preßten Schmerz, Zorn und bange Furcht vor der Zukunft ihr heißbrennende Thränen aus den Augen, die bis diese Stunde nur freudiges Lächeln oder Thränen des Mitleids gekannt hatten.

Jezt erst fühlte sie ganz, was Raimund ihr war; sie hatte ihn sogar nie zuvor so innig geliebt, als in diesem Moment, wo sie zum erstenmale die Möglichkeit[92] sich dachte, von ihm getrennt werden zu können. Ihre Thränen trockneten, indem sie sich gelobte, der unbeugsamen Gewalt ihr starkes Herz voll Liebe und ihren festen feurigen Muth entgegen zu stellen. Endlich ergriff sie ohne weiteres Bedenken die Feder, um dem Geliebten das zwischen ihr und ihrem Vater Vorgegangene umständlich und offen darzustellen. Ihre Worte trugen das Gepräge einer leidenschaftlichen Gluth, welche ihr bis jezt stets fremd geblieben war, und die ein zuvor von ihr nie gekanntes Gefühl erlittnen Unrechts in ihr entzündet hatte. Sie dachte nicht daran, ihre Worte zu wählen, sie ward immer begeisterter, je länger sie schrieb, und zulezt schien ihr nichts ausdrucksvoll und glühend genug, um nur dem Freunde ihres Herzens Vertrauen in ihre Liebe und Treue einzuflössen, ihn im voraus über alles das zu trösten, was ihrem Glücke sich entgegen stellen könnte und ihm den starken Muth mitzutheilen, von dem sie sich selbst in diesem Momente durchdrungen fühlte.

[93] »Ich bin dein, Raimund,« schrieb sie nach vollendeter Erzählung des Vorgangs zwischen ihr und ihrem Vater; »ich bin dein und bleibe es und wärst du weit über dem Meer, und leuchteten dir in einem andern Welttheil andre Sterne als mir, und gienge dir in dem Augenblick fern von mir die Sonne auf, in welchem ich sie sinken sehe. Die Mitternacht würde dann auch mein Morgen sein, den Tag würde ich verträumen, und nur in der Nacht leben, wenn ich wüßte daß du des Lichtes dich freutest und deiner Vicktorine liebend gedächtest. Habe nur Vertrauen zu mir, denn nichts kann von dir mich wenden, nicht Bitten, nicht Drohen, nicht die Macht der Zeit, viel weniger die sterbliche Gewalt.«

»O könnte ich diese goldnen Ketten abstreifen, die ich jezt so herzlich verachte. Könnte ich mit dir in verborgener Mittelmässigkeit leben, für dich arbeiten und entbehren! Du denkst vielleicht, deine vom Glück verwöhnte Vicktorine spreche nur so leichthin von Entbehrungen, die sie nicht kennt, ohne einen Begriff damit zu verbinden; aber glaube mir, [94] mein Freund, ich weis was ich damit sage. Ich weis wohl, daß anfangs mir verzognem Kinde Dürftigkeit scheinen würde, was Andre als seltnen Ueberfluß hoch halten; ich weis, daß meine Erziehung mir leider schwere Fesseln angelegt hat, und daß ich gewissermassen von neuem leben lernen müßte, wenn ich aus dem Gleise hinausträte, an welches ich von meiner Geburt an gewohnt bin. Ich leugne das Opfer nicht ab, das ich damit brächte, aber bedenke auch, welches unnennbare Wonnegefühl es sein müßte, durch irgend ein Opfer und wäre es das höchste, die Seeligkeit zu erringen, an der Hand des Geliebten durchs Leben zu gehen! Durch dich, mit dir immer höher zu streben zum Urquell alles Guten und Wahren und Schönen!«

»Ich bin nicht für den Schmerz gebohren, das weis ich seit heute, da ich zuerst ihn empfand; er erdrückt mich, er vernichtet mich, und nur im Sonnenscheine des Glücks kann alles das Gute, welches in mir, wie in jedem lebenden Geschöpfe [95] liegt, zur vollen Blüthe sich entfalten. Und wo ist Glück für mich als bei Dir?«

»Doch fahre hin, schöner Traum vor dem was sein könnte, ich muß Dir entsagen, denn ich darf meinen Vater nicht ohne seine Einwilligung verlassen, wenn ich Raimunds und des Glückes werth bleiben will, dem ich so nah zu sein hoffte, und das jezt in so ungemessner Ferne vor mir steht. Ich werde meinem Vater gehorchen wie ich that seit ich lebe, mit heissen, bittern Thränen schreibe ich dies nieder, doch ohne Kampf mit mir selbst. Ich werde seinen Wünschen entgegen eilen, und jeder seiner Winke sei mir Befehl, in allem, wo er mir gebieten darf. Ach alles, alles will ich thun, alles, alles leiden, hingeben, entbehren, nur Dich zu lieben, wolle er mir nicht verwehren, er darf es nicht, er kann es nicht, so wenig als er mir verbiethen kann zu athmen. Die Hand, die meines Herzens Schlag schuf und erhält, legte auch den Keim dieser Liebe gleich bei seinem Entstehen in dies nehmliche Herz; mein Dasein ist mit dem Deinen innigst verflochten, es läßt sich nicht losreissen, [96] dies nur versuchen, hieß sündigen, es wäre geistiger Selbstmord, darum bin und bleibe ich dein, nahe oder ferne, gleich viel.«

»Während ich Dir schreibe, Geliebter! kam Trost in meine Seele. Wie konnte es anders sein, Du warst ja bei mir und ich fühlte Deine liebende Nähe! Raimund, noch blüht uns die Gegenwart, wir werden uns sehen, uns sprechen wie zuvor, und sind durch gemeinschaftliche Sorge nur noch inniger vereint. Mein Vater hat mir nicht geboten, den Umgang mit Dir aufzuheben, er kennt nicht einmal den Namen des Mannes, dem seine Tochter auf ewig angehört, anfangs lies er mir nicht Zeit ihn zu nennen, später hielt er es nicht der Mühe werth, darnach zu fragen. So leichthin behandelt er das Herz, das Glück seines Kindes! Doch auch hierin liegt Trost; ich darf den Vater nun noch nicht grausam schelten, denn er weis ja nicht, was er mir thut; vielleicht wäre er sonst milder, er hat mich ja immer geliebt?«

Es war der erste Brief, den Vicktorine jemals an Raimund geschrieben hatte, und sie sendete ihn [97] verborgen in einem Pakete Musikalien an ihn ab, ohne dadurch Argwohn zu erregen; denn der Singverein veranlaßte oft solche Sendungen.

Daß Raimund das Schreiben erhalten habe, war nicht zu bezweifeln, doch viele Tage vergiengen, ohne daß er ihr antwortete. Vergebens hoffte Vicktorine im Singverein ihn zu treffen, vergebens suchte ihr Auge ihn auf der Promenade, im Konzert, im Theater, er fehlte überall, wo sie sonst gewohnt war, wenigstens aus der Ferne seinen Gruß zu erwiedern. Sie vergieng beinahe vor innrer Unruhe; tausend, immer abentheuerlicher werdende Besorgnisse drängten sich ihr auf und füllten ihre Fantasie mit Schreckbildern. Und doch war jeder Versuch, aus dieser beängstigten Lage zu kommen, ihr unmöglich, denn es fehlte ihr der Muth, nur Raimunds Namen zu nennen, vielweniger mochte sie es wagen, bei Bekannten nach ihm sich zu erkundigen. Endlich nach mehreren, in unaussprechlicher Bangigkeit verlebten Tagen erhielt auch sie ein Paket Musikalien, sie erbrach es mit zitternder Hand, es enthielt das, wonach sie so [98] lange sich gesehnt, einen Brief des Geliebten. Raimund schrieb:

»Du, meine Vicktorine! Du, deren schöne Seele so wahr, so glühend es empfindet, welche Seeligkeit es sei, der Liebe alles zu opfern, freue Dich mit Deinem Freunde, daß er der Glückliche ist, dem die strenge Pflicht erlaubt, was sie Dir verbietet.«

»Ja, ich habe im festen, heiligen Vertrauen auf Dich alles von mir geworfen; meine Aussichten für die Zukunft, meine Pläne, die ganze bisherige Tendenz meines Lebens; sogar meiner Unabhängigkeit habe ich, für einige Zeit wenigstens, entsagt, um nur die Hoffnung mir zu gewinnen, Dich mir einst erwerben zu können; denn – seit zwei Tagen arbeite ich im Komtoir des Kommerzienraths Fischer, dessen Sohn, wie Du weist, einer meiner Universitätsfreunde ist.«

»Du erbleichst, Dein schönes Auge füllen Thränen und bange Furcht bemeistert sich Deiner, indem Du dieses liesest. Fasse Muth, meine Vicktorine, zage nicht, zweifle auch nicht; ich habe den Schritt, den ich that, wohl überlegt. Um dieses zu können, [99] vermied ich es sogar in diesen Tagen, Dich zu sehen, denn ich wollte den wichtigen Kampf mit mir ganz allein in ungestörter Stille auskämpfen; ich schrieb Dir nicht, bis ich, mit mir selbst völlig einig, Dir sagen konnte: das habe ich gethan, statt Dir zu melden: das gedenke ich zu thun. Ich bin nicht minder offen als Du; ich werde es gegen Dich immer so sein, und darum will ich nicht einmal das Dir verhehlen, daß auch ich nicht ohne Schmerz von allem Gewohnten mich losreissen und die von meinem Vater für mich gewählte Bahn verlassen konnte, um mich in das Gewirre und Getreibe einer Welt zu werfen, die nie die meine war. Doch glaube mir: ich bin unfähig, je zu bereuen, was ich nur nach vielfacher Ueberlegung unternahm, und werde gewiß von nun an alle Pflichten des an sich ehrenwerthen Standes erfüllen, den ich selbst mir erwählte, ja den ich mir erwählen mußte, um gegen mich selbst gerecht zu sein.«

»Theure Vicktorine, ich habe mich in dieser Zeit sehr strenge geprüft, ich bin mit mir selbst offen zu Werke gegangen, was so schwer ist; denn wen [100] täuscht man lieber und leichter, als sich selbst? Auch Dich will ich nicht täuschen, und so gestehe ich Dir offen, daß ich jezt weis: ich könnte ohne Dich das Leben zwar tragen, aber ich fühle auch, daß ich mich alsdann dazu anschicken müßte, wie zu einer nächtlichen Winterreise ohne Wärme und Licht, denn Du, Vicktorine, bist die Sonne meines Daseins, das ich ohne Dich kraftlos, in Dunkelheit hinschleppen müßte. Darum schilt mich nicht, daß ich that was ich mußte; beneide mich auch nicht, daß ich durfte was Du nicht darfst, und vor allem, tadle Deinen Vater nicht, dessen wohlgemeinter, und im rechten Lichte gesehen, auch wohl motivirter Wille mir es möglich machte, Dir durch mehr als Worte zu zeigen was Du mir bist.«

»Kann es Dich beruhigen, und ich hoffe es wird es, so vernimm, daß ich schon jezt einsehe, wie ich zu meinem jezigen Berufe, bei meinen, freilich zu anderm Zwecke erworbnen Kenntnissen nicht viel mehr brauchen werde als Gewöhnung und dabei Aneignung des ihm eigenthümlichen, mechanischen Theils desselben, den gewöhnlich Knaben in früher [101] Jugend schon erlernen. Alles dies dünkt mir indessen zum Theil nicht schwer zu begreifen, zum Theil werde ich dessen überhoben. Was dem Knaben als Zentnerlast erscheint, ist ja überdem dem reifen Manne ein Spiel. Und wäre es auch anders, was kann mir lästig dünken, wenn ich den Blick dem Ziele zuwende, zu dem ich strebe.«

Leidvoll und Freudvoll versank Vicktorine in sich selbst, als sie dieses las. Das Opfer, welches Raimund ihr gebracht, erfüllte ihr Gemüth nicht mit Liebe, nicht mit Bewunderung, aber mit einem aus beiden zusammengesezten namenlosen Gefühl: als sie ihr Wesen so ganz mit dem seinen verschlungen, daß nur Tod sie von ihm reissen könne. Die Liebenden sahen sich wieder; ihr erstes Wiedersehen war ein schmerzlich-entzückender Augenblick; auch ward ihnen von nun an nur selten das Glück, mehr, als Blicke oder ein paar flüchtig hingeworfene Worte mit einander wechseln zu können; denn Beide fühlten jezt mehr wie je die Nothwendigkeit, ihr Geheimniß den Augen der neugierigen Welt zu verbergen. Sie vermieden deshalb auf das gewissenhafteste [102] jede Unvorsichtigkeit in ihrem Betragen, durch die das Heiligthum ihrer Herzen unberufnen Beobachtern hätte verrathen werden können.

So vergieng ihnen ein Jahr und drüber in der Seeligkeit des reinsten Bewustseins vertrauensvoller inniger Liebe. Das jungen Holm rasch ausgeführter Entschluß war bei seinem Alter, bei seinen Kenntnissen in einem andern Fache, bei seinen Aussichten in eine ihm offen stehende ehrenvolle Zukunft zu beispiellos, als daß er nicht selbst in dieser großen Stadt dadurch hätte Aufsehen erregen sollen. Anfangs war darüber, als über eine große Thorheit viel gesprochen und gespöttelt worden, späterhin aber begann Raimund, sich ganz auf eine entgegengesezte Weise bemerkbar zu machen. Man fühlte sich gezwungen, die Leichtigkeit zu bewundern, mit welcher der Neuling Schwierigkeiten überwand, die denen unüberwindlich geschienen hatten, welche, von Jugend auf zum Kaufmannsstande erzogen, es für unmöglich hielten, sich ohne diesen Vortheil in Geschäften solcher Art zurecht finden zu können. Raimunds sehr ausgebreitete Kenntnis fremder [103] Sprachen, die Geschicklichkeit, mit der er den bedeutendsten Theil der Korrespondenz seines Hauses zu führen wußte, und mehr noch als alles dies, der Scharfblick und die Berechnung der Umstände, durch welche er dasselbe zu einigen sehr vortheilhaft ausfallenden Spekulazionen veranlaßt hatte, erwarben ihm allgemeine Achtung an der Börse. Man wußte, daß er ohne alle Belohnung an Gelde im Fischerschen Komtoir arbeite, aber die angesehnsten Häuser hätten gern um jeden Preis einen solchen Gehülfen sich erworben, der, ohne die Lehrjahre überstanden zu haben, gleich als Meister auftrat. Jeder profezeyete in ihm einen künftigen Stern erster Größe in der handelnden Welt, wenn das Glück ihn nur so begünstigen wolle, als seine Kenntnisse und sein Fleiß es verdienten. Sogar Herr Kleeborn erwähnte seiner einigemal über Tische, und mit grossem Lobe. Vicktorine getraute sich dabei kaum, die Augen von ihrem Teller zu erheben, und ihr laut pochendes Herz wollte vor banger Freude zerspringen, denn ein ganz eignes schlaues Lächeln ihres [104] Vaters, indem er den Namen Holm auffallend betonte, verrieth ihr nicht nur seine Bekanntschaft mit ihrem Geheimniß, sondern sie glaubte auch mit Sicherheit, Pläne zu ihrem künftigen Glück darin lesen zu dürfen.

Ganz unbefangen und ahnungslos folgte sie daher dem Ruf ihres Vaters, als dieser sie, wie er zuweilen that, zu sich in sein Kabinet beschied. Höchstens erwartete sie wieder einmal von einem abgewiesenen Heurathsantrage hören zu müssen, und sie erschrack daher schon ein wenig, als Herr Kleeborn mit ganz sonderbarer, etwas feierlicher Freundlichkeit ihr entgegen trat, ihre Hand ergriff, und sie nöthigte, sich zu ihm auf das Sofa zu setzen.

»Vicktorine,« begann er nach einer kleinen Pause, seine wahrscheinlich vorher einstudirte Rede, »Vicktorine, Du bist mein einziges Kind, und Du weist, wie es von jeher mein höchster Wunsch war, Dein wahres Glück nach bester Einsicht und Kraft zu begründen. Viele Jahre hindurch habe ich Tag und Nacht für Dich gesorgt und gearbeitet, [105] darum ist es jezt an Dir, mich für alle meine Sorge und Mühe zu belohnen. Nun, ich muß es Dir zum Ruhm nachsagen, Du warst ein folgsames Kind, und hast Dir nie die mindeste Einwendung gegen meinen Willen erlaubt, wenn ich Anträge abwies, die ich für Dich als unpassend erkannte, indem ich mit meinem wohlerworbnen Golde weder alte Adelsbriefe auffrischen, noch verschuldete Güter einlösen lassen mag. Nun! des Vaters Seegen erbaut den Kindern Häuser, und auch meiner hat Dir eins gebaut, denn ich habe Dich rufen lassen, um Dir anzukündigen, daß Du endlich die Braut eines würdigen Mannes meines Standes bist, eines Kaufmanns recht nach meinem Herzen, der« – – –

»Herr Holm ist im Komtoir,« rief jezt Jemand zur Thür herein. »Herr Holm!« wiederholte Kleeborn nachdenklich für sich hin, Vicktorine bebte an allen Gliedern. »Es ist gut so, und vielleicht um so besser,« sezte jezt Kleeborn nach kurzem Ueberlegen halblaut hinzu; dann wandte er sich zu Vicktorinen: »Geschäfte gehen allem vor, mein [106] Kind wie Du weist, doch Du bleibst hier, es ist gleich abgethan, und wir sprechen hernach weiter.« »Lassen Sie den jungen Holm nur herein treten,« sagte er zu dem, der ihn gemeldet hatte. Dieser gieng sogleich, den Befehl zu vollstrecken und nach wenig Sekunden stand Raimund vor Vicktorinen. Sein erster Blick fiel auf sie, er sah sie fast besinnungslos da sitzen und erröthete sichtbar, doch suchte er sich schnell wieder zu fassen, und richtete wirklich seinen Auftrag an Herrn Kleeborn mit möglichster Klarheit aus; anfangs freilich mit etwas unsicherer, nach und nach aber mit immer fester werdender Stimme. Es war von einer sehr bedeutenden Unternehmung die Rede, zu welcher Holm den Plan entworfen hatte, und zu deren Ausführung Herr Kleeborn mit dem Herrn Fischer zusammentreten wollte. Er gieng darüber mit Raimunden in sehr weitläuftige Unterhandlungen ein, lobte mehrmals die helle, bestimmte Ansicht des jungen Mannes, und betrug sich im Ganzen so freundlich und höflich gegen ihn, daß Vicktorine sich nicht nur allmählig von ihrer Ueberraschung erholte, [107] sondern sogar begann, in ihrem Gemüthe den kühnsten Hoffnungen Raum zu geben.

Der Gegenstand des Gesprächs der Beiden war nun erschöpft und Holm machte Miene sich entfernen zu wollen, doch Kleeborn hielt ihn fest. »Ehe Sie gehen, lieber Herr Holm,« sprach er, »will ich Ihnen doch einen Beweis meiner Achtung für Ihre Person geben; Sie sollen der erste sein, der meiner Tochter als der Braut des Sir Charles Wissmann seinen Glückwunsch bringt. Ihr Bräutigam ist holländischer Konsul in London und der Sohn des berühmten Amsterdammer Hauses dieses Namens, das Ihnen gewis rühmlichst bekannt sein wird. Seit mehr als zehn Jahren bin ich diesem Hause so hoch verpflichtet, daß ich nur auf diese Weise meine Schuld einigermaßen abtragen kann.«

Raimund stand jezt unbeweglich und bleich gleich einer Marmorbüste da. Es war ihm als ob bei dieser unerwarteten Anrede die Sinne ihm vergiengen; auch Vicktorine starrte mit gefalteten bebenden Händen und mit weit offnen Augen athemlos vor sich hin. Sie sprang vom Sofa auf. [108] »Vater!« rief sie, »Vater, was soll dieser grausame Scherz?« Die Stimme versagte ihr, sie verstummte, sichtbarlich zitternd vor innerer ängstlicher Bewegung.

»Scherz, mein Kind?« erwiederte Kleeborn mit erzwungnem Gleichmuth, »ei! ei! Vicktorine, seit wenn kennst Du mich denn von dieser spashaften Seite? Daß ich mit ernsten Dingen nicht gewohnt bin zu scherzen, könntest Du doch wissen. Frage nur hier Herrn Holm, das Haus Deines Schwiegervaters in Amsterdam ist ihm gewis bekannt.«

»Sie scherzen nicht? Vater,« rief jezt Vicktorine, sich und alles in ihrer Verzweiflung vergessend. »Sie scherzen nicht? Und dieser fürchterliche Hohn – o Vater! ich habe Ihnen ja nichts verschwiegen, Sie konnten mein Herz« – – Kleeborn unterbrach sie. »Mädchenherzen sind Modeartikel, auf die kein vernünftiger und gewis kein solider Mann sich einläßt,« erwiederte er ihr, noch immer sehr gleichmüthig. »Uebrigens,« sezte er hinzu, »will ich hoffen, daß Dein Herz kein rebellisches, sondern ein gehorsames Herz ist, wie [109] es sich für meine Tochter ziemt. Von Deinen Geständnissen aber, die Du mir gemacht haben willst, weis ich kein Wort, und auch Du thust am besten, sie ebenfalls zu vergessen«.

»Vater, o mein Vater,« rief Vicktorine ängstlich flehend, »Sie wußten um meine Liebe. Hören Sie auf, mich auf diese Weise zu ängstigen, ich habe Ihnen ja nichts verborgen, und wenn Sie auch Gründe vielleicht hatten, den Namen des Mannes, den ich liebe, nicht von mir nennen hören zu wollen, so konnten Sie ihn aus Raimunds seltnem Entschluß doch errathen; ja Sie haben ihn errathen; besinnen Sie sich doch, lieber Vater, Sie haben ihn errathen« – – »Das ich nicht wüßte,« fiel Kleeborn, noch immer sehr kalt und gelassen ein, »ich gab mich nie sonderlich mit Räthseln ab, doch weis ich lange, daß junge Mädchen sich mit eingebildeten Liebesgeschichten die Zeit vertreiben, wenn es mit den Puppen nicht mehr recht fort will, denn jedes Alter will sein Spielwerk. Doch, Du Vicktorine, solltest die Kinderschuhe endlich ausgetreten haben, [110] und ich bitte, daß es von heute an geschehe, wenns nicht schon geschehen ist.«

Mit hochfliegender Brust, bleich und stumm vor Entsetzen, stand Vicktorine im gewaltsamen Kampfe ihres Innern da, während ihr Vater sich jezt vornehm höflich an Raimund wandte. »Von Ihnen, Herr Holm,« sprach er zu diesem, »und von Ihrem Verstande hege ich eine zu gute Meinung, als daß ich nicht glauben dürfte, daß Sie von jeher eingesehen haben werden wie weder Ihre jetzige Lage, noch Ihre derzeitigen Vermögensumstände Sie für jezt berechtigen können, auf die Hand eines Mädchens, wie die einzige Tochter von Martin Nicolaus Kleeborn eines ist, Ansprüche zu machen.« Hier wollte Raimund antworten, doch der Alte lies ihn nicht zum Worte. »Ich will Sie mit dieser meiner Aeusserung keinesweges zurücksetzen, lieber Herr Holm,« sprach er noch immer in ziemlich höflichem Tone; »im Gegentheil, ich kenne Sie als einen sehr soliden und geschickten jungen Mann, der einst gewis noch in der Welt sein Glück machen wird. Viele haben mit [111] weit Wenigerm angefangen als Sie und sind jezt Millionäre. Ihr Glück blüht noch, und wenn ich in Zukunft Ihnen irgendwo dienen kann, soll es gern geschehen, denn ich helfe gern jungen Leuten fort. Aber für jezt – nun Sie wissen es ja auch, künftig ist nicht heut, und man pflückt nicht Blüthen sondern Früchte.«

Raimund hatte allmählig während dieses Vorganges seine Fassung wieder errungen.« Je länger Kleeborn sprach, je höher richtete er sich aus seiner vorigen, durch Schrecken und Verlegenheit gebeugten Stellung wieder empor, so daß er zulezt mit fast königlichem Anstande vor seinem Widersacher stand, und ihm so fest ins Auge sah, daß Kleeborn jezt seinerseits dadurch in einige Verlegenheit gerieth und unwillkührlich das Gesicht von ihm abwandte.

»Ich weis, wer und was ich bin, und es bedarf keiner Erinnerung von Ihnen, Herr Kleeborn, um mich in den mir gebührenden Schranken zu halten,« erwiederte Raimund jezt, zwar mit gemässigtem, aber dennoch sehr festem, ernsten [112] Tone. »Ja, ich gestehe es,« fuhr er fort, »und ich bin stolz darauf, es Ihnen und der ganzen Welt zu bekennen, daß ich Vicktorinen mehr liebe als mich, als mein Glück, als mein Leben. Doch verstehen Sie mich recht, nur sie liebe ich, nur nach ihrem Besitze strebe ich, nicht nach dem Vermögen ihres Vaters, dessen ich Gottlob nicht zu meinem Glücke bedarf.«

»Ich habe Sie ausreden lassen, und erbitte mir die nämliche Gefälligkeit jezt von Ihnen,« setzte Raimund hinzu, da er bemerkte, daß der Alte ihm etwas erwiedern wollte. »Es kann Ihnen nicht unbekannt sein,« fuhr er fort, »daß, wäre ich dem Stande getreu geblieben, zu dem ich erzogen ward, ich die sichre Aussicht hatte, Ihrer Tochter mit meiner Hand ein vielleicht glänzendes, oder doch gewis ein unabhängiges und ehrenvolles Loos bieten zu können. Doch ich verlies diese Bahn, um auf eine Weise zu dem höchsten Ziele meiner Wünsche zu gelangen, die auch Ihnen gefallen, und sogar mit der Zeit Ihnen nützlich werden könnte. Ich wünschte, dem Vater [113] Vicktorinens durch ein nicht unbedeutendes Opfer meine Liebe zu seiner Tochter zu beweisen, und zugleich durch mei nen angestrengtesten Fleiß ihm späterhin ein sorgloses, mühloses Alter....

»So? Ey das ist ja recht schön und lobenswerth,« fiel Kleeborn jezt noch immer ein wenig verlegen ein, – denn das edle feste Benehmen des jungen Mannes imponirte ihm doch einigermassen, und überdem mochten auch Rücksichten auf das eben gesprochene, wichtige Geschäft ihn bewegen, denselben mit einiger Schonung zu behandeln. »Ja sehen Sie« fuhr er daher ziemlich freundlich fort, »das ist wie gesagt recht lobenswerth und schön. Nun Sie werden es mir gewis noch selbst einst verdanken, daß ich so gleichsam die unschuldige Ursache war, Sie auf den rechten Weg zu bringen, denn Sie sind zum Kaufmann geboren. Und wie gesagt, wenn ich gleich Ihre Offerte wegen meiner Tochter diesmal nicht annehmen kann, so bin ich doch stets geneigt, Ihnen in Zukunft mit meinem guten Rath' oder auch sonst zu dienen, denn wir bleiben doch gute [114] Freunde, da ich von Ihrer Rechtschaffenheit hoffe, daß Sie nicht hinter meinem Rücken etwas unternehmen werden, um mein einziges Kind zum Ungehorsam zu verleiten.«

Holm, ohne ihm zu antworten, wandte sich Vicktorinen zu, die, einer Sterbenden ähnlich, in der leidenschaftlichsten Bewegung vergebens nach Athem rang. »Theures, unaussprechlich geliebtes Wesen,« sprach er, und drückte ihre Hand an sein hochschlagendes Herz, Vicktorine, Du Licht meiner Augen, Du Leben meines Lebens, zürne mir nicht, daß ich jezt Deine Freiheit Dir wieder gebe; ich wollte Dich verdienen, doch erschleichen will ich Dich nicht; entscheide über Dich selbst und, wenn Du es vermagst, so folge dem Willen Deines Vaters; laß den Gedanken an mein künftiges Geschick auf Deinen Entschluß keinen Einfluß haben. Dein Glück ist das meine, Dein Bild kann mir niemand rauben, und eine Zukunft giebt es nicht mehr für dieses Herz, das hinfort nur in der Vergangenheit lebt. Ich bleibe Dein, denn ich kann nicht anders, doch Du – – –

[115] »Raimund! Raimund!« schrie Vicktorine mit konvulsivischer Heftigkeit laut auf; sie stürzte zum erstenmal sich in seine Arme, an seine Brust, sie umschlang seinen Nacken mit furchtbarer Angstgeberde, und sank dann vor ihrem Vater nieder, dessen Knie sie fest umklammerte. »Vater!« rief sie, »können Sie mich, Ihr einziges Kind so sehen und nicht sich erbarmen! können Sie diesen edelsten der Menschen hören und nicht an Ihre Brust ihn schließen, und nicht Gott danken, daß er ihr Sohn sein will!«

»Romanenheldin! Komediantin! solche Theaterpossen gehen an mir verloren,« rief der Vater bleich vor Zorn, mit bebenden Lippen, indem er sich los zu machen strebte. »Also auf du und du? bei Gott das geht weit! Steh' auf! Steh' auf Vicktorine, Du bist und bleibst Charles Wissmanns Braut, denn ich gab mein Wort, und werde es Deiner Narrheit zu gefallen nicht zum erstenmal in meinem Leben brechen. Und Sie junger Herr – –«

»Vollenden Sie nicht, was Sie sagen wollen! [116] Hören Sie erst meine Erklärung auch,« sprach Raimund mit so festem männlichen Ton, daß Kleeborn sich bewogen fühlte, ihm nachzugeben. »Daß ich nach diesem nicht mehr daran denken kann, Sie durch Bitten erweichen zu wollen, werden Sie mir zutrauen, daß ich mein Glück nicht erschleichen will, wiederhole ich Ihnen nochmals.«

»Sie werden also hinfort nicht suchen, meine Tochter heimlich zu sehen? Sie wollen ihr nicht schreiben? in Summa, Sie geben alle Ihre Ansprüche auf?«

»Ich habe keine Ansprüche als an ihr Herz, und nur Vicktorine darf hier entscheiden,« erwiederte Raimund.

»Ich bin Du, Du bist ich,« rief Vicktorine überlaut und umschlang ihn nochmals. »Lassen Sie mich, mein Vater,« sprach sie mit so wild blitzenden Augen, als dieser eine Bewegung machte, sie von Raimund los zu reissen, daß er erschrocken von ihrer Heftigkeit, zurück fuhr. »Höre mich, Gott, was ich in Gegenwart meines Vaters [117] gelobe,« rief sie, und hob wie zu einem Eidschwur ihre rechte Hand empor. »Ich schwöre Treue, unverbrüchliche Treue diesem Mann. So wie nichts ihn je aus meinem Herzen reissen kann, so soll nichts je mich bewegen, meine Hand einem Andern zu geben. Und nun lebe wohl,« sprach sie, in die höchste Weichheit übergehend, »lebe wohl, mein Glück, meine Jugend, meine Seeligkeit auf Erden! Raimund ich bin Dein und bleibe es, darum versprich für mich was Du willst, ich werde es halten, denn Du bist meine Seele, meine Tugend, Du bist alles! Meineid wirst Du auf mich nicht laden wollen,« hauchte sie noch in gebrochenen Tönen hin, und sank wie aufgelöst, in seinen Armen zusammen.

»Vicktorine, o meine Vicktorine!« war alles, was Raimund aus gepreßter Brust hervor seufzen konnte, und Thränen glänzten in seinen Augen, indem er sie aus seinen Armen auf das Sofa niedersinken lies, ihre Hand behielt er fest in der seinen, indem er ihrem Vater sich zuwandte, der [118] jezt, schäumend beinah, in unthätigem Zorn, dabei stand.

»Sie hörten die Erklärung Ihrer Tochter,« sprach Raimund mit edlem Anstand' und gemässigtem Ton; »Ich habe hier nach Vicktorinens Willen für uns beide zu handeln, und so nehmen Sie denn unser beider heiliges Versprechen, daß wir nicht suchen wollen, uns heimlich weder zu sehen noch zu schreiben, so lange Sie es uns verbieten, denn ich hoffe, daß Ihre Behandlung Vicktorinens mir nicht zur Pflicht machen wird, der Geliebten zu Hülfe zu eilen. Wollen Sie noch mehr?« »Ihr sollt euch trennen,« schrie Kleeborn, fast unverständlich vor Wuth.

»Wir trennen uns, bis ein günstigeres Geschick uns vereint, hier oder dort!« sprach Raimund mit glänzenden Augen. Fest, aber wehmüthig setzte er noch hinzu. »Sein Sie ruhig, alter Mann, wir sind beide nicht fähig Sie zu betrügen.« Dann küßte er noch einmal Vicktorinens leblose Hand. »Lebe wohl, lebe wohl, auf lange Zeit!« rief er aus, und verließ das Zimmer.


[119] »Und so ist es noch in diesem Augenblick, Tante,« sprach Vicktorine am Ende ihrer Erzählung. »Wir haben Wort gehalten, wir sehen uns nicht, wir schreiben uns nicht, aber die Luft, die mich umweht, bringt mir seinen Gruß, und die Sterne am Himmel sind unsre Vertrauten, denn sie leuchten mir und ihm, ich lese in ihnen, daß er meiner gedenkt, der Abglanz seiner Blicke stralt mir aus ihnen entgegen, das kann mein Vater doch nicht hindern? Nein so weit reicht nicht seine Gewalt; aber auch eben so wenig soll sie dahin reichen, mich zwingen zu können, jenem Verhassten meine Hand zu geben, und so auf mein bis jezt schuldloses Gemüth die Sünde des Meineids zu laden. O Tante, sagen Sie ihm nur dieses, wenden Sie Ihre Ueberredungskraft nur dazu an, ihn hiervon zu überzeugen, damit er aufhöre, mich zu zwingen, ihm widerspenstig und pflichtvergessen zu erscheinen, während ich doch nur thue, was ich muß. O nehmen Sie gütig uns Verlassene in Ihren Schutz!« setzte Vicktorine kindlich flehend hinzu.

[120] »Glaubst Du wirklich, es bedürfe Deiner Bitten, damit ich alles, was in meinen Kräften steht, zu Deinem Besten versuche?« erwiederte freundlich die Tante. »Das Nöthigste wäre freilich erst, auszumitteln, was eigentlich Dein Bestes erfordert, und vor allen Dir beizustehen, damit Du Gewalt genug über Dich gewinnst, um jene Heftigkeit zu mässigen, die spät oder früh Dich ins Verderben stürzen muß.«

»Tante, liebe Tante,« fiel Vicktorine ihr ein, »ich bin von Natur nicht heftig, ich war in Raimunds Nähe stets sanft und mild und lenksam wie ein Kind. Aber hier gilt es mehr als mein Leben! Gewis wenn wir nicht früherem Untergange bestimmt sind, so kommt einst die Zeit, die mich und Raimund hier noch vereint, denn wir beide sind nur zusammen, nur eins durch das andere, alles was wir sein können! Nehmen Sie mir ihn, und Sie rauben mir nicht nur mein ganzes Erdenglück, Sie rauben mir das Gefühl des Rechts, der Tugend, Sie machen mich zu einem Nichts, und in mir, o mein Gott!« rief sie mit [121] unendlicher schmerzhafter Geberde, »o mein Gott, in meinem armen unbedeutenden Ich zerstört ihr das grosse schöne Herz meines Freundes! Wer könnte diesen Mord euch vergeben!« setzte sie mit strömenden Augen hinzu und verbarg laut weinend ihr Gesicht.

In diesem Moment trat Angelika hinein, doch da sie die Beiden so bewegt sah, entfernte sie sich sogleich wieder, um durch ihre Gegenwart nicht störend zu werden. Die Tante sah schweigend ihr nach. »Und wie willst Du denn diese milde liebliche Erscheinung Dir erklären, Vicktorine,« fragte sie endlich;« darfst Du Deinen Schmerz dem Ihren gleich stellen? und lebt sie nicht? lächelt sie nicht zuweilen!? und siehst Du nicht sogar in allen ihrem Thun zarte Keime eines neuen, nur anders gestellten Lebens erblühen? Ach liebes Kind, Glück und Unglück gehen an uns vorüber, nur das Recht, die Pflicht bestehen, und was diese uns gebieten, läßt sich erfüllen. Die Kraft dazu kommt uns, wir wissen nicht wie, obgleich wir es ahnen, und die Bessern unter uns hebt [122] der Schmerz über sich selbst: und veredelt sie, statt sie nieder zu drücken.«

»Tante« rief Vicktorine, »um Gotteswillen, nennen Sie Angelikas armes Dasein Leben? sind denn die Keime neuen Lebens, wie Sie sie nennen, etwas anders, als nimmer aufblühende Knospen, die zu einer Todtenkrone sich flechten wollen? Können Sie so irren? Haben Sie nie gelebt? nie geliebt?«

»Doch wohl vielleicht!« erwiederte die Tante mit einem leisen Seufzer, und brach für diesen Abend das Gespräch ab.


Zu aller ihrer Freunde höchsten Erstaunen, erholte sich Vicktorine unglaublich schnell von dem letzten Stoß, den ihre Gesundheit erlitten hatte.

Man schrieb dieses halbe Wunder zwar dem Arzte zu, doch eigentlich war es die Tante, die den Grund dazu legte, theils indem sie der Kranken durch Herrn Müller die beruhigende Gewisheit [123] zu verschaffen wußte, daß von Raimunds Reise nach Odessa nie ernstlich die Rede gewesen sei, theils indem sie den schweren Druck gewaltsam erzwungnen Schweigens von ihr nahm, und ihr erlaubte, alle Gefühle ihres, von Angst und Liebe überströmenden Herzens vor ihr auszuschütten. Im Genuß ihrer freudigen Jugend hatte Vicktorine bis jezt keiner Vertrauten bedurft, und folglich auch keine gefunden, aber sie war auch dabei vom Schicksal zu verwöhnt worden, um den Schmerz ebenfalls allein tragen zu können. So hatte einzig das gewaltsame Zurückdrängen des sie allmächtig beherrschenden Gefühls des Kummers, der Sorge um den Geliebten, sie an den Rand des Grabes gebracht. Jezt aber fand sie in der Tante, was weder die gute, doch beschränkte Virnot, noch eine ihrer Jugendgespielen ihr hatten sein können: eine weise, theilnehmende Freundin, die zwar weit davon entfernt blieb, ihr Benehmen durchaus zu billigen, und dieses sogar mit eindringendem Ernst zuweilen äusserte, die aber doch gern und gelassen sie anhörte. Und [124] für dieses leidenschaftliche Gemüth war das schon eine grosse Erleichterung.

Uebrigens übte die Tante durch ihre bloße Gegenwart eine Art magnetischer Kraft an Vicktorinen, die in der That wunderbar und seltsam genug war. Sie widersprach ihr wenig, sie fragte noch weniger, sie hörte sie meistens nur an. Aber der ernste, durchdringende Blick ihres klaren Auges entflammte Vicktorinen zu immer festeren Beschlüssen; dem stummen Widerspruch, den sie oft in den Zügen ihrer Vertrauten zu lesen glaubte, stellte sie ihre geheimsten Gedanken, ihr verborgenstes Empfinden laut entgegen und so lernte sie erst durch dieses, mit unsichtbarer Gewalt erpreßte Vertrauen sich und ihr Herz klar erkennen, indem sie dadurch über vieles erst zum deutlichen Bewußtsein gelangte, was bis dahin nur wortlos ihrem innern Sinne vorgeschwebt hatte.

So kehrte denn nach und nach das gewohnte Leben in den häuslichen Kreis des Kleebornschen Hauses wieder zurück, und der Herr desselben begann schon, dem Zeitpunct freudig entgegen zu [125] sehen, in welchem Ueberfluß, Pracht und rauschende Gesellschaften seine weiten Säle wieder füllen würden. Er kam jezt jeden Abend auf eine Stunde in das Wohnzimmer, wo die Tante mit anmuthiger Sitte und gewohnter Heiterkeit am Theetische waltete, um welchen sich schon zuweilen einige vertraute Freunde versammeln durften; er sah mit Vergnügen, wie auf Vicktorinens bleichen Wangen die Farbe der Genesung allmählig wieder erblühte, und ihr so lange verdunkeltes Auge wieder im helleren Glanze zu strahlen begann. »Nun, nun, murmelte er dann für sich hin, es geht wie ich dachte, mit der Zeit wird sich alles geben,« und eilte seelenvergnügt dem Spieltische zu, an welchem seine Freunde ihn erwarteten.

Eines Abends, an welchem Vicktorine sich auffallend wohl befand, sprach er kurz ehe er fortgieng sehr viel von einem glänzenden Feste, mit welchem er nächstens die völlige Genesung seiner Tochter zu feiern gedachte, und Babet und Agathe arbeiteten dabei wie nach dem Tackt' an einem [126] neuen Ballputze, den sie nach Angabe der Tante für sich verfertigten. Der Himmel hieng ihnen dabei voll, lauter Walzer spielenden Geigen, und sie sahen schon im Geiste die kleinen Füschen unter der dicken blumenreichen Garnirung des kurzen Kleidchens zierliche Triller schlagen.

Angelika ging indessen in liebenswürdiger Geschäftigkeit ab und zu, und suchte jedem, besonders der Tante, nach ihrer Weise etwas Angenehmes zu erzeigen. Der stille Schmerz verklärte dies holdseelige Wesen immer mehr und mehr, und machte es immer freundlicher. Jeder, sogar Herr Kleeborn, fühlte sich von dem eigenthümlichen Wohlwollen, das Angelika Allen bezeigte, zu ihr gezogen, und empfand gleichsam die Verpflichtung, ihr verlornes Glück durch verdoppelte Liebe ihr zu ersetzen, so weit dies möglich war. Das dankbare Gemüth des stillen, freundlichen Mädchens öffnete sich natürlicherweise gern dem tröstenden Einfluße dieser überall ihm entgegen kommenden Neigung, und es faßte wieder Freude am Leben, doch nicht am eignen. In dieses sah [127] Angelika vollkommen, wie in ein fremdes hinein, es war ihr, als gienge sie sich selbst nichts mehr an; nur im Schmerz oder in der Freude Anderer fühlte sie noch ihr irdisches Dasein und daher war es ihr sehnlichster Wunsch, nur Vicktorinen wieder froh und glücklich zu sehen, deren lebensreiche Natur weder Schmerz noch Entsagung zu tragen wußte.

Bald nach Herrn Kleeborns Entfernung ergriff die Tante ein Buch, wie sie jeden Abend zu thun pflegte, um mit ihrer wohlthuenden sonoren Stimme den jungen Mädchen etwas vorzulesen. Sie war Meisterin in dieser Kunst, und die Wahl, die sie unter den vorzüglichsten Dichtern unserer Zeit zu treffen wußte, bezweckte vor allem, das Gemüth ihrer beiden Lieblinge zu beschwichtigen, indem sie den eignen Schmerz im verklärten Lichte der Poesie ihnen zeigte. So öffnete sie zugleich die jungen Herzen jenem beseeligenden Einfluße der Kunst, der ihre Lieblinge weit über irdisches Geschick erhebt, und allein uns lehrt, in stiller Thätigkeit und dennoch duldend, es zu besiegen, [128] und in der eignen Brust einen Himmel uns zu erbauen, den keine Erdenmacht verhüllen darf.

Agathe und Babet, die nur den Augenblick mit Ungeduld erwartet hatten, in welchem die Tante ermüdet das Buch wieder hinlegen würde, benutzten jezt diesen, um in ihr Zimmer zu eilen, und sich dort für das erzwungne beschwerliche Schweigen während der Lektüre zu entschädigen, Angelika hingegen holte auf der Tante bittenden Wink ihre Harfe herbei, und hauchte mit süsser leiser Stimme folgendes Lied in den Klang der goldenen Saiten. Sie hatte in einer schönen wehmüthigen Stunde, bald nachdem Ferdinand zur Armee gegangen war, es selbst gedichtet, und Worte und Melodie waren zugleich entstanden.

Angelikas Lied

Bricht an der Tag mit seinen hellen Lichtern,
So flücht' ich meiner Liebe heil'gen Schein
Vor all' der bunten, lauten Menge schüchtern
In meines Herzens tief verschloßnen Schrein;
Dort ruht er ungesehen, glüht verborgen,
Bis daß der Abend kommt; dies ist sein Morgen.
[129]
Denn, wenn nun dieser zieht die grauen Schatten,
Das Licht sich nach und nach in Dunkel bricht
Bis es im letzten Strahle muß vermatten,
Wenn Nacht sich um die weiten Himmel flicht,
Dann zünde ich im allertiefsten Herzen
Ganz still mir an der stillen Liebe Kerzen.
Sie leuchten freudig mir in meiner Zelle,
Aus herrlicher Vergangenheit herauf;
Sie zeigen auch im Dunkel Hoffnungshelle
Mir meiner Zukunft unenthüllten Lauf;
Sie glänzen – gehn die müden Augen schlafen –
Als Pharus in des Traumes Wunderhafen.
Und diese lichten Träume sollen blühen
So lang des Lebens Traum mich noch umfängt;
Sie sollen treu auch dahin mit mir ziehen
Wo man zum langen Schlaf' mich eingesenkt.
Nein! Diese Flammen können nicht vergehen;
An ihnen zündet sich das Auferstehen.

Thränen glänzten in den Augen der Zuhörerinnen, als die Sängerin verstummte, doch ihre Augen blieben klar, ihre Züge heiter, indem sie aufstand und schweigend die Harfe wieder hinaus trug.

Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, warf sich Vicktorine mit überströmendem Gefühl' in Annas[130] Arme. »Tante,« rief sie, »glauben Sie es nur, ich fühle die stille Lehre, die Sie durch die Gegenwart dieses schon halbverklärten Engels mir geben wollen, aber kann denn die junge Tanne sich schmiegen und beugen wie der Epheu? liebe, gütige Frau, ich leide in Ihrer Seele wenn ich Ihre Zukunft mir denke, denn ich sehe es, Sie wollen zu der Höhe mich führen, auf welcher Angelika, erhoben in ihrer Demuth, schon steht, und Sie werden zu meinem frühen Grabe mich hinleiten!«

In Thränen schwimmend, verbarg sie jezt ihr Gesicht am Busen der Tante, die, schmeichelnd und liebkosend, sie aufzurichten strebte. »Meine Vicktorine,« sprach sie, »mein geliebtes Kind, glaubst Du denn, ich wisse nicht, wie Schmerz oder Freude auf Jeden, seiner eignen Natur nach, verschieden wirken muß? oder denkst Du, ich wäre ungerecht genug, Allen Alles zuzumuthen? da doch das Maaß und die Art unsrer Kraft so verschieden sind? Nur können wir dieses Maaß nicht eher erkennen, bis wir erprobt haben, wie weit [131] es reicht. Und deshalb thut es mir immer weh, und macht mich sogar zuweilen unmuthig, was es nicht sollte, wenn ich sagen höre: das kann ich nicht, das ist mir unmöglich. Ach, wir können tausendmal mehr, als unsre feigherzige Trägheit uns eingestehen mag, wenn es uns nur mit dem Wollen ein rechter Ernst ist! Ich spreche aus Erfahrung, liebes Kind! oder denkst Du wirklich, weil ich jezt alt bin, ich habe nie jugendlich gefühlt, nie jugendlich gelitten, wie Du oder Angelika.?«

»Ach Tante, ich glaube es wohl,« erwiederte seufzend Vicktorine, »aber Ihre Jugendzeit war anders und besser als die unsere, und auch das Mädchenleben, in allen seinen Anforderungen und Begebnissen, war gewiß himmelweit von dem unsern verschieden. Daher kann ich mir recht wohl denken, daß auch Sie fühlten wie wir, aber ich kann nimmermehr glauben, daß der Schmerz so gewaltsam zerstörend Ihnen nah getreten sei. Seit Sie jung waren, hat sich alles anders gestaltet, und auch wir sind ganz anders ins Leben[132] hingestellt als Sie es waren. Bei Ihnen war Ruhe und Ordnung; wir aber schiffen auf bewegtem Meer, jauchzend werden wir von der hohen Brandung zum Hafen getragen, oder finden, von ihr zerschmettert, am nächsten Felsenriff' unser und unsrer Hoffnungen Grab. Jedes Lebensschiff ist jezt das Spiel der Windesbraut der Zeit, jede Bewegung ist Kampf.«

»Die Form mag sich freilich, seit ich jung war, sehr verändert haben,« erwiederte die Tante, »aber das innere Wesen der Dinge verändert sich nie, und der Glaube ist kindisch, wenn gleich ziemlich allgemein, daß die Welt, weil wir sie betreten, sich durchaus umgestalten mußte.« Vicktorine schwieg erröthend, und jene fuhr, sehr ernst werdend zu reden fort, indem sie auch Angelikas Hand ergriff, welche inzwischen wieder in das Zimmer gekommen war. »Kinder,« sprach Tante Anna, »ich bin nicht daran gewöhnt, viel von mir selbst zu reden, aber ich liebe Euch mütterlich und habe es in diesen Tagen recht ernstlich bei mir selbst überlegt: ob ich nicht wohl [133] daran thäte wenn ich Euch auch meine Jugend erzählte. Ich glaube, daß Dein Muth, meine Angelika, vielleicht gestärkt und erhöht wird, wenn Du an meinem Beispiele siehst, daß es ein noch herberes Leid geben kann als das Deine, und daß es dennoch möglich sei es zu tragen und dabei zu leben. Und Du, meine Vicktorine, kannst vielleicht lernen, daß die Liebe in Deinem jungen Herzen noch nicht das höchste Werk des alten Meisters ist, nicht die einzige Axe, um die für Dich die Welt sich drehen muß, und daß das, was Du dein Unglück nennst, nicht eine Art von Adelsbrief ist, der vor Andern Dich auszeichnet; denn wir alle wurden geboren zu lieben, zu leiden, und am Ende in stiller, frommer Ergebung unser wahres Glück zu finden. Den ersten Abend, an welchem wir Drei ruhig und allein bei einander sind, denke ich dieser ernsten Unterhaltung zu weihen, obgleich ich vielleicht nicht ganz gleichgültig und ohne Schmerz daran gehen werde, so manchen längst besiegten bösen Tag noch einmal in der Erinnerung zu durchleben.«


[134] »Höre Babet,« fragte Agathe ihre Schwester, Abends beim Auskleiden, »wie gefällt dir Angelika?« »Ach, geh' mir mit der, die ist mir viel zu mattherzig,« erwiederte Babet verdrüslich. »Ja es ist wohl wahr, viel Leben hat das arme Ding freilich nicht,« erwiederte Agathe mit einem kleinen Achselzucken, aber gut muß man ihr doch sein. Sieh nur, was für ein großes Stück sie mir, während dem Vorlesen, an meiner Garnirung weiter half.«

»Die Tante hat doch wirklich viel Geschmack,« setzte Agathe nach einer kleinen Pause hinzu, während welcher sie das neue Kleid wohlgefällig betrachtete; »und sie ist dir auch noch sonst gar nicht so übel als wir anfangs meinten. Denk nur, sie weis alles von mir und dem Lieutnant, und dabei ist das das wunderlichste, daß ich ihr das meiste selbst erzählt habe; ich begreife noch bis diese Stunde nicht, wie ich dazu gekommen bin.«

»So? und was sagte sie denn dazu?« fragte Babet ganz trübseelig, denn sie überlas eben zum dreissigsten male des blonden Theodors Abschiedskarte, [135] die sie vorhin im Wohnzimmer heimlich vom Spiegel mit weggenommen hatte.

»Ach, es war recht wunderlich,« erwiederte Agathe, sie lachte und sagte: »nun mit diesem Herzchen hat es wohl fürs erste keine Noth, das nimmt es wohl noch mit einem ganzen Dutzend hübscher Blond- und Schwarz-Köpfe auf. War das nicht recht frivol gesprochen von einer so alten Person? Hernach aber ward sie auch wieder mit einemmale ganz ernsthaft, und gab mir gute Lehren, und sagte mir allerlei darüber, wie ich mich gegen den Schwarzen zu benehmen habe.«

»So hat sie Dich doch am Ende recht ausgescholten;« murmelte Babet vor sich hin.

»Gescholten? Ach nein, nicht sehr, nur ein ganz klein bischen,« antwortete Agathe, »und Du wirst es kaum glauben, aber es ist doch wahr, sie hat mir ganz von selbst versprochen, daß er zu der ersten Gesellschaft gebeten werden soll die wir geben, und das geht auch recht gut an, denn Visite hat er beim Onkel gemacht, ich habe selbst die Karte gesehen. Und dann soll er auch mich [136] zu Tische führen und neben mir sitzen dürfen, aber dafür mußte ich ihr auch versprechen, ihr nichts von dem zu verheimlichen was unter uns vorgeht.«

»Und das hast Du auch gethan?« fragte Babet. »Das wohl nicht,« war die Antwort, »ich habe ihr natürlicherweise gesagt, daß ich ihr unmöglich ein jedes Wort wiederklatschen könne, was wir beide miteinander reden, und damit war sie denn auch zufrieden. Sie lachte wieder recht von Herzen, und meinte denn, daß sie das auch gar nicht zu wissen verlange. Ich soll ihr nur nichts vorsätzlich verschweigen, und vor allen Dingen ihr gerade das sagen, wobei mir einfiele, daß ich es nicht gern sagen will. Das habe ich ihr denn endlich auch versprochen, denn ich denke, das kann mir doch einmal nützlich sein, da sie es doch so gut mit mir meint. Es ist mir auch selbst sogar lieb, daß ich doch jezt jemand Vernünftiges habe, mit dem ich alles überlegen kann, und der mir guten Rath giebt.«

»O du dummes Kind, dann ist ja bei der [137] ganzen Geschichte keine Freude mehr!« seufzte die trauernde Babet, sezte sich verdrüslich mit ihrer Karte in eine Ecke, Theodor und die Seeligkeit des letzten Kottillions fielen ihr wieder ein, und sie weinte bitterlich wohl eine Viertelstunde lang, bis sie zulezt darüber vor Betrübnis einschlief.


Wenige Tage später wurde eine neue berühmte Oper gegeben, und Babet und Agathe erhielten die Erlaubnis, der ersten Vorstellung derselben unter dem Schutze der Mamsell Virnot beizuwohnen. Seit Vicktorinens Krankheit hatten sie dieser Freude entbehrt, also lange genug, um ihr jezt mit Entzücken entgegen zu gehen, und so war denn der einsam ruhige Abend für die versprochne Lebensgeschichte der Tante gewonnen.

Im Zimmer herrschte mehrere Minuten lang eine fast andächtige Stille, welche weder Angelika, noch Vicktorine unterbrechen mochte; die Tante [138] sah so wehmüthig feierlich aus, indem sie sich, ohne ein Wort zu sprechen, in ihren Armstuhl niederlies. Deshalb verstummten auch beide Mädchen, und mochten aus Zartgefühl es gar nicht wagen, sie durch Worte oder Blicke an ein Versprechen zu erinnern, dessen Erfüllung ihr, wie sie selbst gestanden hatte, schmerzlich sein mußte. Doch es bedurfte bei ihr keiner Mahnung, denn nach einer kleinen Pause nahm sie, wenn gleich sichtbar beglommen, von selbst das Wort.

»Das ruhige Beieinandersein des heutigen Abends wollen wir benutzen, wie ich es Euch verheissen habe,« sprach sie; »aber mir ist doch sonderbar dabei zu Muthe, wahrscheinlich, weil ich nie gewohnt war, von mir selbst viel zu reden.«

»Ich wußte von jeher zu viel von der Welt, als daß ich hätte wünschen können daß sie viel von mir wissen möge und so seid Ihr denn die ersten, denen ich je von mir und der Geschichte meines Lebens Rechenschaft ablege. Meine Erzählung wird indessen doch lang sein, denn mein Leben war's. Es war doch auch mitunter recht [139] öde, recht schmerzenvoll, recht arm!« sezte die Tante, von ihrer Erinnerung unwillkührlich fortgerissen, hinzu, und sah dabei so trübe und schweigend vor sich hin, wie man einem bei sinkender Dämmerung sich entfernenden Gegenstande nachblickt.

Angelika rückte ihr leise näher, Vicktorine, heftig wie gewöhnlich, schloß sie in ihre Arme und rief, indem sie mit besorgter Theilnahme ihr ins Gesicht sah: »Tante, liebe Tante, wenn es Sie schmerzt« – doch diese wehrte sie freundlich von sich ab.

»Nicht doch,« sprach sie, »und wäre es auch! Ihr beide seid ja meine geliebten Töchter, und Mutterliebe achtet keiner Schmerzen. Es liegt doch auch wieder gewissermassen etwas Erfreuliches in dem Gefühle, mit welchem wir am Ende einer langen gefahrvollen Bahn den zurückgelegten Weg noch einmal überschauen, und die, welche ihn erst antreten wollen, durch unsre mühsam erworbne Erfahrung zu leiten suchen,« sezte die Tante nach einer kleinen Pause mit gefälligem, [140] wenn gleich anfangs etwas erzwungnem Lächeln hinzu. »Was ich Euch erzählen will, ist übrigens kein erheiterndes Mährchen, wie es für Euern jugendlichen Sinn sich passen möchte, aber mährchenhaft wird es Euch doch wohl zuweilen vorkommen, wenn Ihr die verfallne Gestalt der alten Tante anseht und sie dabei von jenem Zauber sprechen hört, dessen Nachhall ihr noch immer nicht verklungen ist. Von jenem Zauber,« fuhr die Tante mit feuriger Beredsamkeit fort, »von jenem Zauber, der bis in mein spätes Alter im Innern mich jung, im Aeussern mich kräftig erhielt; der alle Hyroglifen des Lebens am Ende mir herrlich auflöste, der, wenn gleich erst spät, im Schmerz, wie in der Freude, das hohe Geschenk eines Lebens mich recht würdigen lehrte, in welchem Gott uns die Liebe zur Begleiterin gab, die am Ende unsers Tagewerks freundlich mild, wie der Abendstern bei sinkender Nacht, uns zur Ruhestätte leuchtet, um uns beim Erwachen wieder zu empfangen.«

[141] Vicktorine und Angelika blickten gerührt auf die Tante. Indem diese so sprach, schien sie vor ihren Augen höher, schöner, jugendlicher zu werden, denn der erhebende Ausdruck vollkommner, seeliger Ruhe nach langer mühvoller Pilgerfahrt, verbreitete seinen verklärenden Zauberschein über ihre ganze Gestalt, so daß die Mädchen sie kaum wieder erkannten. Wie sie damals, mag vielleicht ein seeliger Geist die eben verlassne Erde und die geliebten Menschen auf ihr, noch einmal überschauen, eh' er den höhern Flug vollends aufwärts, der ewigen Heimath zuwendet.

»Es ist wunderbar, wie groß und breit und gewaltig die Kluft zwischen ehmals und jezt sich in diesem Momente vor mir ausbreitet, indem ich zurückblicke in meine Vergangenheit,« fuhr die Tante nach einer kleinen Pause sehr ernsthaft und nachsinnend fort. »Es wird in der That fast nöthig, daß ich einen Anlauf nehme, wie jeder gern thut, der im Begriffe steht einen grossen Sprung zu wagen; denn wahrlich! es ist ein Riesensatz von dieser Stunde an, bis zu der, [142] in welcher ich mein funfzehntes Jahr antrat. Daß ich auch einmal will funfzehn Jahre alt gewesen sein, kommt Euch wahrscheinlich schon ein wenig sonderbar und unglaublich vor,« sezte sie lächelnd hinzu, »aber gewiß, ich war es doch wirklich, obgleich mir dies selbst jezt wie ein Traum dünken will. Euch wird es einst nicht besser gehn, liebe Kinder, freilich wird dann der Hügel, unter dem ich ruhen werde, schon seit langen Jahren eingesunken sein, aber die Zeit kommt doch, und es wird euch auch dann ebenfalls scheinen, als habe sie dennoch Euch übereilt. Deshalb wollen wir aber für jezt der Eilenden nicht weiter vorgreifen, denn sie holt uns ohnedem schnell genug ein.«

»Seid ruhig, Kinder,« sprach die Tante, als beide Mädchen mit einem unendlich wehmüthigen Gefühl' ihre Hände ergriffen, und sie küßten; »seid ruhig, und laßt Euch nicht so von Andeutungen und Bildern erschrecken, welchen man in meinem Alter nur gar zu gern nachhängt, und denen man auch in dem Eurigen nie, wenigstens [143] nicht geflissentlich, aus dem Wege gehen sollte. Und nun bitte ich Euch, stört mich im Verfolg meiner Erzählung so wenig als möglich durch Einreden jeder Art, und laßt mich fürs erste den bewußten Anlauf zum Anfange derselben nehmen, indem ich Euch ein Bild unsers häuslichen und geselligen Lebens leicht hinskizzire, so wie es damals bestand, als ich vor einigen und vierzig Jahren aus der Kinderstube in die Mädchenwelt eingeführt wurde.

In jener, Euch so ferne liegenden Zeit war das Leben von Euresgleichen beides, reicher, und ärmer als das Eure. Aermer, unendlich ärmer an Willkühr und Freiheit; an Ueberfluß und Mannigfaltigkeit der Vergnügungen reicher; viel reicher an wahrem reinen Genuß; denn eben jener Ueberfluß, dessen Ihr Euch rühmt, ermüdet am Ende, und die Seltenheit war ja von jeher die beste Würze unsrer Freuden.

Dieses Lob meiner Zeit kommt Euch etwas sofistisch vor? nun so werdet Ihr doch wenigstens gewiß einen zweiten Vorzug für voll gelten lassen, [144] den Eure Grosmütter vor Euch voraus hatten, und von dem, wie die Welt jezt steht, fast keine Spur übrig geblieben ist; ich meine hiermit jene allgemeine, zarte Aufmerksamkeit, jene an Ehrfurcht gränzende Hochachtung, jene, an die Zeiten alter Chevallerie erinnernde und aus diesen abstammende, ehrerbietige Galanterie, welche damals von allen gebildeten Männern unserem Geschlechte gezollt ward. Wenn wir einmal in der Gesellschaft erschienen, was freilich weit seltner geschah als jezt, so traten wir gleich kleinen Fürstinnen einher, von einem Gefolge umgeben, das jedem unsrer Wünsche mit zuvorkommendem Eifer entgegen flog. Mit Euch, Ihr guten Kinder, dünken sich die jetzigen Männer wenigstens auf gleichem Fuß, und glauben damit schon ein Uebriges für Euch gethan zu haben. Daran aber seid Ihr selbst schuld, denn Ihr habt Euch auf glattem Boden neben sie hingestellt. Ich möchte uns, in unserem damaligen Verhältniß zur männlichen Welt am liebsten mit seltnen Blumen vergleichen, die mit Sorgfalt in einem verschlossnen [145] Gewächshaus' aufbewahrt werden, zu denen man deshalb gern Zutritt zu erhalten sucht, und sie in der Nähe zu bewundern wünscht. Ihr aber wachst und blüht in der Freiheit, vielleicht nur um so üppiger und schöner, aber Ihr steht in einem, aller Welt offnen, lustigen Garten, in welchem man ohne Rückhalt Euch nahen darf. Was man aber täglich mühelos sehen kann, verliert am Ende den höchsten Reitz, den der Neuheit; man gewöhnt sich bald genug, achtlos daran vorüber zu wandeln, und leider geht darüber manche köstliche Pflanze unbemerkt zu Grunde, oder wird wohl gar im Gedränge zerknickt und zertreten.

Indessen will ich nicht ableugnen, daß wir Euch um eure jetzige größere Freiheit wahrscheinlich würden beneidet haben, wenn wir uns eine solche nur recht lebhaft hätten denken können. Das war aber bei unsern beschränkteren Begriffen vom Leben und unsrer, durch unser Verhältniß herbeigeführten furchtsamen Bescheidenheit nicht wohl möglich. Auch muß ich gestehen, daß wir [146] einen großen Theil unsrer damaligen vornehmen Grandezza mit unsäglichem schmerzlichem Zwange, mit hohen Absätzen an den Schuhen, mit breiten steifen Fischbeinröcken, mit Harnisch ähnlichen Schnürbrüsten theuer genug erkaufen mußten. Im vollkommensten Gegensatze mit dem jezt üblichen, war unser Anzug hauptsächlich darauf berechnet, unsre Gestalt bis zum unkenntlichen zu maskiren. Jede von uns war ein wandelndes Räthsel, von der Spitze des kleinen, mit Flittern gestickten Atlas-Kothurns, welchen blitzende Steinschnallen noch verherrlichten, bis zu dem Wipfel des hochaufgethürmten Haarschmucks, der obendrein den ganzen Tag über unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, weil jeder Luftzug, jede zu rasche Bewegung des Kopfes dem zarten Puderreif' Untergang drohte. Der zärtlichste Liebhaber konnte nicht einmal in jener Zeit über die Farbe der Haare seiner Schönen zu einiger Gewisheit gelangen, denn der gelbe Puder machte die Braune der Blonden ganz ähnlich. Die Kleine hob sich vermittelst höherer Absätze an den Schuhen zur mittleren [147] Grösse hinauf, und die Wespenartig zusammengeschnürte Taille, die in unbegreifliche Breite ausgehenden Fischbein Röcke gaben Allen die nämliche Form, aus welcher kein sterbliches Auge die wahre menschliche Gestalt heraus finden konnte.

Ihr lacht über die wunderliche Figur, die wir spielten? Ich glaube, ich müßte selbst lachen, wenn ich mich noch einmal in meinem damaligen Putz' erblicken sollte, und doch galten die Schönen unter uns deshalb nicht für minder schön, und die Häslichen gewannen noch bei dieser allgemeinen Vermummung, denn sie giengen in der Maske mit durch, die sich obendrein auf das vollkommenste dazu eignete, kleine Mängel zu verbergen.

Ein sehr karackteristisches Unterscheidungszeichen jener Zeit bestand auch darin, daß wir Alle damals Zeit hatten, zu Allem was uns oblag oder was wir unternehmen wollten zu vollbringen. Die jezt so allgemeine Klage über Mangel derselben hörte ich in meiner Jugend fast nie, und der ganz einfache Grund hiervon war der, daß wir [148] viel mehr zu Hause blieben als die jezige Generazion. Morgenbesuche und Morgenpromenaden waren etwas so Ungewöhnliches, daß ich wohl darauf wetten möchte, meine Mutter sei nicht dreimal in ihrem Leben Vormittags ausgegangen, ausser in die Kirche. Indessen möchte ich diese grössre Häuslichkeit meinem Zeitalter nicht ganz zur Tugend anrechnen, eine gewisse unbeholfne Steifheit der Sitten und Gewohnheiten hatte auch Theil daran. Man scheute nichts so sehr, als Bekannten, sogar Freunden sich und sein Haus anders als im vollen Putze zu zeigen. Ein unerwarteter Besuch, der uns im Hauskleide oder bei häuslichen Beschäftigungen überraschte, erregte gewöhnlich eben so viel Verwunderung als Unmuth, und nur eine sehr wichtige Veranlassung konnte einem solchen Ueberfalle zur Entschuldigung dienen.

Daß wir, ohne gegen alle Regeln des Anstandes zu sündigen, weder im Theater, noch auf der Promenade, noch überhaupt an einem öffentlichen Orte ohne einen männlichen Begleiter erscheinen [149] durften, diente auch gar sehr dazu, uns das Ausgehen zu erschweren. Denn obgleich zu dieser Gewohnheit die zum Dienste der Damen allzeit bereitwillige Galanterie der Männer wahrscheinlich den ersten Anlaß gegeben haben mochte, so waren doch die unter ihnen, von welchen wir uns anständigerweise eskortiren lassen konnten, nicht immer müssig, zuweilen auch nicht gefällig genug, um stets zur Hand zu sein, wenn wir ihrer bedurften. Uebrigens spreche ich hier nur von den Frauen; junge Mädchen sezten keinen Fuß auf die Strasse, als unter dem Schutz' ihrer Mütter.

Alles, alles, was uns umgab, Lebloses und Belebtes, strebte damals zu einem gewissen formellen Wesen hin, welches gegen die jetzige zwanglose Lebensweise sehr wundersam absticht. Bei den fein geschnitzten und à quatre couleurs vergoldeten sehr zerbrechlichen Stühlen unsrer Putzzimmer, war an kein Anlehnen zu denken; die zu den Stühlen passenden schmalen Kanapees hatten nur die Aehnlichkeit mit unsern jezigen [150] damals noch ganz unbekannten Sofas, daß sie, wie diese, als Ehrenplatz manchen Rangstreit unter den Damen veranlaßten, übrigens boten sie durchaus keine Bequemlichkeit für die jezt so beliebte liegende Stellung, die damals in gesunden Tagen etwas Unerhörtes war.

Auch weis ich nicht, wie man diese mit dem ganzen damaligen Anzuge, dem Reifrocke der gepuderten Frisur hätte vereinigen können; wir hielten uns gerade, wie ich noch immer aus alter Gewohnheit thue, und ohne es weiter unbequem zu finden.

Mit dieser körperlich geraden Haltung hieng aber auch, sogar im engsten Familienkreise, ein sehr genaues Beobachten der einmal angenommenen Höflichkeitsregeln gegen seines Gleichen, und der abgemessensten Ehrfurcht gegen Höhere zusammen, die ich jezt, ich mag es nicht leugnen, zuweilen recht schmerzlich vermisse, weil die jetzige Welt dergleichen als steifes überflüssiges Zeremoniell heut zu Tage verachtet. Die zierliche, vom Tanzmeister zu diesem Zweck erlernte Verneigung [151] an der Thüre, mit der ich täglich meine Eltern zuerst begrüßte, ehe ich näher trat und jedem von ihnen besonders mit feierlicher Ehrerbietung den guten Morgen bot, würde jezt freilich lächerlich erscheinen; doch der Mensch ist ein Kind der Gewohnheit, und wem man am Morgen so ehrfurchtsvoll sich nähert, gegen den wird man schwerlich im Laufe des Tages bis zum heftigsten Widerspruch' oder zu andern Unziemlichkeiten sich vergessen, wie doch jezt von Kindern gegen ihre Eltern nur zu oft geschieht. Die Eltern nach jetziger Art Du zu nennen, hätte damals gewiß für eine Art von Blasphemie gegolten, nur bei ganz kleinen Kindern höchstens ward dieses geduldet, und doch wurden Vater und Mutter gewis nicht weniger geliebt, als jezt. Ich hieng an den meinigen mit so liebevollem reinem Vertrauen, daß ich unmöglich glauben kann, der jezt zwischen Eltern und Kindern herrschende Ton vollkommener Gleichheit hätte dieses Gefühl erhöhen können; wohl aber kann ich es nicht ableugnen, daß er in einigen Fällen [152] und mit gewissen Modulazionen mich jezt oft verletzt.

Mein Vater lebte eine lange Reihe von Jahren hindurch in dieser freien Reichsstadt als königlich ***scher Resident in Ehre und Ansehen. Als der jüngere Sohn einer sehr alten Familie, in welcher das Majoratsrecht galt, war er nicht reich, um so weniger, da auch meine Mutter ihm kein bedeutendes Vermögen zugebracht hatte. Die Einkünfte meiner Eltern, verbunden mit der Besoldung meines Vaters, reichten daher nur eben hin, um bei Sparsamkeit und Ordnung mit Anstand davon leben zu können; freilich aber gehörte vor funfzig bis sechzig Jahren weit weniger dazu als heut zu Tage. Damals herrschte, selbst in den reichsten Häusern dieser Stadt eine gewisse frugale Mässigkeit, die man jezt vielleicht Geitz und Mesquinerie schelten würde; tausend Erfindungen des Luxus, welche wir ohne Bedenken dem Unentbehrlichen zu zählen, waren in jener Zeit völlig unbekannt; man wohnte weit enger zusammengedrängt, man brauchte viel weniger [153] Bedienung und hatte durchaus keine kostspieligen Fantasien zu befriedigen.

Bei alle dem aber hielt man dennoch viel auf eine gewisse solide, wenn gleich etwas schwerfällige Pracht, in der Kleidung sowohl, als in allen übrigen Umgebungen. Wenigstens zweimal im Jahre mußte der im alltäglichen Leben sehr mäßig besetzte Tisch unter der Last des schweren Silbergeschirres, der kostbarsten Weine, der ausgesuchtesten Speisen, sich seufzend beugen, und so viele Gäste, als der Saal nur zu fassen vermochte, saßen im feierlichsten Putze, starrend von Gold und Edelsteinen, um ihn her, alle von dem sorgsamen Herrn des Hauses nach Rang und Würden auf das gewissenhafteste geordnet. Dieser sowohl, als seine Frau sahen bei einem solchen Feste wie Leute aus, die einer an sich ehrenvollen, aber doch nicht ganz leichten Pflicht sich so gut als möglich zu entledigen suchen, und auch die Gesichter der Gäste zeigten im Ganzen mehr den Ausdruck einer höflichen Resignazion, als den des Vergnügens; denn an einer dreistündigen [154] Sitzung an der Tafel vermochten doch nur sehr wenige sich wirklich zu erfreuen. Eigentlich war aber auch von geselligen Vergnügungen bei einer solchen formellen Abspeisung nie sonderlich die Rede; niemand machte Ansprüche daran und im Ganzen gieng es sehr still dabei her. Die Frauen beobachteten alles, zählten Schüsseln und Assietten, und überlegten, wie sie bei ihrem eignen nächsten Gastmahle deren noch ein paar mehr anbringen könnten; die Männer assen, tranken, und liessen gegen das Ende der Mahlzeit ihren Witz in Ausbringung schalkhafter Gesundheiten leuchten. Alle aber, die Wirthe wie die Gäste, dankten Gott, wenn wieder einmal ein solches Vergnügen überstanden war.

So sah es zu jener Zeit mit dem geselligen Vergnügen bei uns aus. Freilich hatte mein Vater im Auslande, besonders in Frankreich, eine leichtere und genusreichere Lebensweise kennen gelernt, doch er fühlte die Verpflichtung, sich nach den Gebräuchen des Ortes zu richten, in welchem er eine gastlich-freundliche Aufnahme [155] fand; überdem war er auch zu vernünftig, um gegen den Strom schwimmen zu wollen, was damals noch mit ganz besonderer Schwierigkeit verbunden war. Die Welt war gegen Sonderlinge und Neuerungssüchtige bei weitem nicht so tolerant als jezt, wo in jedem Winkel und auf jeder Schulbank Weltverbesserer mit grandiosen Ansichten sitzen, die alle ihr gläubiges Publikum finden. Jener Ausspruch: »Du Narr willst klüger sein als wir!« mit welchem die ungebildeten Brüder von Gellerts tanzenden Bären diesen aus ihrer Mitte vertrieben, war damals noch in voller Kraft und ganz an der Tagesordnung.

Mein Vater ließ es sich also gar nicht beikommen, an der Lebensweise seiner Freunde und Bekannten das mindeste abändern zu wollen; er nahm an ihren Festen willigen Antheil, aber er hüthete sich zugleich gar sehr davor, sich mit den reichen Handelsherren, in deren Mitte er lebte, in einen Wettstreit einzulassen, bei dem er entweder mit Schande bestehen, oder sich und die Seinen zu Grunde richten mußte. Daher versammelte [156] er in seinem Hause und an seinem mit anständiger Mässigkeit besezten Tische nur immer eine kleine Anzahl mit Auswahl zusammengebetener Gäste und das seltne Talent meiner Mutter, mit sehr Wenigem viel hervorzubringen, machte es uns leicht, diese kleinen Gastmahle ziemlich oft zu wiederholen. Die Ordnungsliebe der theuren Frau, der Scharfblick mit dem sie Alles von ihr mit Sorgfalt Aufbewahrte stets am rechten Orte zu benutzen verstand, gaben bei möglichster Ersparniß unserem Haushalte das Ansehen einer damals hier noch unbekannten Eleganz. Zwar nannte man unsre Lebensweise wohl zuweilen vornehm, aber man verzieh sie uns doch, weil man das Bewußtsein dabei behielt, uns an Reichthum und Pracht zu übertreffen. Man lebte sogar recht gern mit uns, weil meine Eltern mit dem Ausdrucke des herzlichsten Wohlwollens ächte Höflichkeit und jenen feinen geselligen Tackt verbanden, der uns lehrt, alles zu meiden, was auch den Geringsten in der Gesellschaft verletzen könnte und jedes so zu verstehen wie es gemeint ward. [157] Mein Vater hatte sich diese Eigenschaften früher im Leben mit der Welt erworben, meiner wahrhaft liebenswürdigen anspruchslosen Mutter waren sie angeboren, und so erfreuten sich beide lange Jahre hindurch der Achtung und Liebe eines, aus ziemlich heterogenen Gestalten zusammengesetzten Kreises, dessen Mittelpunct sie waren, ohne je nach dieser Ehre gestrebt zu haben.

Zwölf Jahre hindurch blieb ich das einzige Kind meiner Eltern, und genoß im Uebermaaße alles Glück und Unglück eines solchen, bis deine Mutter, liebe Vicktorine, geboren ward. Ich war von der Natur, sowohl geistig als körperlich mit den glücklichsten Anlagen ausgestattet, und meine Eltern sorgten auf das angelegentlichste für die fernere Ausbildung derselben; ja ich darf wohl sagen, daß mein Vater, ganz gegen seine sonstige Art, verschwenderisch wurde, sobald es darauf ankam, irgend ein in mir schlummerndes Talent an das Licht zu rufen. So sorgsam er sonst alle neue fortlaufende Ausgaben vorher berechnete, so ernstlich er jede nicht durchaus nothwendige[158] vermied, so sparte er doch nichts, um mir die ersten Lehrer in allem zu verschaffen wozu ich Lust oder Anlagen zeigte. Man hielt mir ganz gegen die damalige Gewohnheit, keine französische Gouvernante, ich ward auch in keiner Pensionsanstalt erzogen, denn meine Mutter hatte gegen beide Erziehungsmethoden einen unüberwindlichen Widerwillen, doch meine Eltern ersetzten dies überschwenglich durch die treue Aufmerksamkeit, mit der sie selbst über den Unterricht ihres Lieblings wachten.

So machte ich denn in früher Jugend nicht ganz unbedeutende Fortschritte in der Musick, im Zeichnen und Miniaturmalen, in allem, worin nach der Meinung der jetzigen Zeit ein Mädchen unterrichtet werden muß, und schritt damit weit über die Gränze der damals gewöhnlichen Begriffe von weiblicher Erziehung hinaus. Diese drehte sich in einem weit engern Kreise herum, und die Kunstübungen eines Mädchens jener Zeit beschränkten sich gewöhnlich auf ein paar leidlich hergeklimperte Polonaisen, ein paar mühseelig durchgezeichnete [159] Stickmuster höchstens auf ein ängstlich getuschtes Landschäftchen nach irgend einem Kupferstiche. Die mir angeborne Leichtigkeit, mit der ich fremde Sprachen erlernte, bewog unter andern meinen Vater, mir auch in der englischen und italienischen Sprache selbst Unterricht zu ertheilen. Französisch war ohnehin unsre tägliche Haussprache; sobald wir unter uns allein waren, sprachen wir keine andere, denn dies war damals fast in allen adlichen Familien so der Gebrauch. Mein Vater zog diese Sprache jeder andern vor, weil von ihr zu seiner Zeit nicht nur seine, sondern auch die geistige Bildung aller derer ausgieng, die sich nicht geradezu dem eigentlichen Gelehrtenstande widmen wollten, und die klassischen Schriftsteller der Franzosen blieben ihm zeitlebens die liebsten, ich könnte wohl sagen, die einzigen, die er las. Von der deutschen schönen Litteratur hatte er in seiner Jugend nur wenig kennen gelernt, und dies wenige war ihm nicht erfreulich gewesen, wie es denn auch in jener, trüben Gottschedischen Zeit einem Geiste wie dem [160] seinigen nicht zusagen konnte. Daher blieb ihm ein unüberwindliches Vorurtheil gegen alle deutsche Schriftsteller, besonders gegen die deutschen Poeten, welches er mit fast allen damals lebenden, gebildeten Männern theilte, die darin dem Beispiele Königs Friedrichs des zweiten folgten. Auch ich lernte deshalb erst spät die Schätze meines eigenen Volcks kennen, obgleich um die Zeit, da ich geboren ward, schon die hellstrahlende Morgenröthe am deutschen Kunsthimmel den glorreichen Tag verkündete, der jezt uns leuchtet.

Mehr als aller meiner übrigen guten Anlagen erfreute sich mein Vater jenes unserm Geschlechte eignen leichten Auffassungsvermögens, mit dessen Hülfe wir spielend errathen, was die Männer mühsam erlernen, und durch welches ich besonders mich auszeichnete.

Diese den Frauen ganz eigenthümliche Gabe könnte uns fast verleiten, an gute, oder doch wenigstens gut gelaunte Feen zu glauben, die ihren Lieblingen schon in der Wiege eine ganz eigne Gewandtheit verleihen, welche sie fähig [161] macht, von allem für sie passenden Wissenswerthen sich wenigstens die schimmernde Oberfläche anzueignen. Ohne tiefer ins Reich der Wissenschaften einzudringen, oder auch nur eindringen zu wollen, umschwärmen diese vor andern Begünstigten auf leichtem Fittig die Blüthen und lassen den Männern gern das mühsame Geschäft, im Schweise ihres Angesichts den Wurzeln nachzugraben. Auch sind sie nicht nur fähig, sich zu freuen, wenn kluge Männer reden, weil sie verstehen wie sie's meinen, sondern sie wagen es zuweilen im scherzenden Uebermuth, mit glücklicher Keckheit sich neben diese klugen Männer hinzustellen, und sie durch die ihnen beiwohnende Zauberkraft mitunter selbst ein wenig irre zu machen.

Diese geistige Geschmeidigkeit ist aber dennoch für die, welche sie besitzen, beiweitem nicht gefahrlos, und sollte nach meiner jetzigen Ansicht wohl eher in Schranken gehalten, als geübt und bewundert werden. Doch mein Vater war hierin andrer Meinung. Ihm galt anspruchslose, heitre Liebenswürdigkeit zu Hause wie in der Welt für [162] eine der ersten Eigenschaften meines Geschlechts; er hielt dafür, daß wir, um zu dieser zu gelangen, wohl einer höheren Geistesbildung, aber durchaus keiner Gelehrsamkeit bedürften, die er geneigt war, eher für ein Hindernis anzusehen. Daher belächelte er mit wahrer Lust meine kleinen wissenschaftlichen Scharlatanerien und lies mich gewähren.

Während meine geistige Entwickelung auf diese Weise meinen Vater ergözte und beschäftigte, sorgte meine gute trefliche Mutter auf seinen Antrieb dafür, mir durch frühe Gewöhnung die möglichste Unabhängigkeit von allen jenen unbedeutenden Kleinigkeiten zu verschaffen, die so oft den ausgezeichnetsten Frauen quälende Fesseln anlegen. So wie ich heranwuchs, brachte sie durch Lehre und Beispiel mich dahin, daß ich weder des Schneiders, noch der Putzmacherin bedurfte. Selbst die Kammerjungfer und den Friseur lernte ich im Fall der Noth entbehren, und das war damals keine Kleinigkeit.

[163] Auf diese Weise glaubte mein Vater, geistig und körperlich am besten für meine Zukunft mich auszustatten, möge diese mich nun in die Welt führen, oder in die Einsamkeit meines Stiftes. Denn schon damals trug ich dieses Ordenskreuz, als Geschenk einer fürstlichen Pathe, bei welcher meine Grosmutter einst Hofdame gewesen war, und es gab meinem Vater keine geringe Beruhigung, mich dadurch gegen die Stürme des Lebens einigermassen gesichert zu wissen.

So blühte ich denn allmählig heran, im schönsten Verhältnisse zu meinen Eltern, gleich glücklich in der äussern, wie in meiner mir selbst geschaffnen innern Welt; denn auch diese fehlte mir nicht. Lesen war damals zwar nicht das unentbehrliche Bedürfnis jedes Alters, jedes Geschlechts und jedes Standes, was es jezt ist. Die Mütter mußten sogar noch zuweilen ihre Töchter ermahnen, endlich einmal ein Buch in die Hand zu nehmen, statt daß sie in unsern jetzigen Tagen über das viele Lesen sich ereifern, und es nicht ganz mit Unrecht einen geschäftigen Müssiggang[164] schelten. Indessen habe ich doch ziemlich früh angefangen, Romane zu lesen. Mein Vater verbot es mir nicht, wie er denn überhaupt vom Verbieten nicht viel hielt, aber er bewachte doch die Wahl meiner Lektüre, und hüthete mich besonders vor den französischen Romanen jener Zeit, deren verderbliche Tendenz, unerachtet seiner Vorliebe für ihre Verfasser, er sich dennoch nicht verbarg.

Indessen war es in meiner Jugend weit schwerer als jezt, sich eine unterhaltende Lektüre zu verschaffen. Lesbare, deutsche Romane fanden sich fast eben so selten, als Leihbibliotheken, die man kaum dem Namen nach kannte. Man behalf sich damals aus Noth wie jezt aus Wahl mit Uebersetzungen aus dem Englischen, und ich erinnere mich noch lebhaft des Entzückens, mit welchem ich im Schranke der Mutter einer meiner Gespielinnen eine lange Reihe Bücher entdeckte, die unter dem Titel einer Landbibliothek eine Anzahl solcher übersetzten Romane vereinigte.

[165] Hier lernte ich denn unzählige Lords und Ladies, Sirs und Misses kennen, deren Thaten und Leiden mit der, den Romanschreibern jener Nazion noch bis diese Stunde eignen Breite und Weitschweifigkeit uns bis auf die geringsten Details vorgeführt wurden, sogar bis auf die Farbe des Kleides, welches die Heldin oder der Held bei wichtigen Gelegenheiten trugen. Vor allem aber wurden die Hochzeitkleider nicht nur des endlich beglückten Brautpaars, sondern auch die der vornehmsten anwesenden Gäste nie vergessen. Ich las das alles mit einer Wonne, von der ihr Uebersättigten keinen Begriff haben könnt, denn ich war nicht unbeschränkt wie ihr im Gebrauch meiner Zeit. Hatte ich ein solches bändereiches Werk vollendet, so war mir so einsam zu Muthe, als sei ein sehr lieber interessanter, lange da gewesener Besuch wieder abgereist.

Ich freute mich die ganze Woche hindurch auf den Sonntag Nachmittag, wo ich meinem Lieblingsgenusse mich am ungestörtesten hingeben durfte, und obgleich ich vor Ungeduld nach der [166] Entwicklung brannte, so las ich doch immer langsamer, wenn ich sah, daß der Band zum Ende sich neigte, um mir dadurch die Freude zu verlängern.

Richardsons Romane entzückten mich ganz unbeschreiblich, gerade wegen ihrer Weitschweifigkeit, obgleich ich dem Tugendspiegel Sir Charles Grandison keinen sonderlichen Geschmack abgewinnen konnte und der brillante Bösewicht Lovelace mir tausendmal besser gefiel. Jezt sehe ich wohl ein, daß gerade die Werke dieses berühmten Schriftstellers sich sehr schlecht dazu eigneten, einem kaum zwölfjährigen Mädchen in die Hände gegeben zu werden, aber sie hatten einmal die allgemeine Stimme für sich. War doch sogar in England die mehr als zweideutige Pamela dem Volke von der Kanzel als Erbauungsbuch angepriesen worden. Ueberdem verlies mein Vater sich auf meine Unschuld, und das mit Recht; er war überzeugt, daß ich in meiner glücklichen Unbefangenheit das für mich Unpassende entweder [167] übersehen, oder nicht verstehen würde, und seine Erwartung trog ihn nicht.

Meine jugendliche, oder vielmehr kindische Fantasie blieb indessen bei alle diesem nicht müssig. Mein Kopf war voll von Entführungen, Maskeraden, gewaltsam erzwungner Trauungen, diesen Apparat der damaligen englischen Romanschreiber, die eben wie jezt ihre jüngern Brüder, sich immer gern wiederholten und alles so ziemlich über einen Leisten formten. Das alles suchte ich nun in Gedanken mir selbst anzupassen; mein Held war ein Ungeheuer von Tugend, Tapferkeit, Edelmuth und Liebenswürdigkeit, Grandison und Lovelace in einer Person. Ich selbst war eine höchst gefährliche Schönheit, die in steter Angst vor den Verfolgungen ihrer wüthenden Anbeter lebte. Bei alle dem aber blieb ich ein gutes Kind, lernte meine Lexionen, strickte meine Strümpfe, nähte meine Wäsche, half meiner Mutter im Hauswesen, und niemand sah mir an, welche Wunder in meinem Köpfchen herumspuckten.

[168] Jenes fantastische Spielwerk war nur eine Ergötzlichkeit in müssigen Stunden; mein Held hatte noch gar keine Gestalt und konnte keine haben, denn ich wußte keine ihm zu geben. Da ich noch nicht confirmirt war, so durfte ich noch nicht in der Welt erscheinen und kannte daher nur wenige junge Männer, die aber, welche ich kannte, gefielen mir nicht, hauptsächlich wohl, weil sie von mir noch keine Notiz nahmen.

Die empfindsame Siegwarts-Periode, die bald darauf eintrat, gieng ziemlich spurlos an mir vorüber. Zwar versuchte ich es ebenfalls, Vergißmeinnicht zu pflücken, und mit dem bleichen Monde einen Verkehr anzuspinnen, und das gieng auch in so weit recht gut von statten; nur die Leiden machten mir Noth. Ich wußte dem blassen Freunde nichts zu klagen und war zu gesund und ehrlich, um mit Glück dergleichen erfinden zu können. Daher gab ich die ganze Sache bald auf und ward aus einer pinselnden deutschen Romanheldin wieder eine stolze, englische Schönheit.

[169] Einen weit grössern Eindruck als Siegwart machten auf mich Sophiens Reisen von Memel nach Sachsen, die auch um jene Zeit erschienen. Die theologischen Abhandlungen und Contraversen, welche dieses Buch enthielt, überschlug ich, das versteht sich von selbst; aber es belustigte mich sehr, zum erstenmal' in meinem Leben gute alte Bekannte in meinen Büchern zu finden. Die englischen Lords und Ladies waren mir niemals wie recht lebendige Personen vorgekommen, obgleich ich es nicht ableugnen mag, daß sie mir vielleicht nur deshalb um so interessanter erschienen, weil meine Fantasie um so freier mit ihnen schalten und walten durfte. Die Herren Puff und Consorten hingegen sah ich zuweilen am Tische meiner Eltern, und gleich Oelenschlägers Correggio, da er das erste niederländische Bild erblickt, gerieth ich darüber in freudige Verwunderung, daß man auch so etwas malen könne.

Endlich stand ich in meinem vierzehnten Jahre, nahe an der Gränze des jungfräulichen Alters; da trübte zum erstenmal die schwere Hand des [170] Unglücks mein fröhliches sorgloses Dasein. Ich verlor meine gute, liebe, herrliche Mutter, gerade in dem Zeitpuncte, da ich ihrer milden leitenden Hand am nöthigsten bedurft hätte. Sie entschlief sanft und still wie sie lebte. Es raubte sie uns ein schleichendes Uebel, das seit der Geburt meiner Schwester langsam und fast unmerkbar verzehrend, an ihrem Leben genagt hatte, bis sie ohne Klage in sich zusammensank, während wir uns mit den schönsten Hoffnungen ihrer nahen vollkommnen Genesung schmeichelten. Ausser mir vor Schrecken und Schmerz stand ich, ein halbes Kind noch, an ihrem Sarge, in dem nehmlichen Saale, wo wir vor wenig Tagen noch so froh mit ihr gewesen waren, und dessen ringsum schwarzbekleidete Wände ich jezt kaum wieder erkannte. Ich hielt mein armes kleines Schwesterchen auf dem Arme, das in kindlicher Unschuld die vielen Lichter anlächelte, welche zum leztenmal die theure bleiche verstummte Gestalt beleuchteten. Neben mir stand mein trostloser Vater; zum erstenmale sah ich die Thränen eines Mannes, [171] es war mir unbeschreiblich furchtbar, ihn laut weinen zu sehen; wie ein unnatürliches Wunder kam es mir vor und all' mein Blut erstarrte mir in den Adern. Ohnehin eignete sich der ganze Trauerapparat jener Zeit auf das vollkommenste dazu, den innern zerreissenden Schmerz durch die äussere Erscheinung bis zum Unerträglichen zu steigern. Nicht nur der Vater und wir Kinder, auch alle Bedienten des Hauses waren in schwarzen Krepp gehüllt, den langnachschleppenden Schleier, die breite schwarze Schneppenbinde, die nur das Gesicht frei lies, durfte ich während der ersten Wochen sogar nicht im Hause ablegen. Bis nach dem Begräbnistage waren alle Fenster des Hauses dicht verschlossen, Wohnzimmer, Treppen und Vorsaal schwarz umhangen, und die schwarz gekleideten Leute alle schlichen mit unhörbarem Tritt, Gespenstern gleich, durch die düstre Dämmerung. So wollte es nicht nur unser Schmerz, so wollte es auch die damalige Sitte.

Ach und wenn ich mitten in dieser düstern Pracht das bleiche liebe Gesicht meiner Mutter im [172] Sarge ansah! wie war das Bild des Todes so furchtbar vor meine junge Seele getreten, ich wollte vor Schmerz und Grauen dabei vergehen, ich meinte, nie wieder froh werden zu können und ward es doch; denn die Macht der Zeit überwindet alles, besonders wenn Jugend sie unterstüzt. Ich muß sogar bekennen, daß ich früher wieder ruhig und heiter ward, als ich mir selbst es gestehen mochte: ich sei es.

Auch mein Vater gewann bald Fassung genug, um seinen Verlust zu ertragen, obgleich er nie lernte ihn zu verschmerzen, denn er hatte meine Mutter unendlich lieb gehabt. Sie selbst mit ihrem reinen weichen Herzen, mit ihrem klaren bescheidnen Sinne war, nach Art der bessern Frauen jener Zeit, stets nur der anmuthigste Nachhall seines freieren kräftigeren Wesens. Ihr Gemal war ihre sichtbare Gottheit auf Erden. Mein Mann hat es gesagt, oder: der Herr hat es befohlen, galten ihr, ersteres in der Gesellschaft, das zweite im Hause, für Gründe und Aussprüche gegen die, ihrer Meinung nach, kein Vernünftiger etwas [173] einwenden konnte. Und dennoch war sie fern von jeder sklavischen Unterwürfigkeit; es war nur ihrem liebenden Herzen unmöglich, sich etwas Höheres und Besseres zu denken, als ihren Gatten.

Alle Sorgfalt und Liebe meines Vaters ward von nun an mir doppelt und dreifach zugewendet. Mein kleines Schwesterchen konnte er nur mit stiller Wehmuth betrachten. Es blieb im Hause unter der Aufsicht einer alten Wärterin. Diese hatte auch meine hülflose Kindheit einst gepflegt, und sich durch vierundzwanzig jährige treue Dienste das Recht erworben, als ein Mitglied unserer Familie betrachtet zu werden, dem es zuweilen erlaubt wurde, bei bedeutenden Angelegenheiten derselben ein Wort mit zu reden.

Meine Konfirmazion war durch den Tod meiner Mutter auf einige Monate hinausgeschoben worden und dieser bedeutende Schritt ins Leben wurde, abgesehen von jeder andern höheren Ansicht desselben, in meinem jetzigen verlassnen und verwaiseten Zustande doppelt wichtig für mich. Denn von jenem Moment an ward ich nicht nur [174] als ein selbstständiges Mitglied der Gesellschaft betrachtet, ich trat auch zugleich an die Spitze unseres nicht unbedeutenden Haushalts und nahm die Verpflichtung auf mich, hier nach Kräften die Stelle meiner verewigten Mutter zu ersetzen.

Seit ich die Heftigkeit des ersten Schmerzes über den Verlust meiner Mutter überwunden hatte, war mir das Unersetzliche derselben nie wieder so herzzerreissend aufgefallen, als in dem Augenblick, da ich nach jener religiösen Feierlichkeit zuerst wieder unser vereinsamtes Haus betrat. Ich sehnte mich ganz unbeschreiblich nach einem Paar mich umfangender Arme, nach einem Herzen, an das ich mit vollem Vertrauen das meine legen könnte, aber ich blieb einsam. Ich befand mich in einer ganz eignen nie zuvor gekannten Stimmung des Gemüths. Dieses war bewegt von der heiligen Handlung, von der ich eben zurück kam, aber es war nicht in seinen Tiefen ergriffen, es war nicht erwärmt. Der flüchtige, wenn gleich heftige Eindruck, den der heutige Tag auf mich gemacht hatte, mußte sogar bald einer eignen [175] Art von Eitelkeit Raum geben, denn ich begann sehr selbstgefällig das eben überstandne öffentliche Examen mir wieder zurück zu rufen, bei dem ich allen Andern mich überlegen gezeigt hatte. Denn bei keinem einzigen der biblischen Sprüche, die ich auswendig lernen mußte, um durch sie die Glaubenslehren zu beweisen, welche meine Lippen bekennten, hatte mir mein Gedächtnis den Dienst versagt; doch leider war auch kein einziger von ihnen bis in mein Herz gedrungen, denn ächte Frömmigkeit war mir von Jugend auf, selbst dem Begriffe nach, fremd geblieben. Als bloßes Gedächtniswerk hatte ich Religion gelernt, wie ich auch Geographie und Geschichte lernte; ihr Geist hatte nie mich durchdrungen, und nie, so lange ich lebte, hatte ich, ausser der Kirche die man zuweilen aus Gewohnheit noch besuchte, von Gott reden gehört.

Liebe Kinder, wundert Euch nicht über dieses Bekenntnis, sondern beklagt mich, daß meine Jugend leider in jene kalte trostlose Zeit fiel, in der man begann sich der Religion zu schämen. [176] Von jeher bahnte ja Uebertreibung einer andern Uebertreibung ganz entgegengesezter Art den Weg, und so drang denn auch plötzlich aus der düstern Nacht des kurz zuvor herrschenden krassesten Aberglaubens, das grelle Flackerlicht des trostlosesten Unglaubens hervor, den man damals Aufklärung nannte. Was war dabei wohl natürlicher, als daß die vom schnellen Uebergange aus dem Dunkel zu jenem kalten Nordschein geblendete Menge einen andern Irrweg einschlug, als den eben verlassnen, ohne zu ahnen, daß es einen richtigern Pfad geben könne?

Die geistreichsten Männer jener Zeit, mit ihnen mein Vater, ließen von Voltaires kaltem, aber glänzendem Witze sich hinreissen, der das Heiligste mit dem Unheiligsten zugleich schonungslos verspottete. Eine furchtbare Erkältung der Gemüther nahm immer mehr und mehr überhand, und Voltaires Anhänger rühmten sich laut: keine Religion, als die eines rechtlichen Mannes anzuerkennen; la religion d'un honnéte homme, wie [177] sie es nannten. Leider gehörte auch mein Vater zu diesen.

Meine wahrhaft fromme, in stiller Einfachheit erzogene Mutter schwieg zu alle dem aus Ergebenheit gegen meinen Vater, dessen Ansichten sie nie widersprach; sie konnte dies um so eher, da man sie ungestört ihren stillen Weg gehen lies. Denn es war Grundsatz jener Aufgeklärten, die Weiber und das Volk bei dem, was sie Irrthümer nannten, so lange zu lassen, als diese darin verharren wollten. In Hinsicht auf mich, tröstete sich meine Mutter damit, daß ich den gehörigen Religionsunterricht täglich von einem Kandidaten erhielt, und für ihre Person begnügte sie sich mit der ihr gelassenen Freiheit, sich ganz still zu entfernen, wenn der französirende Witz der Gesellschafter meines Vaters gegen Dinge, die ihr heilig waren, zu hoch ansprudelte.

So trat ich denn als ein recht armes verlassnes Kind ins erweiterte Leben, ohne die Leitung einer verehrten Mutter und ohne den Trost jenes, über das Irdische und jeden Schmerz desselben [178] uns erhebenden Gefühls, den das Bewußtsein uns gewährt, daß wir unter dem Schutze und der Leitung eines mächtigen, gütigen, unbegreiflichen Wesens stehen, an welches ich leider nie dachte, obwohl ich im Herzen daran glauben mußte. Denn ich war nicht irreligiös, ich war nur gar nichts, weil kein Ton um mich her mein armes erstarrtes Herz erweckte und das darin schlummernde Gute ins Leben rief.

Jezt, da ich eine fast sechzigjährige Matrone bin, werdet Ihr es mir hoffentlich nicht als Eitelkeit auslegen, wenn ich unumwunden gestehe, daß ich vor undenklich langer Zeit sehr schön war. Der Form nach zeigst Du, meine Vicktorine, mir im Spiegel der Erinnerung einigermassen mein Bild; nur zürne nicht, wenn ich behaupte, daß mein langes weiches blondes Haar noch reicher und seidner war, als dein braunes; mein milderstrahlendes blaues Auge vielleicht noch ausdrucksvoller als Dein dunkles, meine Farbe noch blendender als die Deine, mein Wuchs voller und höher. Genug, ich zeichnete mich, trotz aller [179] Verkrüppelungen der damaligen Mode, vor allen meinen Jugendgespielinnen sehr auffallend aus. Seht mich nur recht darauf an, lieben Kinder: so vergeht Glanz und Ehre der Welt.

Mein gütiger Vater fieng jezt an, nicht nur sein Kind mit einiger Eitelkeit zu betrachten, sondern auch mit einem gewissen Stolze, dessen kleine Vorzüge an das Licht zu ziehen, dem nur die väterliche Liebe zur Entschuldigung dienen konnte. Er hatte meine sanfte anspruchslose Mutter unendlich lieb gehabt, er war an ihrer Seite und durch sie unbeschreiblich glücklich gewesen, und doch ließ er von jener Eitelkeit sich verleiten, mich ganz zum Widerspiele dessen ausbilden zu wollen, was sie gewesen war. In seiner Erinnerung wachte wiederum der Frühling seines Lebens auf, den er in Paris, zum Theil in den Salons jener geistreichen Frauen zugebracht hatte, welche zu seiner Zeit als Ton angebende Regentinnen von ihrem Lehnstuhl' aus, in halb Europa die Geister beherrschten. Madame du Deffant, die geistreiche L'Espinasse, [180] Madame de Tencin, und so viele andere, die damals durch Geist, Witz, Talent und Liebenswürdigkeit ein eignes geistiges Reich mitten im frivolsten Treiben eines immer tiefer sinkenden Volkes errichteten, wer kennt nicht jezt noch ihre Namen? Mein Vater hatte an den Strahlen ihres Geistes gerade in der Zeit sich gesonnt, in der die von jugendlichem Enthusiasm erfüllte Brust so leicht und gern jedem schmeichelnden Eindruck sich hingiebt; er hatte sich in den tiefsten Tiefen seines Gemüths so manche herrliche Erinnerung an sie aufbewahrt, welche die väterliche Liebe ihn jezt mit dem Wesen seiner Tochter verwechseln lies, und so verführte er sich selbst zu dem Plan', alles daran zu setzen, um mich zu einer, jenen berühmten Damen ähnlichen Erscheinung umzubilden, wenn ich gleich bestimmt schien, in einem weit beschränkteren Kreise zu glänzen. Wenigstens wollte er mir durch Lektüre und mündlichen Unterricht eine über jedes Vorurtheil erhabene Richtung geben, und machte dies von nun an zum Hauptgeschäfte seines Lebens. [181] Meine natürlichen Anlagen, vereint mit einer Eitelkeit, welche durch die meines Vaters neu belebt ward und die man in meiner Lage verzeihlich finden wird, unterstüzten ihn bei diesem Unternehmen so kräftig, daß ich in der That nach wenigen Jahren als eine sehr blendende Erscheinung da stand, und durch alle glänzende Eigenschaften eines für die grosse Welt gebildeten Geistes, durch Witz und schnelle Urtheilskraft nicht minderes Aufsehen erregte, als durch meine, zu immer höherer Schönheit erblühende äussere Gestalt.

Mädchen und Frauen, mit denen ich bis dahin noch Umgang gehabt hatte, suchten zwar jezt meine Nähe weniger, mieden sie vielleicht gar, weil sie anfiengen sie drückend zu empfinden; doch ich achtete dies wenig, denn auch mir war das Beisammensein im gewohnten Kreise nach und nach langweilig geworden. Nach dem Tode meiner Mutter hatte ohnedem unsre Lebensweise sich, ganz unmerklich, völlig anders gestaltet. Unser Umgang mit so vielen der ersten und angesehensten [182] Familien der Stadt, den ich Euch so eben beschrieben habe, hatte ganz allmählig von selbst aufgehört, ungefähr wie die Schwingungen des Perpendikels einer ins Stocken gerathenen Uhr, die doch nie so ganz mit einemmal' abbrechen.

Wenn viel Zuhausebleiben häuslich leben heißt, so lebten wir in der That weit häuslicher als da meine Mutter noch mit uns war, denn wir giengen fast nie aus, dafür aber versammelten wir täglich einen, zwar nicht sehr ausgedehnten, aber erwählten Kreis geistreicher Männer in unserm Hause. Eine nicht ganz unbedeutende Erbschaft, die meinem Vater unerwartet zugefallen war, machte es uns möglich, dies mit zierlicher Eleganz thun zu können, gleich weit entfernt von Ueberfluß und ängstlicher Sparsamkeit. Künstler, Gelehrte, interessante Männer aus jedem Fach, deren diese Stadt noch in diesem Augenblick weit mehrere verbirgt, als man gewöhnlich glaubt, waren als tägliche Gäste uns stets willkommen. Viele Fremde schlossen sich diesem Kreise an, ja es hielt sich fast kein Einziger von einiger Bedeutung [183] länger als einen Tag in der Stadt auf, ohne bei uns Zutritt zu suchen. Auch an fremden Künstlern fast von allen Nazionen fehlte es nicht, die zum Theil durch uns bekannter zu werden hofften, und gern und willig unseren geselligen Abenden durch ihr Talent einen neuen Reiz gewährten.

Ich hatte mich unterdessen dabei gewöhnt, die Honneurs von meines Vaters Hause mit einer Leichtigkeit, einem Anstande zu machen, welche diesen über allen Ausdruck erfreuten. Alle unsere Gäste lobten mich um die Wette, viele behaupteten geradezu, daß ich an jedem Hofe, sogar in Paris, Aufsehen und Bewunderung erregen müsse. Mir schwindelte das junge Köpfchen bei diesem Lobe, doch vor allem beglückte es mich um meines Vaters willen, an dem ich jezt mit ungemessner Liebe hieng. Sein stilles Entzücken über mein seltnes Gelingen in der Gesellschaft entgieng meinem Scharfblicke nicht, und ich bemerkte recht wohl, wie sein freudig-glänzendes Auge heimlich-triumfirend jede meiner [184] Bewegungen verfolgte. Wenn ich, was oft genug geschah, furchtlos die Stimme erhob, und in gewählten schön geordneten Phrasen meine entscheidende Meinung über irgend einen eben besprochenen Gegenstand der schönen Litteratur an den Tag legte, so war es mein Vater allemal, der zuerst die Aufmerksamkeit der Anwesenden mir zuzuwenden suchte. Er hörte mir theilnehmender zu, als alle Andere, wenn ich über irgend einen Satz der damals herrschenden philosophirenden Moral, oder gar der Politik aburtheilte, welche letztere schon damals Freiheit und Gleichheit zu predigen anfieng. Mit beifälligem Lächeln lohnte er es mir, wenn ich mit leichtem stechendem Witz Ungereimtheiten schonungslos verfolgte, oder mich in einen geistreichen Wettkampf einlies, bei dem ich gewöhnlich den Sieg davon trug. Meine seltne Gewandheit des Geistes gab mir in solchen Fällen zwar oft eine Art von Ueberlegenheit, doch öfterer noch mochte ich wohl diesen Sieg der damals noch üblichen Höflichkeit meiner Gegner verdanken, die nach alter Art zu [185] galant waren, um ihn im Ernst' einer Dame streitig machen zu wollen.

So sah ich denn in blühender, unerfahrner Jugend von einer Schaar von Männern mich umgeben, die mir alle, ohne Unterschied des Standes oder der Jahre, den Hof machten, jeglicher nach seiner Weise. Ich thronte, gleich einer kleinen Königin, ohne Nebenbuhlerinnen in ihrer Mitte, denn meine Schwester war noch zu jung, um in unsern Abendgesellschaften zu erscheinen, und meine weiblichen Bekannten hatten sich nach und nach alle gänzlich von mir zurückgezogen. Ich vermißte sie eben so wenig als ihr Wegbleiben aus unserm Hause mich befremdete, denn ich wußte von meinem Vater, daß meine Vorbilder, die tonangebenden Damen in Paris, zu ihrer Zeit eben so allein mitten in dem Männerkreise da gestanden als ich jezt.

Die Stelle, welche mein Vater unter den Diplomaten dieser Stadt einnahm, machte es mir freilich bei seltnen festlichen Gelegenheiten zuweilen zur Pflicht, in grössern, aus beiden Geschlechtern [186] zusammengesetzten Gesellschaften zu erscheinen, aber auch in dieser behauptete ich meinen Platz. Ich war hier zu laut und zu allgemein als die Erste in jeder Hinsicht anerkannt, als daß es einer andern hätte einfallen können, mir diesen Rang streitig machen zu wollen. Sobald ich ausser dem Hause erschien, umgaben mich die vornehmsten meiner Verehrer gleich einer Wagenburg, und die, welche nicht bis zu mir hindurchdringen konnten, sonnten sich von ferne in meinen Strahlen.

In aller Unschuld ward ich auf diese Weise recht kokett, wenn nehmlich Kokettsein so viel heißt, als ohne Unterschied allen gefallen wollen. Ich wollte dies in der That, aber doch nur, weil ich keinen Mann gesehen hatte, dem ich in meinem Herzen vor allen seines Gleichen hätte den Vorrang einräumen können. Alle, die ich kannte, galten mir gleich, aber ich betrachtete sie auch alle wie Unterthanen, von denen mir keiner rebellisch werden, oder gar einer andern Fahne sich zuwenden durfte. Mein eigentlichstes Streben[187] war doch nur, meinem Vater zu gefallen, nicht nur weil er mein Vater, sondern weil er zugleich der edelste geistreichste Mann war, den ich kannte. Ihm anzugehören, die Freude dieses Greises zu sein, war mein Stolz, und seine mit jedem Tage zunehmende Liebe zu mir mein einziges Glück. Das Bild seiner Jugend, wie ich mir es dachte, wurde mein Ideal, und ich schlug mehrere Heirathsanträge aus, weil alle diese Männer, die sich um mich bewarben, meinem Vater zu unähnlich waren, als daß ich einen von ihnen hätte der Ehre werth halten können, sein Sohn zu heissen. Diese jungen Herren, welche sich um mich her drängten, erschienen mir eigentlich alle in einem etwas kläglichen Lichte. Es entgieng mir nicht, daß nur eine noch ungemessenere Eitelkeit als meine eigne sie an den Stufen meines Thrones versammle; deshalb achtete ich sie im Grunde zu wenig, um auf ihre Huldigungen grossen Werth legen zu können; aber es belustigte mich, wenn ich ihre Thorheit zu meiner Unterhaltung benutzte, und sie wie Marionetten [188] behandelte, denen ich nach Belieben Leben und Bewegung verlieh.

Die Zeit vergieng, aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate, aus Monaten Jahre, ohne daß ich es sonderlich gewahr ward, und so hatte ich eben mein zwei und zwanzigstes Jahr vollendet, als mitten in der schönsten Frühlingszeit alle Welt hier in eine halb ängstliche, halb freudige Spannung gerieth, deren unschuldige Ursache die regierende Herzogin von P. war. Diese Fürstin sollte auf ihrer Durchreise nach einem Bade mit ihren beiden Prinzessinnen in kurzem bei uns eintreffen, und hatte beschlossen, einige Tage in unserer Stadt zu verweilen, um die Merkwürdigkeiten und vor allem die schönen Umgebungen derselben kennen zu lernen.

Vor vierzig Jahren war das Reisen mit weit grössern Beschwerden verbunden als jezt, wo es einer lustigen Spazierfarth immer ähnlicher wird. Gute Gasthöfe waren selten, leidliche Wege noch seltner und Kunststrassen am allerseltensten. Daher blieb fast jeder, der nicht [189] reisen mußte, gern zu Hause, und besonders waren reisende Könige und Fürsten damals eine seltene Erscheinung.

Alle Fenster in den Strassen, durch welche ein gekröntes Haupt fahren sollte, wurden deshalb lange im voraus in Beschlag genommen, die neugierige Menge drängte sich Kopf an Kopf in dichten Reihen um die fürstlichen Wagen her, und alte Leute, denen in ihrer Jugend das Glück zum Theil worden war, einen Kaiser oder König von ferne zu sehen, erzählten noch Kindern und Kindeskindern davon als von einem merkwürdigen Ereignisse ihres Lebens.

Die blosse Durchreise der Herzogin wäre also schon hinreichend gewesen um die ganze Stadt in Bewegung zu bringen, aber nun wollte sie sogar drei Tage in unsrer Mitte verweilen, und glänzende Feste sollten diese Zeit ausfüllen, deren Erfindung denen, welche sie anzuordnen hatten, nicht wenig Kopfbrechens verursachte. Der überall immer steigende Luxus hatte freilich seit den lezten zehn Jahren auch in dieser Stadt sehr zugenommen, [190] und nach und nach war manche bedeutende Abänderung in der früher gewohnt gewesenen Lebensweise der Einwohner derselben entstanden; doch die Idee von Hoffesten lag den freien Reichsstädtern noch immer zu fern, als daß sie sich sogleich darin hätten finden können.

Während die Männer mit Zuziehung meines Vaters darüber rathschlagten, wie sie die Fürstin gehörig empfangen und unterhalten könnten, waren die Damen ihrer Seits mit Vorbereitung ihres Putzes zu dieser feierlichen Gelegenheit nicht minder beschäftigt. Ich allein blieb vielleicht die Müssigste in der ganzen Stadt, denn die Sucht auf diese Weise glänzen zu wollen, gehörte nie zu meinen Fehlern. Im stolzen Bewustsein meiner Vorzüge suchte ich vielmehr stets etwas darin, meine von Silberflor, Flittern und Edelsteinen strahlenden Nebenbuhlerinnen im einfach zierlichen Gewande dennoch zu verdunkeln, und ich nahm mir vor, auch diesmal meiner alten Gewohnheit treu zu bleiben. Bei alle dem aber klopfte mir doch das Herz bei dem Gedanken, einer Fürstin [191] vorgestellt zu werden. Wäre es ein König, oder selbst ein Kaiser gewesen, ich hatte zwar auch noch keinen gesehen, aber ich wäre wahrscheinlich ruhiger dabei geblieben, denn Kaiser und Könige sind Männer und gegen solche wußte ich mich zu benehmen. Ich durfte sogar hoffen, ihnen eben so wenig zu misfallen, als andern Männern; aber eine Fürstin, und vollends gar eine junge Prinzessin! Der blosse Gedanke an ein solches, mir so ähnliches, und doch wieder auch so unähnliches Wesen flößte, wie etwas Uebernatürliches, mir eine Art ängstlicher Scheu ein. Ich zerbrach mir vergebens den Kopf um zu ersinnen, wie einer so von Jugend auf in einer ganz andern Sphäre und mit ganz verschiedenen Ansichten aufgewachsenen Prinzessin die Welt und die Verhältnisse des Lebens, erscheinen könnten, zu denen eine solche Fürstin eigentlich gar nicht gehört, und denen sie denn doch auch wieder in gewisser Hinsicht eben so unterworfen ist als jedes andre Mädchen.

[192] Der grosse Tag kam endlich heran, die Fürstin auch, und ich ward in der Reihe der ersten Damen der Stadt ihr vorgestellt. Ich fühlte mich bei dieser ganz einfachen Zeremonie so befangen wie nie zuvor in meinem Leben, und ärgerte mich dabei innerlich über mich selbst, weil es mir durchaus nicht gelingen wollte, dieses ängstliche Gefühl abzuschütteln. Die Herzogin, eine schöne hohe Frau von mütterlichem Ansehen, war die Huld und Freundlichkeit selbst; sie war weit einfacher gekleidet als wir alle und weder Schmuck noch Orden verriethen ihren hohen Stand. Mit jener Leichtigkeit, welche von Jugend an den Fürstinnen eingelehrt wird, wandte sie sich an alle Damen der Reihe nach und wußte jeder etwas angenehmes zu sagen. Mich beehrte sie besonders mit freundlichen Fragen nach einigen meiner Verwandten, die sie in frühern Zeiten gekannt hatte, und ich antwortete ihr so gut ich es konnte; doch meine Stimme bebte dabei, meine Wangen glühten und meine Augen hafteten unabwendbar am Boden. Unerachtet aller möglichen fürstlichen Herablassung, [193] imponirte mir die hohe, über das ganze Wesen der Herzogin verbreitete, ihr ganz eigenthümliche Würde, und ihre Kornblumenfarbenen Augen, so mild sie stralten, schienen mir bis in das Innerste meiner Brust dringen zu wollen. Es mochten wohl schon oft solche verlegne Figuren wie ich damals eine war, vor ihr gestanden haben, denn sie schien meinen Zustand zu begreifen und suchte, mitleidig, ihm dadurch abzuhelfen, daß sie mich ihren beiden Töchtern, zwei ätherisch-zarten Gestalten zuführte. Besonders war die jüngste, Prinzessin Mathilde, ein Kind von zwölf Jahren, beinahe unkörperlich wie eine Silphide.

Ich fühlte die Absicht der Fürstin und schämte mich innerlich meines albernen Betragens nur noch mehr, indessen gelangte ich nach und nach durch das Gespräch mit den jungen Damen doch wieder zu leidlicher Fassung, obgleich ich von meiner gewohnten Sicherheit noch immer weit entfernt blieb.

Ich wagte es doch wenigstens, wieder aufzusehen, fuhr aber gleich wieder erschrocken zusammen, denn mein erster Blick fiel in das mit [194] gespannter Aufmerksamkeit auf mich gerichtete Auge eines dicht hinter der Herzogin stehenden jungen Mannes. Er wandte, fast unmerklich erröthend, den Blick von mir ab, so wie der meinige ihn traf, und auch ich schlug die Augen wieder nieder, aber ich fühlte, wie meine Wangen vor dem Strahle seines Blicks in dunkelem Purpur erglühten. Als ich mich nach einer kleinen Weile unbemerkt wußte, sah ich doch verstohlen wieder hin; es war eine hohe edle Gestalt mit einem sehr ausdrucksvollen schönen ernsten Gesichte. Sein durchaus ruhiger, bescheidener und doch vornehmer Anstand verkündeten in ihm den Mann von Welt und feiner Bildung; ich sah von ihm auf meine zahlreichen, den Saal füllenden Bewunderer, nie hatten sie mir weniger gefallen; alle standen in ehrerbietiger Ferne, einige, noch verlegener als ich, drückten sich an den Wänden herum. Ich wünschte in diesem Augenblick nichts sehnlicher. als zu erfahren, wer der interessante Fremde sei. Aber wo hätte ich den Muth hernehmen wollen darnach zu fragen; ich war mit einemmal ein [195] blödes bescheidnes Kind geworden, und ich kannte mich selbst nicht wieder in dieser Umwandlung.

Der Nachmittag war bestimmt, die Herzogin an einige der schönsten Puncte der Umgegend zu führen und sie selbst hatte die Gnade, mich zur Begleitung ihrer Töchter einzuladen. Ich fuhr mit den Prinzessinnen und ihrer Hofmeisterin in einem offenen Wagen, der Fremde ritt neben dem der Herzogin her. Er schien so an ihre Nähe gefesselt, daß er sich von ihr durchaus nicht entfernen durfte, indessen hatte ich doch das Vergnügen, ihn von weitem zu beobachten. Seine schöne Gestalt zeigte sich mir zu Pferde auf das allervortheilhafteste, denn es ist ja eine sehr alte Bemerkung, daß für die Männer das Pferd das ist, was für uns der Tanzsaal, um darauf körperliche Vorzüge im günstigsten Lichte geltend zu machen. Mit stiller Freude wurde ich gewahr, daß er sich nach uns umsah, so oft sich die Gelegenheit dazu bot. Ich bemerkte es jedesmal, wenn es geschah, mochte aber um so weniger es wagen, nach seinem Namen zu fragen.

[196] Eine elegante und ausgesuchte Kollazion erwartete die Herzogin nach vollendeter Spazierfahrt, in einem der schönsten Gärten in der Nähe der Stadt, und ein brillantes, von einem in diesem Fache berühmten Künstler dirigirtes Feuerwerk sollte mit sinkender Nacht die Freuden dieses Tages beschliessen. Für die Herzogin war zu diesem Zweck dicht am Hause eine grosse, mit einem seidnen Baldachin bedeckte Estrade erbaut worden. Einige Stufen führten von dieser Estrade in den Garten hinunter, und vom Hause aus gelangte man, ebenfalls einige Stufen hinab, durch drei der grossen, bis an den Fußboden reichenden Fenster des in der ersten Etage befindlichen Speisesaals, auf die für die Herzogin und die Damen bestimmten Plätze. Ich fand den meinigen unfern den Prinzessinnen, am Ende der zweiten Reihe von Stühlen. Das Feuerwerk begann, die laue Sommernacht schien für ein Vergnügen dieser Art eigends geschaffen zu sein. Dunkle Wolken bedeckten den Horizont, ohne doch mit wahrem Regen zu drohen, und das in[197] bunten feurigen Farben stets wechselnde lustige Strahlenspiel zeigte sich auf diesem dunkeln Hintergrunde, in feenhafter Zauberpracht. Der Anblick der zahllosen geputzten Zuschauer, welche im Garten, um die Estrade her gruppirt, theils sassen, theils standen, erhöhte den Reitz des magischen Schauspiels, indem alle die vielen Köpfe sich bald im hellsten Lichte zeigten, bald zurücktretend in das geheimnißvolle Dunkel der Nacht, wieder verschwanden. Das ganze Feuerwerk gieng zur Freude aller Anwesenden ganz vortrefflich von statten; schon zeigte sich die letzte glänzendste Dekorazion, ein im hellsten Brillantfeuer strahlender Säulentempel. Ein feuriger Adler flog zu einem der obern Fenster des Hauses hinaus über die Estrade weg, um die an dem Tempel angebrachten Namenzüge der hohen Herrschaften anzuzünden, alles war in gespannter froher Erwartung. Doch ehe der Adler noch die Mitte seiner Bahn erreichte, riß einer der Drähte entzwei, an welchen er schwebte, der feurige Klumpen prallte sinkend zurück, gerade auf den Platz zu, wo die [198] Herzogin saß. Er setzte die seidene Drapperie des Baldachins in Brand, verwundete ein paar Damen und fiel dann mitten in der Estrade zu Boden, wo er, dampfend und zischend und prasselnd, Angst und Gefahr um sich her verbreitete.

Von dem Tumulte, dem Geschrei, dem Entsetzen der Unordnung, worin sich jezt alles auflöste, kann Euch keine menschliche Zunge einen Begriff geben. Man muß so etwas mit erlebt haben, um es sich vorstellen zu können. Alle Rücksichten waren im Moment vergessen, jeder dachte nur an sich und die Seinen. Die, welche auf der Estrade sich befanden, stürmten schreiend durcheinander, den in den Speisesaal führenden Zugängen zu. Jeder rief mit überlauter Stimme die Namen der Seinen, die er im Gedränge zu verlieren fürchtete, und alle vermehrten im panischen Schrecken die allgemeine Unordnung und die erst aus dieser hervorgehende Gefahr, welcher ein einziger besonnener Mann hätte zuvorkommen können. Mit einem Griffe, der die glimmenden [199] Drapperien herunter gerissen, mit einem Fußtritt, der den Funken sprühenden Adler in den Garten hinab geschleudert hätte, wäre alles gethan gewesen. doch daran war jezt nicht mehr zu denken. Die leichten Latten, welche rings um die Estrade eine Art Balustrade gebildet hatten, wurden von denen zertrümmert, die aus dem Garten hinauf diese erkletterten, um ihren oben befindlichen Frauen und Töchtern zu Hülfe zu kommen; die Stühle wurden umgeworfen, einige der Fliehenden fielen über diese, oder über die zu dem Hause hinaufführenden Stufen, andere stiegen über die Gefallenen weg. Die Herzogin war zum Glück gleich im ersten Augenblick ins Haus geflüchtet, zwei Sekunden später waren schon alle drei Eingänge zu diesem von der ihr nachdringenden Menge verstopft, niemand konnte weder rückwärts, noch vorwärts, und alles das geschah unter durchdringendem betäubendem Geschrei, innerhalb weniger Minuten, ich möchte sagen, in weit kürzerer Zeit, als ich gebraucht habe, Euch von diesem Unfalle zu erzählen.

[200] Ich selbst behielt zum Glücke kaltes Blut genug, um das Nichtige der gefürchteten und das Bedeutende der aus dieser Furcht entstehenden Gefahr einzusehen, und war deshalb auch so besonnen, daß ich mich nicht, wie die Uebrigen, dem Hause zu zuflüchtete. Ich wollte lieber durch einen raschen Sprung seitwärts von der gar nicht hohen Estrade, in das weiche Gras, mich in den dunkeln menschenleeren Theil des mir aus früherer Zeit sehr wohl bekannten Gartens flüchten, um dort das Ende alles dieses Lärmens ruhig abzuwarten. Indem ich aber mein Kleid zusammennahm und mich anschickte herunter zu springen, fühlte ich mit sanfter Gewalt meine Knie umfaßt; erschrocken sah ich nieder und traute meinen eigenen Augen kaum, als ich die arme kleine Prinzessin Mathilde erblickte, die, unfähig sich zu helfen, zwischen den umgeworfenen Stühlen, auf dem Fußboden der Estrade lag, und, krampfhaft zitternd, mich fest umschlungen hielt. Das arme Kind war gleich anfangs im ersten Schrecke von seiner Mutter abgekommen, [201] es war über die Stühle hingefallen, niemand hatte dies gesehen, und da mehreren Personen oblag, für die Prinzessin zu sorgen, so hatte sich eigentlich in der Verwirrung niemand um sie bekümmert, indem jedes sie bei den Andern in Sicherheit glaubte. So war sie denn wirklich der Gefahr ausgesetzt geblieben, im Gedränge erstickt oder ertreten werden zu können.

Ohne langes Bedenken nahm ich die zarte Kleine auf, kniete am Rande der Estrade hin, und ließ sie mit möglichster Behutsamkeit langsam hinunter in das Gras sinken, dann sprang ich selbst ihr nach; das Getümmel und Geschrei oben nahm zu und das Kind lag wie besinnungslos zu meinen Füssen. Eben wollte ich versuchen, es mit Hülfe meines Flakons mit Eau de Luce wieder zu sich selbst zu bringen, als ein fürchterliches, lange anhaltendes Knallen mich selbst jezt auf das heftigste erschreckte. Ein Feuerregen umsprühte mich im Nu, Hunderte von feurigen Schlangen flogen zischend und prasselnd nach allen Richtungen durch die Luft, und verbreiteten eine [202] höchst ängstliche Helle, die momentan wieder mit dicker Finsternis abwechselte. Eine grosse Menge zerstreut liegender Raketen, welche zu einer gewaltigen Girandole vereint, den Schluß des Feuerwerks hatten verherrlichen sollen, war durch ein Versehen in Brand gerathen. Vermuthlich hatte der Feuerwerker selbst über die, wahrscheinlich nicht ohne seine Schuld entstandene Verwirrung den Kopf verloren, und so konnte denn dieses zweite Unglück durch die vielen, mit Fackeln zum Aufsuchen ihrer Herrschaften herumlaufenden Bedienten leicht entstehen. Durch das immer wilder werdende Geschrei über mir, durch das Knallen der Raketen, durch den fortwährenden Funkenregen, und die rings um uns niederfallenden brennenden Raketenstöcke, war ich jezt selbst so ängstlich geworden, daß ich in Gefahr stand, ebenfalls die Besinnung zu verlieren; doch suchte ich mich zu fassen so gut ich konnte. Ich nahm das noch immer halb ohnmächtige Kind in meine Arme, es schien mir in der Angst federleicht. Mir kam der Gedanke, in einen, vom Schauplatze der [203] Verwirrung ziemlich entfernten, mir wohl bekannten Gartensaal uns beide einstweilen in Sicherheit zu bringen; denn schon fielen kalte einzelne Regentropfen herab und der nächtliche Himmel hüllte sich in immer schwärzeres Dunkel. Selbst zitternd vor Furcht, trat ich daher jezt mit meiner Bürde den Weg nach jenem Gartensaal an, und beeilte meine Schritte so gut ich es konnte. Ich hatte das Kind schon eine ziemliche Strecke weit fortgetragen, als Angst und Eile mich ein paar Stufen vergessen liessen, die auf meinem Wege lagen und zu einer niedriger liegenden Terrasse hinabführten, über die ich mußte. Ich glitt aus, fiel, mit dem Kinde auf meinen Armen, die kleine Treppe hinab, und fühlte, nach wenigen Minuten, zu meinem unaussprechlichen Schrecken, die Unmöglichkeit aufzustehen und weiter zu gehen.

Im Garten war es jezt sehr dunkel und todtenstill. Das Feuerwerk hatte ausgetobt, und nur wie aus weiter Ferne tönte das die Estrade noch immer umwogende Getöse zu mir herüber. [204] Der Regen begann mächtiger hernieder zu rauschen und weckte die kleine Prinzessin aus ihrer Ohnmacht. Sie zitterte an allen Gliedern wie ein Espenlaub, doch freute es sie, sich in meinen Armen zu finden. »Fräulein,« bat sie unter heißen Thränen, »liebes Fräulein, so stehen Sie doch auf, daß wir zu meiner Mutter kommen,« und da sie sah, daß ich nicht aufzustehen vermochte, erhob sie ein lautes klägliches Geschrei nach Hülfe.

Vergebens versuchte ich alles, sie zu beschwichtigen, sie lies sich nicht beruhigen und zitterte dabei immer stärker mit konvulsivischer Heftigkeit. Ich versicherte sie, daß alle Gefahr vorüber sei, daß der Schmerz in meinem Fuße sich bald geben würde, daß ich den Weg kenne und sie sicher nach Hause bringen würde, alles war vergebens. Sie schrie immer lauter und ängstlicher, und ich hörte dabei die Zähne des armen Kindes vor Angst und Furcht an einander schlagen. Der traurige Zustand der Kleinen gieng mir durch die Seele. Eure Shawls kannte man [205] damals noch nicht, so riß ich dann meine Zirkassienne, eine Art Oberkleid, das damals Mode war, herunter, um das arme Prinzeßchen in den starken seidenen Stoff zu hüllen und es nur einigermassen vor dem immer dichter fallenden Regen zu schützen. Dankbar schlang das Kind die zarten schwachen Aermchen um meinen Hals, verbarg leise weinend und schluchzend das Köpfchen an meine Schulter, und schrie dann wieder überlaut mit verdoppelter Heftigkeit nach Hülfe. Jezt fieng ich an, um uns Beide recht ernstlich besorgt zu werden. Die unnatürliche Heftigkeit der Prinzessin Mathilde ängstigte mich unbeschreiblich, die Schmerzen in meinen Füßen nahmen mit jeder Minute zu und wurden fast unleidlich; dazu durchnäßte der immer dichter fallende Regen uns beide, besonders aber mich bis auf die Haut. Ihr könnt also denken, wie froh ich war, als ich endlich an der Taxusecke, welche die Terrasse einfaßte, auf welcher ich lag, den Wiederschein eines Lichtes erblickte. Auch die Prinzessin ward mit mir zugleich diesen Hoffnungsstrahl [206] gewahr, sie stand auf, wandte sich nach der Richtung, von wo das Licht zu kommen schien, und rief mit einemmal laut jubelnd: »Leuen, lieber Leuen, hieher, hier unten ist Mathilde, hier ist auch das Fräulein, geschwind' uns zu Hülfe, hieher!

Das Gebüsch über mir rauschte, ein Mann sprang von der obern Terrasse zu uns hinab, und beim Schein einer Laterne, die er trug, und die er augenscheinlich irgendwo an einem Hause heruntergerissen haben mußte, erkannte ich den Begleiter der Herzogin.

›Gottlob, daß ich Sie finde, Prinzessin!‹ sprach er ganz ausser Athem; ›wir glaubten alle, Sie schon zu Hause zu finden, und die Herzogin ist jezt Ihretwegen in der quälendsten Todesangst. Kommen Sie, wir müssen eilen, erlauben Sie, daß ich Sie bis an den Wagen trage, damit wir schneller fortkommen.‹

›Nein, nein, nein, nein,‹ rief abwehrend die Kleine, ›sehen Sie doch nur hier, das arme liebe Fräulein Falkenhayn. Sie hat den Fuß [207] gebrochen, weil sie mich forttrug. Ach Gott! ach Gott, sie stirbt; sehen Sie, wie sie mit einemmal bleich wird; sie stirbt ganz gewiß, wenn sie nicht gleich Hülfe bekommt.‹ Das arme Kind brach von neuem in Thränen aus, warf sich mir, wie ich so da lag, um den Hals; der Fremde aber, der jezt erst meiner gewahr ward, stand, sichtbar erschrocken, dabei, und schien in der ersten Ueberraschung vergebens nach Worten zu suchen.

Es ist lange nicht so arg, als die Prinzessin es glaubt,« erwiederte ich, und suchte, unerachtet des ungeheuern Schmerzes in meinem Fuße, ein Lächeln zu erzwingen. ›Ich bin ausgeglitten, ich habe mir den Fuß verstaucht, vielleicht ein wenig verrenkt, aber gebrochen nicht, hoffe ich. Die paar Schritte bis zum Wagen denk' ich recht gut gehen zu können,‹ sprach ich, und bemühte mich, vom Boden aufzustehen. Herr von Leuen unterstützte mich, auch die arme kleine Mathilde strengte mitleidig alle ihre schwachen Kräfte an, mir zu helfen; doch der Schmerz ward zu heftig,[208] und ich sank mit einem kaum zu unterdrückenden Wehelaut zurück in das Gras.

›Es geht nicht,‹ sprach ich, meinen Schmerz möglichst verbergend, ›es geht nicht. Haben Sie nur die Güte, Herr von Leuen, die Prinzessin an den Wagen zu bringen, und mir dann Hülfe zu senden.‹

›Nein, nein, nein,‹ rief Mathilde abermals, und umschlang mich, mich fest umklammernd, als wolle man mit Gewalt sie von mir reissen. ›Nein, Leuen, ich thue es nicht, mag werden was da will, ich kann ja meine gute liebe Beschützerin hier nicht so allein liegen lassen.‹

›Auch ich kann mich nicht dazu entschliessen,‹ erwiederte von Leuen mit bewegter Stimme. ›Aber was fangen wir an, der Regen wird immer heftiger; was sollen wir thun?‹

In diesem Augenblick' erblickte er durch das Gebüsch in ziemlicher Ferne Leute mit Fackeln, welche vermuthlich noch immer die Prinzessin suchten. Er rief so laut er es konnte ihnen zu, doch Wind und Regen rauschten, niemand hörte ihn, [209] die Lichter entfernten sich wieder und verloren sich zuletzt ganz. Sie aufzusuchen erlaubte die Prinzessin Herrn von Leuen nicht; sie hielt ihn unter Thränen und Bitten fest, und niemand kam zu uns, da man nicht vermuthen konnte, uns in diesem ganz abgelegenen Theile des Gartens zu finden.

›Wenn die Prinzessin gehen könnte, es sind kaum hundert Schritte bis dahin, wo ich den Wagen errufen kann,‹ fieng Leuen jezt ein wenig verlegen an.

›O ich kann! ich kann!‹ rief das zitternde Kind, ›mir fehlt nichts, gar nichts, helfen Sie nur, lieber Leuen, helfen Sie nur dem Fräulein. Geben Sie mir die Laterne, ich will sie schon tragen, und nehmen Sie das Fräulein und tragen Sie sie auf den Armen, wie sie mich getragen hat.‹

›Die Prinzessin hat Recht; ich bitte, vertrauen Sie sich mir,‹ sprach jezt Leuen, und obgleich seine merklich zitternde Stimme dabei von innerer Verlegenheit zeugte, so hob er doch, ohne [210] meine Antwort abzuwarten, und ehe ich mich dessen versehen konnte, mit starkem Arme mich empor. Mir vergiengen dabei fast die Sinne, aber was konnte ich thun? Wie ein Kind lag ich in seinen Armen, an seine Brust gedrückt; sein Athem wehte an meiner Wange, ich hörte jeden Schlag seines Herzens. Ein unnennbares nie gefühltes Vertrauen zu dem fremden Manne, dessen Namen ich kaum kannte, kam in dem Augenblick' in meine Seele, und Thränen entquollen meinen Augen, süsse Thränen, die ich weinte, ich wußte nicht warum. Er bemerkte mein stilles Weinen. »Sie leiden sehr!« flüsterte er mit unbeschreiblich sanfter wohlthuender Stimme mir zu, und ich sah beim Schein der Laterne, welche die Prinzessin trug, daß ein feuchter Schimmer auch sein schönes Auge verklärte. Ich vermochte es nicht, seine Frage zu beantworten.

Wir kamen nur sehr langsam vorwärts, denn die arme kleine Mathilde konnte kaum fort, und auch Herr von Leuen eilte nicht, und konnte es [211] auch wohl nicht unter der schweren Last, die er trug.

Endlich ward aber doch der Wagen erreicht, unser Beschützer setzte sich neben mich, um mich zu unterstützen und, so viel dies möglich war, die Stösse des Wagens zu mindern, der, seinem Befehl zu Folge, meinetwegen sehr langsam fahren mußte. Mathilde setzte sich mir gegenüber, und bestand darauf, meinen kranken Fuß auf ihrem Schooße zu halten. Dabei plapperte sie in einem fort mit der frohen Geschwätzigkeit eines Kindes, das sich freut, einer grossen Gefahr entronnen zu sein, und überzeugt ist, etwas höchst Merkwürdiges erlebt zu haben. Sie war bei dem ganzen Vorgange nicht so bewustlos gewesen als ich gedacht hatte, denn sie erzählte sehr umständlich, wie ich sie von der Estrade hinunter gelassen habe, und dann ihr nachgesprungen sei, wie ich sie dann weiter getragen, und wie ich zuletzt mein eignes Kleid mir abgerissen habe, um sie in die Schleppe desselben einzuhüllen. Als sie diesen Umstand erwähnte, ward ich erst beim [212] Scheine der, den Wagen umgebenden Fackeln den zerstörten Zustand meiner Kleidung gewahr, und alles Blut meines Herzens stieg mir ins Gesicht. Leuen, dessen glänzende Augen bis jezt in einem fort auf mir geruht hatten, bemerkte mein Erröthen, auch er wurde roth, wandte den Blick und vermied es von nun an, mich wieder anzusehen bis der Wagen vor dem Hause der Herzogin hielt.

Leicht wie ein Vogel, mit hellem Freudengeschrei flog Prinzessin Mathilde zum Wagen hinaus, die Treppe hinauf in die Arme ihrer Mutter. Ich verlangte zu meinem Vater gebracht zu werden, doch in demselben Augenblicke kam er selbst an den Wagen, und schloß mit liebender Sorge mich in seine Arme. Seine Gesundheit erlaubte ihm nicht mehr, sich der Abendluft auszusetzen, deshalb war er bei dem Feuerwerke nicht gegenwärtig gewesen; doch als das ins Fabelhafte vergrösserte Gerücht von dem dabei vorgefallenen Unheil ihm zu Ohren kam, und ich noch immer fort ausblieb, trieb ihn Besorgniß [213] um mich zur Herzogin, wo er mich zu finden hoffte. Beide theilten nun mit einander die Angst um das Schicksal ihrer Kinder und die Sorge für deren Rettung. Alle Leute, deren sie habhaft werden konnten, wurden ausgeschickt uns zu suchen, doch keiner von allen kam auf den Einfall, uns da zu vermuthen, wo wir uns befanden. Nur Herr von Leuen, der übrigens die Lokalität des Gartens gar nicht kannte, ward durch ein glückliches Ungefähr zu unserer Hülfe herbei geführt. Das sonderbarste war, daß niemand begreifen wollte, wie die Prinzessin Mathilde in diese Verlegenheit hätte gerathen können. Und doch war nichts natürlicher. Es ist ja das Schicksal aller, für deren Bedienung Viele zu sorgen haben, daß sie bei wichtigen unerwarteten Ereignissen gerade am ersten vernachlässigt werden, weil sich stets einer ihrer Diener auf die Pünktlichkeit des andern verläßt.

Während die Herzogin sich des Wiedersehens ihres vermißten Kindes erfreute, ward ich in einem ihrer Zimmer auf ein Ruhebette getragen, [214] denn sie wollte es durchaus nicht erlauben, daß ich in diesem leidenden Zustande in die, von der ihrigen ziemlich weit entfernten Wohnung meines Vaters gebracht würde. Gleich darauf kam sie selbst zu mir, um unter heissen Thränen des Dankes mich für die Rettung ihrer Tochter zu umarmen. Sie übertrieb sowohl die Gefahr, in welcher die Prinzessin geschwebt, als die Bewunderung dessen, was ich für sie gethan hatte, nach der gewohnten Art aller Grossen, die sich nur selten in die kleineren Unfälle des Lebens zu finden wissen, obgleich sie schweres Unglück oft mit einem Muthe ertragen, der den unsern beschämt. Die Herzogin nannte mich einen, von Gott zu ihrem Schutze gesendeten Engel, und war so unerschöpflich im Lobe meines Muthes, meiner Besonnenheit, meiner Selbstopferung, daß ich zuletzt anfieng, mich recht herzlich vor mir selbst zu schämen. Denn was war es denn am Ende, was man so bis in die Wolken erhob? Was hatte ich denn Grosses gethan? Ich hatte Besonnenheit genug gehabt, einigermassen mit [215] Verstand für meine eigene Person zu sorgen, und war dabei nicht unmenschlich genug gewesen, ein schwaches liebenswürdiges Kind hülflos zu verlassen.«

»So wie die Herzogin hinaus gieng, fiengen alle im Zimmer Gegenwärtige, von der Hofmeisterin der Prinzessin bis zum Garderobenmädchen hinab, an, auch ihren Theils meinen Edelmuth in noch übertriebneren Ausdrücken als ihre Fürstin bis in die Wolken zu erheben. Alle erzählten einander zugleich die Wunder, die ich gethan, so daß ich der Sache endlich recht überdrüssig ward, und es versuchte, ihnen meine eigne Ansicht des Vorganges mitzutheilen. Allein ich predigte tauben Ohren. Man ergoß sich jezt sogar in überlaute Bewunderung meiner Bescheidenheit. Ich schwieg zuletzt, lies geduldig alles über mich ergehen, und fand bald, daß dies der beste Weg sei, die ungestümen Nachbeter ihrer Fürstin endlich zum Schweigen zu bringen.

Inzwischen untersuchte der Leibarzt der Herzogin meinen beschädigten Fuß. Er war, wie ich [216] es vermuthet hatte, nicht gebrochen, aber verrenkt und stark geschwollen. Der Arzt versprach meine völlige Wiederherstellung innerhalb weniger Tage, nur machte er dabei das vollkommenstruhige Verhalten zur unabläßlichen Bedingung. So war denn um so weniger an meine Rückkehr in das Haus meines Vaters zu denken, da obendrein die Herzogin sehr ernstlich darauf bestand, mich unter ihren Augen verpflegen zu lassen.

Ein leichtes Erkältungsfieber, welches Prinzessin Mathilde von unserem nächtlichen Abentheuer davon getragen, zwang ohnehin die Herzogin, ihren hiesigen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit zu verlängern, besonders da auch ihre eigne Gesundheit von der heftigen Gemüthsbewegung jenes Abends gelitten hatte. Sie fühlte sich matt und erschöpft, oder brauchte dies auch vielleicht nur zum Vorwande, um allen anderweitigen Festen auszuweichen, die man ihretwegen noch anordnen wollte.

Auch meine eigne Genesung machte weit langsamere Fortschritte, als der Arzt anfangs [217] gehofft hatte; so blieb ich denn zwei volle Wochen hindurch in der Nähe der Herzogin, und diese Zeit ward zu einem Lichtpunct in meinem Leben, dessen Abglanz noch jezt das Dunkel meiner alten Tage erhellt. Wie durch einen Zauberschlag sah ich mich in eine, mir ganz neue Existenz versezt, alle meine Begriffe von mir und vom Leben erhielten eine andere Richtung, alles, was mich bis dahin theils ergözt, theils geblendet hatte, war, für den Moment wenigstens, wie vor meinen Augen verschwunden. Ohnerachtet der herablassenden Güte der Fürstin, fühlte ich mich doch in jeder Hinsicht ihr viel zu untergeordnet, als daß es mir hätte einfallen können, meine gewöhnliche glänzende Rolle in ihrem Beisein fortspielen zu wollen. Auch die ernste stille, beinahe furchtsame Bescheidenheit der ältern Prinzessin Ludovika, die nur wenige Jahre jünger als ich war, flößte mir eine Zurückhaltung ein, die ich sonst nicht kannte. Nicht etwa, daß ich ein verstelltes Betragen angenommen hätte, um in diesen Umgebungen anders zu erscheinen wie ich [218] war, nein! ich blieb offen und unverstellt wie immer, aus Charakter, nicht aus Tugend; aber ich folgte nur meiner gewohnten Art, mich vom Augenblicke und von meinen Umgebungen hinreissen zu lassen. Mit der kleinen Mathilde, die leidenschaftlich an mir hieng, ward ich eben sowohl zum spielenden jauchzenden Kinde, als ich in Gegenwart der Herzogin und der Prinzessin Ludovika mir die bescheidne Haltung und das anspruchslose Betragen aneignete, durch welches diese Damen sich auszeichneten. Kein einziger meiner Verehrer hätte in dieser Umwandlung mich als Die wieder erkannt, die ich noch am Morgen vor dem Feuerwerke war, und doch bin ich überzeugt, nie wahrhaft liebenswürdiger gewesen zu sein, als während meines Aufenthalts in diesem Hause. Ich fühlte das wohl und freute mich darüber, aber ich war leider noch nicht klug genug, um mir daraus für mein künftiges Leben eine Lehre zu nehmen.

Das Reisegefolge der Herzogin war so klein als der hohe Rang dieser Fürstin es nur immer [219] erlauben mochte. Ausser dem, zur Bedienung nothwendigen Personal, bestand es nur aus einer Hofdame, die mit der Herzogin von Jugend auf zusammen gelebt hatte, aus der Hofmeisterin der Prinzessinnen, einem Kavalier und dem Leibarzte. Ersterer, Baron Reineck, ein Mann von mittlerem Alter, langte erst am Morgen nach dem Feuerwerke bei seiner Fürstin an. Ein ganz unerwarteter Zufall hatte ihm unterwegs eine geliebte, seit vielen Jahren nicht gesehene Schwester entgegen geführt, und die Herzogin erlaubte ihm gern, ein paar Tage mit dieser zuzubringen, um so eher, da Herr von Leuen, den sie zufällig an dem nehmlichen Orte traf, sich erbot, den Dienst seines Freundes Reineck während dessen Abwesenheit zu versehen. Diesen jungen Mann führte sein Weg ohnehin dem nehmlichen Ziele zu, da er Geschäfte halber einige Zeit in unsrer Stadt zu verweilen gedachte; die Fürstin hatte ihn schon während des vergangenen Winters, den er zum Theil in ihrer Residenz verlebte, als einen sehr angenehmen Gesellschafter kennen gelernt, und sie [220] war mit der Aussicht, ihn einige Tage zum Begleiter zu haben, vollkommen zufrieden. Auch jezt nach der Rückkehr des Barons Reineck erlaubte sie ihm nicht, eine andere Wohnung als die ihrige zu beziehen, und er mußte, ihrer Einladung zufolge, nach wie vor, zu den unsrigen gehören. Ich darf mich dieses Ausdrucks wohl bedienen, denn auch ich ward in jener glücklichen Zeit dem kleinen Kreise der Herzogin zugezählt.

Wir alle, die wir zu diesem gehörten, versammelten uns jeden Abend im Zimmer der Fürstin, das um diese Zeit unter dem Vorwande des Unwohlseins der kleinen Prinzessin Mathilde, allen andern Besuchen verschlossen blieb. Welche Abende waren das! Wie ungeduldig erwartete ich jedesmal die Stunde, wo die Herzogin von der Tafel zurückkam, zu der sie täglich einige der Ersten der Stadt einladen lies. Mit welcher Freude sah ich jedesmal die beiden himmellangen Heiducken in ihrer damals üblichen theatralisch-bunten Tracht in meinem Zimmer erscheinen, [221] um mich in meinem Ruhebette zu ihrer Herrin herüber zu tragen.

Die feinste Sitte war in diesem kleinen Abendzirkel vorherrschend, und dennoch blieb aller Zwang, jede von den Grossen dieser Erde sonst unzertrennlich geglaubte Etikette daraus verbannt. Es war der schönste Kommentar zu Tasso's freilich damals noch nicht niedergeschriebenem Ausspruch: ›Willst Du genau erfahren, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen an.‹ Jeder von uns trug nach seiner Weise durch Scherz und Ernst, durch Kunst und Talent zur Unterhaltung bei, die Herzogin selbst aber schwebte über dem Ganzen gleich einem milden, alles belebenden Genius. Nie, weder früher noch später, sah ich eine Frau, die mit so anspruchsloser Grazie das Gespräch stets so zu lenken wußte, daß Alle Freude daran hatten; nie sah ich eine, welche die schwere Kunst zuzuhören so verstanden hätte, wie sie. Sie war die erklärteste Feindin aller jener geselligen Neckereien, die so leicht in bittere Persönlichkeiten ausarten, und doch hatte der ungefesselteste [222] Witz freies Spiel, so lange er nur ergötzen und nicht verwunden wollte. Niemand durfte in ihrer Nähe sich zurückgesezt fühlen, niemand bedrückt, niemand in seinen Rechten oder auch nur in seinen Empfindungen gekränkt.

Ich staunte meine hohe Meisterin an; sie war so himmelweit von jenen berühmten Frauen in Paris verschieden, die mein Vater als Muster aller weiblichen Vollkommenheit mir so oft beschrieben und angepriesen hatte. Zum erstenmal kam eine Ahnung davon in meine Seele, daß Jugend, Schönheit, Geist, blendender Witz und die Gabe, über jeden Stoff interessant reden zu können, noch lange nicht alles sind, was wir bedürfen, um liebenswürdig und allgeliebt zu seyn, und daß man mit weit weniger brillantnen Eigenschaften dennoch weit sicherer und dauernder dieses Ziel erreiche, wenn Herzensgüte, ächtes Wohlwollen und anspruchlose Natürlichkeit aus unserm ganzen Wesen denen entgegen leuchten, die uns nahen.

[223] Bernhard von Leuen stand in unserem kleinen geselligen Verein, als Seele desselben, der Herzogin würdig zur Seite. Man sah, er war ein Mann, der, unerachtet seiner Jugend, fest und sicher seinen Weg gieng, ohne je, gleich einem Irrenden, bald nach diesem, bald nach jenem zu greifen. Unerachtet seiner sehr vortheilhaften äussern Bildung und übrigen bedeutenden Vorzügen, lag in seinem Benehmen nicht die leiseste Spur eines Bestrebens, auffallen oder glänzen zu wollen. Der Grundton seines Wesens schien vielmehr eine gewisse ernste Ruhe zu sein, die ihm nie erlaubte, sich irgendwo vorzudrängen; er lies lieber alles an sich kommen, und gieng niemals, auch nur um einen halben Schritt, der Bewunderung entgegen. Höflich gegen alle, besonders gegen Damen, blieb er doch stets von dem mitunter etwas faden Tone der damaligen jungen und alten Herren entfernt, und erzeugte uns die Ehre oder die Gerechtigkeit, uns wie vernünftige Wesen und nicht wie Kinder zu behandeln. Ohne geradezu witzig zu sein, war er [224] die Zierde jeder bedeutenden Unterhaltung, denn er besaß die herrlichste Gabe des Worts, die mir je vorgekommen. So oft irgend ein hohes den Menschen ehrendes Gefühl ihn dazu begeisterte, riß der ihm eigne Zauber seiner Ueberredungskraft auch den Kältesten hin. Jeder fühlte, daß das Unwiderstehliche derselben nicht allein in der sorgsamen Wahl seiner Worte, und nicht in der eigenthümlichen Schönheit des vollen reinen Tons seiner Stimme lag; es lag weit tiefer, denn was er sagte, war nicht blos das Erzeugniß seines hellen Verstandes, es kam recht aus dem Grunde seines schönen Herzens und mußte darum wieder zum Herzen gehen. Er war viel gereist; das Schönste und Erhabenste, was diese Erde trägt, hatte er gesehen; ein guter Genius hatte ihn gelehrt, es sich anzueignen für die Erweiterung seiner Kenntnisse sowohl, als fürs praktische Leben, und man sah es ihm an, daß er wohl wußte, was die Welt von ihm und er von der Welt zu fordern habe.

[225] Scheltet mich nicht, daß mein altes Herz sich noch jugendlich warm im Lobe meines Freundes, vielleicht zu wortreich, ergießt. Er war so wie ich ihn Euch beschreibe, ich sah nie seinesgleichen und werde es nie wieder sehen. Wenn er uns vorlas, was, dem Wunsch der Herzogin gemäs, täglich wenigstens eine Stunde lang geschah, wie hieng ich und wie hiengen wir alle dann mit ganzer Seele an seinen Lippen, an dem Ausdrucke seines edlen Gesichts. Durch ihn zuerst lernte ich deutsche Poesie und jenen hohen Wohllaut kennen, dessen unsere, von mir so lange verkannte Sprache fähig ist. Ihr habt nicht vergessen, daß ich bis dahin durch meinen Vater, ausser einigen italienischen und englischen Klassikern, nur hauptsächlich die französische Litteratur kennen gelernt hatte. Fast alle unsere deutschen Schriftsteller waren mir fremd geblieben, vor allen, die damals aus langer tiefer Nacht glorreich entstehende Poesie meines Vaterlandes. Die Herzogin sowohl, als Bernhard von Leuen, genossen meine freudige Ueberraschung mit jener[226] wohlwollenden und wohlthuenden Empfindung, mit der wir einen Freund zum erstenmal' an den schönsten Punct einer uns längst bekannten reitzenden Gegend führen, oder ihn vor ein ihm noch unbekannt gebliebenes herrliches Kunstwerk hinstellen, und in seinem Entzücken den Moment noch einmal durchleben, in welchem auch wir zum erstenmal' an der Stelle standen, wo er jezt steht.

Das alles ist dahin! und mit einem sehr trüben Gefühle der Wandelbarkeit, des menschlichen Sinnes und aller Grösse und alles Ruhms auf Erden, muß ich es erleben, daß das Wirken jener Männer, deren Namen ewig unser Stolz sein sollte, eigentlich schon jezt an ihren undankbaren Enkeln verloren geht. Wie lange wird es dauern, so ist es ganz vergessen und verschollen, während wir aus Modesucht und Misverstand Handwerksburschen-Lieder aufsuchen und sie als Meisterwerke bewundern und sammeln. Wer in der jezigen leselustigen jungen Welt kennt noch Kleists Frühling anders, als höchstens vom Hörensagen, [227] während jeder nur halb gebildete Engländer seinen Thomson beinahe auswendig weis, dessen Andenken neue Auflagen seiner Werke alljährlich erneuern. Sinkt nicht sogar Klopstock, der vor wenigen Jahren noch unter uns lebte, allmählig der Vergessenheit zu? Man nennt ihn noch zuweilen aus Gewohnheit, oder aus einer Art von Pietät, aber wie Viele in der jungen Welt kennen mehr von ihm als den Namen? So ists mit Hagedorn, mit Utz, mit Cronegk, mit Haller, mit Hölty, mit so vielen, die der Ausländer zu unsrer Schande bald besser kennen wird, als wir, während wir mit wahrem Heishunger auf die neuen Erzeugnisse der Zeit, auf Tageblätter und Taschenbücher uns werfen, die schon beim Entstehen den Keim der Vergänglichkeit in sich tragen, und auch nicht einmal verlangen, länger zu leben als der Augenblick, durch den und für den sie entstanden.

Mit einem ganz unnennbaren Gefühle hörte ich einzelne Gesänge aus Klopstocks damals unlängst zuerst erschienenem Messias vorlesen, und [228] die Bemerkungen von Leuen und der Herzogin über das eben Gehörte ergriffen mich nicht weniger wunderbar. So war ich es nicht gewohnt, dieser heiligen Gegenstände erwähnen zu hören; vieles schien mir sogar unverständlich, sowohl was sie sagten, als was vorgelesen ward, und doch ergriff mich dabei eine mir selbst unerklärliche, nie zuvor von mir gekannte Rührung. Oft fühlte ich mich über mich selbst erhoben, und zum erstenmale drang ein erwärmender Strahl jenes Lichtes in mein Gemüth, das jezt der Trost meines Alters ist; indem es die dunkle Bahn sanft erleuchtet, die ich bald werde zu wandeln haben.

So sehr mein Geist und mein Gemüth durch alles dieses angeregt und angesprochen wurde, so muß ich indessen doch gestehen, daß ich nach Mädchenart es dennoch nicht unterlassen konnte, das innige Wohlgefallen zu bemerken, mit dem Bernhards Auge auf mir ruhte, so oft er sich unbeachtet glaubte. Ich sah es recht gut, wie er alle die schönsten, zartesten, ergreifendsten Stellen [229] der Poeten, welche er besonders liebte und deshalb auswendig wußte, gerade mir allein durch Blick und Ton zuzueignen schien. Wäre mir hiebei noch irgend ein Zweifel übrig geblieben, so hätte manch heimliches Lächeln der Anwesenden, manche leicht hingeworfene Bemerkung mich in meinen Beobachtungen bestärken müssen. Er war durchaus kein homme aux petits soins, und doch konnte nichts Zarteres erdacht werden, als die. tausend kleinen, fast unmerklichen Aufmerksamkeiten, welche er mir stündlich erwies. Wie oft sah ich ihn erbleichen, wenn zuweilen der Schmerz in meinem Fuße plötzlich auf ein paar Minuten wiederkehrte, und ich mit einem nicht zu unterdrückenden Wehelaut zusammenzuckte! Jene wahrsagende Stimme, die schon seit Anbeginn der Welt in jedem Mädchenherzen wohnt und bis ans Ende der Tage darin wohnen wird, sagte auch mir: ich sei geliebt, heiß geliebt von dem seltensten edelsten Manne, vor welchem alle meine übrigen Anbeter und Bewunderer sammt und sonders in traurige Unbedeutenheit zusammensanken. [230] Auch Bernhard las in meinem Herzen, und ich versuchte es zwar nicht, ihm dieses zu wehren, aber ich gestand mir auch nicht, daß ich es ihm erlaube; sondern ich lies es gleichsam wie achtlos geschehen. Beide waren wir nun überglücklich im seeligsten Empfinden des ersten, leisen, zarten Verstehens zweier in eins zerfliessender Gemüther. Wir fühlten es wohl, wir wußten es wohl, was wir eins dem andern waren, aber um die Welt hätten wir es noch nicht aussprechen mögen, denn die erste Liebe lernt nicht sobald Worte finden und kann sie auch entbehren.

O wär' ich länger in diesem Verhältnisse geblieben. Wie ganz anders hätte mein Leben sich gewendet. Doch die Prinzessin Mathilde genas wieder, die Herzogin sezte ihre Reise weiter fort und ich kehrte nach zwei kurzen, mit Flügelschnelle an mir vorüber geeilten Wochen, völlig hergestellt, in das Haus meines Vaters, zu meinen alten Umgebungen, zu meiner gewohnten Lebensweise zurück.

[231] Mir war, als erwache ich aus einem langen schönen Traume, doch auch dies Erwachen hatte sein Angenehmes, und ich weinte nicht wie Kaliban, um wieder einzuschlafen. Hatte ich doch auch in manchen Stunden die Trennung von meinem Vater und vielleicht auch eine gewisse Abhängigkeit vom Willen Anderer, deren ich nicht gewohnt war, wenn nicht schmerzlich, doch wenigstens unbequem gefühlt; und war Er doch zurück geblieben, um, wie er gleich anfangs es angekündigt hatte, einige Geschäfte hier abzumachen. Bernhard von Leuen lies sich bei meinem Vater einführen, dessen Bekanntschaft er schon früher bei der Herzogin gemacht hatte, und von nun an besuchte er fast täglich unser Haus.

Der gewohnte Kreis unsrer Hausfreunde und Bekannten empfieng mich mit lautem Jubel und tiefer Verehrung in seiner Mitte, als wäre ich eine Königin, die nach langer Abwesenheit in ihre Staaten wieder zurückkehrt. Der Ton in unserem Hause hatte sich während meiner kurzen Entfernung aus demselben nicht im mindesten verändert. Französirende [232] Witzeleien, dreistes, oft zugleich auch unbefugtes Absprechen über jeden Gegenstand, rücksichtloses, unbarmherziges Verspotten, wenn nicht des Heiligsten selbst, doch dessen, was vielen für heilig gilt, war bei uns, nach wie vor, an der Tagesordnung. Stundenlang konnte die lebhafteste Unterhaltung sich um ein Nichts herumdrehen, hingegen besprachen auch zuweilen besser unterrichtete Männer, an deren Spitze mein Vater stand, sich klar und verständig, belehrend und gründlich über viele der bedeutendsten Gegenstände des Lebens, der Kunst, der Wissenschaft. Die mehresten unter dem jüngern Theile der Gesellschaft zogen sich von diesen Gesprächen verstummend zurück, nur Bernhard nahm stets mit höherem Interesse Theil daran. Ich hingegen mischte nach alter Gewohnheit mich in alles, es mochte Ernst sein oder Scherz, und fand oft ein ganz eignes Vergnügen darin, alles launenhaft durch einander zu wirren. Denn leider trat die alte Gewohnheit des Lebens bald wieder in ihre Rechte; jeder Tag drängte die Erinnerung [233] an jene bessere, nur zu kurze Zeit, die ich bei der Herzogin verlebt hatte, mehr in den Schatten zurück, und in den alten Umgebungen ward ich selbst wieder nur zu schnell, was ich früher gewesen war.

Es wird Euch unglaublich dünken, wenn ich Euch sage, daß ich mit heimlicher Freude das Erschrecken bemerkte, mit welchem von Leuen mich im väterlichen Hause so ganz verschieden von dem fand, was ich in der Nähe und den Umgebungen der Fürstin gewesen war. Doch leider war ich thöricht und verwöhnt genug, die sichtbare Bewegung, in die er bei dieser Entdeckung getieth, für ein Zeichen bewundernder Ueberraschung anzusehen, und mein Betragen ward von nun an mit jedem Tage übermüthiger und kecker. Neben der Freude an meines Vaters Beifall riß theils die überlaute Bewunderung unsers Kreises mich hin, theils wollte ich vor Bernhards Augen recht glänzend und liebenswürdig mich zeigen, und so überbot ich denn mit jedem Tage mich selbst bis zur höchsten Anstrengung meiner geistigen Kräfte. [234] Ich witzelte mit Jenem, neckte mich mit diesem, entschied überall, oft über Dinge, von denen ich nichts wissen konnte, und lachte mich selbst zuerst aus, wenn ich dabei in grobe Irrthümer verfiel, was wohl zuweilen vorkam.

Ich war nicht verblendet genug, den tiefen leidenschaftlichen Schmerz zu übersehen, der jezt Bernhards schöne Züge nur zu oft umdüsterte, doch ein paar an ihn gerichtete freundliche Worte, wenn er sich dessen am wenigsten versah, ein unbedeutender Vorzug, den ich unerbeten und zuvorkommend ihm vor den Uebrigen einräumte, verfehlten es nie, diesen schmerzlichen Ausdruck seines Gesichts in den der innigsten Liebe umzuwandeln. So glaubte ich, in seinem momentanen Trübsinne nur die Wirkung einer Eifersucht zu sehen, die mir nicht anders als schmeichelhaft sein konnte. Ich fühlte, wie er mit ganzer Seele an mir hieng, und hatte eine wahrhaft kindische Freude daran, ihn nach Belieben an einem seidenen Faden flattern zu lassen. Ich glaubte weder, daß er diese leichte Fessel zerreissen, noch daß [235] sie ihm drückend werden könne, denn er schien sie so gern zu tragen, und ich hatte keine Mutter, keinen Freund; gütig und weise genug, um mich aufmerksam darauf zu machen, wie sehr dieser Misbrauch der Gewalt, die ein freundliches Geschick mir über das edelste Gemüth gegeben, seiner und meiner unwürdig sei.

Indessen verband ich mit diesem wunderlichen Betragen auch noch ganz insgeheim die Absicht, meinem Freunde dadurch mehr gesellige Leichtigkeit anzubilden, das Einzige, was ihm in meinen Augen noch zur Vollkommenheit fehlte. Bei dem grosartigeren, ernster gehaltenen Tone, der in den Umgebungen der Herzogin vorherrschend war, hatte ich an ihm nicht das geringste auszusetzen gefunden; doch in meinem eigenen Kreise erschien er mir jezt oft nicht gewandt genug, und ich war zuweilen in meinem Herzen recht trostlos darüber, wenn ich ihn in dieser Hinsicht von übrigens ganz unbedeutenden Gesellen übertroffen zu sehen glaubte. Ich selbst war ja [236] vor allen Dingen brillant, und alles, was zu mir gehören wollte, mußte es auch sein.

Bernhard schien indessen wenig geneigt, sich hierin meinen Wünschen zu fügen, und dem wesenlosen Schimmer nachzujagen, den ich an ihm vermißte. Wie er von jeher gewesen, so blieb er, und wenn die Gecken um ihn her ihr loses Spiel ihm ein wenig zu nahe trieben, so wußte er, schroff und imponirend genug, sich vor ihren Augen zu erheben, um sie in gehöriger Entfernung von sich abzuhalten. Dies war es nun wohl nicht, was ich eigentlich gewollt hatte, doch konnte es mich nicht verdriessen; ich ward nur heimlich um so stolzer auf meinen Freund. Bernhard bemerkte meine Zufriedenheit in solchen Augenblicken, wenn gleich ich sie mir selbst kaum gestand, und diese Entdeckung gab ihm sogar einst den Muth, einen günstigen Augenblick zu benutzen, um mir über das Schaale und Zwecklose unsers Treibens recht ernstliche und eindringende Vorstellungen zu machen. ›Wie können Sie, theures Fräulein,‹ sprach er zu mir, ›wie [237] können Sie, die Sie so reich begabt sind, an der geistigen Armuth dieser Leute Freude finden? Wie ist es möglich, daß der Wirbel dieser Geselligkeit Sie so hinreißt? Ich selbst, glauben Sie es nur, ich selbst könnte in diesem nichtigen Treiben, dem Sie viel zu nachsichtig sich hingeben, Sie verkennen, wenn jene ersten schönen Tage, die ich in Ihrer Nähe verlebte, mir nicht noch in zu heller Glorie vorschwebten. Nie werde ich jener Zeit vergessen, lassen Sie sie wiederkehren, Sie können es, sobald Sie es wollen, sein Sie nur wieder Sie selbst!‹

›Das bin ich allemal,‹ erwiederte ich ihm lachend, ›ein fröhliches Geschöpf, das wohl zuweilen recht ernsthaft sein mag, das sich aber auch herzlich gerne amüsirt, und zum Amüsiren schicken die Thoren sich am besten.‹

›Sich amüsirt,‹ wiederholte Leuen, ein ganz klein wenig erbittert, ›was heißt denn amüsiren? Das Leben zu vergessen suchen, von den Tagen einen dem andern, in nichts sagendem und nichts wollendem Spiel so rasch als möglich nachjagen, [238] damit nur von Keinem eine Spur übrig bleibe, damit man nur gar nicht zur Besinnung komme. O Fräulein, Sie, die Sie so glücklich sein könnten, indem Sie andere beglücken,‹ rief er mit hohem Erröthen; hingerissen von seinem Gefühl, und ergriff dabei meine Hand. ›Theure, theure Anna, mögen Sie des Lebens immer, immer sich freuen, das Köstlichste, das es bieten kann, möge es zu Ihrem Ergötzen stets bereit sein; möchten alle Ihre Tage eine ununterbrochene Kette Ihrer würdigen Freuden werden und‹ – hier stockte er ein wenig, dann sezte er in gelassenem Tone hinzu: ›doch amüsiren? Liebes Fräulein, überlassen Sie diesen nüchternen Rausch allen denen, die nicht minder tief unter Ihnen stehen, als jene Menschen, denen Sie es erlauben, Sie, ihrer Unbedeutenheit unerachtet, zu umflattern.‹

›Sehen Sie, von Leuen,‹ erwiederte ich freundlich, wenn gleich innerlich nicht ganz zufrieden, ›sehen Sie, indem Sie auf das unschuldige Amüsiren schelten, sind Sie selbst höchst [239] amüsant, denn Sie nehmen für Ernst, was gar nicht so gemeint ist, und eben das ist ja erst der rechte Spaß. Werden Sie denn nie lernen, Ihre Freunde auch unter der Maske zu erkennen?‹

›Aber wenn sie tagtäglich immer und ewig in der Maske einher gehen?‹ erwiederte er.

Ich fiel ihm rasch ein. ›Im Karneval thut man das, und die Jugend ist das Karneval des Lebens. Sein Sie doch zufrieden, daß Sie zu den sehr Wenigen gezählt werden, in deren Nähe man die Maske gern und recht oft ein wenig lüftet. Und nun, Herr Griesgram, kommen Sie an den Flügel, mir Amiets Klagen von unserem Lieblinge Kleist zu akkompagniren. Ich verspreche Ihnen dagegen, den ganzen Abend recht artig zu sein, wenn nehmlich nichts dazwischen kommt, das mich anderes Sinnes machen könnte.‹ Bernhard folgte mir willig, mit jenen aus Liebe und Zorn zusammengeseztem Ausdrucke in seinen Zügen, den wir so gern als den sichersten Beweis unserer unumschränkten Herrschaft [240] anzusehen uns gewöhnen, und ich sang heimlich triumphirend ihm vor: ›Sie fliehet fort, es ist um mich geschehen, ein weiter Raum trennt Lalage von mir.‹

Von nun an fielen beinahe alle Tage ähnliche Scenen zwischen uns beiden vor, die von Leuen oft ziemlich künstlich herbeizuführen wußte. Oft sah ich das offne Geständnis seiner Liebe auf seinen Lippen schweben, mein Herz klopfte ihm entgegen, aber ein ganz eignes Gemisch von Stolz, Verlegenheit und mädchenhafter Scheu, verbunden mit dem lebendigsten Bewustsein dessen, was ich selbst für ihn empfand, bewogen mich jedesmal, ihm auf irgend eine Art zu entgehen, und wäre es auch nur durch die erste beste Posse gewesen, die mir eben durch den Sinn fuhr. Mein Vater freute sich unserer gegenseitigen, täglich wachsenden Neigung zu einander, die seinem Scharfblicke nicht entgieng; doch hielt er es für das Gerathenste, nichts, weder dafür noch dagegen, zu unternehmen.

[241] In unserem geselligen Kreise begann man um diese Zeit ebenfalls, mich als die Braut des Herrn von Leuen zu betrachten, obgleich ich jede darauf hinzielende Anspielung nur mit einem stolzen Lächeln beantwortete. Uebrigens hörte ich alles an, was man über diesen Gegenstand sagen mochte, ohne sonderlich weiter darüber zu denken.

Meine Zukunft breitete sich unabsehbar vor mir aus, ich war glücklich in der Gegenwart, der Augenblick erfüllte mich so ganz, daß ich alles gehen lies, wie es gieng, ohne Sorge und ohne Vorbedacht.

Bernhards mit jedem Tage zunehmender Ernst, verbunden mit manchem andern Zuge in seinem Benehmen hätte bei einzelnen Gelegenheiten mir wohl einen grossen Kampf in seinem Gemüthe andeuten können, doch ich bemerkte nichts davon, oder glaubte nicht daran, und so kam dann der verhängnisvolle Abend herbei, der über meine Zukunft entschied, ohne daß ich Verblendete seine Nähe vorahnend empfunden hätte.

[242] Ist es denn nicht immer so? Spielen wir nicht immer, achtlos wie Kinder, am Rande eines Abgrundes, während wir der Hand ausweichen oder sie wohl gar unsanft zurückstossen, die uns vor dem Fall bewahren möchte, weil sie nicht vermeiden kann, uns zuweilen etwas unsanft zu ergreifen.

Unsre gewohnte Gesellschaft war eben eines Abends zahlreicher als gewöhnlich versammelt, und das sehr animirte Gespräch drehte sich rasch um einen Gegenstand, welcher damals die ganze hiesige elegante Welt auf das allerlebhafteste beschäftigte. Es galt einem, nach mehrjährigem Aufenthalte im Auslande eben wieder in der Heimath frisch angelangten jungen Manne. Er hatte sich lange in Paris, sogar auch ein paar Monate in Rom aufgehalten, und eignete sich folglich auf das vollkommenste dazu, in seiner Vaterstadt den Ton anzugeben, was damals für Seinesgleichen weit leichter war als jezt. In unseren Tagen geht alle Welt auf Reisen, und dies macht uns gegen Weitgereiste viel gleichgültiger, [243] die in meiner Jugend weit mehr galten. Wer Paris, diese damals allgemein anerkannte Königin aller Städte, gesehen hatte, erhielt schon allein dadurch ein gewaltiges Uebergewicht in der Gesellschaft, und wer nun vollends in Rom gewesen war und vom Pantoffel des Papstes etwas zu erzählen wußte, den betrachtete man sogar mit einer eignen Art von ehrfurchtsvoller Scheu als Einen, der Grosses unternommen und vollbracht hatte.

Der junge Wiesenau, so hieß der Vielgereiste, benuzte im vollsten Maße den Vorzug, den dieses Vorurtheil seiner Zeitgenossen ihm gewährte. Nichts von allem, was er bei uns antraf, konnte, so wie es eben war, vor seinen Augen Gnade finden; er verdammte alles, nannte alles lächerlich, zum Erbarmen, Ekipagen und Hausgeräth, Kleidung und Frisur. Dafür aber war er auch eben so unerschöpflich als bereitwillig im Angeben der neuesten Pariser Moden, und gieng dabei in die kleinsten Details ein, ohne zu ermüden. Unsre sämmtlichen jungen Herren wollten [244] verzwèifeln, weil die, Tag und Nacht arbeitenden Handwerker mit aller möglichen Anstrengung dennoch nicht im Stande waren, alles gleich so herbei zu zaubern, wie Wiesenau es hatte; denn der Scepter der Mode regierte vor dreißig bis vierzig Jahren weit despotischer als jezt, und wer im Schnitte der Kleidung oder in der Form seiner Umgebungen nur im geringsten von ihrem neuesten Gesetze abwich, der durfte kaum es wagen, sich sehen zu lassen, wenn er nicht schon früher auf Eleganz und Modernität Verzicht geleistet hatte.

Daß auch unter den Damen dies gereiste Wunder gewaltiges Aufsehen erregen mußte, versteht sich wohl von selbst. Glückseelig war die, mit der Herr von Wiesenau sich unterhielt, noch glückseeliger die, welche auf einige Stunden den leichten Schmetterling zu fesseln wußte. Am allerglückseeligsten aber achtete man einige wenige Beneidenswerthe, denen er eine von ihm mitgebrachte grosse, mit mehreren Anzügen versehene Pariser Modepuppe mittheilte, von der Art, wie [245] sie damals alle Monate von Paris aus an die bedeutendsten Höfe von Europa versendet wurden, und nach deren Muster die von Wiesenau dazu Auserwählten sich durch Anzug und Kopfputz fast bis zum Unkenntlichen umgestalteten.

Uebrigens galt dieser junge Mann nicht nur im Aeussern für die Krone aller eleganten Modernität, er wurde auch allgemein als der witzigste, liebenswürdigste, zierlichste Petitmaitre bewundert, den man seit wenigstens funfzig Jahren gesehen. Jedermann trug sich mit allerliebsten Anekdoten und witzigen Einfällen von ihm herum; nur von Leuen, der ihn früher im Auslande angetroffen hatte, wollte mit dem allgemeinen Chor der Bewunderer des jungen Herrn nicht recht übereinstimmen. Er erklärte ihn für einen faden, dreisten Gecken, den man selbst in den grossen Städten, welche er besucht hatte, sehr oft zur Zielscheibe des Witzes misbraucht habe, und der nichts weiter verstehe, als auswendig gelernte Melodien Dompfaffenartig abzuleiern.

[246] Ich selbst, die ich den Helden des Tages noch gar nicht gesehen hatte, war in Hinsicht auf ihn ziemlich unpartheyisch gesinnt. Da mir an seiner Modepuppe nichts lag, so hatte er für mich weit weniger Anziehendes, als für andere meines Gleichen. Nach allem, was ich von ihm hörte, und da ich ohnehin immer gern eine Oppositionsparthey bildete, war ich in meinem Herzen vielmehr geneigt, die Meinung des Herrn von Leuen in Hinsicht auf ihn anzunehmen. Doch er war in dem Augenblick Mode, er war brillant, das lies sich nicht abstreiten, und so beschloß ich denn, ihn fürs erste an meinen Siegeswagen ein wenig mitziehen zu lassen, sobald sich nur die Gelegenheit dazu fände. Diese fand sich, noch ehe ich es erwarten konnte, am nehmlichen Abend, denn einer unsrer Hausfreunde führte an demselben den Vielbesprochnen bei uns ein.

Nur vom Theater aus könnt Ihr, lieben Kinder, jezt eine Idee, und noch dazu nur eine höchst unvollkommene, von dem bekommen, was ein Stutzer jener Zeit eigentlich war; denn, [247] Gottlob, in der Wirklichkeit ist diese Art gänzlich bei uns ausgegangen. Ich wünsche meiner Nachwelt Glück zu diesem Verluste, denn, obgleich ich das, was an die Stelle jener Karikaturen getreten ist, eben so wenig unbedingt loben mag, so ist doch die Thorheit der jezigen Zeit weniger erniedrigend, wenn gleich vielleicht nicht minder groß. Kaum konnte ich selbst des Lachens mich enthalten, als die verdrehte, gezierte parfümirte Figur des Allbewunderten zuerst, mit unnachahmlicher Grazie tief sich bückend, mir die Hand küßte und dabei mit seinen à la Maréchal gepuderten ailes de pigeon nahe an meinem Knie vorüber streifte; denn in dieser Uebertreibung hatte ich noch keinen gesehen. Doch das Männchen hatte in Paris schwatzen gelernt, es hatte mitunter Einfälle, die gar nicht übel waren, und besaß obendrein jenen übermüthigen Ton oberflächlicher, keine Schonung kennender Persiflage, in die ich nur allzugut einzugehen wußte. So kam es an jenem Abende nur zu bald dahin, daß wir beide in der Gesellschaft die Wortführer [248] machten, denen der Chor der übrigen in abgemessnen Pausen Beifall zuzurufen und zuzulachen sich begnügte.

Das Gespräch nahm bald eine Wendung, die, wie ich selbst es mir nicht verbergen konnte, meinem Freunde durchaus verhaßt war; doch in meinem Uebermuthe lies ich darum nicht davon ab, sondern wetteiferte mit dem neuen Ankömmling in unbarmherziger Verspottung alles dessen, was zufolge der damaligen modernen Aufklärung, die französirenden Schöngeister Vorurtheil nannten; daneben aber ward auch manches abwesende Mitglied der Gesellschaft bei dieser Gelegenheit von unsern Pfeilen nicht verschont.

Erlaßt es mir, meine Lieben, Euch die näheren Details eines Gesprächs zu geben, das ich noch immer nur mit tiefem Schmerz Euch wiederholen könnte und das ich so gern vergässe, ohne daß es mir bis diesen Augenblick hätte gelingen wollen, es aus meinem Gedächtnisse zu tilgen.

Die gespannteste Aufmerksamkeit unserer Zuhörer, nur dann und wann von schallendem Gelächter [249] unterbrochen, lohnte unser Bestreben zu glänzen; selbst mein Vater hörte lächelnd und wohlgefällig uns zu, während Bernhard immer ernster und schweigsamer ward. Ich sah den verhaltnen Unwillen in seinen dunklen Augen blitzen, ich las den stummen Schmerz über mein Betragen in seinen Zügen, aber es fiel mir nicht ein, ihn deshalb zu schonen. Meine unseelige Eitelkeit verleitete mich zu dem Versuche, trotz seiner Unzufriedenheit mit mir, seine Bewunderung durch eben das zu ertrotzen, was diese Unzufriedenheit in ihm rege machte, und so trieb ich es immer ärger, bis er nicht mehr im Stande war es zu ertragen.

Ich saß in einer Ecke neben dem Kamin, dieses, der Kaminschirm und ein kleiner Tisch, der seitwärts vor mir stand, sonderten mich ein wenig von der Gesellschaft ab, die mir gegenüber einen Halbkreis bildete. Bernhard fand indessen doch einen Weg, ziemlich unbemerkt hinter meinen Armstuhl zu gelangen, und über die Rücklehne desselben gebeugt, mir die Bitte zuzuflüstern, [250] diese wunderliche Unterhaltung doch endlich abzubrechen. Doch vergebens! ich gab mir im Gegentheil das Ansehen, ihn gar nicht zu verstehen. Jezt wurden seine Bitten immer dringender, sie gestalteten sich endlich zu Warnungen um, und hingerissen von der Gluth der Leidenschaft, von seinem empörten Gemüthe und dem Schmerze des Augenblicks, mischte er endlich, ganz ohne es zu wollen, das so lange zurückgehaltne Geständnis der glühendsten innigsten Liebe in das dringendste Flehen um Rückkehr zu mir selbst und meiner bessern Natur.

Dieser Moment war der höchste Triumph meines Lebens. Jezt hatte ich, was zu erhalten, meine kühnsten Einbildungen kaum erträumen konnten. Er, Bernhard von Leuen, mußte, mitten im Zorn' über mich, den stolzen Sinn vor mir beugen, und meine Siegergewalt anerkennen. Doch auch mein Herz wallte in heisser Liebe ihm entgegen, ich hätte die Welt darum hingeben mögen, um in diesem Moment unbelauscht ihm alles gestehen zu dürfen, was ich dachte und empfand, und [251] doch trieb mich ein unüberwindlicher Uebermuth, eine wirklich dämonische Lust an seiner Quaal, das verhaßte Spiel noch immer nicht aufzugeben. Ich war mir ja bewußt, diese Quaalen jeden Augenblick in Entzücken umwandeln zu können.

Innerlich zu aufgeregt, um genau zu wissen, was ich that, erschien ich jezt wirklich glänzender, an geistreichen Einfällen unerschöpflicher, als je, und Bernhard stand da, bleich und stumm. Kein guter Engel gab es mir in die Seele, aufzuhören, weil es noch Zeit sei; es war vielmehr, als sei ich, zur Strafe meines Uebermuthes, den dunkeln, unheilbrütenden Mächten anheim gefallen, von denen man glauben könnte, daß sie jene kleine Zufälligkeiten leiten, die oft eben so unerwartet als zerstörend in unser Leben treten.

Solch ein Zufall war es gewiß, der, ich weis bis diese Stunde nicht wie es geschah, die Pfeile unseres Witzes gegen Bernhard selbst wendete. In der Art von Bewustlosigkeit, in die mein Benehmen ihn versezt hatte, gaben vielleicht ein paar unbedachte Worte, die er hinwarf, den [252] ersten, wirklich nicht gesuchten Anlaß dazu. Doch er war zu erschüttert, zu aufgeregt in den tiefsten Tiefen seines Gemüthes, als daß er es vermocht hätte, wie sonst wohl geschah, den Angriff auf seine Gegner zurückprallen zu lassen. Das kalte Spiel widerte seinem glühenden Herzen zu sehr an, als daß er mit Glück daran hätte Antheil nehmen können. Er versuchte zwar, sich zu vertheidigen, aber er verwirrte sich in dem Versuch, und fand zum erstenmale nicht das passende Wort für das, was er sagen wollte. Ich sah es, seine Verwirrung erhöhte das Gefühl meines Triumphes, hingerissen von der übermüthigsten Freude, war ich unbesonnen genug, einen seiner Ausdrücke aufzunehmen, dem eine lächerliche Seite sich abgewinnen lies.

Bernhard sah mich an und schwieg ganz fassungslos. Den Blick vergesse ich nie.

Jezt entstand plötzlich eine allgemeine, unendlich peinliche Stille um mich her. Ich glaubte zu fühlen, daß man in ihm mich schonen wolle, ich vergaß, daß wahrscheinlich keiner der Anwesenden [253] Lust haben konnte, den Scherz gegen den so oft Beneideten fortzusetzen, dessen Ueberlegenheit ein jeder von ihnen oft genug erfahren hatte, um sie zu scheuen. Ich blickte auf und mein böser Dämon zeigte mir, wie ein heimlich triumphirendes Lächeln auf allen diesen Gesichtern mir entgegen grinste, und er allein stand, der gewohnten Waffen beraubt, mitten unter dem, mir in diesem Moment unbeschreiblich verhaßten Haufen, der sich das Ansehen gab, ihn mitleidig schonen zu wollen,

Jezt begann ich in meinem Gemüthe seinetwegen ganz entsetzlich zu leiden; in diesem furchtbaren Moment, da mir war, als müsse ich mich seiner schämen, fühlte ich zuerst recht tief und eindringend, was er mir war, und mit welch' unbegränzter Liebe ich an ihm hieng.

In bodenloser Verwirrung, in namenloser Quaal, übermüthig und gedemüthiget zugleich, rastlos getrieben von einer ganz unerklärlichen, an Verzweiflung gränzenden grausamen Lust – sprach ich noch ein paar Worte.

[254] Lautschallendes, nicht zu unterdrückendes Gelächter aller Umstehenden folgte diesen Worten, und mit unbeschreiblichem Schmerze traf der schneidend-gellende Ton dieses Lachens mein Ohr – denn es galt meinem einzigen, in diesem Augenblicke mit fast wahnsinniger Leidenschaft geliebten Freunde, und ich selbst hatte ihn dem Spotte dieser Menschen blosgestellt.

Bernhard stand auf und plötzlich verstummte alles wieder. Er trat vor mir hin, blickte noch einmal mir ins Auge, ergriff meine Hand, die er küßte, und schied ohne ein Wort zu sagen, aus dem Kreise, in welchem mit einemmale eine Todtenstille entstand. Mit vernichtender Gewalt trat jezt der Schmerz in meine Seele; meine Besinnung war hin; ich könnte sagen: mein Leben stand einen Augenblick still. Dann klopften alle meine Pulse mir zu, »du hast ihn verloren, ihn und dich, auf ewig, durch eigne Schuld.

Angelika, Vicktorine, kennt ihr einen Schmerz, der diesem gleichen mag?

[255] Ich wußte nicht mehr, was ich that; mechanisch ergriff ich eine kleine, aber sehr schöne Potpourri-Vase von Porzellan, die auf einem kleinen Tische neben mir stand, sie entglitt meinen Händen, ob durch mein Versehen, ob ich sie, vom dumpfen Instinct getrieben, fallen lies, um so die allgemeine Aufmerksamkeit von mir abzulenken, ist mir nie recht klar gewesen. Letzteres war wenigstens die scheinbare Folge davon, denn über alle Anwesende mußte eine dunkle Ahnung des vorgefallenen Unheils gekommen sein, und deshalb waren alle froh, die Gedanken davon abzuziehen.

Mein Erbleichen, mein zitterndes Schwanken, hatte nun doch eine sichtbare Ursache gewonnen, und die Gesellschaft war aus der stummen Verlegenheit, in der sie bis jezt dagestanden, glücklich wieder gerettet. Das Betrachten des zu meinen Füssen zerschmettert daliegenden Amors, der auf der Vase gemalt gewesen war, das Bedauern über seine Vernichtung gab zu unzähligen galanten Bemerkungen und witzigen Einfällen Anlaß, [256] von denen manches Einzelne, trotz seiner Albernheit, mir tief in das Herz schnitt. Indessen hatte durch diesen halben Zufall die Unterhaltung doch eine andere Wendung genommen und ich ward dadurch in den Stand gesetzt, mir für den übrigen Theil dieses entsetzlichen Abends die nöthige Fassung wieder zu erringen.

Jezt laßt es für heute genug sein!« sezte die Tante mit leiserer Stimme hinzu, indem sie aus ihrem Armstuhl sich langsam erhob. Sie küßte die in Thränen zerfließenden Mädchen auf die Stirn und heftete lange und bedeutend den seelenvollen Blick ihrer hellen Augen auf beide; man sah, sie wollte noch etwas sagen, wozu die Stimme ihr versagte; dann wandte sie sich freundlich, gieng langsam hinaus, winkte, ihr nicht zu folgen, und kam den Abend nicht wieder zum Vorschein.


[257] Anna von Falkenhayn, treu ihrer vieljährigen Gewohnheit, saß am Morgen nach diesem Abend schon um sieben Uhr völlig angekleidet in ihrem Armstuhl, obgleich es im Kleebornschen Hause, das in dieser Hinsicht von andern grossen Häusern der Stadt keine Ausnahme machte, kaum anfieng, Tag zu werden.

Ihr Auge war trübe, ihr Herz war schwer von tausend wehmüthigen und schmerzlichen Erinnerungen. Das blasse Gesicht auf die durchsichtig zarte Hand gestüzt, strebte sie schon lange vergebens ihre Aufmerksamkeit dem vor ihr aufgeschlagen da liegenden Buche zuzuwenden, um mit dessen Hülfe den Nachhall aller der trüben und schönen Stunden endlich wieder verklingen zu lassen, den sie selbst am gestrigen Abend aufs neue in ihrem Gemüthe hervorgerufen. Daher war es ihr zwar eine unerwartete, aber durchaus keine angenehme Ueberraschung, als ihr Kammermädchen ihr einen draußen stehenden Fremden meldete, der dringend um Zutritt bei ihr bat. Sie fühlte sich um so mehr abgeneigt, den ihr zu so ungewöhnlicher [258] Zeit zugedachten Besuch zu empfangen, da sie das Mädchen vergebens um seinen Namen befragte. »Der junge Herr,« erwiederte dieses, »sieht so vornehm in die Welt hinein, daß ich unmöglich zu ihm sagen konnte, mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?«

Mismuthig und verstimmt, war Anna von Falkenhayn schon im Begriff, den ihr etwas überlästig scheinenden Fremden um einen Besuch zu gelegenerer Zeit bitten zu lassen; doch der plötzliche Gedanke, daß es gerade wegen der so ungewöhnlich gewählten Stunde hier wohl auf mehr als auf eine bloße Visite abgesehen sei, hielt sie davon ab, und um nicht einer Laune zu gefallen, vielleicht eine Gelegenheit zu verlieren, andern hülfreich erscheinen zu können, so befahl sie den Fremden hereinzuführen. Er trat ein, und mit einem ihr selbst unerklärlichen Erschrecken erkannte sie in ihm gleich auf den ersten Anblick den Geliebten ihrer Vicktorine.

So sonderbar verlegen und erröthend, als diese Beide, mag wohl nicht leicht beim ersten [259] Zusammentreffen ein Paar einander gegenüber gestanden haben, von dem die Dame wenigstens zweimal so alt war als der Herr. Indessen währte diese wunderliche Befangenheit nicht lange; Tante Anna hatte zu viel Gewalt über sich selbst, um sich nicht schnell von ihr loswinden zu können, und nach wenigen Minuten saßen daher sie und Raimund wie ein Paar alte Bekannte ganz traulich einander gegenüber.

Raimund entschuldigte seinen, gegen alle Regeln der Konvenienz streitenden frühen Besuch, zuvörderst mit seines alten Freundes Müller Versicherung, daß es bei der Hochwürdigen Frau wenigstens zwei Stunden eher Tag werde, als im übrigen Hause; nächstdem aber mit dem nicht zu unterdrückenden Wunsch sie ungestört, und wo möglich auch unbemerkt sehen zu dürfen. Ziemlich verlegen wollte er jezt es versuchen, zur Erklärung seines eigentlichen Anliegens zu schreiten, doch die zuvorkommende Güte seiner Zuhörerin erleichterte ihm dieses dadurch ungemein, daß sie ihm deutlich merken ließ, wie Vicktorine sie schon [260] längst zur Vertrauten des stillen Geheimnisses ihrer Liebe eingeweiht habe. So ward denn das Gespräch zwischen beiden sehr bald von jeder beengenden Rücksicht befreit, und sie unterhielten sich ohne weitern Zwang, mit gegenseitigem Vertrauen, von dem was in diesem Augenblick ihrem Herzen am nächsten lag.

Vollkommen ermuthiget durch ihre würdevolle Freundlichkeit, erklärte Raimund jezt der Tante, wie ein Antrag der Herren Fischer, den er ohne Vicktorinens Beistimmung weder ablehnen noch annehmen könne, ihn hauptsächlich bewogen habe sie um ihre Vermittelung zu ersuchen. Es war von einer langen, mit manchen bedeutenden Gefahren verbundnen Seereise die Rede, die er nach dem Wunsch jener Herren unternehmen sollte, um in einem fremden Welttheile eine sehr wichtige, großen Gewinn versprechende Unternehmung persönlich zu leiten. Unter den vortheilhaftesten Bedingungen sollte bei seiner hoffentlich glücklichen Heimkehr ein bedeutender Antheil an der Handlung dieses sehr geachteten Hauses der Lohn seiner [261] Bemühungen werden. »Sobald ich den ersten Zorn überwunden hatte, den Herrn Kleeborns Benehmen in mir aufregen mußte,« sezte Raimund hinzu, nachdem er der Tante sowohl die Gefahren als den Vortheil erklärt hatte, welche bei dieser Unternehmung für ihn persönlich zu erwarten standen; »sobald ich den ersten Zorn überwunden hatte, das heißt, sobald ich wieder meiner Sinne mächtig war, denn mehr bedurfte es nicht, so stand auch der Entschluß felsenfest in mir, unerachtet des ersten Fehlschlagens aller meiner Wünsche, dennoch auf der einmal angetretnen Bahn zu beharren. Der Mann darf ja nicht sich selbst zum Spiel des Zufalls machen, er soll ja nicht blindlings umhertappen, bald ergreifen, bald wieder loslassen, wie Lust und Laune ihn treiben. Er soll vielmehr festhalten an dem was er einmal unternommen, um so doch wenigstens die nie wiederkehrende Zeit aus dem Schiffbruch seiner Hoffnungen zu retten.«

»Es freut mich herzlich, Sie so festen Sinnes zu finden,« erwiederte Tante Anna, »denn auch [262] Vicktorine,« – »o gewiß,« unterbrach Raimund sie, »ich kenne meine Vicktorine, und nie kann der Schatten eines Zweifels an dieses edle Wesen meinen Blick umdüstern. Ich weiß es, Vicktorine hält unabwendbar fest an mir, und jener Fremde, den Herr Kleeborn ihr aufdringen möchte, wird nie ihre Hand erhalten. Aber auch mir wird sie nie angehören, so lange ihr Vater lebt, um es zu verbieten; denn sie bleibt ihrer Pflicht nicht minder treu als ihrer Liebe. Und so werden wir beide wahrscheinlich in langer nie erfüllter Sehnsucht unser Leben vertrauern, wenn nicht ein guter Engel unser Geschick freundlicher wendet. Wie das geschehen könnte, sehe ich Blödsichtiger freilich noch nicht ab,« sezte Raimund mit einem leisen Seufzer und getrübten Blicke hinzu.

Anna von Falkenhayn schien nun einmal zur milden Trösterin aller, die ihr nahten, ausersehen zu seyn, und so versuchte sie es denn auch gern, und nicht ohne Gelingen, ihren neuen jungen Freund mit dem Leben und insbesondere mit seinem eignen Geschick zu versöhnen. Es [263] mußte indessen noch manches sehr ernstlich beleuchtet und erwogen werden, ehe man zu einem festen Entschluß in Hinsicht auf die ihm vorgeschlagene Reise kommen konnte, und Raimund kehrte deshalb noch mehreremal, und immer in der Frühstunde, zur Tante zurück. Ihre Nähe sowohl als ihre Persönlichkeit übten auf ihn einen ganz wunderbaren Zauber. Er fühlte sich unwiderstehlich zu der seltnen Frau hingezogen, die wie das verbindende Element des Lebens zwischen ihm und Vicktorinen stand. Wenn sie so freundlich ihm zusprach, mußte er dabei stets an seinen Vater denken, denn so wie sie, hatte, seit er diesen verloren, nie wieder jemand zu ihm gesprochen.

Vor Allem aber erfüllte ihn ein ganz eignes Gefühl süßer fast schauerlicher Wehmuth, wenn er sie dabei ansah, und nun in den alternden Zügen des bleichen ernsten Gesichtes die unverkennbarste Aehnlichkeit mit seiner reizenden in voller Jugendpracht blühenden Geliebten entdeckte. Ihm war dann als lüfte die Zukunft den dunkeln [264] Schleier und blicke ernst und geheimnißvoll ihn an, während der eilende vernichtende Schritt der Zeit hörbar ihn umrauschte, und ihn ermahnte, das Leben und die Jugend festzuhalten, ehe sie auf immer entschwinden.

Auch der Tante ward der junge Mann immer lieber und lieber, je öfter sie ihn sah, doch nicht etwa weil sie das Innere seines Gemüths dabei näher kennen lernte. Man möchte sagen, sie empfand dies nur, gleich dem Eigenen, und sie beurtheilte ihn daher wie Frauen gewöhnlich zu urtheilen pflegen, mit dem Herzen und nicht mit dem Kopf; was bei der ungemeinen Klarheit ihres Geistes freilich ein seltner Fall war. Alles an ihm, seine ganze Art zu sein, seine Sprache, sein Benehmen, Alles erschien ihr wie der begleitende Ton zu der Melodie ihres innersten Lebens, und war ihr deshalb befreundet und kam ihr wie längst bekannt vor.

»Endlich, meine edle theure Beschützerin, endlich muß ich doch dazu kommen, einen Entschluß in Hinsicht auf meine Reise zu fassen,« schrieb [265] Raimund der Tante eines Morgens, an welchem er abgehalten worden zu ihr zu gehen. »Die Zeit drängt mich,« fuhr er fort, »und ich kann es nicht länger auf eine ehrenvolle Art vermeiden, meinen Freunden, die mir zu meinem künftigen Fortkommen so wohlwollend die Hand bieten, eine genügende Antwort zu ertheilen. Ich habe die ruhige Stille dieser Nacht darauf verwendet, Alles nochmals ernstlich durchzudenken. Der Antrag der Herren Fischer öffnet mir die Aussicht auf ein völlig unabhängiges, sogar auf ein glänzendes Loos, das ich wenigstens nach dem Ableben ihres Vaters Vicktorinen werde bieten können, selbst wenn dieser den Entschluß faßte, sie, im Fall sie die Meine wird, völlig zu enterben. Vielleicht wird er auch jezt weniger eigensinnig auf die Verbindung mit dem Sohne seines Handelsfreundes bestehen, sobald er mich in der Ferne weiß, und Vicktorinen glückt es wahrscheinlich um so eher, sich von den Fesseln loszuwinden, mit denen ihr Vater sie umstricken möchte. Für meine persönliche Wohlfahrt bangt mir übrigens nicht, [266] Vicktorinens Gebet wird mir ein schützender Engel werden, der jede Gefahr von mir wendet, mit der Menschen oder die Elemente mir drohen könnten.

Und so bitte ich Sie denn nur, Hochwürdige Frau, bringen Sie mir Vicktorinens Erlaubnis zu gehen, und das bald! Der erste Tag der Reise ist ja auch der erste, der uns der Heimkehr näher führt. Und wer kann wissen, ob es nicht während meiner Abwesenheit dem schützenden Genius unsrer Liebe in Ihrer würdigen Gestalt gelingt, Alles indessen zu unserm Besten zu wenden.«

Unerachtet sie den Gründen ihres jungen Freundes nichts entgegenzustellen wußte, unternahm es die Tante doch nur mit innerem Widerstreben Raimunds Wunsch zu erfüllen; sie erschrack beinahe, als Vicktorine weit leichter und gefaßter, als sie es hätte erwarten können, zu der Entfernung des Geliebten ihre Einwilligung gab. Eigentlich war Vicktorinens lebhafter Geist das ganz Einförmige ihres Unglücks, das Quälende des Gefühls dem [267] Geliebten zugleich so nahe und so fern zu sein, allmählig so unerträglich geworden, daß jede Abänderung ihrer Lage ihr dagegen wie Gewinn erscheinen mußte. Ihre glühende stets vorwärts strebende Fantasie fand in dem Alltagsleben eines Geschäftsmannes keinen einzigen Punct, von dem aus sie das Bild des Geliebten, der ihr nicht nahen durfte, festhalten konnte. Wo sollten ihre Gedanken ihn suchen? an der Börse? am Schreibepult? im alltäglichen Verkehr mit der handelnden Welt und ihren Gehülfen? »Nein, Tante,« rief Vicktorine, »er mag gehen! Mein Seegen, mein Gebet, meine Wünsche begleiten ihn überall und unablässig. Es ist jezt nicht wie damals, da ich glaubte, daß er aus überspanntem Edelmuth auf immer nach Odessa fliehen wolle. Er scheidet zwar, doch er entflieht mir nicht. Er geht, wohin die Pflicht die er auf sich genommen ihn ruft, aber er geht um vielleicht glücklicher wiederzukehren. Tausend Meilen oder tausend Schritte sind in unserer Lage das nemliche. Raimund wird in der Ferne mir sogar näher gerückt erscheinen, [268] denn lieber will ich ihn mir doch vorstellen, wie er auf dem Verdeck seines die mächtigen Wogen durchschneidenden Schiffes, unter dem tiefblauen Sternenhimmel des Südens meiner gedenkt, lieber soll mein Geist in fremden Städten, im Gewühl des Ankommens oder der Abreise ihn suchen, als hier in der weiten farb- und formlosen Oede des aller-alltäglichsten Lebens, in welcher Alles vor meinen Blicken verschwimmt.«

Nur Eines forderte Vicktorine mit ihrer gewohnten Festigkeit noch, und Raimund stimmte mit ihr überein, sobald er ihre Entscheidung vernommen, und dieses Eine war eine Abschiedsstunde mit Bewilligung des Vaters, unter den Augen der Tante, dieses milden Schutzgeistes ihres Lebens wie ihrer Liebe. Vergebens erschöpfte sich Anna in Gründen und Bitten, um die Liebenden zu bewegen, sich selbst diese bittre Stunde zu ersparen. Sie wurde nicht nur überstimmt, sie mußte sogar unternehmen, Herrn Kleeborns Erlaubniß zu dieser Zusammenkunft zu erhalten, [269] denn Raimunds Beredsamkeit übte eine unwiderstehliche Gewalt über sie aus.

»Zwingen Sie mich nicht,« bat er, »zwingen Sie mich ja nicht, dem Schmerz wie ein Feiger aus dem Wege zu gehen, denn alles Umgehen ist meiner Natur durchaus zuwider und mir im Innersten der Seele verhaßt. Was mir auch begegnen mag, ich will ihm fest und gerade ins Auge sehen, und wär' es mein Untergang. So viele wünschen sich einen schnellen Tod, ich habe von Kindheit auf ihn gescheut. Wenn ich einst vom Leben scheide, so wünsche ich, daß es mit Bewußtsein geschehe, mein brechendes Auge soll sich noch einmal dankend zu der Sonne, zu den Sternen erheben, die so lange mir leuchteten. Und so will ich auch jezt, ehe ich gehe, um vielleicht nie wiederzukehren, so will ich auch jezt noch einmal in Vicktorinens liebetreue Augen blicken, in diese Sonnen meines bessern Daseins. Wer weis denn, ob sie je mir wieder leuchten werden, denn meine Reise ist weit, und mancherlei [270] Gefahren werden Unheil drohend mir entgegen treten.«


»Der junge Holm geht in diesen Tagen nach England und von dort nach Westindien, wie ich für gewis höre,« sprach die Tante zu Herrn Kleeborn im gleichgültigsten Ton, den sie nur bei dieser Gelegenheit aufzubringen vermochte. Eigentlich dachte sie nur auf diese Weise ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, das zur Erfüllung ihres Versprechens leiten konnte, um dessen Vollbringung sie sich eben in nicht geringer Verlegenheit befand, doch Kleeborn fuhr sichtbar erschrocken zusammen, als er sie so ganz gelassen den Namen nennen hörte, den er bis jezt noch gar nicht den Muth gehabt hatte, in ihrer Gegenwart auszusprechen. Er starrte in sprachloser Verwunderung sie an, und veranlaßte sie dadurch das Gesagte nochmals zu wiederholen. »Holm!« rief er jezt fast jauchzend vor Freuden, »der junge Holm [271] aus dem Hause der Herren Fischer et Compagnie? Nun Glück auf die Reise! Nein, Fräulein Schwester, eine beßre Nachricht konnten Sie mir im Leben nicht bringen; und wenn Sie mir gesagt hätten, daß ich das große Loos in der englischen Lotterie gewonnen habe, es könnte mehr mich nicht erfreuen! Denn über häuslichen Frieden und das Glück meines einzigen Kindes geht mir doch nichts in der Welt. Aber was sind Sie eine kluge Dame! Ja ja, ich habe es immer gesagt und gedacht, Sie sind eine Dame, die die Welt kennt. Ich zerbreche mir den Kopf wie ich die verfluchte Geschichte Ihnen schicklich beibringen will, Sie verstehen ja wohl was ich meine, nun und inzwischen gehen Sie so ganz in der Stille hin, wissen Alles, lenken Alles, und führen Alles zum Besten. Nun nun, jezt wird sich Alles ja wohl mit der Zeit geben, wenn erst dieser Stein des Anstosses aus dem Wege kommt. Vicktorine wird ja Vernunft annehmen, besonders wenn Sie, Fräulein Schwester« – Die Tante unterbrach ihn, um nicht mehr hören zu müssen [272] als ihr lieb war. »Ich habe Herrn Holm erlaubt, in meiner Gegenwart von Vicktorinen Abschied zu nehmen,« sprach sie in dem nehmlichen gleichgültigen Ton als vorher, und zugleich mit so gelaßner fester Zuversicht, daß Herr Kleeborn darüber ganz stutzig ward, und nicht gleich wußte, was er ihr antworten könne. Die Sicherheit, mit der sie sprach, als könne das gar nicht anders sein, verbunden mit der ehrerbietigen Zurückhaltung, welche ihre Gegenwart ihm einflößte, erlaubten ihm nicht ihr geradezu zu widersprechen, besonders da sie ihm eben eine so gute Nachricht mitgetheilt hatte. Und doch fühlte er auch eine grosse Abneigung, seine Einwilligung zu dieser Zusammenkunft der Liebenden ausdrücklich zu geben, wenn er gleich innerlich gewiß war, daß es die lezte sein würde.

Nach kurzem Bedenken fand er indessen einen Mittelweg, indem er that als habe er die lezten Worte der Tante völlig überhört. »Ende gut alles gut und Einmal ist keinmal,« brummte er endlich halb leise vor sich hin, als er nach einer [273] kleinen Pause gewahr ward, daß seine Schwägerin nicht für gut fand, noch einige Bewegungsgründe hinzuzusetzen, die er denn Gelegenheit gehabt hätte zu bestreiten; und damit gieng er ohne weiteres zum Zimmer hinaus in sein Komtoir.

Anna freute sich des leichten Sieges, und war dabei billig genug, nicht mehr zu fordern als sie eben bedurfte, denn sie glaubte, mit dieser stummen Bewilligung könne sie völlig zufrieden sein, und sie ohne alles Bedenken benutzen.

Der Morgen des zu Raimunds Abreise bestimmten Tages brach endlich an, und die Liebenden sahen in den lezten Minuten vor dieser sich wieder, denn so hatten beide es gewollt. Doch welch ein Wiedersehen war das! Wiederfinden und Trennung, Seeligkeit des Himmels und unaussprechlich tiefes Leiden, drängten auf der Spitze eines einzigen kurzen Augenblicks sich zusammen. So gränzen in dem Stunden-Dasein der Ephemere die erste Regung des Lebens und das Erstarren des Todes enge an einander.

[274] Seelig und trostlos, ohne Worte und doch unendlich beredt, hielten Raimund und Vicktorine sich umfangen bis die Stunde der Trennung schlug. Die Tante hörte den Ton der Glocke, die sie verkündete, sie hatte so lange in sich versunken da gesessen, jezt richtete sie sich auf und ihr Blick fiel zuerst auf Raimund. Ein die Wolken durchbrechender schwacher Sonnenstrahl verklärte in diesem Augenblick die schmerzlich bewegten Züge seines edeln Gesichts; Anna fuhr wie von einem gewaltsamen Schmerz plötzlich ergriffen schaudernd zusammen, und ihre Hand zuckte unwillkührlich nach ihrem Herzen, während ihr Auge mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an Raimunds trüber Gestalt hieng. Ein halb unterdrückter Schmerzenslaut drängte sich ihr aus tiefster Brust herauf, sie schwankte erbleichend und drohte zu sinken. Erschrocken eilten Vicktorine und Raimund sie zu unterstützen und sie aufs Sofa zu geleiten, doch sie erholte sich noch früher, indem ein Strom von Thränen ihrem bangebeklommnen Herzen Erleichterung zu gewähren schien.

[275] Jezt drückte Raimund noch einmal die vereinten Hände beider ihm so theuren Wesen an seine brennenden Lippen, an seine hochschlagende Brust, und entfernte sich dann schnell. Sie sahen die geliebte Gestalt durch die Thüre verschwinden, die sich in langer Zeit nicht, vielleicht nie wieder, ihr öffnen sollte. Raimunds Schritte tönten den langen Corridor entlang, immer schwächer, immer mehr aus der Ferne. Vicktorine ohne einen Laut von sich zu geben, horchte dem Ton bis er sich ganz verlor, dann warf sie sich in die geöffneten Arme, an die treue Brust, die fast eben so bewegt als ihre eigene, mit nicht minder heftigem Schmerz zu ringen schien.


Das Schreckbild einer weiten gefahrvollen Reise des Geliebten, das vor wenigen Wochen Vicktorinen fast zu Tode geängstigt hatte, war jezt zur Wirklichkeit geworden. So, sagt man, glauben die Perser, daß jedes ausgesprochne Wort zu [276] einem geisterartigen Wesen sich umwandle, welches unabläßig so lange die Welt bis an die Pforten des Paradieses durchstreife, bis es zur That sich gestaltet habe.

Indessen war es doch merkwürdig, wie Vicktorine diesen wahrhaften Schmerz mit weit größerer Fassung ertrug, als jenen erträumten, der sein Vorbild gewesen war. Daß sie mit Bewußtsein, aus freiem Willen, ihn auf sich genommen, erleichterte ihn ihr vielleicht nicht minder, als die innige Theilnahme ihrer mütterlichen Freundin; vor allem aber erhob die Hoffnung einer aus diesem Opfer entspringenden glücklicheren Zukunft sie über sich selbst, und wiegte die oft bis zur Ungeduld sich steigernde Sehnsucht wieder zur Ruhe ein, von der sie in einsamen Stunden nur gar zu oft sich ergriffen fühlte. Ihr körperliches Befinden bedurfte jezt keiner besonderen Pflege mehr, doch ihr Gemüth bedurfte der zartesten Schonung, und diese fand sie nur bei der Tante und ihrer Angelika.

[277] In den stillen geräuschlosen Abendstunden, welche Babet und Agathe jezt öftrer als sonst außer dem Hause, bei ihren Freundinnen, zubringen durften, gab die Tante den Bitten ihrer beiden Lieblinge gerne nach, und nahm den Faden der Geschichte ihres Lebens dort wieder auf, wo sie am ersten Abende ihn hatte fallen lassen. Wir geben ihre Erzählung so viel möglich mit ihren eignen Worten, doch ohne der Zwischenreden ihrer Zuhörerinnen oder der mitunter eintretenden Störungen und Pausen weiter zu erwähnen.

Fortsetzung der früheren Lebensgeschichte der Tante.

»Schwer und undurchdringlich in ihrer Finsternis lastete die Nacht nach jenem furchtbaren Abende auf mir,« sprach Anna von Falkenhayn im Verfolg ihrer Erzählung. »Sie schien nimmer enden zu wollen und meine brennend heißen thränenlosen Augen erstarrten an ihrer von keinem Stern erhellten [278] Dunkelheit, ohne daß es mir möglich gewesen wäre auch nur Minuten lang in tröstendem Selbstvergessen sie zu schließen. Es war die erste Nacht, die ich gefoltert von innern Vorwürfen durchwachte, ihr düsterer Schatten hat sich über mein ganzes Leben verbreitet und ist nie wieder ganz aus demselben verschwunden. Unzählige trübe schlaflose Nächte sind seitdem dieser ersten gefolgt, doch gottlob keine so ganz trostlose als diese, denn nie war ich wieder so durchaus mit mir selbst zerfallen wie damals.

Vergebens strebte ich an dem sonst mir eignen Stolz mich wieder aufzurichten, vergebens wollte ich eine Thörin mich schelten und die Last leicht zu nehmen suchen, die mich zu erdrücken drohte. Die glühendste Liebe sprach laut in meinem Herzen, jeder Schlag desselben erhöhte das Gefühl der bittersten, an Selbstverachtung gränzenden Reue, und mein ehemaliges eitles Bewußtsein verschwand unter der angestrengtesten Bemühung es fest zu halten.

[279] Endlich kam der Tag; jedem auch dem unglücklichsten Wesen pflegt er wenigstens für einen kurzen Moment Muth und Trost zu bringen, und auch ich begann jezt zu hoffen, Bernhard könne so nicht auf immer von mir geschieden sein, oder ich suchte es vielmehr mir selbst wahrscheinlich zu machen, daß ich diese Hoffnung noch hege.

Ich stand auf um nur so schnell als möglich jedes nächtliche Grauen abzustreifen, doch der erste Blick in meinen Spiegel flößte mir neues Entsetzen ein, so schattenähnlich, so bleich und zerstört trat mein Bild aus ihm mir entgegen. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich mich gezwungen, jene kleinen Toilettenkünste zu üben, die ich bis jezt immer mit Verachtung verschmäht hatte, denn ich war zwar fest entschlossen, dem Mann, den ich liebte, mit edler Freimüthigkeit entgegen zu treten, ich wollte ohne Rückhalt und wahr mein ganzes Herz ihm eröffnen, sogar, im Fall dies nöthig würde, zum Bekenntnis des Gefühls meiner übermüthigen Thorheit mich herablassen; aber zu deutlich in meinem Gesichte lesen, [280] was in meinem Gemüth indessen vorgegangen war, das sollte Bernhard denn doch auch nicht.

Der Morgen vergieng größtentheils über dieser Beschäftigung, die ich um mich selbst zu täuschen so zögernd als möglich betrieb. Auch späterhin noch wandte ich alles an, um nur nicht zu bemerken, wie weit der Tag schon vorgerückt, und daß die Stunde längst vorüber sei, in der Bernhard sonst zu kommen pflegte, mein armes Herz schlug aber immer voller und schwerer. Endlich brachte man mir eine nur mit seinem Namen bezeichnete Abschiedskarte, und meinem Vater ein versiegeltes Billet, in welchem Bernhard in ziemlich allgemeinen Ausdrücken für alle bisher ihm gewährte Beweise seines Wohlwollens dankte, und auf unbestimmte Zeit Abschied nahm, ohne jedoch das Ziel seiner Reise dabei zu erwähnen. Mein Vater vermied es mich anzusehen, indem er das Billet, so wie er es still für sich gelesen, mir hinreichte, und nie hat mich etwas tiefer und demüthigender gekränkt.

[281] Ich zog mich bald darauf unter dem gewiß nicht ganz ersonnenen Vorwande körperlichen Uebelbefindens in mein Zimmer zurück, und verlebte dort ganz allein ein paar stille einsame Tage; denn ich bedurfte dieser gar sehr, um nur einigermaßen mich mit mir selbst zu berathen. Nur fort von hier! war das einzige Ziel meiner Gedanken; denn die Gesellschaft wieder zu sehen, in der ich Bernhard vermissen sollte, schien mir unmöglich zu sein. Doch wohin sollte ich mich wenden? ich hatte keine Freundin, sogar nicht einmal eine Bekannte meines Geschlechts, die mir in dieser Verlegenheit Schutz und Obdach hätte gewähren können oder wollen; sie waren alle vor dem blendenden Glanz entwichen, mit dem meine Eitelkeit mich bis dahin umgab. Einen Augenblick dachte ich zwar daran, zur Herzogin von P** zu reisen, die beim Abschiede mich mit einer Einladung auf unbestimmte Zeit beehrt hatte; aber wer konnte mir dafür stehen, daß nicht auch Bernhard mit seinem wunden Herzen zu ihr geflohen sei? War es in diesem Fall schicklich, oder auch nur verständig, [282] den Verdacht auf mich zu laden, als sei ich absichtlich ihm gefolgt? Und gesezt ich fände alles dort wie sonst, nur ihn nicht, wie wollte ich das ertragen! wie alle die Fragen nach ihm! wie sollte ich täglich und stündlich von ihm reden, ihn preisen hören, ohne zu verzweifeln.

Je länger ich über meine Lage nachdachte, je hoffnungsloser erschien sie mir, so daß ich zulezt wahres Mitleid mit mir selbst empfand. Ich konnte nicht fortleben wie ich bis jezt es gethan, das allein war mir deutlich. Das gewohnte schaale Treiben, das ihn, das Bernhard mir verscheucht hatte, widerte jezt mich unbeschreiblich an, doch wie sollte ich hinaustreten ohne lächerlich zu werden, was mir herber dünkte als selbst der Tod? Meinem Vater, meinem geliebten Vater konnte ich es doch unmöglich zumuthen, meinetwegen Gesellschaften und Gewohnheiten zu entsagen, die Jahre lang seine einzige Freude gewesen waren.

So war denn jeder Ausweg mir verschlossen und ich verzehrte mich vergeblich in fruchtlosem [283] Nachsinnen, wie ich es anfangen könne, die Welt zu verlassen, die noch vor wenigen Tagen, als der Schauplatz meines Triumphs, mir unentbehrlich schien und die mir jezt so fürchterlich war. Wahrscheinlich wäre meine Gesundheit diesem Zustande endlich unterlegen, wenn er länger gedauert hätte, doch ganz unvermuthet, wie ein vom Himmel gesendeter Bote des Friedens, kam jezt ein Brief, der aller meiner Verlegenheit ein Ende machte. Ich las ihn mit Entzücken und wäre doch nur noch vor wenig Tagen trostlos gewesen, wenn ich damals ihn empfangen hätte. Er enthielt nichts anders als eine auf Befehl der Pröbstin meines Stiftes an mich gerichtete Aufforderung, doch endlich das von mir schon zu lange umgangene Gesez zu erfüllen, das mir seit ich mündig war die Verbindlichkeit auferlegte, jährlich wenigstens einige Monate im Stifte zu verleben; dabei versicherte man mich, daß man mir keine fernere Verzögerung dieser Verpflichtung nachsehen könne, indem dieses schon zu lange geschehen sei.

[284] Mit kaum zu unterdrückender Freude theilte ich dieses Schreiben meinem Vater mit, und zugleich meinen Entschluß, die Verbindlichkeit, zu der man mich aufforderte, sobald als möglich zu erfüllen. Der gute Vater widersprach mir nicht, er eilte sogar, alle nöthigen Anstalten zu meiner schnellen Abreise zu treffen, aber er war dabei so still, so recht im Herzen traurig, daß es mir durch die Seele gieng. In jedem seiner Blicke, aus seinem ganzen Benehmen gegen mich, sah ich deutlich, daß er nicht nur alles, was in mir vorgieng, errathen hatte, sondern daß auch bange Zweifel in ihm aufstiegen, ob er denn auch wirklich, durch die ausgezeichnete Erziehung, die er mir gegeben, mein wahres Glück begründet habe. Diese Besorgnis, die denn doch wohl in jedem Fall zu spät kam, beugte sichtlich ihn nieder, denn wenige sind stark genug, wenn ein Lieblingsplan mislingt, nur die Absicht, nicht den Erfolg, sich zuzurechnen, und nicht zu vergessen, daß wir in unsrer Beschränkung uns damit beruhigen sollten, nur das Beste gewollt [285] zu haben, wenn gleich die Freude des Gelingens uns versagt blieb.

Froh, als entrönne ich einem Gefängnis, verlies ich endlich an einem trüben Herbstmorgen zum erstenmal das väterliche Haus, um mich mit meinem Schmerz in die Einsamkeit eines mir ganz fremden Aufenthaltes zu flüchten. Karoline, meine damals zwölfjährige Schwester, war nach dem Wunsch meines Vaters meine liebe Begleiterin auf der Reise. Unser Weg gieng durch eine reiche üppig-fruchtbare Gegend, die aber wie so manche reizende Mädchengestalt durchaus der Jugend des Jahres bedurfte, um zu gefallen. Jezt im Spätherbst, wo der Wind kalt und schneidend über Stoppelfelder wehte, und im spärlichen gelben Laub der Bäume schauerlich rauschte, jezt hatte alles, was ich erblickte, ein düstres unfreundliches Ansehen, ohne die kleinste Spur früherer Anmuth. Mit nicht zu unterdrückender Aengstlichkeit klammerte meine arme kleine Karoline sich an mich an, als wir endlich mit einbrechendem Abend durch das dunkle niedrige Gewölbe des [286] Thores fuhren, welches den Eingang zu einem ehemaligen Kloster bildete, das jezt einem Theil der Stiftsdamen zur Wohnung diente. Mich selbst sogar kam ein kleiner Schauder an, als wir durch den schon halbdunkeln langen Kreuzgang wanderten, an dessen äußerstem Ende die mir bestimmten Zimmer lagen.

Wir kamen auf diesem Wege an mehreren niedrig gewölbten Thüren vorbei, die in die ehemaligen Klosterzellen zu führen schienen. Hinter einer derselben hörte ich im Vorbeigehen laute weibliche Stimmen, wie im heftigen Streit; hinter andern schmetterten Kanarienvögel, heisere Möpschen bellten, und Kakadus und Papageien kreischten dazwischen mit widrigem Geschrei.

Karoline hielt mich immer ängstlicher am Arm, auch unser Kammermädchen drängte sich so nahe als möglich an uns an, und blickte ganz verschüchtert in alle Ecken, bis eine Thüre ganz ähnlich denen, an welchen wir vorbeigekommen, aufgeschlossen ward. Wir standen jezt vor meinem geöffneten Wohnzimmer; die Abendsonne, schon [287] ganz unten am Rande des Horizonts, durchbrach in diesem Moment die schwere graue Wolkendecke, welche den ganzen Tag über sie verhüllt hatte, und leuchtete uns durch die purpurrothen Blätter der das Fenster umrankenden wilden Rebe freundlich ins Gesicht; die hüpfenden Schatten der Zweige spielten lustig auf der blaßgrünen Wand, alles sah freundlich und bequem aus, so daß wir mit neuem Muth den erquickenden Sonnenstrahl wie ein Zeichen von guter Vorbedeutung annahmen.

Die kleine Wohnung war für uns geräumig genug; mit sehr wenigem konnte sie recht wöhnlich und behaglich eingerichtet werden, und Karoline gieng mit unserm Mädchen so eifrig an das Auspacken und Anordnen, als käme es darauf an, uns gleich auf der Stelle hier für eine ganze Lebenszeit häuslich niederzulassen. Ich aber suchte indessen den einsamsten Winkel auf, um mich ungestört in mich selbst zu versenken.

Die Einsamkeit, in der ich von nun an mehrere Monate zubrachte, war in der That [288] klösterlich zu nennen, und stach fast gewaltsam gegen mein ehemaliges Leben ab. Mein Gefühl glich in der ersten Zeit jenem beklemmenden Streben nach Besinnung, wie es uns nach einer überstandnen großen Gefahr oft noch lange beängstigt; doch nach und nach ward mein Gemüth wieder ruhiger und ich blickte mit klarerem Sinn um mich her.

Mit dem aufrichtigsten Willen auch gegen mich selbst nicht nur wahr, sondern auch gerecht zu sein, überschaute ich meine Vergangenheit wie meine Zukunft, und wandte Alles daran, um aus diesem, einem Stillstand ähnlichen Ruhepunct meines Lebens die ersprieslichsten Folgen zu ziehen.

Daß keine Zeit, keine Macht der Umstände Bernhards Bild je aus meinem Herzen reißen könne, fühlte ich schon damals mit voller Ueberzeugung, es mußte von nun an ewig darin wohnen wie in einem stillen Heiligthum. Je deutlicher ich das Unrecht einsah, das ich frevelnd an mir selbst uns beiden zugefügt hatte, desto [289] inniger wandte all mein Trachten und Sinnen sich dem schwer beleidigten Freunde zu, um so fester nahm ich mir vor, mich über mich selbst zu erheben, um seiner würdiger zu werden. Ich gelobte mir, mich als ihm allein angehörig zu betrachten, selbst wenn ich nie ihn wieder sehen sollte, alles übrige wollte ich dem Schicksal getrost überlassen. Heimlich und stille lebte indessen doch die Hoffnung in mir, daß ein günstiger Stern, oder vielmehr sein eignes Herz, ihn mir wieder zuführen müsse – und dann – ach ich wagte es nicht über dieses dann hinaus zu denken.

Meine nächsten Umgebungen überließen mich in ziemlich ungestörter Ruhe mir selbst.

Ich widmete regelmäßig dem Unterricht meiner Karoline einige Stunden des Tages; die übrige Zeit brachte das liebenswürdige Kind größtentheils bei einer benachbarten Familie zu, in welcher sie nicht nur an den Töchtern des Hauses Gespielinnen ihres Alters fand, sondern auch noch außerdem alle Annehmlichkeiten eines in ruhiger [290] Häuslichkeit hingebrachten stillen Familienlebens kennen und lieben lernte. Ich selbst blieb beinah immer allein in meinem Zimmer, die jüngern Stiftsdamen waren fast alle abwesend, um den nahenden Winter bei ihren Verwandten zuzubringen, die zurückgebliebenen von den ältern Damen bekümmerten sich wenig um mich. Sobald nur die erste Neubegier mich zu sehen gestillt war, welche meine unerwartet schnelle Ankunft erregt hatte, so kehrten alle recht gern zu ihren gewohnten Vergnügungen, zu ihren Kaffeevisiten, Trißett und l'Hombreparthien wieder zurück, ohne mir es weiter zu verargen, daß ich keine Lust bezeigte, daran Theil zu nehmen.

So beschränkte sich denn zulezt mein Umgang im Stifte fast einzig auf die Pröbstin, einer gebornen Stiftsgräfin von ***. Sie war aus einem der ältesten und edelsten Häuser in Deutschland, aber ihr innerer Adel hob sie noch weit über den ihr angebornen Rang und Stand. Ein unheilbares langsam und schmerzlich sie verzehrendes Uebel hielt sie schon Jahre lang fast immer an [291] ihr Lager gefesselt. Ihr schweres Leiden zog mich zuerst zu ihr hin, doch ihre ächt-christliche Demuth, die fromme Ergebung in den Willen Gottes, mit der sie ohne Klage, ja fast freudig alles trug, was ihr auferlegt ward, erweckten, wie ich sie näher kennen lernte, mein innigstes bewunderndes Mitgefühl. Auch ich war so glücklich, mir sehr bald ihre herzlichste Zuneigung zu erwerben, daß sie in jeder schmerzensfreien Stunde mich um sich zu haben wünschte. Ihr Gespräch, die Bücher, größtentheils religiösen Inhalts, die ich ihr vorlas, vor allem aber das wahrhaft große Beispiel dieser Frommen, ihr festes kindliches Vertrauen auf Gott gewann den wohlthuendsten Einfluß auf mein Gemüth, in eben dem Grade wie früher die kurze Bekanntschaft mit der Herzogin von P*** auf die höhere und angemessenere Bildung meines Geistes eingewirkt hatte.

Nie kann ich es dankbar genug erkennen, daß die Hand, die mein Leben leitete, mich so zur rechten Zeit diesen beiden edlen Frauen zuführte; von denen die eine in gewisser Hinsicht vollendete, [292] was die andere begonnen hatte, denn alles, was ich später geworden bin, alles, was mir in dem Labyrinthe des Lebens Trost und Licht verlieh, verdanke ich hauptsächlich ihnen.

Leidende erkennen einander schnell, und auch meine neuerworbne edle Freundin fühlte gar bald, daß auch ich nicht glücklich sei, obgleich ich mir eben so wenig eine Klage als sie sich eine Frage erlaubte. Der eigne Schmerz machte sie scharfsichtig genug, um in meinem Herzen wie in einem offnen Buche zu lesen, und sie benutzte den Einfluß, den sie auf dasselbe gewonnen, um mit leiser linder Hand und wahrhaft mütterlicher Sorge dem vom Himmel gesandten Lichte mich zuzuführen, das auch die Nacht ihrer eignen Leiden zu erhellen vermochte. Ich lernte von ihr Glauben und Hoffen, selbst wenn jeder irdische Trost und jedes irdische Glück vor unserm enttäuschten Blicke im Nichts zerflattern.

Mit bereichertem erhobnen Gemüth, mit mühsam erworbnem aber desto festerem Muth, und mit dem treu gemeinten Torsatz, dem Schein [293] nie wieder das kleinste Opfer zu bringen, verließ ich endlich nach einem Aufenthalte von acht Monaten die mir so lieb gewordne Einsamkeit. Ich eilte zu meinem Vater zurück, dessen sehr schwankender Gesundheitszustand jezt mehr als jemals der Pflege seiner Kinder bedurfte.

Nächst der Sorge für die Erhaltung und Erheiterung des ehrwürdigen Greises, den ich leider weit schwächer wieder fand, als ich gefürchtet hatte, war jezt Karolinens fernere Bildung das Hauptgeschäft meines Lebens. Ihre schöne Jugendblüthe drang jezt immer lieblicher sich entfaltend aus der Knospe der Kindheit mächtig hervor, und ihr Anblick erfreute nicht nur ihren Vater, sondern auch jeden, der ihr nahte. Ich fand zu meiner großen Beruhigung, daß während meiner Abwesenheit, in der Lebensweise unsers Hauses, eine bedeutende Veränderung vorgegangen sei. Mein Vater hatte bei seiner zunehmenden Kränklichkeit den großen Kreis, der sich sonst bei uns zu versammeln pflegte, unmöglich zusammenhalten können, da in mir die Wirthin des Hauses [294] ihm fehlte, um die Honneurs desselben zu machen. Die Gesellschaft hatte sich also bis auf wenige unserer ältern Freunde allmählig von selbst aufgelöst; ein kleinerer gewählter Kreis, der sich ebenfalls alle Abende um meinen Vater versammelte, war an ihre Stelle getreten; denn dieser war von Jugend auf der Geselligkeit zu gewohnt, um ihr, selbst in seinem jetzigen hohen Alter, gänzlich entsagen zu können.

Die Unterhaltung in diesen kleinen Abendgesellschaften war freilich von dem vormals bei uns herrschenden brillanten Ton himmelweit verschieden, doch ich selbst war ja auch in der Zwischenzeit ein anderes Wesen geworden, und daher sehr damit zufrieden, auch ein anderes Leben führen zu können. Der Gedanke an meinen hoffentlich nicht auf immer verlornen Freund füllte jede Lücke in meinem jetzigen Dasein; oft erweckte ich mich selbst, aus schönen Träumen von einer glücklichern Zeit, in der ich uns beiden alles zu vergüten hoffte, was wir durch meine Schuld erlitten; nur sah ich freilich noch nicht [295] ein, welcher glückliche Zufall diese Zeit herbeiführen dürfe, und verlor mich dann wieder aufs neue im Reich der Möglichkeiten.

Meine gänzliche Unwissenheit in Hinsicht auf alles, was auf Bernhards gegenwärtigen Aufenthalt und sein Ergehen Bezug hatte, begann indessen doch mit jedem Tage schmerzlicher mich zu betrüben. Seit er uns verließ, war er für mich wie von der Erde weggehaucht und nie hatte ich nur seinen Namen wieder nennen hören. Mir selbst band ein sehr natürliches Gefühl die Zunge, wenn ich es einmal unternehmen wollte, nach ihm zu fragen; aber auch mein Vater erwähnte seiner so wenig, als ob er nie ihn gekannt hätte; theils wohl aus Schonung für mich, doch mehr vielleicht noch aus Verdruß über uns beide.

Obgleich wir die Zahl der uns täglich Besuchenden sehr beschränkt hatten, so stand doch unser Haus nach wie vor durchreisenden Fremden noch immer gastfreundlich offen. Meines Vaters große und vielfältige Verbindungen im Auslande schickten uns sehr oft Reisende aus fernen Gegenden [296] zu, und so empfingen wir fast täglich manchen mitunter recht interessanten Besuch, dessen flüchtige Gegenwart unsrer einförmigen Häuslichkeit Leben und Wechsel verlieh.

Eines Abends, es mochte wohl beinahe ein Jahr seit Bernhards Entfernung vergangen sein, hatte auf diese Weise der Zufall mehrere Fremde bei uns versammelt, von denen einige durch ihre angenehme Unterhaltungsgabe dem Gespräch einen rascheren Umschwung zu geben wußten. Besonders zeichnete sich einer unter ihnen durch die etwas kurz absprechende Art aus, mit der er Paradoxen einzig deshalb nachzujagen schien, um durch deren Behauptung, wenn nicht die ganze Welt, doch wenigstens den kleinen Theil derselben, der ihm eben zuhörte, in Erstaunen und Bewunderung zu versetzen. Dieser streitbare Held war aber bei alle dem weit weniger unangenehm und überlästig, als man nach dieser Beschreibung glauben könnte. Er schien nicht bösartig, er hatte das Wort in seiner Gewalt, er zeigte mitunter recht viel Witz und Humor, und war dabei gewandt genug, sobald [297] er gewahr ward, daß er es zu weit getrieben, sich gleich auf der Stelle abmerken zu lassen, wie es ihm mit seinen Behauptungen eigentlich gar kein rechter Ernst sei. Man sah deutlich, daß es hauptsächlich ihm nur um den Lärm zu thun war, den seine Redensarten herbei führten; er glich hierin einem Kinde, das mit dem Munde den Trommelschlag überlaut nachzuahmen sucht, ohne sich weiter etwas dabei zu denken, und so war es denn unmöglich, ihm zu zürnen, obgleich er es mitunter recht arg machte.

Ich weis nicht, wie es zugieng, daß gegen das Ende des Abends das Gespräch sich zulezt um ausgezeichnet edle, mit bedeutenden Aufopferungen vollbrachte Handlungen drehte, von denen beinahe jeder der Anwesenden ein paar Beispiele, zum Theil mit großem Wortaufwande, der Gesellschaft zum Besten gab. Nichts ist ansteckender, und zugleich dem guten Geist der Konversazion verderblicher, als diese Lust zu erzählen, die gewöhnlich alle ergreift, sobald nur einer den Ton dazu angiebt; und doch ist auch [298] nichts seltner als die Gabe, eine gute Geschichte gut vortragen zu können. Auch an jenem Abende hatten wir nur zu oft Gelegenheit, die Wahrheit dieser Bemerkung bestätigt zu finden, und zulezt kam sogar einer der unbarmherzigsten Erzähler an die Reihe; einer von der Art, die nie das Ende der Geschichte finden kann, weil sie bei jedem Wort immer sich selbst wiederholt, um das schon Gesagte noch zu verbessern.

Lothario, so laßt mich den streitsüchtigen Fremden nennen, dessen eigentlichen Namen ich nie recht erfahren habe, weil ich nur dies einemal ihn sah, Lothario ließ eine Weile den gewaltigen Wortschwall ziemlich gelassen an sich vorüber gehen, in welchem jener Grosmuth und Dankbarkeit und Edelmuth durcheinander wirrte; doch endlich riß ihm die Geduld, besonders da er in unser Aller verlängerten Gesichtern Ueberdruß und Langeweile in deutlichen Zügen lesen mochte. Er sprang auf; ›geht mir,‹ rief er, in fast kläglichem Ton, indem er auf eine höchst komische Weise die Hände faltete, ›geht mir, [299] ich bitte euch um Gotteswillen! geht mir mit euern verwünschten Tugenden, die beim Lichte besehen nichts sind als Affektazion, Eitelkeit oder wohl gar Ungerechtigkeit, denn die kann man auch an sich selbst üben. Der Mensch trachte doch nur ja vor allen Dingen fürs erste gegen sich, wie gegen andere gerecht zu sein, ehe er es sich beikommen läßt, Grosmuth üben zu wollen,‹ sezte Lothario sehr ernsthaft hinzu. ›Was wir Grosmuth nennen, ist gewöhnlich nur verkleideter Uebermuth, gerecht sein aber ist jedem unerläßliche Pflicht, und wem es ein rechter Ernst ist, diese vollkommen und überall auszuüben, der wird wahrscheinlich lange vorher zu seinen Vätern versammelt werden, ehe er bis zur Erlaubnis grosmüthig sein zu dürfen sich durchgearbeitet hat.‹

›Mit der Dankbarkeit kommt mir nur vollends gar nicht,‹ rief Lothario fast überlaut, als mehrere Stimmen dieses Wort nannten, indem sie gegen ihn sich erhoben. ›Die Dankbarkeit ist eigentlich nichts weiter, als eine schlechte Gewohnheit,‹ fuhr er fort, ›eigentlich und unter [300] gewissen Modifikazionen könnte man sogar ein Laster sie nennen. Wer von andern sie fordert, ist, um ihn nicht noch jemanden schlimmern zu vergleichen, wenigstens eine Art Sklavenhändler, der mit einer miserablen Gefälligkeit oder mit ein wenig lumpigen Goldes, die Seele dessen, dem er nach seiner Meinung wohlthat, sich auf ewig erkauft zu haben meint; der aber, der sich einem andern auf immer zu eigen giebt, weil dieser ihm einmal irgendwo aus der Flamme half, der ist aufs höflichste benannt, wenigstens ein Schwachkopf, weil er nicht fühlt, daß jeder, der eine honette That vollbringt, schon in der Freude daran seinen Lohn dahin nahm.‹

Lothario's Worte machten einen unbeschreiblich traurigen Eindruck auf mich, denn sie erinnerten mich lebhaft an eine Zeit, an welche ich jezt nur mit sehr bitterer Empfindung denken konnte, in der auch ich, um genial zu erscheinen, ähnliche aus Wahrheit und Trug zusammengesezte Meinungen aufstellte und eifrig vertheidigte. Indessen erhob sich fast alle Welt gegen ihn, und er hatte [301] alle Hände voll zu thun, um jedem, der ihn angriff, gebührend Rede zu stehen. Ohne eigentlich in beleidigende Heftigkeit auszuarten, ward das Disputiren immer lauter und lebhafter, zulezt blieb man bei dem Satz stehen, den alle bekämpften und den Lothario gewandt genug zu behaupten suchte: daß es eben so sträflich und unrecht sei, aus Partheilichkeit für andere das eigne Glück zum Opfer zu bringen, als wenn man um des eignen Nutzens willen andre zu bevortheilen suche.

›Wohlan denn!‹ rief Lothario endlich aus, da er in Gefahr stand, mit seiner Stimme durch den immer mehr überhand nehmenden Lärmen nicht mehr durchdringen zu können. ›Wohlan, ich fordre das Wort! Beinahe ein jeder hat ein Geschichtchen erzählt, nur ich nicht. Ich bitte um die Erlaubnis, ein einziges Beispiel aufstellen zu dürfen, welches meine Behauptung erläutern soll; denn es scheint mir, als wolle man nicht recht verstehen, wie ich es meine. Das Fräulein hier mag dann den Streit entscheiden, in schwierigen[302] Fällen vertraue ich immer gern dem reinen Sinn der Frauen, die ohne viel zu grübeln recht gut wissen, was Recht, was Unrecht sei, weil sie es fühlen.‹

›Es war einmal,‹ fieng Lothario jezt an, da alle schwiegen um ihn anzuhören, ›es war einmal ein junger Mann, gesund an Leib und Seele, dabei gut, verständig unterrichtet, durch das Geräusch der großen Welt nicht verwöhnt, und doch bekannt genug damit, um sich nicht wieder darnach zu sehnen. Genug, ein Mann, wie er sein muß, um den durch lange Vernachläßigung tief gesunknen Zustand ziemlich weitläuftiger Familiengüter wieder zu heben, die ihm als dem ältesten Sohn seines Vaters, nach dessen unlängst erfolgtem Ableben zugefallen waren.

Der junge Majorats-Herr ward zwar bisher von Familienverhältnissen und mancherlei andern Rücksichten, abgehalten sich viel um sein Eigenthum zu bekümmern, doch endlich langt er, nach vieljähriger Abwesenheit und mannichfachen Reisen, ganz unvermuthet auf seinem ziemlich verfallnen [303] Stammschlosse an, mit dem Vorsatz von nun an der Verbesserung des Zustandes seiner armen verwilderten Bauern, und seiner eigenen nicht weniger vernachläßigten Besitzungen, sich ausschließend zu weihen. Sehr überrascht durch dessen Gegenwart, trifft er dort seinen einzigen um mehrere Jahre jüngern Bruder an, den er wunderlicher Weise noch gar nicht kannte, und mit dem er bis jezt auch fast in keiner Verbindung gestanden hatte.

Dieser junge eben mündig gewordne Mann hatte einzig deshalb seinen bisherigen Aufenthalt verlassen, um sich in seines ältern Bruders Arme zu werfen. Er war der Sohn einer zweiten Gemalin, des Vaters der beiden Brüder, von der sich dieser nach einer sehr kurzen unzufriednen Ehe getrennt hatte, und lebte von seiner frühesten Kindheit an in Rom, dem Geburtsorte seiner Mutter, wo er in einem Kloster in ihrer Nähe zum geistlichen Stande erzogen ward.

Durch die Bemühungen eines sehr mächtigen Oheims mütterlicher Seite, der als Prälat vom [304] ersten Range, und Liebling des heiligen Vaters, fast alles erreichen konnte, was er wollte, erhielt er indessen schon in seiner Kindheit, ganz gegen Gesetz und Regel, die Anwartschaft auf eine Komthurei des Maltheserordens, und war jezt im Begriff diese anzutreten und zugleich das Ordensgelübde abzulegen.

Die Lage des jungen Herrn war also nichts weniger als beklagenswerth, indem er statt der Tonsur das Maltheserkreuz erhalten sollte, und eigentlich hätte er sich glücklich preisen können, aber unglücklicherweise war er verliebt, zum Sterben verliebt! oder bildete sich vielleicht nur ein es zu sein. Ein wunderschönes zum Reichsein erzognes und dabei blutarmes Fräulein war die Dame seines Herzens, deren Eltern ihrer Schönheit wegen gewaltig hoch mit ihr hinaus wollten, so wie sie selbst auch, und mit der folglich an ein glückliches Hüttenleben gar nicht zu denken war. Ueberhaupt sollten Verliebte an dergleichen nie denken, wenn sie nicht von Jugend auf daran gewöhnt sind. Doch dies nebenher.

[305] Daß der junge Herr also lieber heurathen als Maltheser werden wollte, war wohl natürlich, und daß er seinem Bruder Tag und Nacht seine Liebesklagen vorjammerte, war es auch. Was thut nun der ältere Bruder? statt dem jungen angehenden Ritter vernünftig zuzureden, läßt er sich durch die Pinseleien desselben so weichherzig machen, daß er gar nicht einmal recht untersucht, ob diese Liebe ächt und vernünftig sei. Er spielt lieber den Großmüthigen; er tritt alle Rechte seiner Erstgeburt und mit diesen alle seine Besitzungen dem jüngern Bruder ab, um ihm dadurch sein Liebchen zu erkaufen, und nimmt an dessen Stelle das Maltheserkreuz und die Komthurei, wozu ihm des Jüngern geistlicher Oheim in Rom mit tausend Freuden behülflich ist; freilich fand dieser, aus tausend Gründen, seine Rechnung dabei, wenn er auf diese Weise dem Sohn seiner Schwester zu den reichen Besitzungen verhalf. Die Welt nun nennt diese Handlung großmüthig, ich nenne sie nicht nur verrückt, sondern auch höchst ungerecht gegen sich und die armen Unterthanen, die von der Natur an den ältern Bruder gewiesen waren, [306] um aus ihrem jetzigen unglückseeligen Zustand zu kommen. In seinem großmüthigen Paroxismus überantwortete dieser sie nun einem verliebten Knaben, dessen mönchische Erziehung ihn unfähig gemacht hat, für die armen Leute zu sorgen, und der sich vermuthlich eben so wenig um das bekümmern wird, was hier Noth ist, als seine Vorfahren es seit den lezten hundert Jahren gethan haben.

Entscheiden Sie nun, mein Fräulein, ob meine Ansicht die rechte sei,‹ sezte Lothario jezt mit einer Verbeugung gegen mich hinzu. ›Uebrigens habe ich die Geschichte nicht etwa ersonnen; vor einigen Monaten wohnte ich als Zeuge der feierlichen Uebergabe der Güter bei. Vielleicht kennen sogar einige in der Gesellschaft den Großmuths-Helden. Er heißt Bernhard von Leuen, und hat sich wie ich höre auch hier eine Zeitlang aufgehalten. Um das Maaß seiner Thorheit voll zu machen, gieng er, da ich ihn verließ, nach Venedig, um sich von da nach Valetta einzuschiffen; dort muß er jezt längst angelangt sein; er war Willens, wenigstens einige [307] Jahre in jenem Hauptsitz seines Ordens zu verweilen.‹

Alle Anwesenden beinahe hatten Bernhard von Leuen gekannt, und der Antheil, den Lothario's Erzählung erregte, war so groß und stürmisch, daß die Streitfrage, welche dieselbe herbeigeführt hatte, zum Glück darüber nicht weiter zur Sprache kam.

Wie dankte ich Gott, als ich nach dieser Scene mit mir und meinem Schmerz mich endlich ohne Zeugen befand! Alles, woran ich seit Bernhard mich verließ unablässig gearbeitet hatte, das ganze aus Sehnsucht und Hoffnung künstlich zusammengesetzte Gebäude meiner Ruhe war nun mit einem Schlage zerstört. Mir war, als bräche erst jezt der Schmerz mit allen seinen vernichtenden Folgen gewaltsam auf mich ein, und ich war von neuem unglücklicher, als ich es je zuvor gewesen. Deutlich sah ich ein, wie nun jede Hoffnung möglicher Versöhnung, möglicher Vergütung meines Unrechts, sogar die des Wiedersehens, mir auf immer verloren sei. Ich schauderte vor mir selbst, als hätte ich ein Verbrechen begangen, denn ich war es ja, [308] die jene unseelige Reise veranlaßte, auf der er den Bruder kennen lernte. Der Schmerz um mich hatte die schöne Klarheit seines Geistes zerstört, und ihn zu jenem raschen, vielleicht für das Glück seines Bruders nicht einmal nothwendigen Schritte getrieben, der ihn nun aus seinem Vaterlande verbannte, der seine ganze Zukunft umgestaltete, ihn seines Eigenthums beraubte, und ihn ohne Frieden und ohne Freude hinaus in die Irre sandte.

O laßt mich nicht weiter davon sprechen, damit nicht der Geist jener quaalvollen Zeit von neuem über mich komme! Laßt mich euch nicht vorrechnen, wie viele endlose Tage, Wochen, Jahre, einander folgten, ohne daß ein einziger Tag mir tröstlichere Kunde von ihm gebracht hätte!

Die Zeit vergieng unter dem Bemühen ruhig und glücklich zu scheinen, um meines Vaters willen. Der ehrwürdige Greis neigte sich immer tiefer dem Grabe zu, während meine schöne blühende Schwester immer liebenswürdiger sich entwickelte. Sein Blick ruhte oft mit dem Ausdruck tiefer Sorge auf dem holden Wesen, das in jugendlicher Freudigkeit ihn [309] umflatterte, und wandte sich dann gleichsam bittend mir zu. Es schmerzte mich tief, aber ich durfte diese bittenden Blicke nicht verstehen. Denn wie wäre es mir möglich gewesen, unter den zum Theil sehr achtungswerthen Männern, die sich damals um meine Hand bewarben, einen zu wählen, während die Erinnerung an Bernhard, die Sorge um ihn, die Reue über eine nie wiederkehrende Vergangenheit, noch immer meine ganze Seele erfüllten! Mein gütiger Vater schonte mich deshalb nicht minder, weil wir nie über diesen Gegen stand ein Wort mit einander gewechselt hatten; er las deshalb nicht minder deutlich in meinem Herzen und erlaubte sich auch nicht die kleinste Andeutung seines Wunsches, mich vor seinem Tode an der Seite eines edlen Gatten versorgt, und dadurch auch die Zukunft meiner Schwester gesichert zu sehen. Nie kam ein hierauf Bezug habendes Wort über seine Lippen, aber auch ich wußte, was in seinem Gemüthe vorgieng, und die Quaal meines Daseins ward dadurch noch erhöht, daß ich nicht gewähren konnte, [310] was er so innig zum Besten seiner Kinder wünschte.

Die ganz unerwartet sich erklärende Neigung Deines Vaters, Vicktorine, zu meiner damals kaum funfzehnjährigen Schwester, machte wider alles Verhoffen unserer Sorge um das liebe Kind ein plötzliches fröhliches Ende.

Kleeborn war der einzige Sohn eines der angesehensten Handelsherren der Stadt, welcher von jeher der treueste geliebteste Freund meines Vaters gewesen war. Er hatte so eben die sogenannte große Tour durch beinahe ganz Europa zurückgelegt, welche man damals zur Vollendung der Erziehung eines jungen Mannes seiner Art für unentbehrlich hielt, und er kehrte jezt heim, um eine Gattin zu wählen und sich dann in seinem Geburtsorte häuslich niederzulassen. Meiner sehr schönen Schwester fröhliches einfaches Wesen zog auch ihn an, wie jeden, der sie sah, und bestimmte ihn vielleicht um so mehr in seiner Wahl, da seine Bekanntschaft mit den Damen des Auslandes wahrscheinlich von der Art gewesen war, daß er den Werth einer solchen [311] Gefährtin des Lebens durch den Kontrast mit jenen um so höher zu schätzen gelernt hatte. Karolinens bis jezt ganz frei gebliebenes Herz war stets bereit, Liebe um Liebe zu geben. Sie war noch bei weitem zu jung, um das Wichtige des Schrittes, den sie zu thun aufgefordert ward, in seinem ganzen Umfange zu fühlen, und so gab sie ohne Widerstreben sogar fröhlich ihr Jawort zu dieser Verbindung, da sie sah, welche Freude sie dadurch ihrem Vater bereitete.

Diesem sowohl als dem alten Kleeborn war die Aussicht, das Band der zwischen beiden so lange bestandenen Freundschaft durch die Verbindung ihrer Kinder noch enger knüpfen zu können, zu erwünscht, als daß irgend ein auf Geburt oder Vermögen Bezug habendes Vorurtheil bei einem von beiden hätten zur Sprache kommen können. Beide führten voll der freudigsten Aussichten auf eine glückliche Zukunft die Verlobten sobald als möglich am Altar einander zu. Die Augen meines Vaters strahlten während der feierlichen Handlung in ungewohntem Glanz; seine ganze Gestalt glich der eines seeligen [312] Verklärten; ach nur zu bald sollte er wirklich zu ihnen gezählt werden und in das Land einziehen, wo die Sorgen verstummen und keine Thränen mehr sind! Wir alle weinten drei Tage später an seinem Sarge. Schonend und freundlich hatte der milde Genius des Todes die Fackel umgekehrt, und den geliebten Greis schmerzlos im ruhigen Schlummer seiner Vollendung zugeführt.

Ich eilte vom Grabe des Vaters in die mir im Schmerz so lieb gewordene Einsamkeit meines Stiftes zurück, wo das schwache Lebenslicht meiner edlen Freundin, noch immer kämpfend mit dem völligen Erlöschen, trübe und schwankend fortbrannte. Ich wollte nicht mit meinem Gram zwischen dem neuvermählten Paar und dem fröhlich leuchtenden Glücksstern ihrer jugendlichen Liebe verdüsternd eintreten, und war auch überdem der Ruhe höchst bedürftig. Ohne daß man mich im eigentlichsten Sinne krank nennen konnte, ward doch das leise Hinsinken meiner durch den Schmerz um meinen Vater noch mehr untergrabenen körperlichen Kräfte jezt so sichtbar, daß selbst unser Arzt eine einfachere Lebensweise in [313] ländlicher Ruhe auf das Dringendste anempfehlen zu müssen glaubte.

Aeußern Frieden fand ich in meiner stillen Wohnung, auch frommen wohlgemeinten Trost an der Seite meiner jezt fast ganz verklärten Freundin. Doch der Schmerz, dem ich nirgend entfliehen konnte, wohnte in meinem Herzen und nagte leise und heimlich an meinem Leben.

Einige Wochen nach meiner Ankunft saß ich in früher Morgenstunde allein mit mir selbst, versunken in schmerzlichem Nachdenken, aus welchem Rebecke, meine alte Wärterin, durch die ihr ungewohnte Hast, mit welcher sie die Thüre aufriß, mich aufschreckte. Die treue Seele hieng mit mütterlicher Liebe an mir sowohl als an meiner Schwester, weil sie von unserer Geburt an uns gewartet und gepflegt hatte. Deshalb hatte sie auch, ungeachtet ihres weit vorgerückten Alters, es sich nicht nehmen lassen, mich in meine Einsamkeit zu begleiten, weil ich, wie sie behauptete, wieder gepflegt werden müsse, und niemand das besser verstünde als sie. ›Fräulein Annettchen,‹ rief sie[314] jezt ganz athemlos, denn so nannte sie mich noch immer von meiner Kindheit her, ›Fräulein Annettchen, wen denken Sie, daß ich eben gesprochen habe, er gieng im Klostergarten spazieren. Herr von Leuen! Er kannte mich gleich wieder, und hatte eine Freude! er hat mich recht über Sie und Ihr Befinden ausgefragt, ich mußte Ihre Fenster ihm zeigen. Die wilde Rebe mit den schönen rothen Blättern hat ihm recht gefallen, er hat sie in eins weg betrachtet und gelobt.‹

Guter Gott! wie vermöchte ich das Gefühl Euch zu schildern, mit dem ich gleich einer aus bangem Todesschlaf Erwachenden diese Botschaft vernahm! Ich drückte die gute Alte an meine Brust, ich lachte und weinte in beinahe wahnsinniger Freude. Ich kniete hin und dankte Gott mit lauter Stimme, daß Bernhard noch mein gedenke.

Dann versank ich aufs neue in tödtliche Sorge, und ermahnte die gute Rebecke, sich doch ja recht zu bedenken, ob sie sich nicht in der Person geirrt haben könne. Ich ließ aufs genaueste mir beschreiben wie er aussah; ich fragte hundertmal, ob er auch [315] gewiß kommen werde; ich konnte es mir noch immer nicht denken, daß er da sei, meinetwegen da sei, daß ich ihn wiedersehen solle.

Rebecke war unermüdlich in Wiederholung des mir schon tausendmal Gesagten. Nie, nie habe ich seitdem die treue wieder von mir gelassen; dankbar habe ich kindlich sie Jahre lang gepflegt, bis sie lebensmüde in einem sehr hohen Alter in meinen Armen entschlief. Stets dachte ich daran, daß sie es war, die zuerst mir sagte, Bernhard von Leuen ist wieder da.

Nach wenigen Stunden kam er selbst. Ich sah ihn wirklich wieder. Lieben Kinder, ich bin sehr alt und viele viele Jahre liegen zwischen dieser Stunde und jenem Augenblick; doch wenn ich seiner gedenke, so ist mir noch als lege sich mein ergrautes Haar wieder in hellschimmernden Locken um meine Stirn, als berühre mich ein Lebensstrahl von dort oben, und gebe meine Jugend mir wieder. Wie schön stand ihm die Freude, mich so blühend wieder zu finden, denn in diesem seeligen Moment lieh das Entzücken meiner sonst verfallnen Gestalt aufs [316] neue den Anschein der Gesundheit und färbte meine bleichen Wangen mit ihrem rosigen Schein.

Bernhard sagte mir, er habe in meiner Vaterstadt vernommen, daß ich an einer wahrscheinlich unheilbaren Auszehrung leide; er gestand mir, daß er die Sorge um mich nicht länger habe tragen können, daß er einzig gekommen sei, mich zu sehen, wäre es auch nur aus der Ferne. Alles dieses sagte er mir abgebrochen in möglichst kurzen Worten, seine Seele war in seinen Augen. Wir beide sprachen überhaupt nur wenig bei dieser ersten Zusammenkunft, wir konnten nicht reden, wir konnten nichts als uns freuen, uns beiden war in diesem Moment als sei nie eine betrübende Vergangenheit da gewesen.

Am folgenden Morgen kam er wieder, doch neue Zweifel schienen in ihm erwacht, denn trübe und verschlossen stand er vor mir. Ich ertrug diese Veränderung in seinem Betragen mit Gelassenheit und stiller Ergebung, denn ich wußte, ich hatte dies verdient, ich hatte muthwillig sein Zutrauen verscherzt. Doch ich blieb mir gleich, ich dachte [317] und wollte nichts, als offen und unverstellt, ohne List und ohne Hinterhalt mich ihm zeigen wie ich war, so viel ich dies konnte, ohne der Würde meines Geschlechts etwas zu vergeben, und dadurch seine Achtung aufs neue, wenn gleich auf andre Weise, zu verscherzen.

Am dritten Tage kam er um Abschied zu nehmen. Ich führte ihn zur Pröbstin, die durch ungewöhnliches Leiden entkräftet nicht im Stande gewesen war, ihn früher zu sehen. Auch jezt fühlte sie sich noch sehr unwohl, und nur meine dringenden Bitten hatten sie vermocht, meinen Freund bei sich zu empfangen.

Mir lag unendlich viel daran, mir auf diese Weise wenigstens den Trost zu erwerben, zuweilen, wenn er nun ganz von mir geschieden sein würde, seinen Namen nennen, von ihm reden zu hören, wäre es auch im gleichgültigsten Ton; ach und ganz gleichgültig konnte niemand von ihm sprechen, der ihn kannte, das wußte ich wohl.

Ein unerwartetes Geschäft, welches die Pröbstin, krank wie sie war, nicht selbst berichtigen [318] konnte, und das sie mir deshalb auftrug, zwang mich fast in derselben Minute, ihr Zimmer wieder zu verlassen, in welcher ich Bernhard bei ihr einführte. Es hielt beinah eine Stunde lang mich fest, bei meiner Zurückkunft fand ich Bernhard wider mein Erwarten noch bei meiner Freundin, doch sein ganzes Wesen erschien mir auffallend anders als zuvor. Eine ihm sonst fremde Hastigkeit in seinen Bewegungen, das ungewohnte Feuer seiner Augen, der mir nur zu wohl bekannte Zug schmerzlicher Rührung um seine Lippen, alles sagte mir, daß etwas Ungewöhnliches in ihm vorgegangen sein müsse, seit ich das Zimmer verließ. Die Pröbstin lag zwar bleich und erschöpft auf ihrem Ruhebette, aber sie lächelte wie eine Seelige mir entgegen, indem sie mich zu sich winkte, mit leiser Stimme mich bat, den Herrn von Leuen fortzuführen, und sie deshalb mit ihrer krankhaften Schwäche bei ihm zu entschuldigen.

Bernhard folgte mir mit auffallender Eile, da ich ihm zum Fortgehen winkte. Sein Arm zitterte, indem er mich die Treppe hinab führte, er war [319] augenscheinlich in heftiger innerer Bewegung, doch ob in einer schmerzlichen oder freudigen, konnte ich noch immer nicht entscheiden.

Kaum war ich mit ihm in meinem Zimmer allein, als der so lange in seiner Brust mühsam verhaltne Sturm losbrach. ›Anna, theure wiedergefundne Anna!‹ rief er, und betrachtete mich, wie man ein lange schmerzlich vermißtes Kleinod betrachtet, mit zusammengeschlagnen Händen und mit Augen, aus denen das reinste Entzücken leuchtete. ›Ja, Sie sind es,‹ fuhr er mit tief bewegter Stimme fort, ›Sie sind, was sie immer waren, edel und rein und gut wie ein Engel des Himmels. Ohne zu wissen, was sie that, hat Ihre Freundin den Schleier zerrissen, der Sie so lange mir verhüllte, indem sie mit alle der dankbaren innigen Liebe von Ihnen sprach, die sie mit so hohem Rechte für Sie empfindet. Anna, ich kenne jezt Ihr ganzes engelreines Leben, von dem Augenblick an, da ich Unseeliger aus Ihrer Nähe entfloh. Ich kann fast sagen, ich weiß wie Sie jede Viertelstunde jener langen, langen Zeit zugebracht haben. Was Ihr [320] erstes Wiedersehen in diesen Tagen mich ahnen ließ, wogegen ich Verblendeter so lange mich sträubte, alles das ist in dieser Stunde zur klarsten Gewißheit mir geworden und ich bin zugleich der Seeligste und Unseeligste auf Erden!‹

Lieben Kinder, was soll ich euch noch viel von dem Gespräch zweier in Wonne und Schmerz Verlorner erzählen. Bernhard bekannte mir wie er mit tief verwundetem Gemüth, ohne Plan, unfähig sogar einen zu ergreifen, auf seinem Schlosse angelangt sei, wo er seinen Bruder ringend mit wilder Verzweifelung antraf. Alles was Lothario grell und widerwärtig dargestellt hatte, sah ich jezt durch tausend Umstände gemildert, im schönen Licht der edelsten Aufopferung, durch die er einem liebenden Paar das Glück, das ihm selbst auf ewig hoffnungslos aus seinem Leben gerissen schien, erkaufen wollte. In Maltha konnte ich nicht länger weilen, sprach er zu mir, eine nicht zu bekämpfende Sehnsucht, ähnlich dem Heimweh der Schweitzer, hatte mich ergriffen. Ich mußte wieder fort, ich vermochte es nicht, [321] dieses Dasein, in welchem kein Ton aus Ihrem Leben mein Ohr erreichte, länger zu ertragen. Ich nahm Urlaub und ging nach Deutschland zurück, um mir nur die Gewißheit zu verschaffen, daß Sie lebten, daß Sie glücklich wären. So meinte ich es wenigstens, doch als ich nun wieder mit Ihnen dieselbe Luft athmete, genügte mir dieses nicht mehr; ich mußte Sie auch sehen. Anna, wie habe ich Sie wieder gefunden! wie so ganz gleich dem, was Sie in meinen glücklichsten Träumen immer waren!

Leider war auch das Entzücken des gegenwärtigen Augenblicks nichts weiter, als ein flüchtiger Traum von Seeligkeit des Himmels, der nur zu früh der herben Wirklichkeit weichen mußte; denn so wie der erste freudige Rausch nachlies, kam auch die Ahnung über uns, daß wir uns nur gefunden hätten um uns wieder zu verlieren, daß nichts uns bleiben könne, als der feste Glauben, einander stets werth gewesen zu sein und es von neuem ewig zu bleiben. Meine Liebe hatte mein Herz groß gemacht und meinen Muth erhöht, ich [322] vermochte es über mich, dem Geliebten alles zu gestehen und jedes Unrecht ihm abzubitten. Mein ganzes Herz, alle Tiefen meines Gemüths enthüllte ich seinem liebenden Blick. Auch er klagte sich an, und ich genoß die Seeligkeit ihm ebenfalls vergeben zu können, wie er mir vergab.

Als wir gelassner wurden, suchten wir unsre Zukunft und unsre jetzige Lage so klar als möglich zu überschauen, um zu entdecken ob nirgend Rettung für uns sei, ob denn auch gewiß jede Hoffnung verloren wäre das einmal verscherzte Glück uns wieder zu gewinnen; doch ach! wir mußten, wenn gleich mit tiefem Schmerz, einander gestehen daß wir beide, jeder auf seine Weise, alle Möglichkeit einer nähern Verbindung auf immer von uns gewiesen hatten. Bernhard war katholisch, ich hatte dies früher nicht gewußt, obgleich er nie ein Geheimniß daraus machte; denn in meiner damaligen gränzenlosen Gleichgültigkeit gegen alles was auf Religion Bezug hatte, hielt ich es nie der Mühe werth, mich um dergleichen zu bekümmern.

[323] Als Katholik hatte sich Bernhard lebenslänglich dem ehelosen Stande geweiht, indem er das Maltheser Kreuz annahm. Zwar konnte der Pabst sein Ordensgelübde lösen, und es wäre vielleicht nicht schwer geworden diese Gunst von ihm zu erhalten, doch dann verlor Bernhard auch die Einkünfte seiner Komthurey und war, bis auf eine nicht sehr bedeutende Leibrente, die er sich vorbehalten hatte, ganz arm. Sein Bruder, dem er alles übrige was er einst besaß, abgetreten, war selbst beim besten Willen nicht fähig, ihm Beistand zu gewähren, denn bei der verschwenderischen Lebensweise zu der seine junge, an Pracht und Wohlleben gewöhnte Gemalin ihn verführte, war er selbst oft in Verlegenheit und genöthigt Schulden zu machen, indem er die Einkünfte seiner ohnehin sehr gesunknen Besitzungen auf Jahre hinaus verpfändete.

Mich, die protestantische Stiftsdame, band zwar kein Gelübde, aber auch mir hatte mein Vater wenig hinterlassen, obgleich die Einkünfte [324] meines kleinen Kapitals, verbunden mit denen meiner Präbende, für mich hinreichend waren um anständig davon leben zu können. Bernhard schauderte vor dem Gedanken, an seiner Hand mich, die Heißgeliebte, vielleicht in einen bodenlosen Abgrund von Sorgen und Mangel hinabzuziehen, und so blieb uns denn nichts übrig, als Entsagung. Mein Freund war darüber der Verzweiflung nahe, denn er betrachtete unser trauriges Loos als die Folge einer sonst ganz gegen seinen Karakter streitenden Uebereilung, zu der sein damals von allen Seiten schmerzlich bestürmtes Gefühl ihn hingerissen hatte, und die traurige Gewißheit, daß sein Bruder an der Seite der so theuer erkauften Gattin das gehoffte Glück bei weitem nicht gefunden habe, raubte ihm vollends jeden Trost. Doch ich, die ich einen weit herbern Schmerz gekannt, ich war beglückt, wenn gleich unter Thränen. Ich wandte alles an, um auch meinem Freunde die wehmüthige Ruhe mitzutheilen, die seit dieser unvergeßlichen Stunde mich nie wieder ganz verlassen hat; doch leider [325] widerstand sein Kummer lange Zeit allen meinen Bitten und Vorstellungen.

Bernhard, sprach ich zu ihm, glauben Sie mir, von heute an trage ich nicht nur resignirt, sondern auch mit stiller Freude diese Strafe meines früheren Leichtsinns. Von nun an ist mein ganzes Leben einzig dem beseeligenden Bewustsein geweiht, Ihnen anzugehören, und wie auch unser Schicksal sich wenden mag, und wenn wir auch nie wieder wie heute neben einander stehen, wenn ich nach der schmerzlichen Trennung, die uns so nahe bevorsteht, auch nie wieder die geliebte Gestalt meines Freundes wiedersehen soll, so bin und bleibe ich doch in unwandelbarer Treue Ihnen zu eigen und werde nie eines andern sein. Denn wir sind eins auf ewig, und das Gelübde das Sie bindet, fesselt auch mich.

Bernhard erschrack auf das Heftigste, da er diesen Entschluß von mir vernahm; beinahe kniend flehte er mich an, davon abzustehen. ›Sie wissen nicht Anna,‹ rief er, ›Sie wissen nicht zu welchem Opfer Ihr Edelmuth Sie verleiten will. Noch [326] blüht Ihnen das Leben und die nie wiederkehrende Jugend, o verschleudern Sie nicht beide um eines Unglücklichen willen, der gestraft werden muß, weil er an Sie nicht glauben wollte und im blinden Wahn sich selbst Fesseln schmiedete, die er jezt nicht mehr zerreißen darf. Theure Anna, denken Sie von heute an ich sei gestorben, tragen Sie mein Andenken wie das eines einst geliebten Todten in Ihrem reinen treuen Gemüth, erinnern Sie sich meiner mit stiller Wehmuth wenn Sie glücklich sind, mehr darf und kann ich nicht wollen, aber versprechen Sie mir wenigstens, das Glück um meinetwillen nicht von sich zu stoßen, wenn es in einer Ihrer würdigen Gestalt sich Ihnen naht, und das wird es gewiß und bald. Ich bin ja der Welt und dem Glück schon abgestorben, ich bin ja eigentlich nichts weiter mehr als der Leichenstein dessen, was ich einst war.‹

Sein inniges Flehen, die Thräne die sein schönes Auge umdunkelte, rührten mich tief in der Seele, weil er es war der so bat, nicht weil die Gründe die er anführte meinen Vorsatz erschüttert [327] hätten. Ich weinte mit ihm, aber ich blieb fest auf meinem Sinn. Und so schieden wir wieder noch am nämlichen Abende von einander, auf lange, lange Zeit. Denn Bernhards Rückkehr nach Maltha stand unabänderlich fest.

Ich blieb wieder einsam zurück, doch wie ganz anders war alles gegen ehedem. Bernhards Briefe, obgleich die weite Entfernung sie selten genug machte, wurden von nun an das eigentliche Element meines Lebens, meine ganze Existenz drehte sich einzig um ihren Empfang und um die Freude sie zu beantworten. Jeder neue Jahrestag, den wir so weit von einander entfernt erlebten, fand uns fester verbunden, denn unser ganzes Dasein verzweigte sich, durch die schriftliche Mittheilung aller unsrer innern und äußern Begebnisse auf das wunderbarste in einander, und wenn je zwei Menschen eins genannt zu werden verdienten, so waren wir es.

Zuweilen trennte ich mich auf einige Monate von der mir so lieb gewordnen Einsamkeit, um meine im Gewühl der Welt lebende Schwester [328] zu besuchen, doch immer kehrte ich voll heißer Sehnsucht zu ihr wieder zurück, sobald ich dies nur konnte ohne Karolinen wehe zu thun. Wenn ich dann bei meiner Heimkehr die alten Thürme meiner klösterlichen Wohnung wieder von Ferne erblickte, so klopfte mir das Herz in ungestümer Freude, beinahe als wäre ich gewiß, ihn dort wieder zu finden, für den und in dem ich einzig noch lebte; denn ich kannte keine Freude als die Beschäftigung mit ihm, der ich mich nirgend so ungestört ergeben konnte. Die Welt vergaß mich allmählig wie sie alles bald vergißt, und so führte ich ein paar Jahre hindurch ein ernstes ruhiges, ich könnte sogar sagen, ein glückliches Leben, von wenigen gekannt, von keinem beneidet.

In wilden Kämpfen wogte indessen die Welt. Die französische Revolution war ausgebrochen, und alles, alles, sowohl im Reich der Ideen als der Wirklichkeit, näherte sich einer furchtbar gewaltsamen Umwälzung, welcher nur wenige sich ganz zu entziehen vermochten. Auch mein Freund hielt es nicht länger aus, dem allen nur aus der Ferne [329] zuzusehen, er konnte das ruhige stille Leben nicht weiter fortführen, das bei dem gewaltigen Treiben im übrigen Theil von Europa, ihm wie Unthätigkeit vorkam, und er wandte alles an, um sich wenigstens auf einige Zeit davon loszumachen.

Er kam zurück ins Vaterland; vor allem eilte er mich wieder in meiner Einsamkeit aufzusuchen, und wir feierten zum zweitenmal mit entzückender, wenn gleich wehmüthiger Freude, das Fest des Wiedersehens. Dann zog er wieder fort, hinaus in die wildbewegte Welt, um ihr Treiben mit eigenen Augen und in der Nähe zu beobachten. Der trügerische Schimmer ächter Freiheit und hoher Bürgertugend, den anfangs die Revolution um sich verbreitete, hatte bei ihrem ersten Erscheinen die edelste Jugend aller Länder verblendet, und auch Bernhard fühlte sich in der Ferne vom allgemeinen Taumel ergriffen; doch in der Nähe verschwand das Truggebilde gar bald, vor dem richtigen Scharfblick, mit dem die Natur ihn reichlich begabt hatte.

[330] Die verbündeten Mächte standen jezt auf, um mit vereinter Kraft die vielköpfige Hyder der wildesten Anarchie in der Geburt zu ersticken, und auch mein Freund gesellte ihrem Heere sich zu, und theilte mit edlen Genossen alles Unheil jener trüben verhängnißvollen Zeit.

Tief betrübt eilte er nach dem so traurig beendeten Feldzuge zu mir zurück. Er suchte und fand Trost und Beruhigung bei mir, dem einzigen Wesen dem er in der Welt noch angehörte; dann wandte er sich wieder ab, um in einen ausgebreiteteren Wirkungskreis zu treten, den die Gnade eines großen Monarchen ihm bot, welchem er wärend jenes merkwürdigen Krieges glücklich genug gewesen war, näher bekannt zu werden. Seine Ordenspflicht, wenn gleich nicht sein Gelübde, wurden in der Zeit so gut wie vernichtet oder doch aufgehoben, denn auch Maltha fiel durch Feigheit und schändlichen Verrath in die Hände der allgemeinen Welträuber. Völlig frei von dieser Seite begann jezt Bernhard ein sehr bedeutendes, ich darf wohl sagen, ein gewaltiges großes [331] Leben zu führen, zu dessen Förderung er seine vielfachen Verbindungen mit ausgezeichneten und mächtigen Zeitgenossen sehr glücklich zu benutzen wußte. Uebrigens bahnten auch sein Geist, seine wissenschaftliche Bildung, seine Lebenserfahrung, das Einnehmende seiner persönlichen Erscheinung überall ihm den Weg.

Auch in meiner äußern Lage war indessen eine bedeutende Veränderung vorgegangen. Nach langem Kampfe endlich von seinen irdischen schmerzlichen Banden entfesselt, hatte der edle reine Geist meiner Freundin der ewigen Heimath sich zugeschwungen. Seit Jahren mußte ich unter ihrer Aufsicht alle Pflichten, die ihr als Pröbstin des Stiftes oblagen, für sie verwalten, indem ihre große Kränklichkeit ihr nicht mehr erlaubte, dies selbst zu thun. Gegen mein Erwarten und ohne mein Zuthun, ward ich nach ihrem Tode erwählt, als ihre Nachfolgerin ganz an ihre Stelle zu treten und der mir dadurch zufallende Antheil an der Verwaltung der dem Stift angehörenden weitläuftigen Güter, öffnete mir ein weites Feld [332] zur Uebung aller meiner geistigen Kraft, und bot mir tausendfache Gelegenheit, Gutes zu wirken.

Mein Freund lebte indessen als auswärtiger Gesandte seines Monarchen, abwechselnd an mehreren, zum Theil weit entfernten Höfen, und der blendende Glanz der ihn in seinem jezigen Wirkungskreis umgab, verhüllte ihn mir oft. Doch immer blieb er mein auch in der Ferne, immer war ich, und nur ich, die Vertraute seiner Pläne, seiner Ansichten, seiner Handlungen, ich darf sagen jedes Gedankens seiner Seele, und zuweilen gelang es mir sogar durch meinen Rath sowohl als auch auf andere Weise ihm nüzlich zu werden.

Die stete, mitunter thätige Theilnahme an Dingen, die gewöhnlich weit außer dem Bereich des Frauenkreises liegen, gab mir mit der Zeit eine bei meinem Geschlechte ungewöhnliche Festigkeit des Sinnes, und eine ganz andre Art von Bildung, als es die meiner Umgebungen war. Mit meiner innern Kraft wuchs auch meine Gewalt über das Gemüth der meisten die mit mir in irgend eine Art von Berührung kamen; [333] ich führte ein sehr thätiges Leben, das den heilsamsten Einfluß auf meine Gesundheit hatte, und ich darf sagen, ich habe in der langen Zeit manches Gute zu Stande gebracht. Und warum sollte ich es nicht auch euch gestehen, daß ich Viele und zu ihrem Besten beherrscht habe, die angezogen von meiner Art das Leben zu nehmen sich vertrauungsvoll mir ergaben? Doch mein Freund bewahrte mich vor jedem Uebermuth, denn ich war und blieb stets nur das Echo seines Wesens wie seines Lebens.

Nach einigen Jahren kehrte Bernhard aus dem Auslande zurück, um in der Nähe des Monarchen dem er diente, eine sehr bedeutende Stelle zu bekleiden. Wir sahen uns wieder, wir trennten uns von neuem und kehrten wieder zu einander zurück, oft und vielfach im Laufe des Lebens; doch immer fanden wir einander in unveränderter alter Treue wieder, genau so wie wir uns verlassen hatten. Auch brachte ich jezt zuweilen mehrere Monate in Bernhards glänzender Nähe zu, wenn seine Geschäfte ihm nicht erlaubten, [334] mich zur gewohnten Zeit in meiner Einsamkeit aufzusuchen.

Bernhard war jezt wieder reich, es lag in seiner Gewalt sein Gelübde lösen zu lassen, um mir für den Rest unsers Lebens die Hand zu bieten, und gerne hätte er auch vor der Welt bekannt, daß sein Dasein in allem Wechsel seines Geschicks stets einzig mir geweiht gewesen sei. Doch wir beide waren indessen alt geworden; es fehlte uns der Muth zu einem raschen Entschluß, und eine seltsame Scheu, von welcher keines von uns sich genaue Rechenschaft abzulegen vermochte, hinderte uns an unserm so lange bestandnen, so lange uns beglückenden Verhältniß, etwas abzuändern. So vergieng uns wieder ein Jahr nach dem andern, indessen hätten wir wahrscheinlich doch noch dem bei jeder neuen Trennung lebhafter gefühlten Wunsch nachgegeben, in ungestörtem Beisammensein das Ende unsrer Tage vereint abzuwarten – da trat der Tod zwischen uns.

Bernhard starb ferne von mir, in der Schweiz, wohin Geschäfte seines Herrn ihn gerufen hatten.[335] Mein tiefer Schmerz zog mich hin an sein Grab, dort fand ich Thränen und in diesen die erste Erleichterung für meine im bittersten Weh erstarrte Brust.

Der Anblick der unbeschreiblich großen Natur in jenem wundervollen Lande, löste zuerst das eiserne Band, welches mir bis zum Erdrücken das Herz zusammenpreßte, und ich glaubte unaufhaltsam mein Leben auf dem Hügel ausweinen zu müssen, der die geliebte Gestalt mir auf immer entzog. Mein erstarrtes Herz ward wieder weich, mein Auge hob sich wieder fromm hoffend mit Ergebung, zu dem Allwaltenden hinauf, der dort auf seinen ewigen Bergen im riesengroßen Bilde der Natur sich den Sterblichen näher offenbaret. Ich blieb lange genug in der Schweiz, um noch Bernhards Todestag an seinem Grabe zu feiern; das sind nun acht Jahre – eben heute.«


Vite! vite mes enfans, geschwinde ans Fenster! Ciel de Dieu quel train! rief Mamsell Virnot, indem sie den Kopf zur halbgeöffneten Thüre des [336] Wohnzimmers hinein steckte, ihn aber auch sogleich wieder zurückzog und davon eilte. Babet und Agathe saßen eben ganz allein am Kamin, mit ihrer Näharbeit emsig beschäftigt. Agathe nach ihrer hastigen Art, warf im Aufspringen den großen Stickrahmen über den Haufen, verwickelte sich in die Fäden der weit über den Fußboden sich verbreitenden Seidenrollen, zerriß alles ohne sich weiter darum zu kümmern, und eilte das Fenster aufzumachen; denn der immer näher schmetternde Klang vieler unter einander wetteifernder Posthörner lockte sie unwiederstehlich. Auch Babet gesellte sich zu ihr, und beide Mädchen sahen nun mit fröhlicher Neubegier und weit vorgestrecktem Halse dem nahenden Zuge von Reisenden in gespannter Erwartung entgegen.

»Fenster zu!« donnerte Herr Kleeborn, der eben ins Zimmer trat. »Seid ihr von Sinnen, bei dieser Kälte? wollt ihr die Straße heitzen? und da liegen auch alle eure Siebensachen auf dem Fußboden umher! Das ist mir eine feine Wirthschaft.« »Ach Onkelchen,« rief Babet, ohne den Kopf nach ihm umzuwenden, »machen Sie nur geschwinde die [337] Thüre zu, damit es nicht so gräßlich zieht.« »Und schelten Sie nicht so,« sezte Agathe hinzu, indem sie lächelnd ihm winkte. »Kommen Sie lieber selbst und helfen uns zusehen, es langen Bereuter an!« »Warum nicht gar Bereuter,« sprach Babet mit verächtlichem Achselzucken, »die werden auch im Hotel d'Angleterre logiren! Vornehme Herrschaften sind's!«

Der durch das Geplapper der Mädchen wirklich selbst schaulustig gewordne Onkel trat indessen hinter sie, um selbst über ihre Köpfe wegzusehen, und auch die Tante, mit Vicktorinen und Angelika, die Herrn Kleeborn ins Zimmer gefolgt waren, ließen von dem zunehmenden Getöse auf der Straße sich in das zweite Fenster locken.

Sie erblickten das ganze dem Kleebornschen Hause schräge gegenüber liegende Hotel d'Angleterre in der allergeschäftigsten Bewegung. Von dem Heere seiner Kellner umgeben, stand sogar der sonst sehr vornehm gesinnte Gastwirth in der dritten Posizion vor der Thüre seines Hauses, zu den allertiefsten Bücklingen bereit, und das sämmtliche Personal [338] schaute mit erwartungsvollen Gesichtern nach der Seite der Straße hin, von wo der Klang der Posthörner immer lauter und lustiger näher kam. Zur Freude der zahlreich versammelten Straßenjugend führte ein eben vom Pferde gestiegener fantastisch bunt gekleideter Jokey sein dampfendes Thier mit der größten Gelassenheit in der engen volkreichen Straße auf und ab, um es verkühlen zu lassen, während die Hausknechte sich gewaltig abarbeiteten, um einen mit vier Postpferden bespannten, und mit allerlei wunderlich geformten Koffern und Mantelsäcken hochbeladnen Packwagen in die Remise zu schaffen. Dieser Packwagen schien augenscheinlich zu einem sehr eleganten ebenfalls vierspännigen Reisewagen zu gehören, der durch dessen Entfernung erst Platz gewann, vor dem Hotel anzufahren. Zwei junge elegant gekleidete Männer saßen darin, hinten auf einem zu diesem Zweck eingerichteten bequemen Sitz ein Bedienter, vorn auf dem Bock ein glänzender Jäger und ein in grellen Farben geputzter Negerknabe. »Das sind sie,« flüsterten die Mädchen einander zu, und stießen sich nur mit dem Ellenbogen an, ohne einander [339] anzusehen; denn die Fremden, denen der Wirth selbst in tiefster Unterthänigkeit aus dem Wagen half, nahmen alle ihre Aufmerksamkeit in Beschlag. »Ce sont des Mylords anglais,« rief die alte Virnot von unten zum Fenster hinauf, denn auch sie hatte sich von der Neugier in die Hausthüre locken lassen.

»Ein junger reisender Prinz oder Graf mit seinem Hofmeister,« sprach hingegen Herr Kleeborn mit großer Zuversicht und war schon im Begriff die Mädchen vom Fenster wegzujagen und dieses zuzumachen; doch unterließ er es noch einstweilen, da er zu seiner Verwunderung gewahr ward, daß die eben ausgestiegnen Fremden sich nicht ins Haus führen ließen, sondern nebst dem Wirth, den Kellnern und den Bedienten vor demselben stehen blieben, als ob sie auf noch jemanden warten müßten. Zugleich ragten in einiger Entfernung mehrere Pferdeköpfe und Reuter über die zahlreichen Häupter der Zuschauer empor, die im Vorbeigehen, wie das bei solchen Gelegenheiten in großen und in kleinen Städten [340] immer geschieht, auf der Straße stehen geblieben waren.

»Höre der Rechte kommt noch, glaube ich,« flüsterte Babet Agathen zu, »wohl gar ein König, und das sind nur seine Minister.« »Ach laß mich!« erwiederte Agathe, »sieh lieber auf die Pferde, die dort kommen. Die haben ordentlich Mützen mit Ohren auf, und Ueberröcke an, und rothe Brillen auf der Nase.« »Gewiß sind's am Ende doch Bereuter,« jubelte die Kleine, und klatschte vor Freuden in die Hände. »Das wäre nun ganz herrlich! es sind so lange keine da gewesen.«

Drei in grauen roth verbrämten Ueberzügen von oben bis unten dicht verhüllte Pferde nahten jetzt von zwei reitenden Stallbedienten geführt, ein stattlicher in einem modernen dunkelfarbigen Ueberrock gekleideter Mann ritt nebenher. »Siehst du, daß ich Recht habe?« frohlockte Agathe, »das ist der Herr der Truppe, und dort im letzten Wagen sitzen wohl die Damen, die zu ihr gehören. Nicht wahr, Onkelchen, es sind Bereuter?« fragte sie, indem sie sich diesem lächelnd zuwendete. »Fast [341] sieht es mir selbst so aus,« erwiederte Kleeborn. »Dann ist es wahrscheinlich Tourniaire, der Mann ist reich, wie man sagt, aber wundern thut es mich doch, daß er hier im ersten Hotel der Stadt absteigt, mit all' den Leuten und Pferden. Das wird ein schönes Geld kosten.«

»Nun? wer hat nun Recht?« rief jetzt Babet, und bog sich so weit als möglich zum Fenster hinaus. »Wo siehst Du Damen? Der König oder der Prinz kommt dort erst selbst in dem wunderschönen großen Wagen.« »Nein, es ist eine Dame in Herrenkleidern, eiferte Agathe, die Bereuterinnen reisen immer so; Du siehst es ja, sie hat den Hund bei sich, und den Affen; die sollen gewiß im Feuerwerk ihre Künste machen, wie ich das in der Zeitung beschrieben gelesen habe. Die zahmen Hirsche sehe ich noch nicht, die kommen gewiß noch nach, mit dem Uebrigen. Allerliebster bester Onkel, den ersten Tag, wenn die Leute spielen, müssen wir hin! und wie glücklich! nun sehen wir sie alle Tage zweimal mit Musik Parade reiten, wenn sie ausziehen, und wenn sie wiederkommen.«

[342] Langsam, wegen der ziemlich engen mit Fußgängern erfüllten Straße, obgleich mit sechs Postpferden bespannt, nahte jetzt ein wirklich sehr schöner zurückgeschlagener Landauer Wagen, ohne alle Bedienten darauf. Ein einziger junger Mann saß oder lag vielmehr in der allernachlässigsten Stellung in einer Ecke desselben so bequem hingestreckt, als befände er sich zu Hause auf seinem Sofa. Ein prächtiger Pelz von sonderbarem Schnitt verhüllte ihn bis an die Ohren, und eine grüne Staubbrille, die er trug, lieh seinem blassen, doch nicht unangenehmen Gesicht etwas grauenhaft-gespensterartiges; dabei studirte er mit der größten Aufmerksamkeit ein Zeitungsblatt, das er in der Hand hielt, ohne nur einmal den Blick davon zu wenden. Neben ihm hatte ein großer schöner getiegerter Hund seinen Platz, und indem dieser die Vorderpfoten auf die Schultern seines Herrn gelegt hatte, kuckte er so emsig und ehrbar mit in die Zeitung hinein, als ob er etwas davon verstände. Auf dem Rücksitz des Wagens stand ein zierliches mit vergoldetem Gitterwerk geschmücktes Häuschen, doch sein an einer langen [343] Kette in demselben befestigter Bewohner, ein kleiner langgeschwänzter Affe, saß oben auf dem Dache seiner Wohnung, wies den mit lautem Jubel den Wagen umschwärmenden Straßenbuben die Zähne, und warf ihnen alle Ueberbleibsel seiner unterweges gehaltnen Mahlzeiten an die Köpfe, ohne daß sich sein Herr dadurch im mindesten in der Lektüre stören lies, bis der Wagen vor dem Hotel d'Angleterre hielt.

Langsam, als erwache er eben vom süßen Schlummer, stieg der Reisende jetzt aus dem Wagen, pfiff seinem Hunde, der ihm auf den Fersen nachfolgte, winkte dem Neger, ihm den Affen nachzutragen, und ging mit stolzem Schritt in den Gasthof hinein, ohne den Wirth und dessen Komplimente nur eines Blickes zu würdigen. Alle folgten ihm ehrerbietigst, der Wirth, die Bedienten, die Kellner, zuletzt auch die beiden kurz zuvor angekommnen Fremden. Die Pferde wurden fortgeführt, die Zuschauer zerstreuten sich, Herr Kleeborn schloß sorgfältig das Fenster, und das ganze Schauspiel hatte einstweilen sein Ende erreicht.

[344] »Wie Du Dich nun einmal wieder blamirt hast mit Deinen Bereutern,« sprach Babet jezt zu Agathen; »das kommt davon, daß Du immer alles besser wissen willst als andre Leute.« »Aber wer sagt uns denn gewiß, daß es keine sind,« erwiederte ziemlich kleinlaut Agathe, »es können doch noch Bereuter sein, aber recht vornehme, die gradezu aus London hergeritten kommen. »Quer über das mittelländische Meer zu Pferde? nun Du weißt es recht,« rief spöttisch lächelnd Babet. »Stille, stille, um Gotteswillen,« sprach Herr Kleeborn dazwischen, »euer Herr Kandidat möchte auch an Deinen geografischen Kenntnissen wenig Freude haben, wenn er so Dich reden hörte. So viel ist indessen gewiß, Bereuter sind das nun einmal nicht. Sollte einer von den englischen Prinzen? – Doch die sind ja alle viel älter. Ich weiß was ich thue, ich schicke den Johann hinüber.«

Der von seinem Herrn aufs Recognosciren sogleich ausgesandte Bediente kehrte indessen erst zurück, als Kleeborn und die Seinen sich schon eine ziemliche Weile um den reich besetzten Frühstücktisch [345] versammelt hatten, den in großen Handelsstädten das bis in den späten Abend hinausgeschobne Mittagsmahl zu einer Stunde einführte, die in andern Orten schon längst dem Nachmittage angehört. Man hatte schon lange dem Abgesandten ungeduldig entgegen gesehen, denn die Neugier plagte eigentlich den guten Onkel nicht weniger stark als seine Nichten, doch die Nachrichten, welche Johann mitbrachte, waren bei weitem nicht befriedigend. Etwas sehr vornehmes müsse es sein, so viel hatte der Wirth gesagt, weiter aber wußte dieser noch von nichts, als daß die ganze Bel-Etage seines Hauses auf mehrere Wochen in Beschlag genommen worden sei, und daß die in derselben bereits wohnenden Fremden alle über Hals und Kopf andere Zimmer beziehen müßten, was denn natürlicher Weise ohne großen Molest nicht abgehe. »Uebrigens,« erzählte Johann weiter, »übrigens gienge alles im Hotel drunter und drüber, und Koch, Kellner und Stubenmädchen liefen insgesammt mit den Köpfen gegeneinander, um die Fremden nebst ihrer Dienerschaft [346] zu befriedigen, indem alle tausenderlei auf einmal verlangten, und jeder etwas anderes.

Agathe und Babet hatten sich indessen dem Fenster wieder genähert, denn der Affe saß drüben auch auf der Fensterbank, und eine Menge Leute war aufs neue vor dem Hause versammelt, um die Grimassen des possierlichen kleinen Thieres zu belachen. »Du!« flüsterte Agathe, indem sie halb auf den Knien, halb auf einem umgestülpten Fußschemelchen sitzend, ihren Stickrahmen wieder in Ordnung zu bringen suchte, »Du! höre! vielleicht ist es der König von Heidi oder wie er heißt, der die sächsische Mamsell heurathen soll, wie man sagt, und der jetzt kommt, um seine Braut abzuholen. Ach wenn er doch den Grafen Limonade oder Schokolade bei sich hätte!« »Dummes Kind, die sind ja alle gestorben,« belehrte sie Babet. »Ach wie kann ich von allen Leuten wissen, ob sie leben oder todt sind,« erwiederte Agathe, und setzte ergrimmt einer ihr entfliehenden Seidenrolle nach.

»Soviel ist gewiß,« sprach nun Babet mit großer Ueberlegung, nachdem Agathe sich wieder [347] zu ihr gesetzt hatte, »soviel ist gewiß, der Fremde hat zuverlässig und auf jeden Fall Addressen an uns, und denn muß doch der Onkel ihm zu Ehren einen Ball geben, das ist wohl das wenigste, was er für einen solchen Herrn thun kann.« »Nun Gottlob!« rief Agathe und klopfte freudig in die kleinen Hände, »Gottlob, dann kommt doch wieder einmal Leben ins Haus.« »Ja,« sprach Babet, »aber das sage ich Dir, den rosenfarbnen Crepon zieh ich nicht an, die lange Schmidt hat wieder gerade so ein Kleid. Mein neuer Blonden-Tüll muß dazu fertig werden und Du mußt mir dabei helfen.«

»Wenn es ein Prinz wäre, so recht ein wirklicher Prinz!« sprach Agathe sehr bedenklich; »mein Lebtage habe ich noch keinen so recht in der Nähe gesehen. Und wenn er nun gar mit mir tanzte!« »Freilich muß er mit uns tanzen, wir sind ja die Damen vom Hause,« verbesserte Babet sie. »Schade nur, daß mein Theodor nicht dabei ist, der käme gewiß vor Eifersucht von Sinnen, wenn er ansehen müßte, wie mir der Prinz die Cour macht!« »Ich ängstige mich todt, wenn er mit [348] mir tanzt,« rief Agathe, »der tanzt gewiß nichts als Françaisen, wäre nur Monsieur Michaud wieder da, daß man die Pas ein wenig einüben könnte. »Ist's ein Engländer, so tanzt er nur Ekossaisen, aber walzen wird er leider nicht können,« setzte Babet hinzu.

»Pas de Zéphyr,« rief jezt Agathe, indem sie vor dem großen Spiegel mit hochaufgenommenen Röckchen ihre Pas einzuüben versuchte, »tour de bras, en avant! Tournez! rigadon,« rief die sich zu ihr gesellende Babet, »allons, tour de poule

»Tour de Gans, die paßt für euch am besten,« rief Herr Kleeborn lachend dazwischen, indem er den beiden Kindern mit Vergnügen zusah; denn sie waren in diesem Augenblick wirklich allerliebst. »Herr Gott, Onkel, der Fremde kommt gerade ins Haus!« rief jetzt Agathe, die eben einen Blick aufs Fenster geworfen hatte. »Es ist ja der Rechte nicht,« eiferte Babet. »Wie kannst Du das so genau wissen,« erwiederte Agathe. »Allerliebstes, bestes Onkelchen,« setzte sie schmeichelnd hinzu, »thun Sie mir den allereinzigsten Gefallen und [349] lassen ihn hier hereinkommen, ich möchte ihn gar zu gerne in der Nähe sehen. Babet vereinigte ihr Bitten mit dem ihrer Schwester, und der Onkel, der sich eben bei seltner guter Laune befand, that was die Kinder von ihm verlangten.

Herr Wilkinson aus London, so hatte der Fremde sich melden lassen, Herr Wilkinson trat herein, und alle erkannten in ihm sogleich einen der beiden Fremden, die in dem ersten Wagen angelangt waren. Es war ein hübscher nach der allerneuesten englischen Mode gekleideter junger Mann, der in der geöffneten Thüre sich sehr zierlich mit allen fünf Fingern der linken Hand in das Himmelansträubende Haar fuhr, während er mit der rechten den Huth abnahm, erst die Damen, dann den Herrn des Hauses mit einem sehr graziosen Kopfnicken begrüßte und zuletzt zwar mit etwas ausländischem Accent, aber doch in sehr verständlichem Deutsch seine Rede anhob.

»Sir Charles Wißmann trug mir auf ihn den Damen und Herren Kleeborn hochachtungsvoll zu empfehlen« – »Wißmann,« rief Kleeborn ganz [350] entzückt, und schüttelte dem Neuangekommnen recht kräftig die Hand. – »Wißmann, ei lieber Herr Wilkinson so sein Sie mir doch tausendmal willkommen! Warum ist er denn nicht gleich bei mir abgestiegen, ich habe ihn doch eingeladen und seine Zimmer stehen bereit. Babet, geh mein Kind, Mamsell Virnot soll aufschließen und einheizen lassen.« – Babet stieß Agathen an daß diese gehen solle, doch keine von beiden bewegte sich von der Stelle, denn keine hatte Lust den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit aus den Augen zu verlieren.

»Bemühen Sie das Fräulein ja nicht,« bat Wilkinson indessen, »Sir Charles wünscht die Familie nicht zu derangiren, und da wir ziemlich viel Platz brauchen« – »Ich habe Raum genug für alles,« erwiederte Kleeborn; »wahrscheinlich sind Sie des jungen Wißmanns Reisegefährte. Nun auch für Sie ist Platz genug da, und Sie sollen mir ebenfalls ein recht werther Gast sein, lieber Herr Wilkinson. Vier Zimmer stehen bereit, damit werden die beiden jungen Herren schon auskommen. Also der junge Mann, der neben Ihnen saß – denn [351] wir sahen Sie vor dem Hotel aussteigen, müssen Sie wissen, – der junge Mann also ist der Sohn meines alten Freundes? Ey, ey, wer hätte das denken können! Nun, nun, und Sie? wahrscheinlich ebenfalls Kaufmann? Sie haben Recht, das ist der erste Stand der Welt.«

»Verzeihen Sie,« erwiederte der Fremde mit sehr gemeßnem Ton, »verzeihen Sie, mein Herr, ich habe das Vergnügen, dem Sir Charles in der Qualität eines Sekretärs attaschirt zu sein, der junge Mensch aber, den ich neben mir im Wagen hatte, dient ihm als sein Homme de Chambre. Eigentlich gehörte auch er auf den Bock, doch auf Reisen, das wissen Sie gewiß, darf man dergleichen so genau nicht nehmen, und überdem ist Marcellin seinem Herrn so treu ergeben, daß ihm schon deshalb manches nachgesehen wird.« Ein halb gepfiffnes, halb geseufztes sehr gedehntes So war Kleeborns erste Antwort, dann setzte er nach einer ziemlichen Pause mit etwas verlängertem Gesicht hinzu, »also ist Wißmann nicht da? kommt auch vielleicht heute nicht?« »Verzeihen Sie,« erwiederte Wilkinson [352] abermals, »Sie erwähnten vorhin, daß Sie uns vor dem Hotel aussteigen gesehen haben, nun Sir Charles Landauer folgte dicht hinter meiner Batarde.« »Wie? das also? hm hm,« erwiederte Kleeborn mit steigender aber nicht sehr fröhlicher Verwunderung; »und die Pferde« – »Beim Himmel es sind herrliche Thiere!« fiel Wilkinson ein, »wie Sie gewiß unerachtet der Decken bemerkt haben werden. Vor allem der Lichtbraune, Sir Charles eignes Leibpferd. Das muthige Thier läßt sich aber auch von keinem regieren, ausgenommen von seinem Herrn und unserm Stallmeister. Es stammt in gerader Linie von des Herzogs von Bedford berühmten Hector ab. Orion war sein Vater, der fünfmal in Newmarket den Sieg davon trug; die Mutter war Lord Ashfords Molly, die beim letzten Pferderennen in Epsom« – »Sehen Sie einmal!« Mit diesem Ausruf unterbrach Kleeborn in ziemlicher Verwirrung den plötzlich beredt gewordnen Sekretär, der eben im besten Zuge war ihn auf das umständlichste mit den Stammbäumen und allen Heldenthaten der Pferde seines künftigen Schwiegersohnes [353] bekannt zu machen. »Ey, ey, sehen Sie einmal – nun und Herr Wißmann?« »Sir Charles,« erwiederte Wilkinson, »Sir Charles hat mir aufgetragen Ihnen und der Familie seine glückliche Ankunft zu melden. Durch eine eigenhändige Note von ihm wäre dies freilich besser und schicklicher geschehen. Doch Domingo hat den Schlüssel zu seines Herrn Schreibekassette verlegt, und so sieht dieser sich genöthigt, Sie durch mich zu bitten, daß Sie den ihm aufgezwungnen großen Verstoß gegen die Regel freundlich entschuldigen mögen; gewiß nur die Noth konnte ihn dazu veranlassen, denn die Schreibmaterialien, welche der Wirth herbeibrachte, wurden leider sämmtlich total unbrauchbar befunden.« »Das wundert mich, der Mann ist doch sonst so ordentlich,« erwiederte Kleeborn. »Total unbrauchbar, auf Ehre,« wiederholte Wilkinson.

»Uebrigens,« sezte er hinzu, »übrigens bittet Sir Charles um die Erlaubniß sich Ihnen und den Damen noch heute Abend nach dem Mittagsessen vorstellen zu dürfen. Er wünscht nur zuvor die Reisekleider abzuwerfen und sich von der Ermüdung [354] ein wenig zu erholen. Denn wir sind gewohnt sehr schnell zu reisen und die Wege hier herum sind fürchterlich schlecht.«

Beladen mit Höflichkeitsbezeugungen aller Art verlies der Sekretär endlich das Zimmer und Herr Kleeborn gewann nun Zeit, sich von dem Erstaunen über alles was er vernommen ein wenig zu erholen. Sein Gesicht glich einem Apriltage; in diesem Augenblick glänzte es im hellsten Sonnenschein der Freude, im nächsten schwebten dunkle nahen Sturm verkündende Wolken des Unmuths darüber hin. Leise pfeifend schritt er aus einer Ecke des Zimmers in die andere, wie er immer zu thun pflegte, wenn irgend etwas ihn aus der Fassung gebracht hatte. Alle übrigen im Zimmer schienen ebenfalls mehr oder weniger gespannt zu seyn. Babet und Agathe standen wie versteinert da, denn der Prinz und der Sekretär, Sir Charles und die Bereuter, wogten mit großem Tumult in ihren Köpfen herum. Angelika, die an allem bisher Vorgegangenen wenig Theilnahme bezeigte, schlich sich jezt leise zu Vicktorinen hin, und über die Lehne ihres [355] Stuhls gebeugt, betrachtete sie die geliebte Freundin mit dem Ausdruck inniger und zugleich sorgenvoller Liebe; hingegen Vicktorine selbst, obgleich auffallend bleicher als sonst, saß mit stolz erhabnem Nacken und blitzenden Augen neben der Tante, wie jemand der einem nahen schweren Kampf muthig entgegensieht. Um Anna's feine Lippen schwebte indessen ein fast unmerkliches ein wenig spöttisches Lächeln, während ihr klares Auge jede Bewegung von Vicktorinens Vater verfolgte. Dieser maß noch ein paarmal mit großen Schritten das Zimmer, blieb dann plötzlich vor Vicktorinen stehen als ob er etwas sagen wollte, kehrte eben so plötzlich wieder um, und begann von neuem seine Promenade. Dabei herrschte eine Todtenstille, die niemand der Anwesenden zu unterbrechen wagen mochte.

»Hm, ja,« fing Kleeborn endlich halb für sich, halb zu den andern an, »hm, ja einen Sekretär braucht er als holländischer Konsul in London, obgleich auf Reisen sollte ich meynen – nun die Zeiten haben sich sehr geändert seit ich jung war. Freilich ich bin so nicht gereist, doch wie gesagt, andre [356] Zeiten andre Sitten, und wer einen Rückhalt hat wie dieser junge Mann, der kann – hm.« Nun folgte wieder eine neue Pause und eine neue Promenade, dann blieb der Alte abermals vor seiner Tochter stehen. »Vicktorine,« begann er, »Du hast vernommen wer angekommen ist, wen wir erwarten wollte ich sagen. Darum dächte ich, mein Kind, Du benutztest noch die Zeit vor Tische um dich ein wenig zu putzen.« »Onkelchen, das sollten wir ja wohl auch,« rief Babet mit ihrem hellen Stimmchen dazwischen. »Seid Ihr auch noch da?« fuhr Kleeborn sie an, »das könnt Ihr halten wie Ihr wollt, wer denkt an Euch!« Leise wie eine Maus schlich Babet jetzt über den Teppich weg der Thüre zu, winkte Agathen und beide Mädchen verschwanden. Auch Angelika folgte ihnen, zufolge einem von der Tante erhaltenen Wink sich ebenfalls zu entfernen.

»Fräulein Schwester,« hob Kleeborn jetzt an, indem er sich zu der Tante setzte und ihre Hand ergriff, »liebes Fräulein Schwester, Sie sind eine sehr kluge Dame, das weiß ich, und Sie werden mich [357] daher verstehen wie billig. Dieser junge Mann, den wir vor einer Stunde, freilich mit ziemlich auffallendem Prunk, dort drüben ankommen sahen, ist wie ich nun weiß der Sohn eines der ersten Häuser in Amsterdam, dessen Reichthümer ihn allerdings berechtigen mehr Aufwand zu machen als tausend andere nicht dürfen. Und ich muß es in einiger Hinsicht sogar loben, daß er beflissen ist gerade hier sich recht glänzend zu zeigen. Ihrer bekannten großen Einsicht wird es nicht entgehen wie ich dieses meyne, doch zur Sache. Der alte Wißmann hat vor zehn Jahren, da alle Welt mich verlies, Freunde und Verwandte – ja Fräulein Schwester, Verwandte, auf die ich rechnen zu dürfen wohl befugt war, mein Blut kocht noch wenn ich daran gedenke, doch Sie sind unschuldig daran, Sie können nichts dafür – Genug Fräulein Schwester, der Vater dieses jungen Mannes hat mir damals mehr als das Leben gerettet – selbst du Vicktorine verdankst ihm – doch Basta, es ist gottlob alles vorüber und mit Ehren überstanden. So viel ist indessen gewiß, ohne meinen[358] alten Amsterdammer Freund wären wir alle nicht wo wir sind, und ich selbst vielleicht längst – doch wie gesagt das ist vorbei. Was aber der Vater an mir that will ich dem Sohne vergelten, das steht so fest wie das Wort eines ehrlichen Mannes es stellen kann, und daß es die Pflicht meines einzigen Kindes sey mir dabei zu helfen, wird wohl niemand mir abstreiten – und darum geh, Vicktorine, dich umzukleiden.«

»Ich will es thun, wenn Sie durchaus es verlangen,« erwiederte Vicktorine, mit bewegterer Stimme als dieser Befehl ihres Vaters es zu erfordern schien, »ich will es thun, aber erlauben Sie mir zu bemerken, daß ich die Ueberzeugung habe, gerade so wie ich hier bin jeden Besuch mit Anstand annehmen zu dürfen. Und obgleich ich bereit bin den Sohn eines Freundes, den Sie so hoch stellen, mit aller der Zuvorkommenheit zu empfangen, die mir als Ihre Tochter ziemt, so sehe ich doch nicht recht ein warum ich gerade mit ihm in diesem Punkt eine Ausnahme machen soll.« »Eine Ausnahme!« zürnte Kleeborn. »Ja mein Vater, [359] eine Ausnahme,« erwiederte Vicktorine bescheiden, aber fest. »Ich bitte Sie recht kindlich, vergessen Sie eben so wenig die Vergangenheit, als ich meine Pflicht gegen Sie je vergessen werde. Mein Wort muß mir nicht minder heilig seyn als Ihnen das Ihre, denn ich bin Ihre Tochter, und ich werde dem Sohne Ihres Freundes die Achtung, die ich als solchem ihm schuldig bin, hauptsächlich dadurch beweisen, daß ich ihn keinen Augenblick über mich selbst, über mein Herz, über meine Lage, über meinen unabänderlichen Entschluß in Zweifel lasse, sobald er mich in den Fall setzt, mich gegen ihn erklären zu müssen. Ihnen, mein Vater, ist alles dies kein Geheimniß mehr, daher bitte ich Sie« – »Vicktorine,« schrie Kleeborn, und sprang mit von Wuth entstellten Zügen auf – da trat die Tante beschwichtigend zwischen Vater und Tochter. »Seid Ihr nicht wunderliche Leute!« rief sie lächelnd. »Ich sehe jetzt sehr wohl ein, wovon unter Euch beiden eigentlich die Rede ist; aber denkst Du denn, Vicktorine, daß ein junger Mann von Welt wie dieser, sich gleich in der [360] ersten Stunde wie ein Hochzeitbitter vom Dorfe vor Dich hinstellen und seinen Spruch anheben wird? Und Sie lieber Herr Bruder, Sie sehen es wohl ein, daß Vicktorine noch wie eine kaum vom Tode Genesene betrachtet werden muß. Kranke Kinder werden überdem immer ein wenig verzogen und brauchen hinterher viele Nachsicht. Daher bitte ich, lassen Sie der Zeit doch ihre Rechte, wir werden ja sehen« – »Ja, ja, Sie sprechen sehr vernünftig Fräulein Schwester,« erwiederte Kleeborn, augenscheinlich von ihren Worten beruhigt, »Sie haben recht, die Zeit, die Zeit allein wirkt Wunder, und mit der Zeit giebt sich alles, alles, alles findet sich mit der Zeit.«

Mit diesem seinem liebsten und gewöhnlichsten Trost verlies der alte Herr das Zimmer, und eilte der Börse zu, welche er über die Begebenheiten dieses Vormittages zum erstenmal in seinem Leben fast vergessen hätte.


[361] Schon war das späte, diesmal ziemlich stumm eingenommene Mittagsmahl im Kleebornschen Hause längst vorüber und der Abend rückte mit starken Schritten der Nacht entgegen. Die lange Reihe der Fenster des ersten Stocks im Hotel d' Angleterre schimmerte in fast blendender Erleuchtung, als würde dort ein großes Fest gefeiert, während Kleeborn in seinem Hause noch immer und mit steigender Ungeduld in dem zum Empfange der Fremden bestimmten Zimmer auf und abgehend, den ihm angekündigten Besuch vergebens erwartete. »So wollte ich doch!« rief er mit dem Fuße stampfend, als die Glocke zehn schlug, doch in diesem Augenblick ward die Thüre aufgerissen, Sir Charles, wie aus dem allerneuesten Modejournal heraus geschnitten, trat ein und die Freude über seine Gegenwart verscheuchte blitzschnell von der Stirne des alten Herrn jede Spur des vorigen Unmuthes.

Ein halbes Stündchen verging beiden unter gegenseitigen Mittheilungen, ehe sie sich dessen versahen. Doch nun ergriff Herr Kleeborn den [362] Arm seines jungen Freundes, um ihn in das Wohnzimmer seiner Familie zu führen. Schon waren sie oben auf dem Vorsaal angelangt, da stürmte der alte Müller hinter ihnen drein die Treppe hinauf, »Herr Kleeborn ein Wort!« rief er athemlos, »eben kommt eine Stafette an Sie; vermuthlich die lange erwartete Nachricht von« – »Ey der Tausend!« rief Kleeborn ganz entzückt, indem er stille stand. »Bester Herr Wißmann,« sprach er nach kurzem Bedenken, »Sie verzeihen mir gewiß; in zehn Minuten bin ich wieder bei Ihnen. Nur hier herein unterdessen, Sie finden hier meine Tochter.« Mit diesen Worten öffnete er eine Thüre, schob ohne sich viel umzusehen den jungen Mann ins Wohnzimmer hinein, und eilte, den Kopf voll von dem ihn unten erwartenden Geschäft, zurück in sein Komtoir.


[363] Ohnerachtet der möglichst großen, aus der vortheilhaftesten Meinung von sich selbst entspringenden Sicherheit, die ihm eigen war, fühlte Sir Charles sich, wenn gleich vielleicht nicht verlegen, dennoch wenigstens etwas genirt, als er auf so seltsame Weise der ihm bestimmten Braut entgegen geschoben ward. Doch die junge Dame, die er ganz allein im Zimmer antraf, empfing ihn mit so überraschender Freundlichkeit, daß davor jede Anwandlung dieses ihm sonst ganz fremden Gefühls, wie Nebel vor der Sonne zerrann. Die Art, mit der man durch zwei schnell auf einander folgende Knixe seinen ersten Gruß erwiederte, die beiden Grübchen mitten in den Pfirsichwangen des etwas verschämt ihn anlächelnden Gesichtchens, und vollends die zuvorkommende Pantomime, mit der man ihn, ohne ein verständliches Wort hervorbringen zu können, zum Sitzen im Sopha nöthigte; alles dieses war weit mehr, als es bedurfte, um einen jungen Mann seiner Art wieder zum gewohnten Selbstgefühle zu verhelfen. Mit aller graziösen Nachlässigkeit eines ächt englischen Dandys im [364] größten Styl warf er sich daher auf den ersten Wink der Schönen neben ihr in eine Sophaecke hin, und betrachtete sie, ohne sich dabei den mindesten Zwang anzuthun, durch seine Brille vom schildkrotenem Kamme, der auf ihren Scheitel die reiche Fülle der lichtbraunen glänzenden Zöpfe und Locken zusammenhielt, bis zu der Spitze des netten, verlegen spielenden Füßchens, das die Konturen der großen Rosen auf dem Fußteppich nachzuzeichnen versuchte. Die zwischen den frischen, etwas aufgeworfnen Lippen hervorglänzenden Perlzähnchen, die schelmisch-lächelnden Augen, das allerliebste Stumpfnäschen, der schwanenweiße Hals, die runden Aermchen mit den kleinen Händen voller Grübchen, kurz das ganze, wie aus Rosen und Schnee zusammengesetzte, runde und dabei doch zierliche Figürchen, gefiel ihm ausnehmend wohl, und immer besser, je länger er hinsah. Endlich wagte es auch seine Nachbarin, den scheuen Blick, dann und wann zu ihm zu erheben. Freilich lies sie ihn anfangs gleich wieder sinken, doch das gab sich allmählig; sie gewann sogar bald Muth genug [365] um mit naiver Koketterie alle ihre kleinen Künste vor ihm spielen zu lassen, und that alles mögliche, um sich ihm im vortheilhaftesten Lichte zu zeigen. Da sie instinctartig fühlen mochte, daß dieses nicht ohne Erfolg geschah, so waren beide in kurzer Zeit mit sich sowohl, als miteinander, auf das Vollkommenste zufrieden, und vermißten nicht im mindesten die Gegenwart des Herrn Kleeborn, der sie eigentlich einander hätte vorstellen sollen. Freilich drehte sich anfangs das Gespräch nur schneckenartig-langsam um Wege und Wetter und um das Ermüdende einer langen Reise im Winter, doch fühlten beide durchaus keine Langeweile dabei. Als nun vollends die herrlichen Pferde des Sir Charles erwähnt wurden, so gewann auch die Unterhaltung einen lebhafteren Gang, denn man kam auf die natürlichste Weise von der Welt von diesen zu dem allerliebsten Affen, dem interessanten Reisegefährten seines Herrn. Sir Charles erzählte einige lustige Anekdoten, in welchen sein Koko die Hauptrolle spielte; das hübsche Kind mußte über diese Geschichtchen lachen, und da ihr das ganz [366] allerliebst stand, so erzählte Sir Charles immer mehr, und seine Zuhörerin lachte immer herzlicher. Beide dachten gar nicht daran, dieser Unterhaltung müde zu werden, und Sir Charles würde gewiß, wer weiß wie lange, noch da geblieben seyn, ohne daß es ihm eingefallen wäre, fortgehen zu wollen. Doch nach einem halben Stündchen schickte Herr Kleeborn hinauf, lies sein Nichtwiedererscheinen für diesen Abend durch unerwartete wichtige Geschäfte entschuldigen, die ihn bis tief in die Nacht hinein in seinem Komtoir festzuhalten drohten, und dies war nun freilich ein Zeichen zum Aufbruch, dem Sir Charles, wenn gleich ungern, dennoch Folge zu leisten, nicht umhin konnte.

Schön ist sie eigentlich nicht, meine Braut, aber verteufelt hübsch, murmelte er vor sich hin, als er höchst zufrieden, ohne eine Ahnung davon, daß er sich in der Person geirrt haben könne, quer über die Straße hinging, um sich in seine Wohnung zu begeben. Nach englischer Sitte hatte er im Laufe des Gesprächs Herrn Kleeborn stets nur bei seinem Namen genannt und ihn nie als [367] den Vater der jungen Dame, zu der er sprach, näher bezeichnet. In Babets Plan – denn daß es diese und nicht Vicktorine war, die er im Wohnzimmer antraf, hat man gewiß längst errathen – in Babets Plan also, konnte diese Verwechselung freilich nicht liegen, als sie ganz allein im Wohnzimmer blieb, nachdem Anna, Agathe und Vicktorine des langen Wartens müde, sich aus demselben zurückzogen. Es war ihr nur verdrüßlich gewesen, sich so um nichts und wieder nichts geputzt zu haben, deshalb beschloß sie bei sich selbst und ohne ein Wort davon zu sagen, es doch noch ein wenig abzuwarten, ob der Fremde nicht noch kommen sollte, dessen Ankunft am Morgen ihre ganze Neubegier bis zum Peinlichen erregt hatte. Als er nun wirklich da war, und vollends sie für Vicktorinen hielt, was sie sehr bald bemerkte, schwieg sie anfangs, weil sie in der Verlegenheit nicht wußte wie sie sich ihm zu erkennen geben sollte; doch dieses verlegene Schweigen verwandelte sich mit der Zeit in ein absichtliches, da sie das Wohlgefallen entdeckte, mit welchem der junge Mann [368] sie betrachtete. »Hat er mich doch nicht nach meinem Namen gefragt«, dachte sie, und wenn ich ihm nun besser gefalle als Vicktorine, ists meine Schuld? Es wäre doch albern von mir, wenn ich ihn gleich zurückwiese, und am Ende thue ich wohl noch gar Vicktorinen einen Gefallen, denn die scheint ganz etwas anderes im Kopfe zu haben als diesen Sir Charles, den Papa ihr gern zuweisen möchte, wie ich wohl merke.

Voll von der Eroberung, die sie so ganz unverhofft noch am späten Abend gemacht zu haben glaubte, eilte Babet, gleich nachdem Sir Charles fortgegangen war, zu ihrer Schwester, um ihr dies wichtige Ereigniß mitzutheilen; doch Agathe war schon im Einschlafen begriffen, und bezeigte wenig Theilnahme. »Geh' mir,« sprach sie endlich, da Babet gar nicht aufhören wollte davon zu reden, »geh' mir mit deinem Engländer. Wenn es kein Prinz und kein Bereuter ist, so verlange ich gar nichts von ihm zu wissen. Und nimm es mir nicht übel, aber ich kann es von Dir auch nicht loben, daß Du Dich gleich so mit dem wildfremden Manne einläßt, [369] ohne auch nur ein bischen an deinen Theodor zu denken. Ich könnte so nicht seyn, und wenn er sich sechs Brillen übereinander aufsetzte. Und nun gute Nacht.«

In Babets Köpfchen, wie in ihrem Herzen, wogte es indessen viel zu bunt durch einander, als daß sie sich so hätte zufrieden geben können. Sie bedurfte durchaus gleich auf der Stelle einer Vertrauten, und schlich sich also, spät wie es war, zu Vicktorinen, die sie freilich noch wachend fand. Aber zu ihrem großen Schrecken traf sie auch die Tante noch bei ihr an. Indessen faßte sie sich schnell und war obendrein listig genug, ihr Zusammentreffen mit Sir Charles und daß er sie für Vicktorinen angesehen habe, als einen lustigen Scherz jetzt zu erzählen; doch statt des gehofften Beifalls erhielt sie von der Tante nur einen sehr ernsten Verweis über ihren unvorsichtigen Leichtsinn, und wurde noch obendrein gefragt: was sie denn morgen anzufangen gedenke, wenn Sir Charles die wirkliche Vicktorine sehen und so den ihm gespielten Betrug entdecken würde? Babet [370] machte sich ohne Antwort ganz trübselig wieder davon, denn dieses war ihr in der Freude ihres Herzens noch gar nicht eingefallen.

Halb ärgerlich, halb ängstlich, denn der Tante letzte Bemerkung hatte sie schwer getroffen, wollte Babet eben wieder den Weg nach ihrem Zimmer eingeschlagen, da hörte sie auf dem Gange Angelikas Harfentöne durch die stille Nacht. Das Bedürfniß, von dem zu reden, was ihr in diesem Augenblick auf dem Herzen lastete, war zu groß, es trieb sie daher auch noch zu dieser hin, so wenig sie übrigens auch sonst gewohnt war mit der ernsten Angelika nach Mädchenart vertraulich zu verkehren. Im Grunde, dachte sie, ist Angelika doch ein gutes Kind und auch verständig, vielleicht kann sie mir rathen, was ich morgen anfangen soll, um nicht vor allen Leuten gar zu beschämt da zu stehen. Doch die arme Babet war einmal dazu bestimmt, an diesem Abend durchaus keine Theilnahme finden zu können. Das blasse Gesicht auf die Harfe gelehnt, schien Angelika dem raschen Plaudern zwar mit ihrer gewohnten stillen Freundlichkeit zuzuhören; aber es [371] ging beinahe ganz unverständlich an ihr vorüber. Mühsam und vergebens suchte sie ihren schwermüthigen Träumen sich zu entreißen, denen sie in der Einsamkeit der Nacht sich so gerne überließ; sie vermochte es nicht einmal, den Sinn von Babets Worten zu fassen, und antwortete ihr so unpassend und abgebrochen, daß diese die Geduld dabei verlor und endlich fortging, um mit ihrem Kopfkissen, dem einzigen Vertrauten, der ihr noch blieb, sich besser zu berathen.

Babet verband eigentlich mit einer sehr lebendigen Phantasie ein eiskaltes Gemüth, wie sich denn das im Leben oft genug zusammen findet. Noch nie war ein wahrhaft ernster Gedanke in ihr aufgekommen, aber sie hatte in ihrer Pensionsanstalt schon ganze Leihbibliotheken erschöpft. Langeweile und das Bedürfniß einer Abwechselung in ihrem einförmigen Leben hatten damals die Lust, Romane zu lesen, bis zu einer Art von Leidenschaft in ihr gesteigert, und die kleinen Ränke, welche sie anwenden mußte, um diese ihre Lieblingsneigung ganz unbemerkt zu befriedigen, erhöhte ihre Freude beträchtlich [372] daran. So kam sie denn, den Kopf voll von den abentheuerlichsten Geschichten, als ein nun erwachsenes Mädchen, in das glänzende Haus ihres Oheims, und da aus der Sucht, Romane und nichts als Romane lesen zu wollen, gewöhnlich auch die, dergleichen zu spielen, entspringt, so sehnte sich Babet jetzt nur vor allem darnach, recht bald zu erleben, was sie oft mit dem innigsten Antheile gelesen hatte. All' ihr Sinnen und Trachten ging nur darauf hin, als die Heldin einer Liebesgeschichte zu glänzen. Der Student Theodor war zufälliger Weise der Erste, der ihr beim Eintritt in die Welt mehr als gewöhnliche Aufmerksamkeit bezeigte, und was war daher natürlicher, als daß sie sogleich in diesem ihren Helden gefunden zu haben wähnte. Es fiel ihr gar nicht ein, daß der ebenfalls sehr junge Mann, um nicht ganz müssig zu seyn, nach Art der Mehrsten seines Alters, sie während seines Aufenthaltes in ihrer Nähe zur Dame seines Herzens erwählt haben könne; sie dachte weiter gar nicht darüber nach, sondern begann im Gegentheil sogleich, einen Roman mit ihm[373] zu spielen, der, so viel Redens sie davon auch gegen Agathen machte, dennoch nur in ihrem Köpfchen seine Existenz fand. Alles ging vortrefflich, so lange die Ferien dauerten, doch diese zogen vorüber, Theodor kehrte nach Göttingen zurück, und der Roman hatte ein Ende. Babet wußte nicht einmal, ob sie den Geliebten jemals wieder sehen würde, aber er hatte ihr eine noch aufgeregtere Phantasie und eine sehr fühlbare Oede in ihrem Leben hinterlassen, die sie mit jedem Tage mißmuthiger stimmten. Sie suchte zwar noch eine Zeit lang sich mit einer eingebildeten Trauer um den Entfernten hinzuhalten, doch dieses ermüdete sie sehr bald; sie bedurfte eines neuen Gegenstandes, um wieder zu einiger Zufriedenheit zu gelangen, und so war ihr Sir Charles in diesem Augenblick eine höchst willkommene Erscheinung. Auch trugen der ihn umgebende Glanz und die Hoffnung, als Siegerin neben der ihr sonst überall weit vorgezognen Vicktorine in die Schranken zu treten, nicht wenig dazu bei, ihrer Eitelkeit zu schmeicheln, indem zugleich das Fremdartige seiner Umgebungen [374] sowohl, als seiner Persönlichkeit, ihre Phantasie auf alle Weise in Anspruch nahm.

Sir Charles Gestalt eignete sich übrigens ganz vortrefflich dazu, auf ein Mädchen wie Babet den angenehmsten Eindruck zu machen. Man konnte ihn eigentlich einen schönen Mann nennen, obgleich sein ganzes Wesen auf jenen Ueberdruß am Leben hindeutete, den wir in unsern Tagen aus dem frühen, keine Mäßigung kennenden Genuß aller Freuden desselben nur zu oft in der blühendsten Jugendzeit entstehen sehen. Das Erschlaffte in den regelmäßigen Zügen seines wirklich angenehmen Gesichts, das unnatürlich Matte in seiner Haltung, dem er durch angenommene modische Gleichgültigkeit gegen Alles außer sich noch nachzuhelfen strebte, gaben ihm in Babets Augen ein höchst interessantes Ansehen, und machten ihn den Helden aus ihren Romanen vollkommen ähnlich.

In dieser ersten schlaflosen Nacht ihres Lebens dachte sie so lange an ihn und wiederholte sich so lange jedes seiner Worte, jeden seiner Blicke, deren Unbescheidenheit sie nicht gefühlt hatte, bis sie überzeugt [375] war, nicht nur ihn zu lieben, sondern auch auf ihn den tiefsten günstigsten Eindruck gemacht zu haben. Daß er, nicht ohne ihr Zuthun, sie für Vicktorinen gehalten habe, erschien ihr zuletzt in einem so romantischen Lichte, daß sie sich alle Bemerkungen der Tante darüber aus dem Sinne schlug, die sie kurz vorher so ängstlich gemacht hatten. Sie überzeugte sich zuletzt sogar, bei der morgen zu erwartenden Entdeckung in seinen Augen nur gewinnen zu können, und wandte sich nun ihrer Garderobe zu, die sie in Gedanken eine vollständige Revüe passiren lies, um für den kommenden großen Tag das Schicklichste daraus zu wählen, bis sie endlich bei fast anbrechenden Morgen ruhig einschlief, um von Sir Charles und dem neuen Rosa-Kleide zu träumen.

[1]

Zweiter Band

Schon seit wenigstens einer Stunde erwartete die zahlreich versammelte Gesellschaft, welche Herr Kleeborn am folgenden Tage zu einem glänzenden Mittagsmahle eingeladen, einzig nur noch den Helden des Festes, Sir Charles, der immer noch ausblieb. Die alte Virnot wandelte unablässig in jener, allen guten Hausfrauen bei ähnlichen Fällen wohlbekannten Verzweiflung, zwischen Speisesaal und Küche auf und ab, und war nahe daran, bittere Thränen zu vergießen über das Mißlingen, welches durch diese Verzögerung ihren herrlichsten Vorbereitungen drohte. Herr Kleeborn sah alle fünf Minuten nach der Uhr, und die Tante erschöpfte vergebens ihre Unterhaltungsgabe, um den Gästen dieses [1] peinliche Erwarten minder auffallend zu machen. Endlich schlug es sieben Uhr, die Flügelthüren flogen auf und Sir Charles trat, gefolgt von seinem Secretär, mit so vornehm-nachlässigem Anstande in den Saal, daß Herr Kleeborn wirklich den Muth verlor, ihm, wie er es sich doch vorgenommen, seinen Verdruß über die verspätete Erscheinung merken zu lassen. Sir Charles begrüßte den Herrn des Hauses nur mit einer stummen Verbeugung, und ging dann, die ganze übrige Gesellschaft übersehend, gerade auf Babet los, die, schön geputzt, aber doch ziem lich verlegen, am entgegengesetzten Ende des Saales stand.

Doch Herr Kleeborn ergriff auf halbem Wege seinen Arm. »Hier, Herr Wißmann,« sprach er, »hier steht meine Tochter, neben ihrer Tante der hochwürdigen Frau Pröbstin von Falkenhayn.« Sir Charles stutzte, wie Jeder, dem etwas ganz Unerwartetes entgegen kommt; die würdige Gestalt der Tante machte indessen auch auf ihn den Eindruck, den sie Allen gab; begrüßte sie ehrerbietig, und wandte sich dann zu Vicktorinen, die im reichsten [2] Schmucke, wie ihr Vater es verlangt hatte, stolz und hoch, gleich einer Königin, dastand, und ihn vornehm kalt mit einer sehr abgemeßnen Verneigung empfing. Sir Charles Verwunderung stieg sichtbar.

»Ihr ältestes Fräulein Tochter?« fragte er endlich Herrn Kleeborn. »Meine einzige,« war die Antwort. »Sie wissen es ja, ich habe nur dies eine Kind, und Sie haben ja auch meine Vicktorine schon gestern Abend gesehen. Oder etwa nicht?«

Sir Charles war wirklich für den Augenblick um eine Antwort verlegen, doch ein Blick auf Babet, die sich indessen dicht hinter die Tante zu schleichen gewußt hatte, setzte den geübten Weltmann schnell ins Klare: denn Babet hob, wie in höchster Angst, ihr Auge bittend zu ihm auf, schlug es aber auch gleich wieder nieder, während die glühendste Purpurröthe ihren Hals und Gesicht übergoß.

Zwar glitt bei dieser Entdeckung ein leichtes, halb spöttisches Lächeln über Sir Charles Züge hin, aber er fühlte dennoch, daß er hier etwas zu schonen habe, und murmelte daher nur einige unverständliche[3] Worte, die Herr Kleeborn zum Glück nicht beachtete, weil eben die Thüre des Speisesaals aufging, und die Gesellschaft sich hineinbegab.

»Ich vergaß es gestern, daß Aurora immer der Sonne voranzuschreiten pflegt,« flüsterte Sir Charles Vicktorinen zu, indem er ihr den Arm bot; doch Vicktorine erwiederte ihm keine Sylbe, stumm und kalt ließ sie sich von ihm an die Tafel führen, und so verlor auch er die Lust, das Gespräch fortzusetzen und schwieg halbbeleidigt, während Babet Gott dankte, daß die Sache noch so leidlich abgelaufen war.

Bei festlichen Mahlzeiten, wie diese, pflegt gewöhnlich anfangs in der Gesellschaft eine allgemeine Stille einzutreten, und Sir Charles benutzte diese Zeit, um die ihm wirklich bestimmte Braut, die in aller der graziösen Schroffheit, deren sie, sobald sie es wollte, fähig war, an seiner Seite saß, mit der gleich einer jungen Rose blühenden Babet zu vergleichen. Letztere hatte es künstlich genug so einzurichten gewußt, daß sie ihm schräg gegenüber [4] ihren Platz fand. Er konnte es sich zwar nicht verhehlen, daß diese neben Vicktorinens blendender Schönheit zu einem artigen Zöfchen herabsank, aber sie gefiel ihm darum nicht minder. Ja, es wandelte ihn sogar eine Art von innerlichem Aerger darüber an, daß sie die Rechte nicht sey, besonders da seine Nachbarin alles, was er sagte, nur mit höflicher, aber desto zurückstoßender Kälte aufnahm, während jene nicht nur mit angestrengter Aufmerksamkeit jedes seiner Worte belauschte und mit der holdseeligsten Freundlichkeit belächelte, sondern es auch übrigens an schmachtenden Blicken, bedeutendem Erröthen und ähnlichen Zeichen der Theilnahme nicht fehlen ließ.

Gegen die Mitte der Mahlzeit belebte sich das Gespräch und ward allgemeiner; zugleich begann auch Herr Kleeborn, sich queer über den Tisch hin bei Sir Charles nach mehreren seiner alten Freunde in London zu erkundigen, und ihn über ihr persönliches Befinden und ihre häuslichen Zustände zu befragen. Doch er erhielt nur wenige und sehr unbefriedigende Antworten, zuletzt gar die mit vornehmer [5] Kälte sehr lakonisch hingeworfene Versicherung, daß Sir Charles alle diese Herren zwar im Geschäftswege dem Namen nach kenne, aber keinesweges sonst noch mit einem von ihnen in persönlicher Verbindung stehe.

Herr Kleeborn schwieg, sichtbar verstimmt, und auch Sir Charles blieb von nun an stumm und verschlossen, bis einer der anwesenden Fremden seiner schönen Pferde erwähnte, die dieser mit Bewunderung im Stalle gesehen hatte. Nun ward er mit einemmal nicht minder lebendig, als gestern sein treuer Wilkinson bei der nehmlichen Veranlassung es geworden war. Er unterhielt die ganze Tafel mit Erzählungen von englischen Wettrennen und von den bei diesen, auf unglaubliche Weise gewonnenen oder verlornen, bedeutenden Summen. Dazwischen berief er sich immer auf Wilkinson, der nie ermangelte, der Geschichte noch irgend etwas zuzusetzen, um sie noch wunderbarer und merkwürdiger erscheinen zu lassen. Von den Pferden ging er zu den Festen und Assembleen der vornehmen [6] Welt in London über. Von diesen kam er auf die dortige italienische Oper, und den besondern Verdienst der berühmtesten Sängerinnen und Tänzerinnen. Ein unaufhaltsamer Strom von Beredsamkeit floß von seinen Lippen, indem er seiner vertrautesten Freunde in London dabei erwähnte, lauter Lords, Counts und Viscounts. Kein einziger plebejer Name entschlüpfte ihm, vor allem aber pries er die Herrlichkeiten von Brighton, und sprach mit wahrer Begeisterung von den Freuden, die er dort in der unmittelbaren Nähe des Prinz Regenten selbst wollte genossen haben.

Kleeborns Unmuth stieg sichtbarlich bei den Rodomontaden des jungen Mannes; man sah es ihm an, daß er auf irgend eine Weise ihm Luft machen mußte, und ein eignes Gefühl von Unbehaglichkeit bemächtigte sich dabei allmählig der ganzen Gesellschaft. »Erlauben Sie mir eine Frage,« fing er endlich an, »Sie sprechen immer, als wären Sie ein geborner Engländer, und doch als der Sohn meines sehr verehrten Freundes, Jan Peter Wißmann [7] in Amsterdam, sind Sie so viel ich weiß ein Holländer.«

»Ei freilich, ist der alte Herr mein Papa,« fiel Sir Charles halb lachend ihm ein, denn das viele Reden und der dazwischen reichlich genossne Burgunder schien ihn jetzt ungewöhnlich belebt zu haben, »freilich ist der alte Herr mein Papa, den die halbe Welt als eine der bedeutendsten Figuren an der Amsterdamer Börse kennt. Deshalb aber habe ich dennoch die Ehre ein so ächter Britte zu seyn als irgend einer, der innerhalb des Glockenschalles von Bowchurch geboren ward. Ich könnte sogar mit der Zeit Lordmajor von London werden, so gut als der Beste in der City, wenn es mir nur möglich wäre, im Kohlendampfe dieses schmutzigen, schachernden Theils von London zu leben. Aber ich ziehe es vor, unter meines Gleichen im Westende der Stadt zu wohnen, obgleich ich freilich mein Comptoir in der Nähe der Börse haben muß. Ich scheue den weiten Weg nicht, wenn meine Gegenwart dort nöthig ist. In ein paar Stunden läßt sich bekanntlich vieles abthun, und meine braven[8] Pferde bringen mich so schnell hin und zurück, daß ich oft schon wieder zu Hause bin, noch ehe es bei meinen eleganten Nachbaren Tag wird.«

Des Alten Gesicht legte sich in immer ernstere Falten, so daß die Tante anfing, einen förmlichen Ausbruch des in ihm aufsteigenden Gewitters zu befürchten, was ihrem feinen Gefühl für Schicklichkeit unerträglich gewesen wäre, selbst wenn dadurch Vicktorine von Sir Charles Ansprüchen auf immer hätte befreit werden können. Denn alles, was die feinste Grenze des Anstandes im mindesten verletzen konnte, war ihr durch lange Gewohnheit so widerwärtig, daß sie sich oft wie von einem Fieber ergriffen fühlte, sobald sie nur ahnete: es könne so etwas, selbst von ihr übrigens völlig gleichgültigen Personen, in ihrem Beiseyn geschehen. Daher trat sie auch hier gleich ins Mittel, und um nur den alten Herrn nicht zum Wort kommen zu lassen, bat sie Sir Charles, ihr doch zu erklären, wie man zugleich ein Engländer und ein Holländer seyn könne?

»Das kann in der That niemand seyn, und ich [9] bin es auch nicht,« erwiederte Sir Charles, »denn wie gesagt, ich habe die Ehre einzig Großbrittanien anzugehören, und dieses verdanke ich meiner Mutter, die aber dennoch auch nur eine ächte, in Rotterdam geborne Holländerin war. Die gute Dame hatte aber die Gefälligkeit mich auf einem englischen Westindienfahrer das Licht der Welt zum erstenmal erblicken zu lassen; und sie wissen gewiß alle, daß ich dadurch so vollkommen nazionalisirt bin, als wäre ich von englischen Eltern mitten in London geboren.«

»Das war ja für Sie ein ungemein günstiger Zufall,« erwiederte ein alter Herr aus der Gesellschaft, den Sir Charles wundersame Erscheinung höchlich zu amusiren schien.

»Freilich, freilich,« erwiederte dieser, »aber es hat auch seine melancholische Seite, denn meine Mutter mußte das Geschenk, das sie mir machte, mit dem eignen Leben bezahlen. Sie war eben auf der Rückreise von Jamaika begriffen, wohin sie meinen Vater begleitet hatte, und diese war durch tausend ungünstige Zufälligkeiten beinah bis [10] ins Unglaubliche verlängert worden. Seit sechs und zwanzig Jahren ruht sie nun unter Korallenfelsen im Grunde des atlantischen Meeres, und es war meinem Vater so schmerzlich, sie hinabsenken zu sehen, daß er mich in meiner Kindheit gar nicht um sich haben mochte und mich deshalb in England lies, als er nach Amsterdam zurückkehrte.« »Doch erlauben Sie mir, Madame,« setzte Sir Charles, zur Tante gewendet hinzu, »erlauben Sie mir nach englischer Sitte ein Glas Champagner mit Ihnen zu trinken, um diese trübseligen Erinnerungen wieder hinunter zu spülen, die man bei der Tafel am wenigsten aufkommen lassen sollte.«

Die Tante versicherte sehr kalt, sie tränke niemals Champagner, Sir Charles leerte seine Glas, und nahm, noch aufgeregter als zuvor, abermals das Wort. »Der sicherste Beweis, daß ich in meinem Vaterlande als ächter Engländer anerkannt werde,« sprach er, »ist der, daß ich im vorigen Jahre in Brighton die Ehre hatte, die ritterliche Würde zu empfangen, deren in Altengland kein Ausländer fähig ist. And now, um mit Sir John Falstaff [11] witzigen Andenkens zu reden, can make any Jane a Lady 1, die ihre Hand mir reichen mag.« Eine allgemeine Pause entstand jetzt, denn viele mochten schon das Verhältniß ahnen, in welchem Sir Charles zu dem gastlichen Hause stand, das alle ehrten. Seine letzte Ungezogenheit, neben dem herzlosen Uebermuth, mit welchem er seiner verstorbenen Mutter erwähnt hatte, berührte Jedermann auf eine höchst unangenehme Weise, und diese allgemeine Verstimmung führte bald darauf das Aufheben der Tafel herbei.

Nur ein einziges Paar hatte nichts von allem Vorgegangenen bemerkt, und dies war Agathe und der neben ihr sitzende uns schon bekannte Schwarze. Ihr selbst kam seine ganz unverhoffte Gegenwart so unglaublich vor, daß sie oft zu träumen fürchtete. Sie hatte weder von seiner ebenfalls am gestrigen Abend erfolgten Ankunft, noch von der Visite, die er am Morgen dem Onkel abstattete, das Mindeste vernommen, und freute sich nur, ungemein vernünftig gewesen zu seyn, da sie ihn unter den Gästen [12] ihres Oheims fand, denn sie hatte bei seinem Anblick nicht laut aufgeschrien.

Der junge Mann war indessen vom Lieutenant zum Rittmeister emporgestiegen und lag nun mit seiner Schwadron in einem nahen Städtchen in Garnison. Er mußte seiner jungen Nachbarin unendlich viel zu berichten haben, denn während der ganzen Mahlzeit flüsterte er unaufhörlich mit ihr, doch führte er ganz allein nur das Wort, indem Agathe mit niedergeschlagenen Augen und glühenden Wangen, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, nur eine aufmerksame Zuhörerin abgab. Zuweilen wagte sie es ganz heimlich und schüchtern, zur Tante hinüber zu sehen, wandte sich aber noch tiefer erröthend gleich wieder ab, wenn sie dem klaren scharfsehenden Auge derselben auf halbem Wege begegnete.

Während der Kaffee herumgereicht ward, wagte sie es aber endlich doch, sich in Annas Nähe zu drängen. »Ach Tante!« flüsterte sie ihr zu, »ach Tante, was hab' ich Ihnen alles zu sagen!« »Wirklich?« erwiederte diese lächelnd, »und wenn ich dir [13] nun sage, daß ich ohnehin schon alles weiß?« »Herr Gott! Sie haben's gehört, und folglich die andern alle auch!« rief Agathe gewaltig erschrocken. »Das habe ich wohl gedacht, das kommt von der Unbesonnenheit her.« »Beruhige Dich, meine besonnene Agathe,« erwiederte freundlich die Tante, und streichelte ihr die glühende Wange, »beruhige Dich, denn ich hörte mit den Augen, und die Kunst versteht nicht jedermann.«


Die Gesellschaft hatte sich zu spät versammelt, um nicht auch sehr spät wieder auseinander zu gehen, daher war für diesen Abend unter den Mitgliedern der Kleebornschen Familie an keine vertrauliche Mittheilung über alles Vorgegangene zu denken. Doch am folgenden Vormittage suchte der alte Kleeborn die Tante in ihrem eignen Zimmer auf, was seit dem Tage ihrer Ankunft nicht wieder der Fall gewesen war, und also auf Ungewöhnliches deutete. »Fräulein Schwester,« rief er noch in [14] der Thüre mit einem sehr heitern Gesicht ihr entgegen, »Fräulein Schwester, wenns Glück gut ist, und Sie es so meynen wie ich, so haben wir zwei Bräute im Hause, und können an einem Tage zwei Hochzeiten ausrichten. So eben hat der Rittmeister Horst um Agathen bei mir angehalten. Der junge Soldat geht rasch zu Werke wie Sie sehen, aber dabei auch rechtlich, nach der alten Art, wie sichs gehört, und das muß ich loben. Er hat nicht erst, wie ein gewisser Andrer, den ich nicht nennen mag, und von dem auch hoffentlich nie wieder die Rede seyn wird, mit dem Mädchen hinter meinem Rücken einen Liebeshandel angesponnen, sondern geht gleich vor die rechte Thüre. Ich liebe freilich das Militair eben nicht besonders, ich würde auch Vicktorinen an keine Uniform weggeben, und steckte selbst ein General darin. Doch mit Agathen ist das ein Anderes, obgleich das Kind ein hübsches Vermögen besitzt.«

Die Tante erwähnte Agathens große Jugend.

»Freilich ist das Mädchen noch blut jung, kaum siebzehn Jahr alt, doch jung gefreit hat keinem gereut,« [15] erwiederte Kleeborn. »Auch ist der junge Horst nichts weniger als arm, er ist der Sohn eines wohlhabenden, mir wohl bekannten Kaufmanns in Stettin, und sein ältester Bruder setzt die Handlung fort; so wäre denn von dieser Seite die Parthie gar nicht ungleich. In seinem Stande kann er es auch noch einmal hoch genug bringen, denn daß er sich brav gehalten, beweist nicht nur sein eisernes Kreuz, sondern auch sein schnelles Avancement. Ich habe ihn also in Gottes Namen auf morgen früh wiederbestellt, denn er muß den Abend wieder fort, und wenn Agathe übrigens nicht abgeneigt wäre, so dächte ich – doch thue ich nichts ohne Ihren Rath, denn Sie sind eine ungemein kluge Dame, daher bitte ich Sie jetzt, mir diesen zu ertheilen, und mir zu sagen, was ich den jungen Menschen morgen antworten soll.«

Die Tante fand dieses alles zwar ungemein übereilt, um so mehr, da Agathens künftiges Glück ihr sehr am Herzen lag, denn sie hatte dieses natürliche, gutmüthige Wesen recht mütterlich lieb gewonnen, aber sie sah auch ein, wie wünschenswerth es [16] sey, die Kleine sobald als möglich von Babets verlockender Gesellschaft und zugleich aus dem Hause des Oheims zu entfernen, wo sie ohne alle Aufsicht, mitten im Geräusche eines sehr glänzenden Lebens, tausend Gefahren ausgesetzt bleiben mußte. Dem alten Herrn zu rathen, unternahm sie aber deshalb doch nicht; denn sie wußte wohl, daß er wie fast Alle, nur um Rath frug, um dennoch seiner eigenen Ansicht zu folgen; aber sie versprach, was er eigentlich nur von ihr gewollt hatte, nehmlich Agathens Herz zu erforschen. Doch verlangte sie noch zuvor eine Unterredung unter vier Augen mit dem jungen Horst, die Herr Kleeborn auch einzuleiten suchen wollte. Sie hoffte, in dieser doch den Mann etwas näher kennen zu lernen, an dessen Hand sie nicht ohne Bangen ein unverdorbenes liebes Kind dem Ernste des Lebens in so früher Jugend entgegen gehen sehen konnte.

Kleeborn brachte das Gespräch jetzt auf den jungen Wißmann, und zu Annas Erstaunen schien seine gestrige Unzufriedenheit mit diesem über Nacht völlig verschwunden zu seyn. »Freilich ist er [17] nicht ganz so, wie ich es erwartete, und es wäre mir auch recht lieb, wenn manches anders wäre,« sprach er. »Das fürstliche Ansehen, das er sich zu geben sucht, gefällt mir eben so wenig, als sein ewiges Prahlen mit vornehmen Freunden. Wir sind denn doch auch was wir sind. Auch kann ich es nicht loben, daß er sich gewissermaßen schämt, ein Kaufmann zu heißen, und der Aufwand, den er treibt, ist denn doch etwas zu auffallend. Aber er ist noch jung, und Verstand kommt nicht vor Jahren. Ich war auch einmal so ein Springinsfeld. Freilich trieb ich es nicht so arg, aber Sie wissen es selbst, Fräulein Schwester, vor dreißig Jahren waren auch andere Zeiten und andere Sitten, und wenn man Hausvater wird, so legen sich die stolzen Wellen gewöhnlich von selbst.«

»Ich mag es nicht verhehlen,« erwiederte Anna, »der ungemessene Uebermuth des jungen Mannes hat mich tief empört. Obendrein scheint er mir völlig gemüthlos, und ich gebe es Ihnen recht ernstlich zu bedenken, ob Vicktorine an der Seite eines solchen Mannes je hoffen kann, ein frohes Leben zu führen,[18] und ob sie je mit ihm die Unfälle wird heitern Muths ertragen können, die auch dem Glücklichsten drohen.«

»Das giebt sich alles, Fräulein Schwester«, fiel Kleeborn ein. »Was Sie von seinem Uebermuth erwähnen, gebe ich zu. Sie sehen, ich bin billig, was wahr ist, lasse ich gelten. Das ist aber Jugendart und vergeht, wenn man älter wird, besonders bei den Holländern, denn ein solcher ist er doch, trotz seines englischen Ritterthums. In Holland frägt man sogar sprichwörtlich von jedem jungen Manne: ›hat er geraset oder will er erst rasen?‹ Das wird dort wie die Kinderblattern angesehen, die auch ein jeder gehabt haben muß, und ein verständiger Vater wählt immer lieber Einen, der schon einige tolle Streiche gemacht hat, als Einen, der von Jugend auf still und vernünftig war; denn bei letzterem steht zu befürchten, daß der Paroxismus in der Ehe nachkommen könnte. Wißmann ist jetzt mitten in demselben begriffen, wir wollen das abwarten. Ich will darum auch auf keine Weise die Erklärung zwischen ihm und Vicktorinen zu beschleunigen [19] suchen; mag er sich erst die Hörner noch ein wenig ablaufen. Sie bleiben einander doch gewiß, das läßt sich nicht ändern, denn die Parthie ist für beide zu vortheilhaft, und wir Väter gaben einander unser Wort darauf, das noch keiner von uns jemals gebrochen hat.«

In diesem Augenblick trat Vicktorine ins Zimmer, und ihr Vater wandte sich sogleich an sie. »Höre, Vicktorinchen,« sprach er, »thue mir den Gefallen und laß das Gesichterschneiden, es hilft Dir zu nichts, und Du weißt, ich kann es nicht leiden. Du thust am besten, wenn Du Dich mit guter Art in Dinge fügst, die sich nicht abändern lassen. Ich frage nicht einmal, ob Wißmann Dir gefällt? aber ich rathe Dir freundschaftlich, ihn Dir gefallen zu lassen, denn er wird Dein Mann, das ist nun einmal gewiß. Wir Väter werden unser Wort nicht brechen, weil unsere Kinder beide, jedes auf seine Weise, vor der Hand noch ein Paar Narren sind, die nicht wissen, was sie wollen.« »Lieber Vater,« sing Vicktorine bittend an; doch dieser ließ sie nicht weiter reden.

[20] »Hilft nichts! hilft nichts!« rief er, »was seyn muß, muß seyn, und Du bist deshalb doch Wißmanns Braut. Indessen braucht das vor der Hand noch Niemand zu wissen als wir. Daher verlange ich einstweilen auch nur, daß Du es bloß im Herzen seyn sollst, ohne den äußern Schein davon anzunehmen, der kommt zeitig genug. Für jetzt betrage Dich nur freundlich und anständig gegen Deinen Bräutigam, das kommt Dir hernach in der Ehe zu gut. Uebrigens warte alles in Gelassenheit ab, gieb Dir weder durch zu große Freundschaft, noch auf andere Weise das Ansehen, als ob Du Dir von ihm eine Erklärung vermuthetest, denn das schickt sich nicht für eine Tochter von mir. Die Erklärung wird nicht ausbleiben, das versichre ich Dir. Nun, bis auf einen Punkt, der hoffentlich jetzt auf ewig vergessen seyn soll, bin ich ja immer mit Dir zufrieden gewesen, Du hast Dich ja stets so betragen, daß ich Ehre und Freude davon hatte, Du wirst auch jetzt Deinen alten Vater nicht kränken wollen; ich habe ja sonst nichts in der Welt, das mir recht am Herzen läge als Dich. Glaube mir, mein Kind, [21] ich bin nur auf Dein Glück bedacht und Du wirst es mir gewiß noch einmal danken, wenn Du dies jetzt auch noch nicht einsiehst. Die Jugend ist blind, aber wir Alten sind dafür da, um sie zum Besten zu leiten. Und nicht wahr, Du wirst nicht ferner widerstreben? Meine gute dankbare Vicktorine wird mir auf meine alten Tage dafür Freude machen wollen, daß ich in meinen jungen Tagen stets nur für sie arbeitete und sorgte?« Der plötzlich ganz ungewöhnlich weich gewordne Alte streichelte bei diesen Worten Vicktorinens erbleichende Wange, und verließ dann in sichtbarer Bewegung das Zimmer, während Vicktorine in Thränen ausbrach.

»Tante!« rief sie, »gütige liebe Tante, dieses ist härter als alles! Ich kann, ich kann in der Treue nie wanken noch weichen, aber wie soll ich fest bleiben, wenn mein Vater so zu mir spricht! Wohin ich auch blicken mag, ich sehe nur meinen Untergang.«

»Raimund erliegt vielleicht in diesem Augenblick dem Kampf mit dem wilden Elemente, auf dem er schwebt, um einem Lande entgegen zu eilen, in welchem der Tod, in Blumenduft verhüllt, ihn erwartet![22] einem Lande, wo Tausende vor ihm schon beim ersten Schritte Vernichtung einathmeten! Doch bewahrt ihn auch sein Engel mitten in allen Gefahren und führt ihn sicher in die Heimath zurück, mich findet er nicht mehr, dies sagt mir ein Gefühl, dem ich umsonst zu widerstreben versuche.«

»Vicktorine, wie bist Du plötzlich so muthlos, und gerade jetzt, wo alles sich vereint, um Deinem Hoffen neues Leben zu gewähren?« sprach Tante Anna.

»Ach liebe, liebe Tante,« erwiederte Vicktorine, »meine Kraft ist erschöpft, und mir wäre wahrlich am besten, wenn ich zur Ruhe ging, wo aller Kampf ein Ende hat. So lange mein Vater mich hart und streng seinem Willen beugen wollte, so lange hatte ich den Muth, ihm zu widerstehen und der Stimme meines Herzens zu folgen, die hier laut über Recht und Unrecht entscheidet. Und warlich, seit ich den herzlosen, kindisch eitlen, eingebildeten Thoren sah, dem ich bestimmt bin, seitdem fühle ich noch tiefer als zuvor, daß ich sogar um meines Vaters willen hier nicht nachgeben darf; ich dürfte es nicht, selbst wenn ich Raimund nie [23] zuvor erblickt hätte, denn mein Vater müßte ja seine grauen Haare in Kummer und Reue dereinst zu Grabe tragen, wenn er späterhin das unausbleibliche Elend mit ansäh', das er jetzt, freilich in der besten Absicht, seinem Kinde an der Seite dieses Mannes bereiten möchte. Tante, ich flehe Sie an, reizen Sie den Vater wieder zum Zorne gegen mich auf, so entsetzlich mir dieser auch einst erschien, er allein hat mich aufrecht erhalten, das fühle ich jetzt. Dem gütigen, dem bittenden Vater kann ich nur mit verschlossener, auf ewig verstummter Lippe widerstreben.«

Anna fühlte unaussprechliches Mitleid für die arme Vicktorine, deren gegenwärtige Stimmung ihr bei diesem Charakter sehr begreiflich war. Sie wandte alles an, um die Klagende wieder zu beruhigen. »Glaube mir,« sprach sie, »Dein Zustand ist nicht halb so hoffnungslos, als er es in Deiner jezzigen trüben Stimmung Dir erscheint. Halte Dich nur aufrecht, und erschöpfe nicht Deine Kraft in nutzloser Klage und ungestümer Heftigkeit. Der letzte Befehl Deines Vaters stellt es Dir ja frei, [24] die zu erwartende Erklärung des Dir bestimmten Bräutigams durch kluges Benehmen so lange als möglich zu verzögern, denn Dein Vater selbst wünscht nicht sie für jetzt zu beschleunigen. Du kannst es, ohne dabei im mindesten den äußern Anstand gegen Sir Charles zu verletzen, wenn Du nur klug und vorsichtig zu Werke gehst, und ich wette, daß der Eigendünkel des wunderlichen Menschen Dir die Rolle, die Du zu spielen hast, noch obendrein sehr erleichtern wird. Mich hat lange nichts so herzlich gefreut als seine abgeschmackte Erscheinung, die so ganz das Widerspiel von dem ist, was Dein Vater erwartete. Ich will Dein Hoffen von der Zukunft nicht zu hoch steigern, ich will für jetzt Dich nur darauf aufmerksam machen, daß Du Zeit gewonnen hast, und daß es nur von Dir abhängen wird, diese mit Verstand zu benutzen. Laß Dich von ihrem Strome treiben, mein Kind, er führt Dich sicher zum Hafen.«

»Zum Hafen! zum Hafen der ewigen Ruhe!« rief Vicktorine mit überströmenden Augen.

»Dort landen wir einst Alle!« erwiederte die Tante[25] und trocknete ihr liebkosend die Thränen ab. »Dort landen wir einst Alle, aber bis dahin, meine Vicktorine, sollen wir dem Beispiele des erfahrnen Schiffers folgen, der beim Wüthen des Sturmes nicht klagend den tobenden Abgrund anstarrt, der ihn zu verschlingen droht, sondern mit frommem Muth und weiser Thätigkeit sich an das Steuerruder stellt, jeden günstigen Umstand mit Klugheit benutzt, um sich durch Klippen und Brandung zu winden, und so zuletzt dennoch die Fahrt glücklich beendet. Darum bitte ich Dich, meine Vicktorine, grüble nicht über das, was Du dein Unglück nennst, wende lieber den Blick davon ab, denn es wächst vor unsern Augen beängstigend zur Riesengestalt an, je länger wir es betrachten.«

»Ich weiß es wohl,« setzte die Tante lächelnd hinzu, als Vicktorine durch ihr mildes Zureden wieder ruhiger ward, »ich weiß es wohl, so lange wir jung sind, lieben wir alle den Schmerz und geben uns gern mit einer Art von Wollust ihm hin. Aber das sollten wir nicht, denn er gewinnt dadurch die Macht, seine jede Lebenskraft lähmende Gewalt an [26] uns zu üben. Ihr aber, weit davon entfernt, ihm widerstehen zu wollen, Ihr habt ja nicht einmal an der großen oder kleinen Plage genug, die ohnehin jeder Tag mit sich bringt, sondern Ihr bewahrt Euch sogar das Andenken alter verjährter Schmerzen haushälterisch auf, um es zu bestimmten Zeiten wieder hervorzuholen, und Euch an solch' ein marinirtes Unglück zu halten, wenn eben kein frisches vorhanden ist.«

Der wunderliche Vergleich zwang Vicktorinen, ohnerachtet ihrer nassen Augen, ein Lächeln ab, doch wandte sie nichts dagegen ein, und die Tante fuhr fort zu reden. »Wenn wir älter werden,« sprach sie, »geben wir gewöhnlich dieses gefährliche Spiel mit unserm innern Frieden von selbst auf. Darum aber sind wir Alten auch heut zu Tage gewöhnlich weit heiterer als unsere jungen Töchter. Wir ertragen Schmerz und Verlust mit einer ruhigen Ergebung, welche die Jugend sich gewöhnt hat als eine durch die Jahre herbeigeführte Stumpfheit des Gefühles zu verschmähen. Doch auch hierin pflegt sie oft zu irren. Was Ihr an [27] uns Gefühllosigkeit scheltet, ist meistens die Frucht gereifter Erfahrung. Diese lehrt uns glauben und hoffen, daß wir alle nur verlieren, um Höheres zu gewinnen, und daß jedes, auch das bitterste Scheiden, auf Wiederfinden deutet, sey es nun hier oder dort.«


Vicktorine und die Tante wurden bald darauf in das Wohnzimmer abgerufen, wo Sir Charles den Damen einen Morgenbesuch abzustatten wünschte; und so wenig sie auch in diesem Augenblicke zur Fröhlichkeit gestimmt seyn mochten, so konnten sie sich dennoch kaum enthalten, laut auf zu lachen, als sie die wunderliche Gruppe erblickten, die sie dort vorfanden.

Mit einem völlig nichtssagenden Gesicht, wie zwischen Schlafen und Wachen, saß, oder lag vielmehr Sir Charles in einem Armstuhle nachlässig hingestreckt; neben ihm aufrecht sitzend sein großer Hund, dem er mit der rechten Hand die Ohren kraute, und auf seiner linken Schulter [28] saß Koko, der Affe. Dazu hatte er einen hellblauen leinenen Kittel an, zwar von etwas feinerem Stoffe, doch übrigens ganz so, wie ihn die französischen Bauern oder auch die brabanter Fuhrleute tragen. Damals versuchten erst wenige tonangebende Elegants in Paris diese Mode als Morgennegligée der Herren aufzubringen, aber bis nach Deutschland war sie bis dahin noch nicht durchgedrungen, und mußte daher doppelt auffallend erscheinen. Domingo, der Negerknabe, stand auf das Schönste geputzt in einem feuerfarbnen Gewande, das mit seinem schwarzen Gesicht den seltsamsten Kontrast bildete, in ehrerbietigster Stellung an der Thüre, und hielt eine lange Kette von fein polirtem glänzenden Stahl, deren anderes Ende an Kokos Halsband befestigt war.

Dicht vor Sir Charles stand Babet und reichte mit gezierter Aengstlichkeit dem Affen einzelne in Papier gewickelte Bonbons, die dieser unter tausend Grimassen verzehrte, und jedesmal der Geberin, zum Dank dafür, das Papier an den Kopf warf, worüber diese, laut kichernd, sich halb tod lachen zu [29] müssen versicherte. Sir Charles sah dem kindischen Spiel mit ungemeiner Leutseligkeit gelassen zu, doch nicht so Herr Kleeborn. Dieser stand mit dem Rücken an das Fenster gelehnt und blickte mit einem sehr finstern Gesicht, auf welchem Ärger und Höflichkeit sichtbar miteinander im Kampfe lagen, auf das seltsame Trio, während die neben ihm sitzende Agathe, ganz verschüchtert und kleinlaut, es kaum wagen mochte, die Augen von ihrer Arbeit aufzuschlagen. Man sah deutlich, sie hatte etwas auf dem Herzen, das sie verhinderte, Babets und Kokos lustigem Treiben die Theilnahme zu schenken, die sie in einer andern Stimmung gewiß nicht ermangelt hätte, dabei zu bezeigen.

»Verzeihung,« sprach Sir Charles, indem er die Tante und Vicktorinen hereintreten sah, und sich langsam von seinem Armstuhl erhob, »Verzeihung meine Damen, daß ich es wagte diese meine Reisegefährten hier einzuführen, aber Fräulein Babet äußerte gestern den lebhaften Wunsch, deren nähere Bekanntschaft zu machen.« »Ach und Koko ist so allerliebst!« rief Babet dazwischen, [30] und versuchte es, den noch immer auf der Schulter seines Herrn sitzenden Affen zu streicheln. Doch dieser war eben nicht aufgelegt, Spaß zu verstehen, er wies ihr Nägel und Zähne, und stieß dabei ein so unangenehmes gellendes Geschrei aus, daß Babet sehr erschrocken zurückfuhr.

»Fi-donc, Koko,« lallte lächelnd Sir Charles mit großer Gelassenheit. »Domingo, bringe den unartigen Kleinen nach Hause.« Doch der Kleine hatte noch keine Lust hiezu, er biß um sich, zerraufte seinem Herrn die Haare und sprang zuletzt auf Kleeborn los, so schnell, daß Domingo kaum Zeit gewann, ihn von diesem abzuhalten, indem er die Kette kürzer faßte. Der arme Neger hatte wirklich viel Mühe, sich des aufgebrachten Thieres zu bemächtigen, und mußte es sich gefallen lassen, tüchtig zerkratzt zu werden, während er es in einem sehr zierlichen Pelzmantel von blauem Sammet einwickelte, um es darin über die Straße zu tragen. Der große Hund folgte auf Sir Charles Wink ihm von selbst aus dem Zimmer, und dieser sank nun, als wäre er von der kleinen [31] Anstrengung höchst ermüdet, in seine vorige bequeme Stellung zurück. »Solche wilde Bestien!« rief jetzt Herr Kleeborn, sehr erfreut, dem so lange mühsam verhaltenen Aerger endlich Luft machen zu können, »solche wilde Bestien! den Hals sollte man ihnen umdrehen. Was für Freude kann man davon haben, sie um sich zu dulden! Hunde laß ich allenfalls noch gelten, Pferde auch, denn die sind doch nützlich, aber wilde Thiere aus den afrikanischen Wäldern« –

»Ach, die Welt ist so zahm!« fiel Sir Charles ihm sehr gelassen ein; »das Leben ist so einschläfernd!« setzte er mit gedehntem, halb gähnenden Tone hinzu, »wahrhaftig, ohne meinen kleinen Freund aus den afrikanischen Wäldern, wie Sie ihn nennen, wüßte ich kaum, wie ich es ertragen sollte. Was man sieht, was man hört, was man genießt, hat man schon so viele Tausendmal gehört, gesehen und genossen! Koko ist noch der Einzige unter allen meinen Bekannten, der mich zuweilen durch seine Genialität überrascht; denn er thut gewöhnlich, was ich nicht will, oder wenigstens [32] doch nicht von ihm erwarte. Mungo, mein Hund, ist schon ein halber Mensch und daher viel langweiliger; er ist ehrlich, niederträchtig, und nach seiner Art auch höflich; ich dulde ihn nur wegen seiner Anhänglichkeit und weil ich mich nicht damit bemühen mag, ihn wegzugeben. Ich wollte, er würde mir einmal gestohlen, aber er käme doch wieder.«

Die Tante sah deutlich, wie Kleeborn durch dieses Geschwätz immer verdrüßlicher gemacht wurde, und um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, suchte sie es auf des jungen Mannes Reisen, besonders in Frankreich und Italien zu leiten. Dieser, von ihr dazu aufgemuntert, begann jetzt zu erzählen, und zwar nicht ohne Geist, aber er gähnte dabei oft durch die Nase, machte lange Pausen, verlor den Faden, so daß er nicht mehr wußte, wovon er zuletzt gesprochen hatte und betrug sich vollkommen wie einer, der nur spricht, um nicht vollends einzuschlafen. Alles Sehenswerthe, alles bedeutend Merkwürdige hatte er in den Ländern gesehen, die er durchreist war. Nichts war ihm entgangen, aber auch nichts hatte seine [33] Erwartung befriedigt, am wenigsten das, was alle andere Reisende mit Bewunderung erfüllte. Dabei sprach er viel von antiken und anderen Kunstwerken, die er in Italien an sich gekauft hatte; vieles, das den Transport nicht gar zu sehr erschwerte, versicherte er mit sich zu führen, und erbat sich zugleich die Erlaubniß, es den Damen gelegentlich zeigen zu dürfen.

»Es wird mir einigermaßen selbst lieb seyn, alle diese Dinge einmal wieder zu sehen, denn seit ich sie acquirirte, habe ich mich nicht wieder darum bekümmert,« sprach er; »mein Secretair hat sie unter seiner Aufsicht. Mich interessirten sie nur, so lange ich sie nicht besaß, wegen der Freude, sie andern wegkaufen zu können, die ebenfalls nach ihrem Besitze strebten. Ich betrachte das wie eine Art von Entschädigung für die Freuden der Jagd, die ich in jenem Lande entbehren mußte und die langnasigen römischen Cicerones kamen mir dabei wie treffliche Spürhunde vor. Übrigens mögen diese Herren mich wohl mitunter ziemlich ruchlos betrogen haben, aber ich scheute die Mühe dieses zu [34] merken, und ließ sie lieber machen was sie wollten. Im Grunde ist es doch ein thörigtes Beginnen, sein schönes Geld für altes rostiges Eisenwerk und zerbrochenen Marmor wegzugeben, doch was thut man nicht aus Langeweile! und die athmet man in Italien, besonders in Rom, mit der Luft ein.«

Das Gespräch wandte sich zufälligerweise auf Manufakturen und ihre Erzeugnisse. Sir Charles gab auch hier, wie überall, seinem angeblichen Vaterlande, England, den Vorzug, aber er wußte doch auch über manches von dieser Art, was er in andern Ländern gesehen, ziemlich bestimmte Auskunft zu geben und beantwortete einige Fragen des alten Kleeborn zu dessen großer Zufriedenheit, so daß dieser allmählig wieder völlig mit ihm ausgesöhnt schien, und die afrikanischen Thiere darüber vergaß. Unter andern rühmte er die Korallenschleiferei in Marseille, und zog dabei ein Schmuckkästchen unter seinem Kittel hervor, welches er als Beweis der hohen Vollkommenheit ihrer Produkte Vicktorinen überreichte, die bis jetzt an dem Gespräch nur schweigenden Antheil genommen hatte. Es enthielt einen [35] sehr vollständigen Damenschmuck von ausgesucht schönen geschliffenen Korallen, dessen größter Werth aber in der außerordentlich eleganten Fassung derselben bestand.

Vicktorine und die Tante betrachteten und lobten den schimmernden Putz mehr aus Höflichkeit, als aus wirklichem Wohlgefallen daran, doch Babet, die sich gleich sehr geschäftig herbeidrängte, wurde nicht müde, jedes einzelne Stück desselben überlaut bis in die Wolken zu erheben. »Der herrliche Kamm!« rief sie, »ach und das ganz einzige allerliebste Jeannetten-Kreuz! und nun vollends die köstlichen Ohrringe! Nein, darüber geht doch nichts in der Welt!« Sie trieb dieses so lange und so laut, bis Vicktorine sich ihrer schämte und alles wieder in das Kästchen hineinpackte.

Sir Charles ergriff gerade diesen Moment, um aufzustehen und Vicktorine, da sie ihn im Begriffe sah sich fortzubewegen, bat ihn, seinen Schmuck nicht zu vergessen. »Meinen Schmuck?« fragte er mit dem unbefangensten Gesichte von der Welt, und da sie ihm das jetzt wieder geordnete Kästchen hinreichte, ging[36] er so weit, zu behaupten, es sey nicht das seine, sondern Vicktorinens.

»Nun, in der That,« erwiederte Vicktorine mit etwas spöttischem Lächeln, »Sie sind für einen so jungen Herrn entweder sehr zerstreut, oder Sie verstehen die schwere Kunst aus dem Grunde, mit einem sehr ernsthaftem Gesicht zu scherzen, indem Sie sich stellen, als ob Sie Ihr Eigenthum nicht anerkennen wollten.« –

»Ich versichre Sie mein Fräulein –« fing Sir Charles an, doch Vicktorine unterbrach ihn.

»Ich bitte,« sprach sie sehr stolz, sehr ernst, aber zugleich auch sehr höflich, »ich bitte Sie, geben Sie sich nicht weiter Mühe, das kleine Versehen zu entschuldigen; ich bin ohnehin vollkommen überzeugt, daß Sie nur zerstreut waren, denn es kann mir doch unmöglich in den Sinn kommen, daß Sie fähig wären, in diesem Hause, auf diese Art Scherz treiben zu wollen, und noch weniger, daß es Ihnen einfallen könnte, einem Mädchen wie ich bin, ein Geschenk anzubieten.«

Sir Charles nahm jetzt anscheinend gleichgültig[37] sein Kästchen zurück, doch innerlich kochte der Zorn, den Vicktorinens stolzes Benehmen in ihm aufregte.

»Vater, ich berufe mich auf Sie selbst, konnte ich anders? ich, Ihre Tochter?« sprach Vicktorine, sobald Sir Charles zur Thüre hinaus war, und ehe noch Kleeborn das zornige Wort aussprechen konnte, das auf seinen Lippen schwebte.

Der Alte mochte auf diese Frage nicht gefaßt seyn, die ihn an die Verhaltungsregeln erinnerte, welche er selbst Vicktorinen eben gegeben, und wußte daher nicht gleich, was er ihr antworten solle; er schüttelte daher nur den Kopf und begab sich fort, ohne eine Silbe zu erwiedern; aber zufrieden war er weder mit Vicktorinen, noch mit Sir Charles.


Sir Charles lief indessen, gleich einem Wüthenden, in seinem eignen Zimmer auf und ab, und zwar weit schneller, als man es ihm zutrauen konnte, wenn man ihm nur im gewöhnlichen Leben sah. »Die stolze Thörin!« rief er aus, »geberdet sie sich nicht, als wäre sie Königin von Spanien, und [38] es thäte Noth, daß man auf den Knien zu ihr heranrutschte? Wäre sie nur nicht Kleeborns Tochter!« Der Kammerdiener Marcellin, sein Vertrauter, versuchte es zwar, seinen Herrn zu besänftigen, doch lange umsonst. Endlich gab er ihm zu bedenken, ob es denn zur Abwechselung so übel wäre, auch einmal eine Spröde zur Vernunft zu bringen, besonders wenn man sie zu heurathen denke, und Sir Charles, der indessen ausgetobt hatte, fing an, seinen Gründen Gehör zu geben.

»Freilich,« erwiederte er, »es liegt etwas pikantes in ihrem Benehmen und überdem ist sie wunderschön, und der Hochmuth steht ihr nicht übel, das muß ich ihr lassen. Nun, wir wollen unser Heil versuchen, es wäre schade, wenn die Weisheit unsrer Papas bei dieser Gelegenheit zur Thorheit würde; die alten Knaben haben diesmal zu klug speculirt. Es sey! Diese Donna Diana verlangt einen Don Cesar, wie ich merke. Va! sie soll ihn in mir finden. Wir wollen sehen, ob das Trotzköpfchen sich nicht bändigen läßt.«

Um diesen Plan sogleich zur Ausführung zu bringen, [39] ging er noch am nämlichen Abende um die Theezeit in das Kleebornsche Haus hinüber und betrug sich gegen Vicktorinen und gegen Alle, als wäre gar nichts vorgefallen, das ihm unangenehm berührt hätte. Er war sogar ungewöhnlich aufmerksam und gesprächig, besonders gegen Babet, und suchte auf eine recht angenehme Art zur Unterhaltung des zahlreichen Kreises junger Mädchen beizutragen, welche als Babets und Agathens Freundinnen sich dort versammelt hatten, eigentlich wohl nur, um den Fremden zu sehen, dessen seltsames Wesen schon anfing, Aufsehen zu erregen.

Der Abend neigte sich bereits zum Ende, als Sir Charles noch eine neue Art von Lottospiel in Vorschlag brachte, welchem die Tante sich nicht wohl entgegensetzen konnte, indem alle Übrigen, außer Vicktorinen, ihm mit lauter Freude ihren Beifall schenkten. Um nicht wunderlich zu erscheinen, mußte sie es daher geschehen lassen, daß Domingo einen großen Korb voll jener unbedeutenden, bunt bemalten Spielereien herbeibrachte, die jedermann unter dem Namen von Attrappen kennt, welche bei Weihnachts-[40] oder Geburtstags-Geschenken sehr oft zur Verhüllung irgend einer artigen Kleinigkeit dienen müssen.

Das Spiel ging vor sich, Sir Charles wußte es mit großer Feinheit zu leiten, und benahm sich sehr artig dabei; am Ende hatte jede der Anwesenden ein Körbchen, eine Frucht, ein Vogelnest, oder eine ähnliche, aus Pappe gebildete zierliche Kleinigkeit gewonnen, deren Inhalt warscheinlich bedeutender war, als ihre Aussenseite. Doch da die Tante und Vicktorine ihren Gewinnst weglegten, ohne ihn näher zu untersuchen, so folgten auch die Uebrigen diesem Beispiel, weil sie meynten, es schickte sich nicht anders. Nur Babet konnte ihre Neubegier nicht zähmen, und versuchte es, den großen Ananas, der ihr zu Theil worden war, ein klein wenig zu öffnen, ein fast unsichtbarer Wink von Seiten des Sir Charles, der ihr bei ihrer steten Aufmerksamkeit auf diesen nicht entgehen konnte, bewog sie indessen, sogleich wieder davon abzustehen.

Der ganze Korallenschmuck nebst einer beträchtlichen Anzahl ähnlicher zum Theil kostbarer Kleinigkeiten war auf diese Weise ganz unmerklich in der Gesellschaft vertheilt worden; nur Vicktorine fand das [41] Kästchen so sie gewonnen mit Bonbons gefüllt, was sie als einen Vorzug betrachtete, obgleich Sir Charles sie dadurch zu kränken gemeint hatte; der Tante aber war eine kleine, von einem italienischen Künstler sehr brav in Wasserfarben gemalte Ansicht des Vesuvs zugetheilt, mit der sie ebenfalls vollkommen zufrieden war, und dabei bemerkte, daß Sir Charles es sehr wohl verstände, die Linie des Schicklichen nicht zu verletzen, sobald er sich nur die Mühe geben wollte, sie zu berücksichtigen.

Doch nichts glich Babets stürmischem Entzücken, als sie Abends in ihrem Zimmer nicht nur den Kamm, sondern auch die Ohrringe und sogar auch das Kreuzchen, die sie am Morgen so sehnsüchtig betrachtet hatte, in ihrer Ananas fand. Sie schrie vor Freuden laut auf, und hohlte dann sogleich alle Lichter herbei, deren sie habhaft werden konnte, um sich im Spiegel, mit diesen Herrlichkeiten geschmückt, von allen Seiten und nach allen Richtungen hin zu bewundern. Sie erzählte dabei so ausführlich und mit so großem Triumph, wie geschickt Sir Charles es angefangen habe, um ihr absichtlich diesen gewiß [42] größten Gewinnst in die Hände zu spielen, daß Agathe sie zuletzt bitten mußte, doch endlich einmal davon aufzuhören.

»Ich habe ganz andere wichtigere Dinge zu überlegen,« seufzte die Kleine, und stützte dabei sehr nachdenklich das sorgenschwere Lockenköpfchen auf die runde weiße Hand; »ich mag nicht einmal nachsehen was in dem Spargelbunde steckt, das ich gewonnen habe, da liegt es noch unberührt, denn ach! Babet, denke Dir um Gotteswillen, morgen um diese Zeit soll ich schon eine Braut seyn!«

»Du?« fragte Babet voller Erstaunen, »Du schläfst wohl schon und sprichst halb im Traum?«

»Ach nein, bewahre,« erwiederte Agathe, »ich denke nicht an Schlafen. Stell' Dir nur vor, Horst hat heute früh beim Onkel ordentlich um mich angehalten, er hat es mir gestern über Tische schon gesagt, daß er es wollte, und er hat auch dem Onkel recht wohl gefallen. Hernach ist er wohl anderthalb Stunden lang mit der Tante allein in ihrem Zimmer geblieben, und er hat auch ihr recht wohl gefallen, besonders, sagt sie, wegen seines ehrlichen und aufrichtigen [43] Wesens, und weil er mich so lieb hat. Nun und hernach hat die Tante auch mich ins Verhör genommen, und dabei ging es scharf her, das kannst Du nur glauben, nun und hernach – ach Gott!« rief sie halbweinend, »und hernach soll ich morgen früh das Jawort geben; der Onkel will es nicht anders, und der Schwarze will auch nicht länger warten, und ich habe noch in meinem Leben keinen Menschen ein Jawort gegeben, und ich weiß gar nicht wie ich das anfangen werde. Ach wäre morgen doch erst vorüber; ich ängstige mich so, Du kannst es gar nicht glauben!«

»Höre,« erwiederte Babet mit einem sehr altklugen Gesicht, »wäre ich wie Du, und fürchtete ich mich so, ich gäbe das Jawort nicht und ließe ihn ohne solches abziehen. Solch' eine förmliche Heurathsgeschichte könnte mir nun gar nicht gefallen. Das ist ja wie, als der Großvater die Großmutter nahm. Es ist viel hübscher, wenn die Leute sagen, die ist noch so jung, und hat doch schon einem Rittmeister den Korb gegeben, denn bekannt muß so etwas doch werden –«

[44] »Das wäre doch recht schlecht von mir,« fiel Agathe ein, »und ich müßte mich doch schämen, wenn ich ihn dafür, daß er mich lieb hat, ins Gerede bringen wollte. Und dann, Du weist es ja, mir hat der Schwarze schon lange viel besser als alle Andere gefallen. Wenn ich nur das Jawort nicht geben müßte! Nun, der liebe Gott wird mir helfen, und der Mensch kann viel überstehen.«

»Meinetwegen thu' was Du willst,« erwiederte jetzt Babet, etwas pikirt, »und denke nur nicht etwa, daß ich mich ärgre, weil Du eher Braut wirst als ich, obgleich ich dreizehn und einen halben Monat älter bin als Du. Glück zu, Frau Rittmeisterin, ich denke höher hinaus, und wer weiß, ob ich Dich dennoch nicht einhole. Man kann zwar nicht im Voraus so genau bestimmen, wie alle Dinge kommen werden, aber ich weiß was ich weiß, und gieb nur Acht, es wird sich noch alles ganz anders machen, als die Leute es sich jetzt denken.«


[45] Dem mit altreichsstädtischer Förmlichkeit in Gegenwart des Onkels und der Tante ausgesprochnen Jawort, mit welchem am folgenden Morgen Agathe unter gewaltigem Herzklopfen den Rittmeister beglückte, folgte bald die feierliche Verlobung des jungen Paares, und Agathe ward die allerreizendste kleine Braut, die man sich denken kann. Anfangs war sie freilich noch sehr schüchtern und ängstlich, sie kam sogar ganz von selbst auf den Gedanken, daß sie den Mann doch eigentlich sehr wenig kenne, mit dem sie ihr ganzes Leben hindurch Freude und Leid theilen wollte. Doch Horsts treue herzliche Liebe gab ihr bald die jugendliche Fröhlichkeit wieder, die ihr zuerst das Herz des junges Kriegers gewonnen hatte. Der ihr angeborne Muthwille kam wieder auf, und sie verstand es in kurzer Zeit vortrefflich, ihren Rittmeister, der sich dies mit tausend Freuden gefallen ließ, auf gut militärisch zu kommandiren. Nebenher trieb sie den ganzen Tag über ihre gewohnten Kinderpossen, obgleich sie auch wieder dazwischen die zahlreichen Gratulationsvisiten von Freunden und Verwandten mit unendlicher Gravität [46] anzunehmen wußte. Das ganze Kleebornsche Haus erhielt durch sie einen Anstrich von heiterer Fröhlichkeit, die sonst nicht immer darin einheimisch gewesen war, aber die Nähe einer jungen glücklichen Braut besitzt eine eigne, alles belebende Kraft, und selbst die Aeltesten fühlen sich in ihr gleichsam verjüngt; sie gleicht dem Frühlinge, bei dessen ersten Erscheinen sogar die alte halb abgestorbne Eiche mit jugendlichem Grün sich kleidet und sich ihren Sprößlingen gleichstellt.

Von nun an wandte die Tante alle Liebe und Sorge, deren sie in so hohem Grade fähig war, der jungen Braut in verdoppeltem Maaße zu, indem sie in dieser bei tausend Anlässen, welche ihr neues Verhältniß herbeiführte, ein höchst glückliches Naturell entdeckte, das nur geringer Nachhülfe und einer Leitung bedurfte, um sich schnell recht erfreulich zu entwickeln. Horst war in seinen Anforderungen an die künftige Gefährtin seines Lebens sehr mäßig; er selbst machte bei einem gesunden hellen Verstande dennoch nur wenig Ansprüche an höhere geistige Bildung, und forderte deshalb auch nichts weiter von [47] seiner jungen Braut, als ein treues liebendes Gemüth, heitern Sinn und nie wankendes Vertrauen. Dieses alles fand er in ihr, er war der Mann dazu, es sich zu erhalten, und so schien denn die glückliche Zukunft des neuverlobten Paares sich mit jedem, Tage fester zu stellen.

In dem alten Kleeborn war indessen die Lust an dem ehemaligen Glanz seines gastfreien Hauses von neuem erwacht, und die weiten Säle desselben mußten von neuem fast täglich von rauschenden Festen widerhallen, denen das junge Brautpaar zum Vorwande diente, obgleich es dabei eigentlich darauf abgesehen war, Vicktorinen und Sir Charles einander näher zu bringen.

Horsts einfacher Sinn hätte ihn dem allen zwar gern aus dem Wege geführt, doch da man ihn jetzt schon als einen nahen Verwandten betrachten konnte, so entdeckte ihm Herr Kleeborn das Verhältniß, in welchem seiner Meynung nach jene Beiden zu einander standen, und er war dafür gefällig genug, sich einstweilen eine Lebensweise gefallen zu lassen, die ihm eigentlich wenig zusagte. Zum Glück gewann [48] er dabei seine Agathe nur um so lieber, da er sah, wie sie mitten im glänzendsten Gewühle dennoch mit ganzer Seele nur an ihn hing, und sobald sich die Gelegenheit dazu bot, für eine einsame Stunde an seiner Seite gern andern Freuden entsagte.

In diesem nur selten unterbrochenen Taumel des Vergnügens verging der größte Theil des Winters und der Frühling nahte bereits, ohne daß sich Kleeborn dennoch durch alle seine kostbaren Anstalten der Vollendung seiner Wünsche nur um einen Schritt näher gebracht sah. Obendrein ward mit der Zeit die halbe Stadt in seine Pläne eingeweiht, so gern er diese noch eine Weile verborgen gehalten hätte, und es fehlte nicht an Anspielung darauf, die er freilich nur schweigend, höchstens durch ein schlaues Lächeln beantwortete, die ihm aber doch eigentlich sehr unangenehm waren.

In bedeutenden Handelsstädten wird freilich das Leben etwas liberaler betrieben, als selbst in mancher großen Residenz, denn in letzterer sind [49] gewöhnlich die Stände viel strenger von einander gesondert, und die große Stadt zerfällt dadurch in unzählige kleine. In großen Handelsstädten hingegen, wo Alle einander mehr oder weniger gleich stehen, und nur der größere oder geringere Reichthum der Familien einigen Unterschied bildet, ist dieses weit weniger der Fall, besonders wenn sie zugleich Seestädte sind. Selbst das ganz vom Gewöhnlichen Abweichende fällt dort schon darum weit weniger auf, weil die aus allen Ecken der Welt zuströmenden Fremden den Augenpunkt der Bewohner einer solchen Stadt erweitern und das Fremdartige ihnen dadurch zum Bekannten wird, weil es beinahe täglich vorkommt. Da es indessen aber wohl keinen Ort in der Welt giebt, aus welchem die Lust, über Andere zu reden, völlig verbannt wäre, so machte auch Vicktorinens Geburtsstadt von dieser Regel keine Ausnahme, und man muß gestehen, daß Sir Charles ihren Bewohnern überreichen Stoff zur Unterhaltung freiwillig lieferte.

Sein langer Aufenthalt im theuersten Gasthofe, [50] in welchem er mit seiner zahlreichen Dienerschaft fürstlichen Aufwand trieb, konnte schon an und für sich unmöglich ganz unbemerkt bleiben; er wandte aber auch überdem geflissentlich alle Mittel an, die ihm zu Gebote standen, um die allgemeine Aufmerksamkeit täglich von neuem auf sich zu richten, nicht nur durch seine und seiner Dienerschaft auffallende Kleidung, sondern auch durch sein ganzes übriges Betragen.

Bald stellte er mit seinen schönen Pferden ein öffentliches Wettrennen nach englischer Art an, welches die halbe Stadt herbeizog; bald regierte er als ein ächter Pferdebändiger, mit eigener Hand, und auch im Äußern einem Kutscher ähnlich gekleidet, seine vier muthigen Rosse vom Kutschbock aus, und fuhr so seinen im Wagen sitzenden Kammerdiener auf den besuchtesten Promenaden spazieren. Ein Paar Mal ließ sogar Babet sich von ihm auf diese Weise im Triumph herumfahren, und neben ihr saß denn in Todesangst mit kaum zu unterdrückendem Angstgeschrei die arme alte Virnot. Denn Vicktorine weigerte [51] sich, unter dem Vorwande unüberwindlicher Furcht, Babet auf solchen Fahrten zu begleiten, und ihr Vater, dem bei dem wilden Treiben selbst nicht wohl zu Muthe war, mochte sie nicht zwingen, diese Furcht zu besiegen. Ein andermal lud Sir Charles alle Welt zu einem Tanz-Frühstück ein, das um drei Uhr Nachmittags anfing und gegen Mitternacht endete, oder gab um acht Uhr Abends ein großes Mittagsessen, zu welchem die seltensten Leckerbissen aus fernen Landen verschrieben und alle Treibhäuser mehrere Meilen in der Runde geplündert werden mußten, um den Speisesaal mitten im Winter zu einem blühenden Frühlingsgarten umzuschaffen. So brachte fast jeder Tag etwas Neues und bot zur Unterhaltung auf Kosten des Fremden frischen Stoff dar. Am wenigsten war man aber geneigt, ihm sein Benehmen in der Gesellschaft zu verzeihen. Die Trägheit und Gleichgültigkeit, die er so gern zur Schau trug, die anscheinend geflissentliche Verletzung der allergewöhnlichsten Regeln der Höflichkeit, die er sich gelegentlich zu Schulden kommen ließ, machten [52] ihn durchaus nicht beliebt, oft aber zum Gegenstand des Spottes, ohne daß seine gewohnte Apathie ihm erlaubt hätte, Notiz davon zu nehmen. So sah man ihn zum Beispiel einst in einem sehr besuchten öffentlichen Concert, wo es durchaus an Platz fehlte, in einer der vordersten Reihen seine gewohnte Lieblingsstellung über zwei Stühle hingelehnt beibehalten, obgleich mehrere Damen um und neben ihn standen, bis es ihm endlich nach einer halben Stunde beliebte, mitten in einer Cadenz des Virtuosen, während man bei der allgemeinen Stille eine Stecknadel hätte fallen hören können, sich mit ziemlichen Geräusche in die Höhe zu richten, den Damen seine Plätze zu überlassen und dabei auszusehen, als erwache er eben aus einem tiefen Traume.

Alles dieses mißfiel dem alten Kleeborn gar sehr und machte ihn zuweilen recht mißmuthig, vor allem aber verdroß es ihm, daß es noch immer zwischen Sir Charles und Vicktorinen zu keiner förmlichen Erklärung kommen wollte. Es sah sogar zuweilen aus, als erwarte jener, daß [53] der erste Antrag zu einer nähern Verbindung von Seiten des Vaters seiner Braut an ihn gelangen solle: doch dagegen sträubte sich dessen Stolz, und so blieb Alles wie es war. Zwar meynte Kleeborn, Sir Charles förmliches Anhalten um Vicktorinens Hand sey eigentlich nur eine bloße Formalität, da zwischen ihm und dem alten Wißmann, was ihm die Hauptsache war, schon längst verabredet wurde, aber er sah diese Formalität doch als durchaus nothwendig an. Auch würde er ihre Verzögerung kaum so lange ertragen haben, wenn nicht zuweilen der Gedanke ihn getröstet hätte, daß Sir Charles sie absichtlich verschiebe, um Vicktorinen mit der Zeit seinen Wünschen geneigter zu stimmen, als sie jetzt es zu seyn bezeigte. So wartete er denn in wunderlicher Selbsttäuschung von einem Tage zum andern, ohne eigentlich recht gewahr zu werden, wie aus diesen Tagen Wochen und zuletzt sogar Monate entstanden, die dennoch nicht die geringste Veränderung in der Lage der Dinge herbeiführten.

Inzwischen erwartete aber auch Babet täglich, [54] und mit nicht minderer Gewißheit als ihr Oheim, eine Erklärung ähnlicher Art von Seiten des Sir Charles, die gewiß allen Hoffnungen des alten Herrn mit einemmal ein Ende gemacht hätte; und die Nachgiebigkeit, mit der dieser die Launen seines erwählten Schwiegersohnes ertrug, war in der That nicht weniger zu bewundern, als seine Verblendung gegen Dinge, die dicht unter seinen Augen vorgingen.

Babets Einbildung war freilig sehr geschäftig, doch muß man auch gestehen, daß Sir Charles sich gegen sie auf eine Weise betrug, welche sich ganz dazu eignete, in dem eitlen unerfahrenen Mädchen die schmeichelhaftesten Erwartungen zu erregen; besonders war dies der Fall, wenn er sich von Andern unbemerkt glauben konnte. Der Eindruck, den ihre frische Jugendblüthe im ersten Augenblick ihres Zusammentreffens auf ihn gemacht hatte, war nicht so ganz oberflächlich, daß nicht ihre zuvorkommende Freundlichkeit und ihre, ihm oft ganz unbegreifliche Naivetät diesen täglich hätten erneuern und ihn bewegen sollen, ihr gegenüber, [55] alle jene kleinen Künste männlicher Koketterie zu üben, die seinesgleichen stets zu Gebote stehen. Er bildete sich sogar ein, nach einem sehr wohldurchdachten Plane dabei zu handeln, indem er glaubte, Vicktorinens Eifersucht erregen und die Stolze demüthigen zu wollen, während es doch eigentlich nur Langeweile und das Bedürfniß einer kleinen Intrike war, die ihn zu diesem Benehmen bewogen. Demohngeachtet stand aber der Vorsatz in ihm fest, sich hier auf keinem Fall zu einer Unvorsichtigkeit hinreißen zu lassen, die für ihn die unangenehmsten Folgen nach sich ziehen konnte. Daher suchte er vor allem sich stets so unbestimmt als möglich gegen Babet zu äußern und trachtete hauptsächlich darnach, das Spiel so in seiner Hand zu behalten, daß er es aufgeben könne, sobald er wolle. Er sprach sich daher selten in Worten aus, weit öfter durch Blicke, und hütete sich sorgsam vor allem, was ihn vor der Welt ernstlich kompromittiren könnte. Babet hingegen benahm sich auf ganz entgegengesetzte Weise, und setzte ihn dadurch oft in nicht geringe [56] Verlegenheit. Ihr lag vor allen Dingen daran, der Welt zu zeigen, welch' eine Eroberung sie auf Vicktorinens Kosten gemacht habe. Der stille Triumph war ihr nicht genug, sie verlangte einen öffentlichen, und beging dahei unzählige, oft recht künstlich berechnete Unvorsichtigkeiten, durch die sie weit mehr errathen ließ, als sie eigentlich zu verbergen hatte. Denn sie strebte hauptsächlich nur nach dem Vergnügen, sich von ihren zahlreichen Freundinnen necken, mitunter auch wohl ein wenig beneiden zu lassen, und beides gelang ihr. Bei solchen Gelegenheiten pflegte sie dann Vicktorinen mit wirklich beleidigendem Mitleide zu betrachten, während diese nichts sehnlicher wünschte, als das Spiel sich in Ernst verwandeln zu sehen. Ihre edlere, aller Hinterlist abgeneigte Natur und auch Babets mitunter recht unartiges Betragen, hielten sie freilich davon zurück, hier die Mittlerin machen zu wollen, aber sie that wenigstens alles, was in ihren Kräften stand, um nichts von dem zu sehen, worauf Babet sie aufmerksam machen wollte, und so wenigstens auf keine Weise [57] dem anscheinenden Verständnisse jener Beiden in den Weg zu treten.

Übrigens war Babet so überzeugt, daß Sir Charles bis zum Sterben in sie verliebt sey, daß sein bisheriges Vermeiden einer förmlichen Erklärung dieser Leidenschaft ihr auch nicht die mindeste Unruhe verursachte; sie war im Gegentheil unerschöpflich im Bemühen, täglich neue Gründe dafür zu ersinnen. Hatte er ihr doch gesagt, daß sie unbeschreiblich schön und reizend sey, und was noch mehr war, hatte er sie sogar nicht einigemal seine bezaubernde Lady Betty genannt? was konnte das anders heißen, als daß er sie liebe, und sie folglich durch eine Heirath mit ihm zu einer englischen Lady erheben wolle. Eine Lady! sie wußte selbst nicht, was sie sich darunter dachte, aber es kam ihr doch über alle Maßen romantisch vor, eine englische Lady zu seyn.

Daß dem im langen Leben mit der Welt geübten Scharfblick der Tante von allem diesen nichts entgehen konnte, war wohl natürlich, aber sie kannte auch Babet genau genug, um zu wissen, [58] daß hier jede, selbst eine mit der größten Schonung ausgesprochene Warnung, wohl manches verschlimmern, jedoch nichts verbessern könnte. Deshalb begnügte sie sich damit, jeden ihrer Schritte treulich zu beobachten, und sie übrigens ihren Weg gehen zu lassen. Sie stellte sie einer Nachtwandlerin gleich, die man nicht anrufen darf, wenn man sie nicht dem Abgrunde zu treiben will, aber sie versäumte es deshalb dennoch nicht, den Abgrund sorgsam zu umstellen, um sie im Falle der Noth gewaltsam zurückhalten zu können. Daß übrigens der Schmerz getäuschter Liebe der künftigen Ruhe eines Mädchens, wie Babet, nie gefährlich werden könne, davon war sie ebenfalls auf das Vollkommenste überzeugt; indessen hoffte sie viel für sie von der heilsamen Erschütterung des gewiß nicht fernen Moments ihres Erwachens aus dem selbst geschaffnen Traume, und nahm sich fest vor, diesen alsdann recht kräftig zum Besten des verblendeten eitlen Kindes zu benutzen.


[59] In diesem von mehreren Seiten höchst gespannten Verhältnisse war schon eine ziemliche Zeit vergangen, während welcher Allen, die nur die äußere Seite des Lebens in dieser Familie kannten, sie für höchst glücklich halten mußten, als Vicktorine eines Morgens die Tante in einem ganz ungewohnten Zustande in ihrem Zimmer allein fand. Ihre Hand hielt einen Brief oder vielmehr ein Packet, dessen noch versiegelter Umschlag sie mit tiefen Schmerz, ja fast mit dem Ausdruck geheimen Grauens betrachtete, und alles an ihr deutete auf eine gewaltsame Bewegung in ihrem Innern, über welche sie nicht Herr zu werden vermochte. Erschrocken eilte Vicktorine auf sie zu, doch der erste Blick auf den Brief in Annas Händen machte auch auf sie den tiefsten Eindruck.

»Tante!« rief sie fast athemlos, »öffnen sie den Brief, öffnen sie ihn schnell, mein Gott! wie konnte sein Anblick Sie so erschrecken! er ist ja von ihm.«

»Von ihm!« wiederholte Anna mit bebender, klangloser Stimme und immer noch hielt sie den Brief fest in ihrer Hand und starrte ihn regungslos [60] mit erloschnen Augen an, bis Vicktorine ihn ihr sanft entzog, das Siegel erbrach und ihn offen wieder in ihre Hände zurück gab.

»Der Brief ist von Raimund!« rief sie »kennen Sie denn seine Schriftzüge nicht mehr? er ist von ihm, ich darf ihn nicht lesen, doch Sie – um Gotteswillen welche schwarze, furchtbare Ahnung hat bei seinem Anblicke sich Ihrer bemeistert! sie ergreift auch mich; mir bebt das Herz in unbestimmter entsetzlicher Angst. Lesen Sie, o lesen Sie! damit ich nur dieser bangen Quaal entrissen werde. Lassen Sie das Unheil über mich hereinbrechen, es kann in der Nähe so furchtbar nicht seyn als es jetzt schwarz und drohend vor meiner Seele steht. Denn Raimund lebt ja – oder wäre dieser Brief nach seinem –« Vicktorine erbleichte vor dem Gedanken, der sich jetzt ihr aufdrang, und den sie auszusprechen nicht wagte.

Anna hatte sich indessen mit sichtbarer Anstrengung in so weit wieder gefaßt, um den Innhalt des aus mehreren engbeschriebnen Bogen bestehenden Packets flüchtig überschauen zu können, und [61] jetzt war es an ihr, die bleiche zitternde Vicktorine zu beruhigen.

»Der Brief ist von Raimund,« sprach sie hochaufathmend, »jetzt erkenne ich die Hand. Auf der Adresse konnte ich es nicht, die ist französisch geschrieben, das sah ich von ihm nie. Sieh her Vicktorine, schrieb er auch das?« setzte sie hinzu, indem sie Vicktorinen den Umschlag hinreichte, »und ist auch dieses sein gewohntes Siegel?«

»Gewiß! gewiß!« rief Vicktorine, »aber der Brief? lebt Raimund? ist er gesund?«

Die Tante las jetzt die letzte Seite des Briefes mit mehr Aufmerksamkeit, als die gewaltsame Bewegung, in der sie sich befunden, es ihr vorhin erlaubt hatte, während Vicktorine, neben ihr hinkniend, den starren Blick auf sie richtete, als wollte sie den Abglanz von Raimunds Worten in ihren Zügen lesen. »Er lebt, er ist gesund, er war im Begriff sich zu seiner fernen Reise einzuschiffen; der Brief ward von ihm vor etwa vierzehn Tagen in Toulon auf die Post gegeben. Jetzt schwimmt Raimund wahrscheinlich schon dem [62] Ziele seiner Bestimmung zu. Darf ich mehr Dir sagen?« fragte Anna, indem sie die Blätter des Briefs wieder ordnete.

»Nein, o nein!« rief Vicktorine, von den Knien sich erhebend, »nein, das Wort, welches Raimund in meinem Namen meinem Vater gab, ist mir heilig, ich darf es auf keine Weise umgehen. Auch nicht mittelbar will ich mich mit ihm in schriftliche Verbindung setzen. Und was brauch ich mehr zu wissen, als daß er lebt. Dieses kleine Wort sagt mir ja alles. Tante! ich lasse Sie mit seinem Briefe allein, ich gehe, um jeder Versuchung zu entfliehen. Ach, Tante! mir ist jetzt wie damals, wenn er am frühen Morgen zu Ihnen ging; wissen Sie es noch? Wie horchte ich dann auf seine Schritte; unter tausenden hätte ich sie wieder erkannt. Ich horchte und horchte, bis am Ende der langen Gallerie Ihre Thüre sich ihm öffnete. Wie sehnlich trieb es mich dann oft auch die meinige nur einmal zu öffnen, nur einmal einen kurzen Augenblick ihn zu sehen! aber ich widerstand der Versuchung, wie ich auch jetzt ihr [63] widerstehe. Ich gehe, liebe Tante,« sprach sie, indem sie der Thüre sich zuwandte, »ich gehe und lasse Sie mit ihm allein. Doch in Ihren lieben Augen darf ich hernach doch lesen?« setzte sie wieder umkehrend hinzu, »das darf ich doch? Fragen erlaube ich mir nicht, aber das darf ich doch? und mich freuen, wenn ich lauter Gutes und Liebes darin lese? Ich kann ja nicht anders, liebe Tante. Und nun nehmen Sie Ihren Brief, lesen Sie ihn ja recht, alles was darin steht, er ist so lang, aber ich bitte, lesen Sie ihn zweimal, zweimal wenigstens. Ach ich lernte ihn so gern auswendig.«

Die Tante mußte endlich die Schwätzerin mit sanfter Gewalt von sich treiben, die immer gehen zu wollen versicherte, und immer blieb. Dann schloß sie sich in ihrem Zimmer ein, ließ niemanden vor sich, und, was noch nie geschehen war, sie erschien sogar Mittags nicht bei Tische. So blieb sie den größten Theil des Tages für sich allein, den sie mit emsigem Durchsuchen und Ordnen vieler Briefe und Papiere hin brachte, bis [64] sie gegen Abend Vicktorinen und Angelika zu sich beschied.


Heftig wie immer, mit nicht unterdrückender Angst, stürzte Vicktorine auf den ersten Ruf in das Zimmer der Tante, und da ihr diese mit freundlichem Blick entgegen lächelte, so ging sie auch eben so lebhaft von der bängsten Sorge, welche sie den ganzen Tag über gequält hatte, zur berauschendsten Freude über.

Wie ein glückliches Kind sich an den Busen der Mutter wirft, wenn es am Weinachtsabende durch die noch verschlossene Thüre schon die Lichterchen des lang ersehnten Baums blinken sieht, so warf sich Vicktorine in die Arme der Tante.

»Nicht wahr?« flüsterte sie schmeichelnd, »alles ist gut, alles ist recht gut, und Ihre bange Ahnung beim ersten Anblicke des Briefs bestätigt sich nicht?«

»Alles ist gut!« erwiederte die Tante merklich bewegt, »alles ist gut, und wird hoffentlich noch sehr gut werden.« Damit drückte sie das geliebte [65] Kind fest an ihr Herz, und zog auch Angelika in ihre Arme, die jetzt ebenfalls dicht neben ihr stand und sie mit leuchtendem Blicke betrachtete.

»Anna!« rief Angelika aus, »Anna, wie schön sind Sie in diesem Augenblick! es ist als ob ein eigner Strahl himmlischer Verklärung Sie umleuchtete; Sie sehen aus wie an jenem unvergeßlichen Abende, da Sie zuerst den Namen Bernhard uns nannten. Sieh' sie doch nur an, Vicktorine, ist es nicht, als ob unser Schutzengel in sichtbarer Gestalt vor uns stände?«

»Es ist so,« erwiederte Vicktorine, indem sie tief und forschend in Annas helle Augen sah, »es ist so, aber ich sehe hier eine große Thräne blinken, ich sehe um ihren Mund das Zucken innerer Rührung, die sie umsonst hinwegzulächeln sich bemüht. Angelika, unser Schutzengel trauert über uns! und so ist denn doch nicht alles gut. Liebe, liebe Tante, o reden Sie, was wollen Sie uns verkünden?«

»Nichts Unglückliches, wahrlich nicht!« erwiederte Anna, »es wird sogar hoffentlich zum Guten führen,[66] doch für den Augenblick wird es auch Euch betrüben, wie es mich betrübt, denn ich muß Euch verlassen, wenn gleich nicht auf lange.«

Die Mädchen starrten sie erbleichend an, und vermochten keine Sylbe zu erwiedern: »Ungern, sehr ungern, meine Vicktorine, lasse ich Dich in der drückenden Lage allein, in der Du so sehr meines Trostes bedarfst,« fuhr Anna fort, »und auch von Dir, meine Angelika,« setzte sie, noch weicher werdend, hinzu, »auch von Dir mich zu trennen, ist mir sehr schmerzlich; ich werde Deine gewohnte liebe Nähe sehr, sehr vermissen, mein Kind, mein Liebes!« Sie schloß Angelika in ihre Arme, und die Thräne, die schon lange in ihrem Auge gezittert hatte, schimmerte jetzt wie ein Diamant in den blonden Locken des immer bleicher werdenden Mädchens. Alle schwiegen.

»Nein! es ist nicht, es darf nicht seyn!« rief endlich Vicktorine. »Es ist so, es muß so seyn!« erwiederte Anna, sanft, aber bestimmt. »Doch fragt mich nicht, warum? denn diese Frage darf ich Euch noch nicht beantworten, ergebt Euch drein, wie ich [67] mich drein ergebe, in wenigen Monaten, vielleicht in wenigen Wochen schon, kehre ich wieder.«

»Und ich bleibe verlassen zurück und mag untergehen; wen kümmert das?« rief fast zürnend Vicktorine.

»Dir bleibt Raimunds Angedenken und Deine Liebe; ist das nicht genug? Dir bleibt auch Angelika, wie Du ihr bleibst,« erwiederte die Tante mit mildem Ernst. »Und bliebe sie Dir auch nicht; nur der ist verlassen, der sich selbst verläßt. Die Bahn liegt klar und bestimmt vor Dir, die Du zu gehen hast, es ist Deine Schuld, wenn Du von ihr abweichst. Mich ruft ein wichtiges Geschäft, das Niemand ausführen kann, als ich allein. Ich kehre mit gewohnter Liebe zu Euch zurück, sobald ich vollendet habe, was mir jetzt obliegt, und unser Wiedersehen wird freudig und glücklich seyn, dies sagt mir eine innere Stimme, die im Laufe meines Lebens mich selten irre führte.«

»Und so darf ich denn nicht wissen, was Sie abruft, in einer Zeit, da nur Ihre Gegenwart mich aufrecht erhält! Es muß durchaus auch mir verborgen [68] bleiben!« rief die immer noch sehr aufgeregte Vicktorine. »Liebe Tante, ich bin kein Kind mehr, dem man die bittere Arznei in Zucker einwickeln muß, ich kann das Herbste mit Fassung tragen, ich habe dies bewiesen, aber wenn ich es soll, so muß ich aber auch überzeugt seyn, daß –«

»Und welcher Uberzeugung bedarfst Du denn noch, um mir zu vertrauen?« erwiederte Anna jetzt sehr ernsthaft; »bin ich noch nicht weiter mit Dir? bedarf es, damit Du mir Glauben schenkst, noch weitläuftigere Erklärungen unter uns, die ich vermeiden will, wie Du siehst? Glaubst Du, ich handle nur aus Eigensinn so, und nicht weil ich überzeugt bin, so handeln zu müssen?«

»O Tante! Sie sind strenge aber auch gerecht!« rief jetzt Vicktorine mit überströmenden Augen. »Ja, theure Frau, ich will, ich muß unbedingt Ihnen vertrauen, ich thue es mit reinem festen Glauben. Doch ist es' meine Schuld, wenn eine finstere Ahnung mich empfinden läßt, wie tief Raimund in alles dieses verflochten ist? Nur jener Brief, der auch Sie diesen Morgen durch seinen bloßen Anblick schaudern[69] machte, nur er kann Sie zu diesem unerwarteten Entschlusse bewogen haben. Raimund droht irgend ein Unheil, das Sie abwehren wollen, oder er ist vielleicht dem Unglück schon verfallen, und Sie wollen retten, wo vielleicht keine Rettung mehr ist.«

»Vicktorine!« rief wehmüthig lächelnd die Tante, und drohte ihr mit aufgehobenen Fingern.

Vicktorine verstummte erröthend.

»Nicht wahr, Du und Raimund und eure Liebe sind alles,« fuhr Anna fort, »und Niemand als Euch Beiden kann etwas begegnen, das der Rede werth wäre? Gutes, liebes Kind, ich möchte nie Dir wehe thun, am wenigsten in dieser Stunde, doch der Jugend-Dünkel, der Dich wie alle Deinesgleichen verleitete, Euch weit entfernt von allen Übrigen auf eine ganz besondere Stufe zu stellen, und alles auf Euch zu beziehen, kann ich selbst jetzt nicht loben; er zieht ja zu traurige Folgen nach sich für Euer künftiges Leben. Du weinst, Vicktorine? weine nicht, und nimm wenigstens den Trost von mir an, den einzigen, den ich Dir geben kann, daß, täuschte ich mich auch in der Hoffnung des glücklichen Erfolgs [70] dessen, was ich jetzt zu unternehmen im Begriffe bin, dennoch Deine und Raimunds Lage dadurch nicht im mindesten anders gestellt werden kann, als sie jetzt steht. Und nun laß Dir meine Angelika noch einmal empfohlen seyn; Du liebst sie wie eine Schwester, pflege und schone ihrer, wie Du sie liebst. Auch Dir meine Angelika empfehle ich meine Vicktorine, bleibe ihr mit Deinen still ergebenen frommen Sinn stets zur Seite, verlasse sie nie. Und wenn der Geist des Unmuths sich in ihr zu regen beginnt, was, während ich nicht da bin ihn zu bannen, wohl öfters noch als sonst geschehen möchte, dann, meine Angelika, dann suche Deine milde Liebe ihn zu besänftigen. Laßt mich so Euch wieder finden,« setzte sie mit in Thränen glänzenden Augen hinzu, indem sie beide Mädchen eines in des andern Arme legte. »Denkt meiner in Liebe, doch nicht in Sorge. Schreiben werde ich selten, nur wenn es nöthig werden sollte. Eure Briefe sendet unter meiner Adresse mir in mein Stift, ich werde sie sicher erhalten, aber ich bitte Euch, schreibt auch Ihr mir nur, wenn Ihr mir wirklich etwas zu sagen [71] habt, das ich wissen muß. Wenn ich nichts von Euch höre, werde ich denken, es gehe Euch gut, thut Ihr ein Gleiches, wenn Ihr von mir nichts vernehmt.« Vicktorine schwamm in Thränen bei diesem feierlichen Abschiede, doch Angelikas Auge blieb trocken, denn sie weinte schon lange nicht mehr. Sie warf sich nur mit flehender Geberde an den Busen der Tante, und hob schüchtern den bittenden Blick zu ihr empor.

»Mein theures Kind, mein geliebtes holdes Leben,« sprach Anna sehr gerührt, »ich verstehe Deine stumme Sprache, sie trifft mir schmerzlich in das Herz. Aber ich kann auch Dir nur erwiedern, was ich auf Vicktorinens laute Klagen antwortete; es muß so seyn, ich muß auch von Dir auf einige Zeit mich trennen. Ich darf Dich nicht mit mir nehmen. Wollen wir denn beide zugleich die arme Vicktorine verlassen?«

Angelika richtete sich auf, und reichte in schweigender Wehmuth, mit einem unendlich schmerzlichen Lächeln, Vicktorinen die Hand.

»Ich werde schnell reisen, weit schneller als [72] Deine der ungestörtesten Ruhe bedürfende Gesundheit es ertragen könnte,« setzte Anna jetzt gefaßter hinzu, ich werde sogar die mondhellen Nächte benutzen. Das Geschäft, dem ich zueile, wird alle meine Zeit in Anspruch nehmen, Deine mir sonst so liebe Gegenwart, meine Angelika, würde mir nur quälend werden, weil ich Dich durchaus vernachlässigen müßte. So denke ich Dich gesünder und gestärkter hier wieder zu finden, als ich Dich zurückzubringen hoffen dürfte, wenn ich mir es erlaubte, meinem Wunsche zu folgen und Dich mit mir zu nehmen.«

Angelika beugte sich schweigend über die Hand ihrer geliebten Wohlthäterin, und nur ein leiser Seufzer drängte sich unhörbar aus der tiefsten Tiefe ihrer Brust herauf.


Sobald die Mädchen sie verlassen hatten, befahl Anna, auch den Rittmeister Horst zu rufen, um den während ihrer Abwesenheit auf das Betragen der Schwester seiner Braut aufmerksam zu machen, denn auch diese hielt sie ihrer liebenden [73] Vorsorge nicht unwerth, so weit Babet auch für jetzt davon entfernt seyn mochte, es dankbar zu erkennen und durch kindliches Vertrauen zu erwiedern. Daher wünschte sie wenigstens, in Agathens künftigen Gatten dem leichtsinnigen Mädchen einen brüderlichen Freund zu hinterlassen, der an ihrer Stelle über die Unvorsichtige wachte, um sie vor großen Fehltritten zu bewahren.

Die Nachricht von der Tante nahen Abreise betrübte auch den wackern jungen Mann, der sie nicht minder liebte und ehrte als alle, die ihr nahten. Er hörte sehr aufmerksam, was sie in Hinsicht auf Sir Charles und Babet ihm zu sagen für gut fand, gab ihr aber zugleich zu erkennen, daß auch ihm das Betragen dieser Beiden längst sehr unangenehm aufgefallen sey, und daß er, wie wohl vergebens, es sogar versucht habe, Babet zu warnen.

»Ich mochte wohl freilich dabei,« sprach er, »meine Worte nicht ganz genau abgewogen haben, denn das ist nun einmal nicht meine Sache, aber ich bin dafür auch schlecht genug angekommen. [74] Herr Gott, wie hat Sie mich abgeführt! Am liebsten hätte ich den jungen Herrn in die Lehre genommen, doch aus Schonung für eine Familie, deren Güte ich so viel verdanke, wollte ich es vermeiden, Zwiespalt zu stiften; denn ich weiß ja, auf welchem Fuße der Fremde hier im Hause eigentlich steht. Ich verließ mich deshalb lieber auf Sie, gnädige Tante! denn ich sah wohl, wie Sie überall ein wachsames Auge hielten. Jetzt aber wollen Sie leider fort; nun reisen Sie mit Gott, hochwürdige Frau! wenn es denn nicht anders seyn kann. Ich will ihr Gebot erfüllen so gut ich es vermag, und was mir vielleicht an welterfahrner Klugheit dazu abgeht, soll meine treue Wachsamkeit ersetzen. Warnen werde ich nicht mehr, das bestärkt Babet nur in ihrem Eigensinne und wäre auf jeden Fall in den Wind gesprochen, aber finden soll sie mich überall, wo sie mich nicht gern sehen wird, und sie müßte es weit klüger anfangen, als es in ihren Kräften stehen mag, wenn sie mich hinter das Licht führen wollte.«

»Babet ist sehr schlau,« erwiederte die Tante.[75] »Thut nichts, sie findet in mir ihren Mann,« fiel der Rittmeister ihr lächelnd ein. »Sie haben mir da freilich einen etwas gefährlichen Vorposten anvertraut, hochwürdige Frau, aber das ist nun einmal Husarendienst, und ich will ihn schon mit Ehren behaupten, sorgen Sie nicht.«

»Ich traue Ihnen das Beste zu,« sprach Anna, »aber Eines bitte ich nur nicht zu vergessen; Sie dürfen weder drein hauen noch drein schießen nach Husarenart.«

»Ei Gott bewahre, wo denken die gnädige Tante hin,« erwiederte Horst, recht herzlich lachend, »ich werde ja nicht. Dem Sir Charles soll kein einziges seiner parfümirten Härchen gekrümmt werden, wenn er es nicht selbst mit Gewalt an mich bringt, und darnach sieht er mir nicht aus. Aber gnädige Tante, da wir doch nun einmal so vertraulich mit einander sprechen, so möchte ich nur Eines noch Sie fragen, was mir schon lange recht schwer auf dem Herzen liegt. Ist es denn wahr, und ist es denn wirklich Herrn Kleeborns und auch Ihr Wille, daß unsre engelschöne [76] und engelgute Vicktorine diesem Strohmanne, diesem englisirten Seekalbe, das mir im Grunde der Seele so zuwider ist wie ich es auszudrücken nicht vermag, daß sie, sage ich, diesem Menschen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert werden soll? Und können Sie es vor Gott und Ihrem Gewissen verantworten, wenn Sie das leiden?«

Horst war während dieser Rede ganz roth im Gesichte geworden, und die Tante freute sich herzlich an dem wohlgemeynten Eifer des jungen Mannes, dessen redliches Gemüth sie längst erkannte, und den sie gern als ein sehr achtbares Mitglied der Familie betrachtete. Ohne jedoch zuviel von Vicktorinens Geheimniß zu verrathen, ließ sie ihm daher jetzt deutlich merken, daß diese schon längst eine andere, würdigere Wahl getroffen habe, und gewiß durch offenen Widerstand sich dem Elend entziehen würde, welches ihr an Sir Charles Hand drohe, wenn nicht früher vielleicht noch irgend ein glücklicher Zufall sie von ihm befreie.

Die höchste Zufriedenheit leuchtete aus des Rittmeisters ehrlichen Augen, während Anna ihm noch[77] auf das Eindringendste die strengste Verschwiegenheit über diese Angelegenheit gebot. »Lassen Sie auch meine arme Vicktorine während meiner Abwesenheit Ihrem Schutz empfohlen seyn,« setzte sie noch hinzu. »So wie ich Sir Charles Betragen ansehe, hoffe ich, daß nichts geschehen soll, was Vicktorinen auf's Äußerste treiben könnte, während ich nicht da bin, um mich ihrer anzunehmen. Doch würde Vicktorine gezwungen, der offnen Gewalt ihren festen Muth entgegen zu stellen, dann, lieber Horst, dann stehen Sie ihr bei an meiner Statt. Kleeborn ist nicht bösartiger Natur, doch sein Eigensinn macht ihn in der ersten Hitze zu allem fähig, besonders wenn sein eigenes Interesse dabei mit ins Spiel kommt, wie eben hier. Er liebt seine Tochter von Herzen, doch Reichthum ist in seinen Augen das Höchste auf Erden, und so könnte er wohl dahin kommen, Vicktorinens wahres Glück ohne Schonung zu vernichten, und dabei dennoch überzeugt zu bleiben, er handle als ein redlicher Vater, der sein verblendetes widerspenstiges Kind sogar mit Gewalt glücklich zu machen suche.«

[78] »Lassen Sie mich vor allen Dingen Ihre liebe schöne Hand küssen, daß Sie mich jetzt durch Ihr Vertrauen erst recht zu Ihrem Verwandten eingeweiht haben,« erwiederte der Rittmeister, »und seyn Sie übrigens unbesorgt, Vicktorine ist von heute an meine Schwester. Mir ist das Herz jetzt federleicht, denn nun weiß ich gewiß und möchte mit Leib und Leben mich dafür verbürgen, daß der Hans Hasenfuß mein Vetter nicht wird, und hoffentlich auch nicht mein Schwager. Lassen Sie mich nur machen, ich will erst meiner Sache ganz sicher seyn, ehe ich etwas verrathe, aber Sie sollen Freude an mir erleben.«

»Horst, wenn Sie eine Unvorsichtigkeit begingen!« rief die einigermaßen ängstlich gewordene Tante. »Ei bewahre,« erwiederte dieser, »doch eine honette Kriegslist ist nicht verboten, und die verlangt ja an und für sich schon, daß man Vorsicht übt. Verlassen Sie sich in Gottes Namen auf einen ehrlichen Husaren, der Ihr Zutrauen zu schäzzen weiß, und es deshalb auch verdienen will, und reisen Sie ohne weitere Sorge. Vicktorine hat in [79] jedem Fall einen Beistand an mir, der selbst in Noth und Tod zur Seite bleibt, das Übrige findet sich. Geben Sie Acht, sie wird erlöst und ich bin ihr Ritter.«

»So?« sprach Agathe, welche in diesem Augenblick den Kopf zur Thür hineinsteckte, um sich nach ihrem Rittmeister umzusehen, den sie ungern lange vermißte. »Nun, da muß ich mich ja auch wohl nach einem andern Ritter umsehen?« setzte sie hinzu, indem sie vollends hineintrat. »Denn Niemand kann, wie bekannt, zweien Herren dienen, und vollends zweien Damen, das geht nun gar nicht an.«

Die Lustigkeit, mit der sie diese Worte sprach, ging indessen sehr bald in tiefe Betrübniß über, da sie von der nahen Abreise der Tante Kunde erhielt. »Ach laß mich,« sprach sie zu Horst, der es versuchen wollte, sie zu trösten, »laß mich, Du weißt nicht, was wir alle Beide an ihr verlieren. Mich verläßt mein guter Engel, wenn sie von mir geht. Wer soll mir dann nun zum Guten rathen, und wer mich schelten, wenn ich dummes Zeug mache? Ach! und wer wird mich nun am Hochzeitstage so [80] hübsch anziehen, wie sie es allein nur kann. Sehen Sie, Tante, Sie haben es mir von Anfang an versprochen, und nun lassen Sie mich doch im Stich, und das sage ich Ihnen, wenn Sie mir den Brautkranz nicht aufsetzen, so mag ich lieber gar nicht getraut werden.« Die hellen Thränen liefen ihr bei diesen Worten über das kindlich-rosige Gesicht.

Anna tröstete sie liebkosend, so gut sie es vermochte. »Ich lasse Dich auf keinem Fall im Stich', liebe Agathe,« sprach sie lächelnd, »trockne nur Deine Thränen. Ich verspreche es Dir, ich putze Dich auf das Schönste am Hochzeitstage, ich setze Dir mit eigener Hand den Kranz auf, und sollte ich in der letzten Stunde vor der Trauung erst ankommen, ich komme, darauf gebe ich Dir mein Wort, Du kennst mich ja, und weißt, ich pflege es nicht zu brechen.« Doch alles Zureden half nur wenig, Agathe küßte zwar schmeichelnd die Hände der Tante, aber sie ward den ganzen Abend über nicht wieder froh, und die Thränen traten ihr in die Augen, so wie sie die geliebte Frau nur ansah.

Kleeborn wendete wenig ein, als die nahe Abreise[81] der Tante auch ihm angekündigt ward, obgleich er sie nicht gern sah, denn das Wort »wichtige Geschäfte« war eine Zauberformel für ihn, die unwiderstehliche Gewalt an ihm übte, daher ließ er sie willig gehen, und bat sie, nur recht bald wieder zu kommen.

Anna hatte sich jeden weitern Abschied ernstlich verboten, und so regte sich, außer den Bedienten, Niemand im Hause, als am folgenden Morgen ihr Reisewagen in der frühesten Dämmerung vorfuhr, den sie allein mit ihrer Kammerjungfer bestieg. Vicktorine barg, laut weinend, ihr Gesicht in ihre Decke, als sie ihn fortrollen hörte, und fühlte mit unnennbarer Angst sich so einsam und verlassen, wie nie zuvor in ihrem Leben. Auch Angelika ehrte das Gebot ihrer Wohlthäterin und blieb in der letzten Stunde von ihr entfernt, aber sie war doch aufgestanden, und lauschte durch die Fenstervorhänge, um die theure Gestalt nur noch einmal zu sehen.

»Du gehst,« sprach sie leise, mit gefaltenen Händen und zum Himmel gewandtem Blicke, »Du gehst und mein Auge sieht Dich wohl nie wieder; möge Gottes Seegen Dich begleiten, wohin Du Dich [82] wendest, und möge keine Ahnung davon in Deine Seele kommen, wie leicht und wie schnell, indessen Du fern von mir bist, die Nacht hereinbrechen kann, die mich Dir auf immer verbirgt! Finde bald wieder ein Wesen, dem Du so wohlthätig erscheinen kannst, als Du mir es warst, damit Dir keine Lücke in Deinem schönen Leben fühlbar werde, wenn ich nun dahin bin, und mögen nur sanfte, keine bitteren Thränen um die arme Angelika Deine lieben Augen füllen, wenn Du am Morgen, wo Du heimkehrst, mich suchest und nicht mehr findest!«


Raimund deutete der Tante in seinem Briefe zuerst nur ganz in der Kürze die Städte und Länder an, welche er besucht hatte, seit er von ihr und Vicktorinen scheiden mußte. Er meldete ihr, wie er in London nur wenige Wochen verweilte und dann von Dower nach Calais überschiffte. Das ganze schöne Frankreich, das wohl mit Recht der Garten von Europa genannt zu werden verdient, [83] durchzog er beinahe der Länge nach, um von dort nach Marseille zu gelangen.

In den bedeutendsten französischen Städten, durch welche ihn sein Weg führte, mußte er bald längere, bald kürzere Zeit verweilen, um manches verworrene, mitunter auch wohl bedeutenden Verlust drohende Geschäft seines Hauses zu ordnen. Das Glück war ihm dabei günstig gewesen, er hatte zugleich einige neue, seinem Hause Vortheil versprechende Verbindungen anzuknüpfen gewußt, und so war der, unter diesem glücklichen Himmelsstrich ohnehin so kurze Winter an ihm endlich vorüber gezogen.

»Stille, stille mein Herz,« schrieb Raimund weiter, »stille mein Herz, sprach ich oft ganz leise zu mir selbst, wenn die Ungeduld über das unruhige, mitunter auch ziemlich schlechte Treiben der Leute um mich her sich gar zu ungestüm in mir regen wollte; warte nur bis es Nacht wird und die Welt zur Ruhe geht, dann kömmt Deine Zeit. Und war denn nun endlich mein mühseliges Tagewerk vollbracht, dann, hochwürdige Frau, dann eilte ich meinen einsamen vier Wänden mit einer Sehnsucht [84] zu, als erwarte ich dort mit Gewißheit einen recht lieben Besuch zu finden, der mich für den ganzen langen Tag entschädigen sollte.«

»Ich kann Ihnen das freudige Gefühl nicht beschreiben, mit dem ich an meinen Schreibtisch flog, wenn es nun endlich still um mich geworden war, wenn ich nun Ihnen und Vicktorinen alles erzählte, was mich den Tag über erfreut, alles was ich gedacht, alles was ich gesehen hatte. Die schönen Gegenden, durch die mein Weg mich führte, die großen Überbleibsel einer gigantischen Vorwelt, deren man in dem südlichen Theile von Frankreich so viele noch antrifft; alles zeichnete ich auf, regellos, ungeordnet, aber treu; und wenn ich endlich aus Ermüdung die Feder niederlegen mußte, so war mir zu Muthe, als sey ich bei Ihnen gewesen, bei Ihnen und bei dem Leben meines Lebens, das ich an Ihrer Seite so sicher mir denke, als es das Kind im Arme der Mutter ist.«

»Und doch, warum sollte ich es Ihnen verhehlen wollen? es ergreift mich zuweilen ein Gefühl des Verlassenseyns, wie es nur der arme Verbannte [85] empfinden mag, der in Sibiriens eisigen Wüsten sein trostloses Daseyn zwischen Leben und Erstarren kümmerlich fristen muß, weit geschieden von der schönen Sonne, die in bessern Tagen und glücklichern Zonen ihm leuchtete. Warum soll ich Ihnen nicht bekennen, es steht oft so schmerzlich klar und lebendig vor meinem Geiste, daß ich es kaum zu ertragen weiß, wie unbegreiflich lange ich nun schon von Ihnen und Vicktorinen geschieden bin; so ganz getrennt, daß auch nicht das leiseste Zeichen ihres Andenkens, kaum Ihres Daseyns mich erreicht. Und dennoch kann ich es nicht lassen, immer von neuem den trüben Blick der noch trübern Zukunft zuzuwenden, und, zerrissen von Sehnsucht und Ungeduld, zur Erhöhung meiner eigenen Qual, die Zahl der langen, unabsehbar langen Reihe von Tagen im Voraus zu berechnen, die ich alle noch in dieser fürchterlichen Abgeschiedenheit werde durchleben müssen.«

»Sie sind so mild, Sie zürnen gewiß keinem, der Ihnen vertrauend naht, und so will ich diesem Geständnisse auch noch das hinzufügen: es gesellt sich[86] zu jenen Qualen oft ein sehr herbes Gefühl der Reue, der bittersten Reue darüber, daß ich es nie wagte eine Bitte auszusprechen, welche mir in Ihrer Nähe stets auf den Lippen schwebte, die heiße innige Bitte: doch zuweilen, sey es auch noch so selten, in noch so wenigen Zeilen, mir von Sich und Vicktorinen Nachricht zu ertheilen. Ich durfte diese Bitte nicht wagen, weil ich Vicktorinens erzürnten Vater einst versprach, jeder Mittheilung zwischen uns beiden auf unbestimmte Zeit zu entsagen. Die Überzeugung, daß auch Vicktorine mich ermahnen würde, dieses Versprechen in keiner Art zu verletzen, bestärkte mich in meinem Schweigen. Denn sind wir nicht Eins? Muß nicht jedes Gefühl, das in mir laut wird, auch in ihrem Herzen wiederhallen. Wenn ich aber indessen wieder bedachte, daß mich dennoch in Hinsicht auf Sie, hochwürdige Frau! kein Versprechen binde, dann freilich, dann verlor ich doch zuweilen die fein gezogene Linie aus dem Gesichte, die einzig bestimmen konnte, was hier erlaubt sey? was nicht? Sie soll entscheiden, beschloß ich endlich, sie selbst, Anna von Falkenhayn.[87] Hält sie es für erlaubt, so wird sie gewiß aus eigenem Antriebe mich auffordern, ihr zu schreiben, und sich auch erbieten, mir von Vicktorinen Nachricht zu geben.«

»Wie oft, hochwürdige Frau, wie oft lauschte ich damals, als ich noch an jedem Morgen Ihrer wohlthuenden Nähe mich erfreuen durfte, der Erfüllung dieses sehnlichsten Wunsches, mit bangbewegtem Herzensschlag entgegen! Wie oft glaubte ich ihr ganz nahe zu seyn, wenn Sie so mütterlich theilnehmend über die nahe lange Trennung mit mir sprachen! Irrte ich wirklich, wenn ich in jener Zeit auch in Ihren Augen zuweilen den Wunsch zu lesen glaubte, dem armen Scheidenden, der all' sein Hoffen einzig auf Sie gestellt hatte, auch aus der Ferne ein Wort des Trostes sagen zu dürfen? Doch Sie schwiegen immer, unabänderlich! Und so ergab ich mich endlich nicht nur darein, den einzigen Trost zu entbehren, welchen nur Sie mir gewähren konnten, sondern ich beschloß auch sogar, Ihnen selbst nie zu schreiben, um mir die hoffnungslose Qual des Erwartens einer Antwort zu ersparen.«

[88] »Ohnerachtet dieses festen Entschlusses wage ich es aber doch heute nicht nur freien Muthes Ihnen zu schreiben, sondern auch schon jetzt mein Tagebuch Ihren Händen zu übergeben, was ich eigentlich erst später in einer glücklichern Zeit zu thun gedachte, denn ein über allen Ausdruck erhabenes, aber zugleich auch höchst schauerliches Ereigniß, hat vor kurzem mich von der Nothwendigkeit überzeugt, vorher mein Haus zu bestellen, ehe ich den Weg betrete, den ich zu wandeln habe. Und so übergebe ich denn, hochwürdige Frau, im reinsten Vertrauen auf Ihre nachsichtige Milde meinen letzten Willen Ihren Händen, ehe ich Europa verlasse; oder vielmehr, ich gestehe Ihnen, daß ich dieses zum Theil schon früher gethan habe, ohne daß Sie darum wußten.«

»Sie erinnern sich unstreitig einer kleinen Schatulle, die ich kurz vor meiner Abreise Ihnen mit der Bitte übergab, sie mir aufzubewahren; ich füge diesem Briefe den Schlüssel zu derselben bei, den ich, überwältigt vom Schmerze der Abschiedsstunde, Ihnen zu überreichen vergas. Das kleine Behältniß [89] verschließt in sicheren Papieren mein ganzes väterliches Erbtheil und zugleich auch eine Abschrift meines gerichtlich niedergelegten Testamentes, durch welches alles, was ich besitze, nach meinem Tode Vicktorinens Eigenthum wird. Gegen die Reichthümer, welche das theure Wesen dereinst von seinem Vater zu erwarten hat, muß zwar alles, was ich geben kann, nur als höchst unbedeutend erscheinen, aber es ist dennoch genug, um Vicktorinen über den Zwang des Lebens zu erheben, der auf ihrem Geschlechte weit schwerer lastet als auf dem unsern. Mein kleines Vermächtniß kann sie vielleicht einst von der harten Nothwendigkeit retten, ihre Neigung jenem Zwange opfern, sich Pflichten aufbürden lassen zu müssen, deren Erfüllung sie stets als ein stilles Unrecht empfinden würde, und der Gedanke ist mir unbeschreiblich tröstlich, selbst wenn ich nicht mehr bin, der Geliebten das höchste Gut, die Freiheit ihres Gemüths, auf diese Weise sichern zu können. Meine letzte Bitte, bis wir uns wiedersehen, ist für jetzt, daß Sie, hochwürdige Frau, dieses Kästchen eröffnen und mein [90] Tagebuch denen darin schon befindlichen Papieren beilegen.«

»Sollte ich nicht wieder kehren, so wird Herr Kleeborn hoffentlich nichts dagegen haben, daß dieses letzte Denkmahl des trüben Daseyns eines Menschen, der dann seinen Plänen nicht weiter hinderlich seyn kann, in Vicktorinens Händen komme. Ich war bei ihr, als ich es niederschrieb, und vielleicht wird es mir vergönnt, sie tröstend zu umschweben, wenn sie einsam, oder an Ihrer Seite mit trübem Blicke diese Ergießungen des treuliebenden Herzens überschaut, das nur ihr zu eigen war, so lange der warme Strom des Lebens Regung ihm lieh.«

»Auch das Kästchen, in welchem ich meine ganze Habe niederlegte, gehört Vicktorinen, wenn ich nicht mehr bin, und ich bitte die Geliebte, es hochzuhalten, um meines Vaters willen, denn es war ihm werth. So lange der theure Greis noch unter uns wandelte, durfte keine fremde Hand es berühren und sein brechendes Auge erstarrte in dessen Anblick. Noch denke ich mit tiefem Schmerze daran, wie ich es ihm zum letztenmal hinreichen [91] mußte; ich sah deutlich, wie er mit sichtbar peinlicher Anstrengung sich bemühte, mir etwas darüber zu sagen, doch der Schlagfluß, dessen Wiederholung ihm tödlich ward, hatte gleich im ersten Anfange seines plötzlichen Erkrankens ihn der Sprache und zugleich der Kraft zum Schreiben beraubt.

Nach seinem Ableben fand ich bei der sorgfältigsten Untersuchung nichts weiter in der Schatulle, als die, unser Vermögen betreffenden Dokumente, welche bis diesen Augenblick noch darin aufbewahrt liegen. Und so muß ich denn glauben, daß nur das Kästchen selbst für ihn als Andenken einer früheren Zeit hohen Werth hatte, denn der Gedanke an Gold und irrdische Habe konnte unmöglich diesen reinen edlen Geist noch in der letzten Scheidestunde bis zu diesem Grade beunruhigen. So lange ich denken kann, sah ich den geliebten Vater sehr oft im schmerzlichen Kampfe mit wahrscheinlich recht trüben Erinnerungen aus seinem früheren Leben, und dieses bestärkt mich in meinen Muthmaßungen von dem Kästchen. Indessen[92] mochte ich es nie wagen, die seltnen Augenblicke, in denen er eines kurzen Vergessens sich erfreute, durch unzeitiges Forschen zu unterbrechen, und so ist mir alles fremd geblieben, was auf seine Jugendgeschichte Bezug haben mochte. Mein eignes Daseyn ist mir sogar gewissermaßen ein Räthsel, dessen Auflösung mir indessen wenig Sorge macht. Seit mein Vater nicht mehr ist, kenne ich niemand, der durch Bande des Bluts mir verwandt wäre, und sogar das Land, aus dem ich eigentlich stamme, ist mir unbekannt. Denn aus einzelnen Äußerungen, die zuweilen meinem Vater entschlüpften, mußte ich beinahe vermuthen, daß er kein Deutscher sey, obgleich er der Sitte und Sprache dieses Landes vollkommen mächtig war, und auch mich darin erzog.«

»Die Bitte: Vicktorinen einstweilen sowohl die Verfügungen, die ich einer ungewissen Zukunft wegen treffen zu müssen glaubte, als überhaupt den ganzen Inhalt dieses Briefes zu verschweigen, wäre gewiß überflüssig.«

»Sagen Sie dem geliebten Wesen nur, daß ich lebe, und der Erfüllung meiner Pflicht freudigen [93] Muthes entgegen gehe. Dieses ist erlaubt, und mehr braucht es zwischen uns beiden nicht. Und nun vergönnen Sie mir, noch ehe ich von Ihnen scheide, mein Tagebuch zu ergänzen, indem ich Ihnen die Ereignisse dieser letzten Tage mittheile. Ich weiß, daß diese auf vielfache Weise Ihr Mitgefühl in Anspruch nehmen werden, um so mehr, da in Ihnen die Veranlassung zu diesem Schreiben und meiner früher ausgesprochenen Bitte liegt.«

»Ich will mich, hochwürdige Frau! nicht weitläuftig darüber verbreiten, wie wenig erfreulich und unter welchem Drange, mitunter recht unangenehmer Geschäfte, ich meine Zeit in Marseille hinbringen mußte. Meine einzige Erholung nach jedem mühsam durchkämpften Tagewerk war Abends ein Spaziergang, so bald die Sonne sich dem Untergange zuneigte, und am liebsten wallfahrtete ich dann auf ziemlich steilem Pfade dem Gipfel eines, nicht zu weit von der Stadt entfernten Berges zu, um mich dort an der, um diese Stunde vom Meer herrüberwehenden Kühle und der herrlichen [94] Aussicht zu erquicken. Gleich einer Mauerkrone schmückte hier eine alte Zitadelle mit ihren von Wind und Wetter gebräunten Zinnen und Thürmen den nackten Scheitel des fünfhundert Fuß hoch über dem Meer stolz und kühn sich erhebenden Felsens, und bildet mit dem dunkeln Blau des darüber sich hinwölbenden Himmels den wunderbarsten Contrast, den ich täglich mit neuer Lust betrachtete. Ganz in ihrer Nähe hat frommer Glaube schon seit undenklicher Zeit eine Kapelle hingebaut, in welcher die heilige Jungfrau unter dem Namen notre Dame de la Garde verehrt wird, und sowohl die Festung als der Felsen selbst werden in der Umgegend nach diesem kleinen Tempel benannt. Wenn ich diese Kapelle besuchte, so ergriff mich sowohl ihre Bestimmung als ihre Lage auf unbeschreiblich rührende Weise. Von der hervorragendsten Stelle des Felsens winkt sie dem scheidenden Schiffe den letzten Gruß aus der Heimath noch lange nach, wenn der übrige Theil der Küste seinem Auge schon entschwunden ist, und dem Wiederkehrenden leuchtet sie zuerst entgegen, wie ein aus den Wogen auftauchender, [95] Freude und Wiedersehen verkündender Stern, ehe noch das Land selbst seinem Auge sichtbar werden kann. Das sonst als wunderthätig hier verehrte Gnadenbild von gediegenem Silber ward freilich schon damals, als frevelnde Hände jedes Heiligthum ungestraft antasten durften, von den Kürmagnolen entführt; aber der alte fromme Glaube haftet doch noch an der Stelle, die es einst heiligte. Die Seefahrer empfehlen sich vertrauensvoll dem Schutz der notre Dame de la Garde, wenn sie den Hafen verlassen, und rings umher an den Wänden hängen zahllose Dankopfer von denen, die ihrem Beistande Errettung aus der Sklaverei der Barbaren, oder Erhaltung mitten in der drohendsten Gefahr schuldig zu seyn glauben. Morgens und Abends eilen Frauen und Mädchen aus der Umgegend hieher die für ein geliebtes Leben zittern, das im Kampf mit dem wilden Elemente begriffen ist, welches sich hier unabsehbar wie die Ewigkeit vor dem geblendeten Auge ausbreitet. Sie schmücken den kleinen Altar mit frischen Blumen und geweihten Kerzen, und kehren hoffnungsvoll und beruhigt zu [96] ihrem Tagewerk zurück, wenn sie im brünstigen Gebet den geliebten Mann der mächtigennotre Dame de la Garde empfohlen haben. Wie oft stand ich da, gedachte Vicktorinens und suchte in den ländlichen Gestalten irgend eine Ähnlichkeit mit dem geliebten Wesen aufzufinden, dessen reines inniges Gebet vielleicht in der nehmlichen Stunde für mich zum Himmel aufstieg, bis auch mich mein Gefühl neben die Beterinnen am Fuße des kleinen ärmlichen Altares hinzog, wenn gleich mein Glaube keiner heiligen Vermittler zwischen mir und Gott bedarf.

Am längsten und liebsten aber pflegte ich hier auf der Terrasse dicht vor der kleinen Zitadelle zu verweilen, von welcher aus sich eine wahrhaft unermeßliche Aussicht vor mir ausbreitete, die ich bis jetzt noch keiner andern zu vergleichen weis. Land und Meer, die große lebensreiche Stadt mit ihrem Gewühl, von dem kein Ton bis hier hinaufgelangt, die malerisch geformten Felsen, der Hafen mit seinen vielen fremdartigen, in ihrer Bauart so verschiedenen Schiffen und Fahrzeugen aller Art, die [97] viel tausend kleinen Bastiden ringsumher, welche gleich leuchtenden weißen Punkten hervorglänzen aus ihrem Myrthengesträuch, ihren Olivenbäumen, ihren Pinien; alles dieses zusammen gewährt hier beim Untergange der Sonne ein Bild, dessen Darstellung weder Pinsel noch Feder unternehmen darf. Und doch fühlt sich Jeder zu dem Versuche hingerissen und ich selbst muß jetzt gewaltsam mich davon abwenden.«

»Hieher, hochwürdige Frau! wallfahrtete ich auch noch am letzten Abende, den ich vor meiner Abreise nach Toulon in Marseille zuzubringen gedachte. Arbeitsmüde, geistig erschöpft von tausend kleinen neckenden Widerwärtigkeiten, die ich des Tages über zu bekämpfen gehabt hatte, machte ich mich etwas später als gewöhnlich auf den Weg. Die Sonne war schon dem Untergange nahe, und ich bemerkte es kaum, daß ein dünner durchsichtiger Schleier den sonst ewig heitern Himmel wie mit einem Flor zu bedecken begann. Der Weg kam mir ungewöhnlich lang vor, der Felsen schien mir steiler als je, kein Lüftchen wehte mir Kühlung zu, wie sonst immer [98] um diese Stunde, wo der Seewind sich aus dem Meere erhebt; eine für diese Jahreszeit sehr drückende Schwüle erschwerte mir das Athmen, und ich empfand eine so ungewohnte lähmende Mattigkeit, daß ich recht froh war, den Felsen endlich erstiegen zu haben.«

»Ich eilte sogleich der Terrasse zu, um noch einmal an der köstlichen Aussicht mich zu erfreuen, ehe es dunkel ward, denn unter diesem Himmelsstrich ist die Zeit der Dämmerung so kurz, daß die Nacht gleich nach dem Sinken der Sonne ihre Rechte geltend zu machen beginnt. Zugleich wollte ich von dem alten Invaliden Abschied nehmen, der hier oben als Wächter angestellt ist und so lange der Tag währt, jedes am Horizonte auftauchende Seegel vermittelst eines großen Fernrohrs beobachtet, um dessen Ankunft sogleich der Stadt durch Signale kund zu thun, sobald sich nur die Flagge des ankommenden Schiffes erkennen läßt.«

»Zwischen mir und dem alten wackern Graukopfe war während meiner öftern Besuche hier oben eine Art freundlichen Verkehrs entstanden, von dem ich[99] ihm ein kleines Andenken zurückzulassen wünschte. Ich hatte gewissermaßen sein Herz gewonnen, weil ich ihm freundlich zuhörte, wenn er mir mit der, alten Franzosen so eignen Redseligkeit, von seiner Jugendzeit erzählte, die er gleich allen Greisen der jetzigen weit vorzog, von der vormals unter dem unglücklichen Ludwig in Versailles herrschenden Pracht und von der Schönheit und Huld seiner noch unglücklicheren Königin, die er sogar einmal gesprochen zu haben versicherte, als er eben im Park von Versailles Schildwache stand.«

»Der gute Alte pflegte mich sonst immer mit so lauter Freude zu empfangen, als es die alt französiche Höflichkeit ihm nur erlauben mochte, doch heute war auch dieses anders wie sonst. »Kehrt um Herr!« rief er mir schon von weitem zu, sobald er mich ansichtig ward, »geht zurück, um Gotteswillen was wollt Ihr heute hier oben? Ein fürchterliches Unwetter zieht herauf, und Ihr habt von Glück zu sagen, wenn Ihr noch vor dessen völligem Ausbruche die Stadt erreicht.«

»Ich begriff den alten Regnand anfangs nicht, [100] die Luft war vollkommen still, kein Hälmchen regte sich; nur der Schleier, der jetzt den ganzen Himmel bedeckte, verdichtete sich unmerklich, aber schnell, und über dem Meere hin stiegen weißgraue, zackige Wolkengebilde auf. Doch plötzlich veränderte sich alles. Mit wildem ängstlichem Geschrei flog jetzt auf einmal ein unzählbares Heer großer und kleiner Wasservögel von allen Seiten dem Ufer zu, und suchte mit bangem Geflatter sich in die Höhlen und Spalten der Felsen zu verbergen. Nahe am Strande war das Meer noch still, es war, als ob seine helle, jetzt blaßgraue Fläche nur innerlich erzitterte, ohne jedoch eigentlich Wellen zu bilden, doch weiterhin in der offnen See thürmte es sich schon Haus hoch, und ein dumpfes schauerliches Getöse stieg immer lauter und grausenvoller aus der entsetzlichen Tiefe zu uns herauf.«

»Wie kurz vorher die Möven und das übrige Geflügel dem schützenden Strande zugeeilt waren, so sah ich jetzt auf den Wogen unzähliche kleine schwarze Punkte in ängstlicher Eile ihm zustreben, lauter Fischernachen, die mit Anstrengung aller Kräfte das[101] Land zu erreichen suchten. Einer davon schlug nahe am Ufer um, aber die rüstigen Fischer retteten sich schwimmend. In einiger Entfernung wandten sich ein Paar große Schiffe mit vollen Seegeln durch die kleinen Nachen durch; wie ein Paar Schwäne theilten sie in stiller Majestät die schäumenden Wogen und erreichten glücklich den nahen Hafen, ehe der Sturm mit seinem vernichtenden Fittig sie ereilen konnte.«

»Die Luft war am Ufer still, aber das bange Grausen, das auf der ganzen Natur ruhte, hatte auch mich ergriffen, und ich stand da und blickte, unfähig mich abzuwenden, den kommenden Schrecken entgegen. Mein alter Freund saß indessen unbeweglich, wie fest gebannt, vor seinem Fernrohr, und obgleich die hereinbrechende Dunkelheit ihm nicht mehr erlauben mochte, weit zu sehen, so starrte er dennoch mit unverkennbarer Angst in die Wasserwüste hinaus, wo der Kampf der Elemente sich immer wilder erhob. Von mir nahm er dabei keine Notiz, nur daß er, ohne es vielleicht selbst zu wissen, daß er es that, mich dann [102] und wann ermahnte, heimzukehren so lange es noch Zeit sey.«

»Heulend, pfeifend, brüllend, mit gräßlichem Tosen brach jetzt der Sturm los, und das Meer antwortete ihm. Bergehoch, mit weißem, hell durch die Dämmerung leuchtenden Perlenschaume gekrönt, thürmte sich am Ufer die Brandung auf, brach am Felsen in sich zusammen, erhob im Momente sich von neuem, und unabsehbar tief gähnte der schwarze furchtbare Abgrund zwischen den immer von neuem wieder erstehenden Wogen. So weit das Auge reichte, siedete das Meer in unbeschreiblicher Wuth, stürzten auf der unermeßlichen Fläche Berge über Berge ineinander. Blitze fuhren daher und die ganze Atmosphäre stand in Flammen, Donner und Meer brüllten um die Wette. Der jetzt ganz schwarze Himmel schien sich in das Meer versenken zu wollen, die gewaltigen Wogen thürmten gegen ihn sich an, als wollten sie, gleich ergrimmten Titanen, mit ihm kämpfen, und der Fels, auf dem ich stand, schien in seiner Grundfeste zu erbeben.«

[103] »Dichte Finsterniß bedeckte die grausenvolle Scene und erhöhte ihre Schrecken. Jetzt zerrissen Blitze von allen Seiten die schwarze Wolkendecke, und bei der, einige Sekunden lang anhaltenden und nach jedesmaligem Verschwinden schnell wiederkehrenden blendenden Helle, entdeckte mein scharfes Auge in nicht zu großer Entfernung einen dunklern Gegenstand, den eine Woge der andern im gräßlichen Spiele zuwarf, der uns bald näher gerollt ward, bald weiter sich entfernte, bald auf drohender Höhe schwebte, bald tief hinab dem entsetzlichen Abgrund zugeschleudert wurde. Es war ein Schiff, allmächtiger Gott! ein Schiff! Wie klein ist alles Menschenwerk gegen die unermeßliche Natur! Und was sind wir, die wir uns rühmen, die Elemente unserem Dienste zu unterjochen!«

»Jetzt begann der Regen in großen schweren einzelnen Tropfen niederzufallen; beim Scheine der Blitze glänzten diese wie Feuerfunken. Mir kam es nicht in den Sinn, ein schützendes Dach aufzusuchen, es war mir als gäbe es keinen Schutz mehr in der Welt vor dieser vernichtenden Gewalt der [104] Natur. Von Ehrfurcht durchschauert in den tiefsten Tiefen meines Gemüths fühlte ich mich in der unmittelbaren Gegenwart des Herrn der Welt und ich vermochte es nicht einen andern Gedanken zu fassen, als seine unbegreifliche Größe und die arme Endlichkeit alles irdischen Beginnens.«

»Kommt herein, Herr, verschmäht meine arme Hütte nicht, Ihr werdet unter meinem Dache wenigstens im Trocknen seyn,« sprach jetzt mein alter Invalide, und zog mich mit höflicher Gewalt seiner kleinen, ganz in der Nähe befindlichen Wohnung zu. »Ich sage es Euch vorher, ich habe Euch gewarnt, Herr, aber da war kein Gehör, schalt er recht väterlich, während er in seinem ärmlichen Stübchen den durchnäßten Rock mir auszog und ihn an das Kamin hing, in welchem er mit einigen Bündeln trockner Weinreben und ein Paar dicht belaubten Zweige der immergrünen Eiche, die hier einheimisch ist, ein hellaufloderndes Feuer anzündete.«

»Ich bin das gewohnt,« brummte er während dieser Beschäftigung nach seiner gutmüthigen Weise [105] fort; »einem alten Soldaten schadet so etwas nicht leicht, aber Ihr, junger Herr, ich sage Euch, ihr könnt eine Brustentzündung davon tragen. Folgt mir nur wenigstens diesmal, und nehmt einen Tropfen von meinem guten Curaçao, das wird Euch wohl thun.«

»Ich that alles, was der Alte wollte, ließ ihn ungestört um mich herum sein Wesen treiben, und horchte nur auf den Sturm, der immer furchtbarer die Hütte umtobte. Plötzlich vernahm ich, mitten durch den wilden Aufruhr der Elemente, einen von diesen sich unterscheidenden Schall wie von einer, in nicht gar zu weiter Entfernung gelösten Kanone, gleich darauf noch einen, und wieder einen. »Notre Dame de la Garde nehme der armen Seelen sich in Gnaden an! die werden den Morgen schwerlich wiedersehen,« seufzte, recht innerlich betrübt, der Alte. »Habt Ihr es gehört, Herr? das waren Nothschüsse. Wohl mag das arme Schiff in großer Noth schweben, aber da ist bei Menschen keine Hülfe. Bei diesem Wetter wagt kein Lootse sich hinaus.«

[106] »Ich will hin! rief ich, und griff nach meinem am Feuer hängenden Rock, ich will hinunter, sagt mir wo finde ich die Lootsen, ich will ihnen Gold bieten, vielleicht –«

»Bleibt, sage ich Euch, bleibt!« erwiederte der Greis, indem er mich fest hielt, »ich sage Euch, bötet Ihr auch Millionen, hier ist nichts zu thun. Die Lootsen wohnen weit von hier, nahe am Hafen, es sind brave Leute darunter, die ihr Leben nicht achten, wenn Hülfe möglich ist. In dieser Nacht aber wäre jeder Versuch an das Schiff zu gelangen wirklich Tollheit, und könnte nur zum Untergange führen. Solchen Sturm hat niemand seit Menschengedenken er lebt! Ich kenne das Schiff wohl, ich glaube daß es sogar Lootsen am Bord hat, denn seit mehreren Stunden sah ich unter großer Besorgniß zu, wie es auf der Höhe lavirte. Es ist der Phönix, ein braves Schiff, eines der schönsten und größten von Marseille. Aber so viel ich durch das Fernrohr sehen konnte, hat es während dieser Reise durch frühere Stürme schweren Schaden erlitten, denn es konnte sich nicht recht [107] regieren. Sonst hätte es wohl eben so gut noch den Hafen erreicht, wie die Syrene und der Merkur, die Ihr vorhin kurz vor dem vollen Ausbruche des Unwetters einlaufen saht. Horch! sie schießen wieder – und wieder – arme Leute! arme Leute! mögen Gott und die Heiligen sie trösten. So dicht vor dem Hafen! es ist ein grausames Geschick.«

»Die Thüre flog jezt weit auf, und hereinstürzte mit der Geberde einer Verzweiflenden ein junges Mädchen, von dem ich mich erinnerte, es sehr oft in der Kapelle beten gesehen zu haben. Wild flog ihr langes rabenschwarzes Haar um das todtenbleiche Gesicht, ihre Kleider waren durchnäßt, sie wollte reden, aber der Athem fehlte ihr.«

»Suzon, Mamsell Suzon, barmherziger Gott wo kommt Ihr her in dieser Schreckensnacht!« rief der Alte und schlug voller Entsetzen beide Hände zusammen.«

»Die Lampe, die Leuchte, Eure Laterne Vater Regnaud – »stammelte das arme Mädchen, »ich muß hinab an den Strand, hört Ihr das ängstliche [108] Nothschießen denn nicht? – ich will hin, ihnen muß Hülfe werden – sie müssen gerettet –« ihre Knie brachen bei diesen Worten unter ihr zusammen. Vater Regnaud hielt sie im Fallen auf, sie zitterte konvulsivisch, aber sie verlor nicht das Bewußtseyn. Wir standen ihr bei, so gut wir es vermochten, der Alte trug sie in seinen gepolsterten Sorgstuhl neben dem Kamin, rieb ihr die Schläfe mit gebranntem Wasser und versuchte es, ihr ein Paar Tropfen davon einzuflößen. »Armes, armes Kind! seufzte er dazwischen, und eine Thräne zitterte in seinen grauen Wimpern. »Die Unglückselige! in dieser Nacht den Felsen zu erklimmen, es ist unglaublich! Betet, Mamsell Suzon, betet zu Gott und unsrer lieben Frau für die armen Leute, sie sind in Gotteshand, hofft auf ihn.«

»Gebt mir die Laterne, erwiederte Suzon mit wildem, fast wahnsinnigem Blick, ich sage Euch, ich muß hinab an den Strand! Sie wollte aufstehen, doch sie vermochte es nicht, sie sank halb ohnmächtig zurück in den Stuhl, und ihre Augen fielen von selbst zu, wie die einer Todmüden. [109] »Ich habe gebetet, so betet niemand wieder,« sprach sie leise und immer leiser, »notre Dame de la Garde – ich wußte, er käme heut, Euer Signal – sie sagtens mir in der Stadt – sechs Stunden lag ich am Fuße ihres Altars, sie hat mein Gelübde angenommen, sie winkte mir – ich muß hinab, ich rette ihn, notre Dame de la Garde –«

»Die arme Suzon sprach die letzten Worte halb im Traume, ihr Köpfchen sank zurück, ein eignes Lächeln glitt über das bleiche Gesicht hin, die an das Stuhlkissen gedrückte Wange röthete sich ein wenig, sie athmete leiser und ohnerachtet der innern furchtbaren Angst machte die erschöpfte Natur ihre Rechte geltend, indem sie dem armen Kinde kurzes Vergessen aller Noth gewährte.«

»Sie schläft,« flüsterte der Alte, und schlug ein Kreuz über die Schlummernde, dann wollte er auf die Terrasse hinaus, sich umzusehen und ich begleitete ihn. Der Regen hatte aufgehört, der Sturm tobte fürchterlicher als zuvor, kaum daß ich seiner Macht widerstehen konnte und mich aufrecht [110] erhielt. Unaufhörliche Blitze gossen noch immer Ströme von Feuer über das siedende Meer aus und noch deutlicher als zuvor erblickten wir bei ihrem Leuchten das unglückliche Schiff, ringend mit dem Untergange. Dunkle undurchdringliche Grabesnacht umgab uns gleich darauf wieder, und durch die dichte Finsterniß leuchteten einzelne kleine schnell wieder verschwindende Funken zu uns auf; es war das Aufblitzen der Kanonen, durch deren unaufhörliches Abfeuern die verzweifelnde Mannschaft des Phönix noch immer menschliche Hülfe herbeizurufen strebte, aber der Schall verschwand unhörbar und ungehört in dem furchtbaren Aufruhr der Natur.«

»Ich konnte mich nicht entschließen, zurück in die Hütte zu gehen, und auch der Alte blieb draußen, wahrscheinlich um Suzons herzzerreißenden Anblick auszuweichen. Noch immer bestürmte ich ihn mit Bitten und Fragen, um Mittel und Wege, dem augenscheinlich dem Untergange geweihten Schiffe zur Hülfe zu kommen, aber er wies mich unabänderlich ab, wie man ein Kind [111] abweist, das Unmögliches verlangt, obschon das Herz des mit allen diesen Schrecken längst vertrauten Greises für die unglückliche Suzon blutete.«

»Er sagte mir, sie sey seine Pathe, die Tochter eines armen Fischers, aus einem kleinen Dörfchen nahe am Fuße des Felsens von notre Dame de la Garde; das schönste, sittsamste, anmuthigste Mädchen weit und breit umher, von Jugend auf bei Alt und Jung beliebt. Antoine, seit langer Zeit ihr Verlobter, war als Matrose mit dem Phönix ausgegangen, sobald er heimkehrte, sollte die Hochzeit seyn und nun – dem alten Mann brach die Stimme vor innerer Bewegung, er vermochte nichts weiter hinzuzusetzen.«

»Ich dachte an Vicktorinen und – ach! hochwürdige Frau! lassen Sie mich, was ferner sich mit der Unglücklichen begab, was mir das Herz zerriß, indem es mit einem Entsetzen mich erfüllte, das immer von neuem wiederkehrt, so oft ich daran denke – lassen Sie mich das alles nur noch mit wenigen kurzen Worten andeuten, um Ihrer und meiner zu schonen.

[112] »Wir kehrten in die Hütte zurück und – fanden Suzon nicht mehr. Sie war erwacht, und hatte sich hinter unserem Rücken hinausgeschlichen. Das furchtbare Brausen des Sturms, das wilde Toben der Wogen, bei dem wir nur mühsam, dicht zusammen gedrängt, uns einander verständlich machen konnten – wir hatten ihr Fortgehen nicht bemerkt!«

»Wir riefen Hülfe herbei, die wenigen Invaliden, welche die Zitadelle bewohnen, vereinten sich mit uns, der Fels, der Weg zur Stadt, die Kapelle, alles ward durchsucht, obgleich die Schrecknisse dieser entsetzlichen Nacht die Nachforschungen eben so gefährlich als mühsam machten, – alles war umsonst und Suzon blieb verloren!«

»Der Morgen graute, das Gewitter verzog, der Sturm legte sich, doch das erzürnte Meer siedete noch immer in innerlicher entsetzlicher Wuth, und die schäumende Brandung tobte weit über ihre sonst gewohnte Gränze am Ufer hin. Da ging endlich die Sonne auf, hell und heiter, als leuchte ihr Strahl nur Glücklichen, die smaragdnen [113] Wellen erglänzten, sie hoben wie im feyerlichen Tanz die schaumgekrönten Häupter in unbeschreiblicher Pracht, und warfen im wilden Spiele die dunkeln Trümmer des gescheiterten Schiffes einander zu, ein trauriges Zeichen ihres Triumphs über zerbrechliches Menschenwerk.«

»Wie ich zurück nach Marseille und in meine Wohnung gelangt bin, weiß ich kaum. Das in allen seinem Schrecken über allen Ausdruck erhaben große Schauspiel dieser unvergeßlichen Nacht, Suzon, Vicktorine, alles dieses vereint, drängte sich auf dem Wege in meiner Phantasie zu einem einzigen gewaltigen Bilde zusammen.«

»Es war mir unmöglich, Marseille, wie ich es mir früher vorgenommen hatte, schon an diesem Tage zu verlassen, ohne vorher über das Geschick der armen Suzon und der Mannschaft des so nah' am Hafen gescheiterten Schiffes zu einiger Gewißheit gelangt zu seyn. Alle, alle hatten wahrscheinlich im Zorn des empörten Elements den Untergang gefunden.«

»Als am zweiten Morgen nach jener Schreckensnacht [114] das wieder beruhigte Meer sich in seine alten Schranken zurückzog und die wilde Brandung sich legte, fanden die Fischer mehrere Todte, welche die Wogen dem mütterlichen Boden wieder zugeworfen hatten. Antoine war der erste unter diesen; unfern dem Wohnorte seiner Braut lag er auf einer kleinen Erhöhung, halb bedeckt noch von den Wellen, die einzeln über ihn hinschlugen, und neben ihm seine bis in den Tod getreue Suzon. Kalt, erstarrt, durchnäßt, als hätte sie mit ihm die Gefahren des Schiffbruchs getheilt, hielt sie ihn noch immer fest umschlungen, und keine Gewalt vermochte die Liebenden im Tode zu trennen, denen Vereinigung im Leben nicht beschieden war.«

»Die Unglückliche! Nachdem sie aus der Hütte des guten Regnaud entfloh, stieg sie, wie man jetzt vermuthet, einen Fußpfad hinab, der schnurgerade ans Ufer führt. Niemand begreift, wie dieses Wagestück ihr in dieser entsetzlichen Nacht gelungen seyn kann, denn nur selten mag einer der kühnsten Bewohner dieser Küste den fast senkrecht [115] steilen Weg bei hellem Sonnenscheine zu erklimmen. Wahrscheinlich fand sie zuerst beim grauenden Morgen den geliebten Todten, noch umspült von der Brandung, die ihn ans Ufer warf, und ihn wieder mit hinabzureißen drohete. Die erschöpften Kräfte der Armen vermochten nicht, ihn vollends an das Ufer zu ziehen, und so sank sie neben ihm hin und fand selbst den Tod in dem Bestreben, ihren Geliebten wieder ins Leben zurückzurufen. Es ist ein Geschick, über das sich weiter nichts sagen läßt; hier bleibt nichts übrig, als schweigend in Ehrfurcht zu verstummen.«

»Am zweiten Tage, ehe ich den Weg nach Toulon antrat, ging ich hinaus, um das Meer noch einmal zu sehen, doch den Felsen von notre Dame de la Garde mochte ich nicht wieder besteigen. Glänzend wie ein Spiegel, kaum gekräuselt von leicht dahin tanzenden Wellen, lag es vor mir, keine Spur mehr von der furchtbaren Empörung, in der ich es vor kaum acht und vierzig Stunden gesehen hatte. Sinnend verweilte ich [116] lange in seinem Anschauen, alle Schrecknisse jener Nacht gingen nochmals an meinem Geiste vorüber, und ich faßte hier zuerst den Entschluß, welchen ich jetzt ausführe, indem ich diese Blätter und den Schlüssel zu dem Kästchen Ihnen, hochwürdige Frau, übersende.«

»Mein Muth blieb indessen ungebeugt, und ich darf sagen, was ich sah und erlebte, hat ihn vielmehr neu gestärkt, obgleich das harte Geschick der armen Suzon und ihres Geliebten mich noch immer mit tiefer wehmüthiger Trauer erfüllt! Drohen doch überall tausend Gefahren dem armen Leben des Sterblichen, selbst mitten im Kreise der Seinen, auf festem Boden, im sichern Hause. Ist doch die Erde ein weites Grab wie das Meer und jeder Athemzug ein unerforschtes Wunder, das unser Leben von einer Secunde zur andern fristet. Wahrlich, wir müßten entweder immer verzagen, oder immer vertrauen, und ich wähle mir das letztere.«

»Am nämlichen Tage noch trat ich meine kleine Reise nach Toulon an; ich suchte und fand neue [117] Lebenskraft im Betrachten dieser, von allem mir Gewohnten so ganz abweichenden Pracht der Natur und es gelang mir nach und nach, mich von den düstern Bildern loszureißen, die noch immer auf meine Phantasie eindrangen.«

»Alles ist hier anders wie bei uns und doch unendlich reizend; keine Spur jener anmuthigen Frische, die in den schönen Thälern am Ufer der Elbe, des Rheins, der Donau, uns mit so unbeschreiblichem Wohlbehagen erfüllt. Weit und breit ist nur wenig Grünes zu entdecken, die Olivenbäume, die in den Steinklüften wurzeln, der Tymian, der Lavendel, alle die viel tausende Kräuter, die, wie ein Teppig, sich über die Felsen hinbreiten, zeigen meistens nur ein einförmiges Graublau, welches das dunkle, ans Schwarze gränzende Grün der malerischen Pinie nur selten unterbricht, aber ein süßberauschender Duft steigt Abends und Morgens aus ihnen auf. Der Oleander, der Rosmarin wachsen hier, mit der Myrthe vereint, zum hohen baumartigen Strauch heran. Die Tazette, der Goldlack, alle die vielen Blumen, die [118] wir im Norden mühsam pflegen, gedeihen hier in der Wildniß weit üppiger als in unsern Treibhäusern. Myriaden von Cikaden klingeln wie mit Silberglöckchen vom Morgen zum Abend ihr eintöniges Lied und die malerisch gestalteten Felsen erglühen im Sonnenschein in einer Farbenpracht, die wir im Norden nicht kennen.«

»Da ich erst spät gegen Mittag ausgereist war, so konnte ich Toulon nicht in Einem Tage erreichen, sondern mußte in Cujes, einem kleinen, mitten in einem Felsenkessel liegenden Orte übernachten; dafür ritt ich aber auch schon mit Sonnenaufgang wieder aus, von meinem Bedienten und einem Postillion begleitet, der uns zum Wegweiser diente. Unsere Straße führte uns anfangs durch ein wunderschönes Felsenthal, am Ufer eines lustig rauschenden Bergwassers hin, dem von den Höhen eine Menge kleiner silberhellen Quellen zustürzten, als eilten sie, sich mit ihm zum fröhlichen Tanz durch das schöne Land hin zu vereinen. Wo nur ein urbares Plätzchen sich findet, wachsen hier Mandelbäume, Maulbeerbäume [119] und Reben zwischen dem Gestein; unzählige Blumen biegen sich neugierig vor, als wollten sie in dem klaren Gewässer sich spiegeln und alles grünt und blüht in üppiger Frühlingskraft. Doch dieses währte nicht lange, die Felsen erhoben sich kühner, das klare Strömchen verwandelte sich in einen scheltend und stürmend, zwischen engen Ufern daher rollenden Giesbach, und alles um uns gewann einen düsteren, wilderen Charakter, bis zuletzt jede Spur von Vegetation hinter uns zurückblieb und das enge schauerliche Thal von Oliulles uns aufnahm. In früheren Zeiten, selbst während der Revolution, war es als der Aufenthalt gefährlicher Räuberhorden berüchtigt, und auch jetzt hatte man uns ermahnt, es nicht unbewaffnet zu durchziehen. Denn der vieljährige Krieg hat die Menschen verwildert, und viele, die während desselben heranwuchsen und kein anderes Handwerk als Raub und Plünderung in fernen Ländern erlernten, üben dieses jetzt nothgedrungen im eigenen Vaterlande aus, besonders wo sie, gerade wie in diesem Thal, einen Ort [120] finden, der von der Natur selbst zum Schauplatz dunkler Thaten bestimmt scheint.«

»Nie sah ich eine furchtbarere Einöde! Ein wild verworrenes Labyrinth grausenerregender Klüfte und Höhlen öffnet sich zu beiden Seiten der dicht am Bergstrom sich hinwindenden Straße und bietet dem Räuber überall sichere Zuflucht und Mittel zu entkommen. Zuweilen treten die überhangenden Felsen so nahe zusammen, daß kaum ein schmaler Himmelsstreif dem Wandrer sichtbar bleibt, und kein belebender Sonnenstrahl in die schauerliche Dämmerung hinabzudringen vermag. Hier verstummt alles Leben, kein Vogel singt in dieser furchtbaren Wüste, aus der selbst die genügsame Cikade entflieht, weil auch kein armes Hälmchen dem trocknen harten Steine mehr entsprießt.«

»Tief in mich selbst versunken, ritt ich eine kleine Strecke voraus, dem einsamen dunkeln Pfad' entlang, während mein Bedienter mit dem Postillion etwas zurückblieb, um sich von diesen Mordgeschichten erzählen zu lassen, deren Schauplatz er [121] gerade in die Gegend hin verlegte, in welcher wir uns befanden. Meinem ehrlichen Dubois sträubte sich dabei das Haar himmelan, aber er horchte dennoch mit einem Interesse darauf, welches auch gebildetere Naturen, als die seine, nie ganz zu verläugnen vermögen, und verlangte immer nach einer zweiten furchterregenden Erzählung, wenn die erste eben zum Schlusse gekommen war.«

»So gelangte ich, anscheinend ganz allein, zu einer Stelle im Thal, wo sich die Felsen dem Auge so wunderbar in einander schieben, daß der rückwärts Schauende eben so wenig begreift, wo er hergekommen ist, als man absehen kann, wo es hinaus will, wenn man den Blick vorwärts wendet. Und gerade in diesem ringsum von steilen Felsenwänden eingeschlossenen Platze sah ich plötzlich in geringer Entfernung aus einer der Seitenklüfte zwei mit starken Knütteln bewaffnete Männer hervorspringen, deren verwildertes Ansehen das traurige Gewerbe nur zu deutlich bezeichnete, welches sie hier treiben mochten.«

[122] »Wo hinaus?« rief mir der Eine zu, der mir am nächsten stand, und suchte meinem Pferde in den Zügel zu fallen, während der Andere im gestreckten Laufe herbei eilte. Ich hatte indessen im Augenblicke, als ich ihrer ansichtig ward, eines meiner Terzerole hervorgezogen, und feuerte es nur über ihre Köpfe ab, denn warum sollte ich die armen Teufel zu verletzen suchen? Der Schall vertausendfältigte sich bis ins Unendliche zwischen diesen Felsenmassen, und was ich dadurch beabsichtigte, war auch im nächsten Augenblick erreicht, denn der Postillion und Dubois bogen um die Ecke; die Räuber flohen in ihre Schlupfwinkel zurück, sobald sie dieser Beiden gewahr wurden, und verschwanden blitzschnell vor unsern Augen.«

»Herr, das waren böse Gäste!« rief der Postillion, »laßt uns eilen, damit wir diese verwünschten Räuberwinkel in den Rücken bekommen. Ich ließ mir den Rath gefallen und nun ging es eine Weile so schnell vorwärts, als der, bald steil sich erhebende, bald dem Abgrunde sich zusenkende [123] Weg es nur erlauben wollte. Die Felsen zogen sich in immer wunderbarer sich gestaltende, düstere Klüfte zusammen. Plötzlich sprang mein Pferd um die Seite; ich suchte die Ursache seines Scheuwerdens und ward mit Entsetzen einen fast ganz entkleideten wahrscheinlich ermordeten Menschen gewahr, der, halb verborgen, in einer Felsenschlucht unfern dem Wege lag. Schnell sprang ich vom Pferde, um zu untersuchen, ob noch Leben in ihm sey? Dubois Angst stieg zwar bis zum Lächerlichen bei diesem Verweilen an einem so berüchtigten Orte, und auch der Postillion wäre gern vorwärts geeilt, doch ich achtete nicht darauf, und da ich beiden in der nächsten Minute die Versicherung ertheilen konnte, daß der Beraubte nicht todt, sondern nur von einem Schlage auf den Kopf betäubt sey, so waren sie auch sogleich bereit, mir in dem Bemühen, ihn wieder ins Leben zu bringen, beizustehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Unglückliche den nehmlichen Räubern in die Hände gefallen, denen wir kurz vorher begegneten; Dubois und der [124] Postillion besprachen dieses mit einander sehr weitläuftig, indem sie sich um ihn beschäftigten und zogen daraus den tröstlichen Schluß, daß die Räuber deshalb wohl schwerlich sobald sich wieder hieher zurückwagen würden.«

»Mit welcher Freude ich endlich die erste Regung des wiederkehrenden Lebens in dem Verwundeten wahrnahm, vermag ich nicht zu beschreiben. Nie zuvor hatte ich gefühlt, was es heißt, ein Menschenleben gerettet zu haben, und ich schrie beinahe laut auf vor Entzücken, als sein Auge sich dem Lichte öffnete. Freilich sank er bald darauf, halb ohnmächtig wieder zurück, doch gelang es uns deshalb vielleicht um so besser, die nöthigen Vorkehrungen zu treffen, um ihn mit uns zu führen, ohne ihm zu große Schmerzen zu verursachen.«

»Langsam schritt unser kleine Zug jetzt vorwärts, bis wir den nicht mehr sehr entfernten Ausgang des Thals erreichten. Tausend Gedanken und Empfindungen wogten indessen in meinem Gemüth; Suzon und ihr schmerzliches Geschick standen von [125] neuem vor meinem Geist, und die Ueberzeugung daß nur der Untergang jenes holden liebenden Wesens mich in der rechten Stunde zur Rettung dieses jungen Mannes herbeigeführt habe, erfüllte mich mit unaussprechlich tiefer Wehmuth. Denn nur um von Suzon noch Kunde zu erhalten, war ich später von Marseille ausgereist, als ich zuerst es mir vorgesetzt hatte.«

»So geht das Leben durch Nacht zum Licht! aus Untergang erwächst neues Entstehen, wie am Horizonte des gestirnten Himmels ein neues Sternbild glorreich sich erhebt, wenn andere nach vollbrachtem Laufe hinabsinken. Die anscheinend unbedeutendste unsrer Handlungen zieht oft eine Kette von Folgen nach sich, bei deren Betrachtung uns, wenn wir den Blick rückwärts wenden, geheimnißvolle Schauer aus einer unsichtbaren Welt entgegen wehen. Daß ich zu übelgewählter Zeit einen Spaziergang unternahm, daran hing, allem menschlichen Absehen nach, das Leben dieses jungen Mannes, nebst allen den nicht zu berechnenden Folgen, die aus seiner Erhaltung, nicht nur für ihn, [126] sondern für alle die entstehen können, welche mit ihm schon in Verbindung sind oder noch im Laufe der Jahre mit ihm in Verbindung kommen werden. Wie ernst ist das Leben und wie wichtig zugleich, wie abhängig von allem was wir Zufall zu nennen wagen! Man darf darüber nicht zuviel grübeln, aber wie soll man es anfangen, sich dieser Gedanken zu entschlagen, wenn die Veranlassung dazu sich auf solche Weise uns entgegen drängt!«

»Der Anblick der unaussprechlich reizenden Gegend, welche dicht vor jenem Felsenthal mir überraschend entgegen leuchtete, entriß mich jenen vielleicht zu ernsten Betrachtungen.«

»Ich gebe zu, daß der Kontrast mit der eben verlassenen Wüste nicht wenig dazu beigetragen haben mag, mir alles, was ich nun erblickte, in feenartigen Zauberglanze zu zeigen, doch für den Moment war mir wirklich, als sey ich plötzlich aus den Schlünden des Tartarus in Elisium versetzt, da ich im Dörfchen Oliulles zum erstenmal in meinem Leben die ländlichen Hütten von Orangenbäumen umgeben sah, aus denen Hunderte von [127] Nachtigallen uns entgegen sangen, und deren immer grüne, im herrlichsten Blüthenschmucke prangende Zweige zugleich unter der schweren Last goldner Früchte sich beugten.«

»Unser Postillion war glücklicher Weise aus diesem Dörfchen gebürtig, und so ward es uns nicht schwer, unsern Verwundeten hier einstweilen auf leidliche Weise unterzubringen, bis für dessen fernere Verpflegung besser gesorgt werden konnte. Ich ließ meinen Dubois bei ihm zurück, und ritt so schnell als möglich dem jetzt nicht mehr weit entfernten Toulon zu, von wo ich sogleich einen Wundarzt und eine Sänfte nach Oliulles absandte. Am nächsten Tage hatte ich schon die Freude, den Unglücklichen in meinem Gasthofe anlangen zu sehen, wo ich für seine Verpflegung selbst Sorge tragen kann. Bis jetzt liegt er äußerst schwach, beinahe regungslos da, doch seine Wunden sind an sich nicht gefährlicher Art, und der Arzt hofft mit Gewißheit, er werde genesen. Diese Hoffnung stützt sich hauptsächlich auf die innere Kraft einer jugendlichen unverdorbenen Natur, welche [128] freilich durch mannigfaches Leiden, vielleicht sogar durch harte schwere Arbeit, untergraben zu seyn scheint, bei sorgsamer Pflege steht aber zu erwarten, daß sie bald wieder die Oberhand über Fieber und Schmerz gewinnen werde.«

»Im Ganzem ist mir dieser noch sehr junge Mann eine höchst räthselhafte Erscheinung. Seine verfallne abgemagerte Gestalt, seine, wenn gleich fein geformten, dennoch hart gewordnen Hände voller Schwülen scheinen freilich zu beweisen, daß ihn bis jetzt das Leben nicht sanft bettete, und doch liegt ein gewisses unbeschreibliches Etwas in seiner sehr edlen Gestalt und mehr noch in seinem Benehmen, sobald er nur einen Augenblick seiner Besinnung mächtig wird, welches darauf hindeutet, daß er den gebildeten Ständen angehört, die wir die Höheren zu nennen gewohnt sind.«

»Der Arzt verbietet ihm zu sprechen, was seine eigne Schwäche ihm ohnehin kaum erlauben möchte; er liegt die größte Zeit des Tages in einem, an Bewußtlosigkeit gränzenden Hinbrüten fast ohne ein Zeichen des Lebens, und da die Räuber ihm [129] alles, was er bei sich führen mochte, nahmen, so blieb mir nichts, was mich in meinen Vermuthungen über seine früheren Verhältnisse leiten könnte. Gleichwohl ahnet mir zuweilen, er sey vielleicht ein Deutscher und dieser Gedanke erhöht meine Freude über seine Rettung um ein Großes. Freilich haben Luft und Sonne sein Gesicht gebräunt, so, daß er sich in dieser Hinsicht durchaus nicht von den Eingebornen des Landes unterscheidet, doch seine Locken sind blond, und einigemal glaubte ich deutlich zu hören, wie er, o mein Gott! seufzte, wenn seine Wunden ihm stärker schmerzen mochten.«

»Morgen kehre ich nach Marseille zurück, denn die Geschäfte, welche mich dort erwarten, erlauben mir nicht, nur noch einen Tag länger in Toulon zu verweilen. Der Unfall meines Unbekannten hat indessen die Wachsamkeit der hiesigen Polizei nun belebt, Gensd'armes durchstreifen das Thal von Oliulles nach allen Richtungen hin, und die große Straße wenigstens ist in diesem Augenblick vollkommen sicher.«

»Mein Unbekannter bleibt indessen unter dem[130] Schutze eines wackern Deutschen, Namens Weiler, dem Chef eines hiesigen bedeutenden Handelshauses zurück. Denn wo wäre eine bedeutende Stadt in Europa, in der man nicht Deutsche anträfe? Auch der Arzt ist einer, wie so viele der geachtetsten Aerzte in Frankreich. Beide ahnen mit mir in dem Unbekannten einen Landsmann, und pflegen deshalb seiner um so mehr mit wahrhaft brüderlicher Theilnahme. Weiler ist sogar entschlossen, ihn in sein Haus aufzunehmen, sobald der Gesundheitszustand des Kranken dieses erlaubt. So weis ich ihn denn gut versorgt und kann leichten Muthes von ihm scheiden; ich lasse ihm meine Adresse und die meines Hauses zurück und Herr Weiler will sich mit mir vereinen, um ihm die Heimkehr zu den Seinen auf jede Weise zu erleichtern. Und nun leben Sie wohl, hochwürdige Frau, Sie werden jetzt in langer, langer Zeit nicht wieder von mir hören, aber ich weis, Sie vergessen meiner dennoch nicht. Lebe wohl, Geliebte! Vicktorine! Du schönes holdes Licht meines Lebens! Lebe wohl mein Vaterland! Europa, lebe wohl! Mein Schiff liegt im Hafen vor Marseille [131] zur Abfahrt bereit. Es ist ein trefflicher Seegler, der Kapitain ein erfahrner verständiger Seemann. Die Stürme der Tag- und Nachtgleiche sind vorüber, und alles weissagt mir eine schnelle glückliche Fahrt.«

»Mein Herz schlägt hoch in Freude, daß ich nun endlich dem mir gesetzten Ziele zueilen darf; die Hoffnung des schönsten Wiedersehens winkt mir durch den Schleier, der die ferne Zukunft verhüllt; was ich auf Erden noch zu ordnen hatte, ist jetzt geordnet, und so rufe ich frischen Muthes aus voller Brust: Glück auf!«


Schon das wohlbekannte Wappen, mit welchem dieser Brief gesiegelt war, hatte wahrscheinlich nicht wenig dazu beigetragen, in den Augen der Tante die Aehnlichkeit der Schriftzüge auf der Adresse, mit den ihr unvergeßlichen, einer längst zu Staub eingesunknen geliebten Hand zu erhöhen. Als sie nun vollends auch den kleinen goldnen Schlüssel aus seiner Verhüllung wickelte, welcher in dem Briefe lag, [132] strahlte ihr ein zweiter heller Lichtschein aus ihrer fernsten Vergangenheit so blendend entgegen, daß sie darüber das Bewußtseyn der Gegenwart verlor. Ihre zitternde Hand vermochte es kaum, den Schlüssel fest zu halten; sie betrachtete ihn genauer; er war es, unverkennbar derselbe! Sie drückte beinahe unwillkührlich auf eine oben am Griffe angebrachte Rosette, diese wich noch wie ehemals dem leisen Drucke und schob sich zurück. Anna glaubte zu träumen.

In unbeschreiblicher Bewegung brachte sie jetzt auch das Kästchen herbei, welches Raimund ihrer Bewahrung anvertraut hatte. Ohne es genauer zu betrachten, hatte sie es damals weggestellt, und hätte nicht Raimund jetzt durch sein Schreiben sie dazu berechtiget, so würde sie es ihm gewiß bei seiner Rückkunft ganz unberührt wieder gegeben haben, ohne daß es ihr je eingefallen wäre, die Chatulle aus der Verhüllung zu ziehen, die solche von allen Seiten dicht umgab. Mit strahlenden Augen, mit einem Gefühle ohne Namen, erkannte Anna auf den ersten Blick jetzt das aus seinem Futterale gehobene [133] Kästchen für das nämliche, welches einst Bernhard von Leuen als ein von seiner Mutter ererbtes Familienkleinod mit der größten Sorgfalt aufbewahrte. Wie oft hatte sie die alte, mit Gold künstlich eingelegte Arbeit, alle die unendlich feinen Blumen und in einander verschlungnen Züge mit ihm bewundert, die das Elfenbein schmückten, aus welchem die Aussenseite dieses kostbaren Behältnisses bestand! Sie versuchte es, mit dem zierlichen Schlüssel zu öffnen, das Schloß wich, das Kästchen sprang auf und leuchtend wie sonst, glänzte die Silberplatte ihr entgegen, welche das Innere desselben oben und unten und von allen Seiten bedeckte.

Alle die seeligen Stunden, welche sie im entzückenden Gefühle des ersten Aufkeimens reiner jugendlicher Liebe bei der Herzogin von P*** mit Bernhard durchlebte, gingen bei diesem Anblick wieder an ihr vorüber, und weit drängten sie die Gegenwart zurück. Anna glaubte wieder Bernhards leisen Tritt zu hören, als schliche er herbei, als wolle er, wie er einst im fröhlichen Scherz gethan, über ihre Schulter blicken, um in dem kleinen Raume [134] der hellspiegelnden Fläche sein Bild mit dem ihrigen zu vereinen.

Wunderbar durch sich selbst getäuscht, glaubte sie das Wehen seiner Nähe zu empfinden, unwillkürlich warf sie einen Blick in das Innere des Kästchens – doch ach! nicht das Bild des Geliebten, nicht das ihrer eignen längst entschwundnen Jugendblüthe lächelte ihr daraus entgegen – sie erblickte nichts weiter als ihre jetzige gealterte Gestalt. Ergriffen von der unnennbaren und doch so menschlichen Trauer um den versunknen Frühling ihres Lebens, bedeckte sie bei diesem Anblick ihr Gesicht mit beiden Händen, und sank mit einem kaum zu unterdrückenden Schrei des Entsetzens in ihren Armstuhl zurück, als habe erst in diesem Moment eine feindliche Gewalt ihre Jugendherrlichkeit mit einem Schlage zerstört. Was sie gelitten, was sie verloren, alle längst verjährten Schmerzen, die sie im Laufe ihres Lebens gefühlt und überwunden, drangen jetzt mit unsäglicher, neubelebter Gewalt auf sie ein; das Gefühl des Alters überwältigte sie plötzlich mit seiner ganzen Trostlosigkeit, ihr starkes Gemüth unterlag [135] dem Schmerze über den entsetzlichen Unterschied zwischen jetzt und damals, als diese nämliche Platte das leztemal ihr Bild ihr gezeigt hatte, und sie brach in bittre heiße Thränen aus, wie sie nie wieder sie weinen zu müssen gehofft hatte.

Wir alle, Männer und Frauen, würden fühlen, wie Anna damals empfand, dürfte das Alter uns so plötzlich nahen, als der Tod, zu unserem Heile es darf; aber die, ihre Kinder immer schonende Natur führt uns glücklicherweise in leisen Uebergängen, von Stufe zu Stufe dem Ziele unmerklich näher, das der blühendsten Schönheit, wie der unverwüstlichsten Jugendkraft, unvermeidlich, wenn gleich meistens unbeachtet gegenüber steht.

Annas lang geübte Gewalt über sich selbst gab ihr indessen bald wieder Kraft genug, um den Inhalt des Kästchens näher zu untersuchen. Sie fand darin alles wie Raimund es ihr geschrieben hatte, eine versiegelte Abschrift seines letzten Willens, und die, sein nicht ganz unbeträchtliches Vermögen betreffenden Documente. Sie nahm alles dieses heraus und bereitete sich nun, die verborgenen Fächer [136] des Kästchens zu öffnen, von deren Daseyn Raimund nichts wußte, und die auch ihr verborgen geblieben wären, wenn nicht Bernhard von Leuen sie einst zufälliger Weise damit bekannt gemacht hätte. Dabei war sie überzeugt, daß Raimunds Vater seinem Sohne das Daseyn dieser Fächer noch zu entdecken gewünscht hatte und daß nur das schmerzliche Gefühl, dieses nicht mehr zu vermögen, die letzten Stunden des sterbenden Greises beunruhigt haben mochte. Uebrigens konnte in dem kleinen Behältnisse diese verborgenen Fächer niemand ahnen, der nicht in das Geheimniß eingeweiht war. Denn die mit Gold eingelegte Arbeit, welche die elfenbeinerne Aussenseite fast über und über bedeckte, nebst den sehr massiv scheinenden silbernen Platten im Innern desselben waren mehr als hinlänglich, um die Dicke und Schwere des Deckels und Bodens vollkommen zu motiviren.

Abermals schob jetzt Anna am Griff des Schlüssels die Rosette zurück, welche einen kleinen Magnet verbarg, dessen Kraft ein fast unsichtbares, im Innern des Kästchens angebrachtes stählernes Knöpfchen [137] beseitigte und beide, im Deckel und im Boden angebrachte Silberplatten sprangen im nämlichen Momente auf, so wie sie die dadurch jetzt sichtbar gewordne Feder berührte.

Mehrere Papiere, größtentheils Briefe, füllten, zierlich zusammengefaltet, beide, so lange verborgen gebliebene Fächer des Kästchens aus.

Anna heftete den trüben Blick lange darauf, ohne daß sie es wagte, die Papiere zu berühren, denn ihr scharfes Auge erkannte sogleich in einigen von diesen Bernhard von Leuens Schriftzüge, und ihr war, als wolle der bleiche, längst geschlossene Mund des Todten noch einmal sich öffnen um ihr freundlichen Gruß aus einem höheren Leben zu senden, und ihr wirklich zu entdecken, was ihrem ahnenden Gemüthe schon längst, wenn gleich dunkel und unbestimmt, vorgeschwebt hatte.

Mitten unter den Papieren schimmerte eine kleine Kapsel ihr entgegen; mit zitternder Hand ergriff und öffnete sie diese, und fand darin einen Ring mit Bernhards Bildniß. Die edlen Züge, das seelenvolle Auge, im kleinsten Raum aufs treuste wieder [138] gegeben, ganz so, wie sie zum erstenmal ihn sah, leuchteten ihr in blühender Jugendfrische entgegen, von blitzenden Diamanten umgeben. Sogar das Kleid schien dasselbe, welches Bernhard von Leuen bei jenem der Herzogin von P*** zu Ehren gegebnen Feuerwerk trug. Das dunkle Behältniß, welches das schöne Miniaturbild so lange aufbewahrte, hatte die Farben vor dem Verbleichen geschützt, sie strahlten noch im ursprünglichem Glanze, und Anna erkannte mit erhöhter Wehmuth die Arbeit eines ehemals berühmten, jetzt ebenfalls schon längst entschlafnen Künstlers darin, der vor langen Jahren zu den Hausfreunden ihres Vaters gehört hatte. Sie betrachtete das Kleinod genauer, und unwiderstehlich drang sich ihr die Ueberzeugung auf, daß dieser Ring ihr zum Brautgeschenk bestimmt gewesen sey, ehe ein unseeliges Mißverstehen Bernhard von ihr entfernte; denn ihr eigner Namenszug mit dem des Geliebten zierlich verschlungen, war der innern Seite desselben eingegraben. Jener wilde Schmerz, den sie so eben mühsam niedergekämpft hatte, erwachte bei dieser Entdeckung nicht [139] wieder, wohl aber bemeisterte sich ihrer ein tiefes Gefühl inniger Wehmuth, dem sie ohne Widerstand mit schmerzlicher Freude sich hingab. Sie zog ein Gemälde Bernhards hervor, welches sie nie von sich lies, und das ihn so darstellte, wie er war, als er zum letztenmal von ihr Abschied nahm; sie verglich die Greisengestalt mit dem lebenathmenden Bilde seiner Jugend. Noch einmal mußte jener silberne Spiegel auch ihre eigne verblichne Gestalt ihr zeigen, und tief ergriffen von der Flüchtigkeit des Traums, den wir Leben nennen, vermochte sie es jetzt, die wohlthätige Hand dankend zu preisen, die auch sie dem Ziele so nahe geführt hatte, wo, wie ihr frommes Hoffen ihr verhieß, Bernhard schon lange ihrer harrte.

Endlich gewann Anna es auch über sich, den Inhalt der so lange verborgen gebliebnen Papiere zu untersuchen und diese wehmüthig ernste Beschäftigung gab sie allmählig sich selbst ganz wieder zurück. Sie fühlte inniger als je zuvor die Verpflichtung, hier thätig zu werden für das künftige Wohl des abwesenden Raimund, den sie von nun an, als von [140] Bernhard selbst ihrer Vorsorge empfohlen, betrachten mußte. Deshalb las sie alles, was sie in den verborgenen Fächern vorfand, mit möglichster Aufmerksamkeit und wandte alle Kraft ihres Gemüthes daran, um die mannichfachen Empfindungen zu unterdrücken, welche bei dieser Beschäftigung aufs neue ihre gewohnte Fassung zu zerstöhren drohten.

Was sie vorfand, überzeugte sie von dem Berufe und der Möglichkeit, hier für Bernhard selbst eintreten, und unsäglich viel Gutes, die geliebte Asche und den theuren, ihr nie verklungnen Namen Ehrendes bewirken zu können. Von neuem erwachte in ihr die lange Gewohnheit, sich des Wohles Andrer thätig anzunehmen; alles übrige von sich weisend, überließ sie sich einzig dem ernsten Ueberlegen, was hier am ersten zu ergreifen sey, und kam auf diese Weise sehr bald zu dem Entschlusse, die Reise zu unternehmen, welche sie, wie früher erwähnt ward, am folgenden Morgen wirklich antrat.


[141] Nach der Abreise der Tante blieb Anfangs im Kleebornschen Hause alles so ziemlich unverändert, wenigstens dem äußern Anschein nach. Innerlich wurde der alte Herr freilich mit jedem Tage verdrüßlicher, und Angelika und Vicktorine empfanden die tiefe Sehnsucht nach der entfernten mütterlichen Freundin immer schmerzlicher. Feste und Lustbarkeiten gingen aber demohnerachtet nicht nur ihren gewohnten Gang, sondern, wie das beim Schluß der Winterfreuden gewöhnlich der Fall ist, sie drängten sich in und übereinander bis zum Ueberdrusse der meisten daran Theilnehmenden. Denn bekanntlich vermag es keiner, der in einem solchen Strudel von Geselligkeit befangen ist, sich ihm in dem Augenblicke zu entziehen, da er seiner müde wird, sondern jeder muß noch eine Weile im gewohnten Kreise sich fortdrehen, wenn gleich ohne Lust und ohne Freude daran, so wie zu rasche Tänzer noch einige Minuten, nachdem die Violinen verstummten, unwillkührlich fortwalzen müssen.

Nach einem glänzenden Balle, der bis zum Anbruch des Tages gewährt hatte, befand sich die [142] ganze Kleebornsche Familie eines Vormittags bei dem sehr verspäteten Frühstück nach althergebrachter Gewohnheit versammelt. Alle waren müde und lebenssatt, und jeder Einzelne, sogar Babet, labte sich mit stillem Wohlbehagen an der Hoffnung, daß heute wahrscheinlich ein Ruhetag seyn und bleiben würde. Da trat wider alles Erwarten Sir Charles herein, um sich nach dem Befinden der Damen zu erkundigen und fragte zugleich an: ob er das Glück haben könne, sie den Abend in das Theater zu begleiten, indem eine neue Oper zum erstenmal gegeben werden solle, von der man große Erwartungen hege.

Alle blickten voll Erstaunen auf ihn, denn seit langer Zeit hatte man ihn weder zu einer so frühen Tageszeit noch so auffallend zuvorkommend gesehen. Vicktorine erklärte sich indessen doch für zu ermüdet, um nicht das Zuhausebleiben der Oper vorzuziehen. Agathe stimmte ihr bei, und auf Babets Meynung, daß man gerade im Theater am aller besten ausruhen könne, wurde gar nicht geachtet, denn auch der alte Kleeborn wollte von der neuen Oper nichts [143] wissen, sondern lud Sir Charles ein, den Abend lieber einmal mit ihm und den Seinen im engsten Familienkreise zuzubringen.

»Ich könnte einer so angenehmen Einladung nicht widerstehen, und wenn ich auch ein weit größeres Vergnügen deshalb aufopfern müßte, als ich daran finde, deutsche Musik, von deutschen Kehlen abhaspeln zu hören,« erwiederte Sir Charles, der heut einmal durchaus seinen höflichen Tag zu haben schien. »Ich komme gewiß,« setzte er hinzu, »obgleich ich es eigentlich nicht sollte; denn ich muß es nur gestehen, daß ich alle diese Zeit her meine Geschäfte ganz unerlaubt vernachlässigt habe. Unter manchen andern üblen Gewohnheiten besitze ich leider auch die, immer nur ruckweise arbeiten zu können. Mein Schreibtisch seufzt unter der Last wichtiger Depeschen, die ich längst ausfertigen sollte, der vielen Geschäftsbriefe, die alle unbeantwortet daliegen, mag ich nicht einmal erwähnen. Wilkinson sitzt schon seit sechs Stunden wie angemauert an seinem Pulte, denn ich muß Morgen vor Tagesanbruch zwei Stafetten abfertigen, des heutigen Posttags [144] nicht einmal zu gedenken. Indessen da ich ohnehin entschlossen war, die Nacht durch zu arbeiten, im Fall die Damen sich heute für das Theater bestimmt hätten, so kann ich nun um so eher dieses kleine Opfer dem unweit größern Vergnügen darbringen mit Ihnen allein – – –«

Kleeborn hielt es nicht länger aus, er mußte hier den Redner unterbrechen, und dabei leuchtete ihm die helle Freude aus den Augen, denn nie zuvor hatte er den jungen Mann so ernsthaft von Geschäften reden hören. Außer sich vor Vergnügen darüber, begann er jetzt auf das eifrigste, ihn zu ermahnen und zu bitten, doch ja seiner kostbaren Gesundheit zu schonen, und diese gefährlichen Nachtwachen zu meiden, welche jene sicher und unwiederbringlich zerstöhren müßten. Er versicherte, daß er untröstlich seyn würde, wenn Sir Charles darauf bestände, ihm die Ruhe dieser Nacht aufzuopfern, und so entstand zwischen Beiden eine Art von edelmüthigem Wettstreite, in welchem Sir Charles durchaus die Erlaubniß forderte, den Abend mit der Familie allein zu [145] bringen zu dürfen, und der Alte eben so hartnäckig dabei blieb, ihm solche auf die freundlichste Weise von der Welt zu versagen. Es währte ziemlich lange bis Sir Charles endlich für gut fand, sich für überwunden zu erklären. »Nun so sey es denn!« seufzte er, und verbeugte sich nicht ohne Anmuth, in komischer Trostlosigkeit, gegen alle in die Runde; »ich gehe, ich armer Verbannter! Aber weil es denn nun einmal so seyn muß und ich Sie alle heute nicht sehen darf, so will ich auch gar nichts sehen, als den Wilkinson und seine verwünschten Schreibereien. Ich schließe mich von Stunde an in meinem Kabinette ein, bleibe darin bis Morgen früh, unzugänglich wie eine Auster. Nichts soll mich herauslocken und käme die Catalani selbst vor meine Thüre, um mit ihrer Syrenenstimme dieses Wunder zu bewirken.«

Sir Charles entfernte sich und Horst folgte ihm auf dem Fuße nach, denn ohne ein Wort darin zu reden, war dieser ein Zeuge des ganzen Vorganges gewesen. Er entschuldigte jetzt ebenfalls [146] sein Nichtwiedererscheinen für diesen Tag mit wichtigen Geschäften; doch Kleeborn achtete kaum darauf, so entzückt war er von Sir Charles heutigem Betragen, er wurde nicht müde es zu preisen und die erfreulichsten Schlüsse für die Zukunft daraus zu ziehen, wodurch denn die Unterhaltung eine für Vicktorinen durchaus nicht erfreuliche Wendung gewann.

Langweilig war der Tag an ihnen allen vorüber geschlichen, wie solche Tage es gewöhnlich pflegen. Die Theaterstunde nahte heran, und Kleeborn überlegte eben, ob es nicht dennoch klüger gewesen wäre, den für Arbeit und Vergnügen gleich verdorbnen Abend vollends im Schauspiel gemächlich zu vergähnen, als der Rittmeister Horst ganz unerwartet hereintrat, und mit ihm die Tochter seines Majors, eine Freundin Agathens. Diesem neuen Ankömmling zu Ehren ward nun auf des Rittmeisters besonderem Antrieb sogleich beschlossen, dennoch ins Theater zu fahren, obgleich die eigentliche Stunde dazu schon beinahe vorüber war. Der alte Kleeborn schien wahrhaft [147] erfreut, einen Anlaß gefunden zu haben, der ihn bestimmen konnte, seinen früher gefaßten Entschluß abzuändern, besonders da Horst ihm vertraute, das Fräulein Natalie sey nur wegen der neuen Oper und in Hoffnung auf einen Platz in der Kleebornschen Loge zur Stadt gekommen; denn wie viele alte Herren seiner Art, bezeigte er sich noch immer gerne galant gegen Damen. Babet und Agathe waren ebenfalls sehr zufrieden damit, und nur Vicktorine äußerte den lebhaften Wunsch, bei ihrer Angelika bleiben zu dürfen, deren schwache Nerven ihr ein Vergnügen dieser Art nur selten erlaubten. Horst erschrack sichtbar da er dieses vernahm, und fing an, mit solchem Ernst auf ihr Mitgehen zu dringen, daß selbst Angelika sich dadurch bewogen fühlte, ihre Bitten mit den Seinen zu vereinen. Da Vicktorine sich noch weigerte, stiegen diese Bitten beinahe bis zum ängstlichen Flehen, und nahmen nach und nach einen so seltsamen Ton an, daß Vicktorine endlich, gezwungen, ihm nachgab. Der Werth, den er auf eine, ihr so unbedeutend scheinende Gefälligkeit [148] von ihrer Seite zu legen schien, kam ihr indessen doch halb lächerlich vor, und sie konnte es nicht unterlassen, ihn ein wenig damit zu necken; doch als sie ihn dabei genauer ins Auge faßte, erschrack sie beinahe über den Ausdruck feierlichen Ernstes in seinen Mienen, den er vergebens unter dem Scheine heitrer Unbefangenheit zu verbergen suchte. Es überlief sie dabei ein heimliches Grausen, das sie sich selbst eben so wenig zu erklären wußte, als das sonderbare Benehmen ihres sonst immer heitern Freundes, so daß sie darüber endlich in eine Art ängstlicher Befangenheit gerieth und nun mehr, als alle die Andern eilte, um nur recht bald in den Wagen und in ihre Loge zu gelangen.

Die Oper war angegangen und in dem fast überfüllten Hause herrschte die größte Stille unter den Zuschauern. Daher war es wohl natürlich, daß die verspätete, nicht ganz geräuschlose Ankunft so vieler Damen für den Augenblick einige Aufmerksamkeit erregen mußte. Doch diese Aufmerksamkeit schien sich gar nicht wieder der Bühne zuwenden zu wollen, selbst nachdem die unschuldigen [149] Stöhrerinnen der allgemeinen Ruhe schon längst ihre Plätze eingenommen hatten. Aus allen Ecken waren bewaffnete und unbewaffnete, bekannte und unbekannte Augen auf sie gerichtet, ein tausendstimmiges Zischeln und Flüstern ging durch Logen und Parterre, und erfüllte das Haus mit einem seltsamen unheimlichen Geräusch, bei dem fast Niemand mehr das, was auf dem Theater vorging, zu beachten schien. Kleeborn selbst wurde auf die unter den Zuschauern herrschende Unruhe aufmerksam; er hatte sich bis jetzt mit einem Bekannten im Hintergrunde der Loge aufgehalten, doch nun trat er vor, und beugte sich weit über die Brüstung derselben hinaus, um die Veranlassung dieser seltsamen Erscheinung zu entdecken, die er weit entfernt war, in seiner Nähe zu suchen. Sorgfältig musterte er die Logenreihen mit seinem Opernglase, während das Flüstern und Lorgniren von allen Seiten zunahm. Doch wer beschreibt sein Erstaunen, als er in einer Loge sich gerade gegenüber eine einzelne junge Dame gewahr wurde, welche durch ihren kostbaren, aber etwas fantastisch [150] überladnen Anzug sich nicht minder auszeichnete, als durch ihre wirklich blendende Schönheit, und dicht hinter ihr, in seiner gewohnten nachlässigen Stellung über mehrere Stühle hingegossen, den Rücken dem Theater zugewendet – Sir Charles – der ohne weiter auf die Oper noch auf das Publikum zu achten, sich einzig damit zu beschäftigen schien, die Blumen in dem türkischen Shawl seiner schönen Nachbarin sorgfältig zu zählen.

Ueber den Anblick dieser Gruppe vergaß der alte Herr die noch immer nicht abnehmende Unruhe im Publikum, denn es fiel ihm nicht ein, diese mit jener in Verbindung zu setzen. Er bemühte sich nur zu errathen: wer wohl die Dame seyn könne, die es heute vermocht hatte, seinen zukünftigen Schwiegersohn aus dem wohlverschloßnen Kabinette hervorzulocken. Eine Fremde mußte es seyn, davon war er fest überzeugt, nicht nur wegen ihrer auffallenden Kleidung, sondern hauptsächlich, weil keine Einheimische einen solchen Verstoß gegen die allgemein angenommene Sitte begehen konnte, sich ganz allein von einem jungen [151] Manne ins Theater begleiten zu lassen. Es that ihm leid um die arme Person, die aus Unbekanntschaft mit der Gewohnheit des Orts sich vielleicht Unannehmlichkeiten aussetzen konnte, und er war schon im Begriff hinüber zu gehen und sie mit ihrem Begleiter in seine eigne Loge abzuholen, als er noch einmal im Hause sich umsah, und nun erst zu seinem großen Erschrecken gewahr ward, wie alle seine näheren und entfernten Bekannten eigentlich nur ihn zum Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit machten. Einige sahen mit besorgter Theilnahme ihn an, andre trugen den hämischen Triumph der Schadenfreude im lächelnden Gesicht, die meisten betrachteten ihn mit dem starren Blick neugieriger Erwartung dessen, was zunächst geschehen würde. Nur das Paar ihm gegenüber schien seiner nicht gewahr zu werden. Die schöne Dame hatte alle ihre Aufmerksamkeit der Oper zugewendet, und von Sir Charles war es schwer zu entscheiden, ob er schlafe oder wache.

Kleeborn trat sogleich in den Hintergrund der Loge zurück, um mit dem Rittmeister Horst, der, [152] an eine Säule gelehnt, mit angestrengter Aufmerksamkeit den ernsten Blick auf jenes Paar geheftet hielt, über diese seltsame Erscheinung zu sprechen; doch indem klopfte ihm jemand auf die Schulter und eine bekannte Stimme bot ihm einen freundlichen guten Abend.

In großen Städten trifft man häufig auf Hagestolze von mittleren Jahren, die in allen sogenannten guten Häusern Eingang finden und überall sind, einzig, weil sie den Leuten weiß zu machen wissen, daß sie überall hingehören. Diese Herren reden über alles, sind immer mit gutem Rathe bei der Hand, spielen hohes oder niedriges Spiel, wie man will um überall hinzupassen, und üben unter der Maske treuherzigen Freimuths eine Art von arroganter Vormundschaft über Jung und Alt, indem sie sich bei allen Gelegenheiten zum Vertrauten aufdringen. Und alles dies nur um sich ihren freien Platz am Tische, im Theater oder bei Landparthien zu sichern. Ein solcher war Doctor Erning, der eben den Vater Kleeborn begrüßt hatte.

[153] »Nun was sagen sie zu dem neuen Kometen, der an unserem Horizonte aufgestiegen ist? Wie gefällt Ihnen die schöne Rosabelle?« fragte Erning, gleich nach der ersten Begrüßung.

Kleeborn war noch zu befangen, um des Doctors Meynung gleich zu verstehen. »Rosabella,« wiederholte er ganz tonlos und unwillkührlich.

»Nun ja, Rosabella, oder auch Rosaspina,« erwiederte Erning lachend, denn so viel ist wohl gewiß, der alte Papa drüben in Holland wird sie wenigstens lieber für einen Dornenstrauch als für eine Rose erklären, denn das liebe Söhnchen mag bei ihr viel Wolle sitzen lassen. Aber schön ist sie doch, das muß man ihr lassen, nicht wahr?«

»Ich verstehe Sie nicht,« erwiederte Kleeborn mit erzwungner Kälte, obgleich auf seinem Gesichte deutlich zu lesen war, daß er eben anfange, alles recht gut zu verstehen.

»Nun das muß ich sagen!« rief Erning, »Sie allein sollten nicht wissen, was die ganze Stadt seit drei Wochen weis! denn so lange ist es, seit er sie durch seinen Kammerdiener von Paris abholen [154] ließ, weil er wahrscheinlich nicht Lust hatte, sie dort länger auf seine Kosten leben zu lassen. Er hat sie in der Vorstadt im Weißischen Gartenhause einlogirt, wo sie sich Frau Gräfin nennen läßt. Sie sehen, ich bin von allem genau unterrichtet, also spielen Sie nicht länger den Geheimnißvollen gegen mich. Bei den kleinen Dejeunees, die er dort uns jungen Leuten en petite comité zuweilen giebt, können Sie Papachen freilich nicht seyn, aber exquisit sind sie, deliziös auf Ehre. Er versteht so etwas anzuordnen, das muß der Neid ihm lassen. Wäre nur nicht immer auch der König Pharao mit dabei! das verdammte hohe Spiel, ich kann es nun einmal für den Tod nicht leiden. Doch mit den Wölfen muß man heulen, und er – –«

»Er! und er! und immer er! was für ein er?« fuhr Kleeborn jetzt im höchsten Aerger auf. Doch Erning, dem er zu laut ward, zog ihn schnell in den Logengang hinaus und wandte nun alles an, ihn zu beschwichtigen, um dadurch noch größeres Aufsehen zu vermeiden.

[155] »Zürnen Sie nicht so, lieber alter Freund, wenigstens nicht auf mich, der es wahrhaft gut mit Ihnen meynt,« sprach er, »was ist es denn weiter? Jugendstreiche, die haben wir alle gemacht.«

»Herr!« rief Kleeborn, immer aufgebrachter, »von was, von wessen Jugendstreichen ist hier denn die Rede? – –«

»Wahrhaftig, Sie wissen von nichts?« fiel Erning ihm ein; »nein, wie konnte ich das vermuthen, da ich den jungen Mann täglich in Ihrem Hause sah, in welchem er gewissermaßen zu Ihrer Familie zu gehören schien. Bis jetzt war ich fest überzeugt, daß Sie alles absichtlich ignorirten, da es aber so steht, und Sie die Sache so hoch nehmen – mit Klätschereien befasse ich mich nicht, das weis jedermann, aber erfahren müssen Sie es doch, es ist einmal der Sohn Ihres besten Freundes, und wer kann wissen, was für Sie sonst noch wichtiges darum und daran hängt. Nun so hören Sie denn, ich will Ihnen den ganzen Verlauf der Sache erzählen.«

[156] Kleeborn mußte sich gewaltsam zusammennehmen, um dieses, tropfenweise ihm zugetheilte Gift nur mit einiger Fassung sich aufdringen zu lassen, doch zum Glück traten jetzt einige seiner bewährteren Freunde aus den benachbarten Logen hinzu, die das nicht ganz leise mit Erning gepflogene Gespräch zum Theil mit angehört hatten, und diese bekräftigten durch ihr ganz unzweideutiges Zeugniß Ernings Erzählung, bei deren Anhören der alte Kleeborn sich jetzt dem ungemessensten Zorne überließ. Auch Horst hatte sich dem kleinen Kreise zugesellt, und da der tief empörte, schwer beleidigte Alte darauf bestand, sogleich nach Hause zu eilen, nahm der Rittmeister sich nur eben Zeit, die Damen, die seiner sehr richtigen Ansicht nach, ruhig in der Loge verharren mußten, dem Schutze des Doctor Erning zu empfehlen, zu dessen Ehrenämtern dergleichen Aufträge ohnehin gehörten. Dann eilte er dem alten Herrn nach, um ihn wo möglich von gewaltsamen Schritten zurückzuhalten.

Während dieser Vorgänge wollte der Zufall, [157] daß Sir Charles einmal die Augen der Kleebornschen Loge zuwendete, und zu seiner Ehre müssen wir bekennen, daß er wie vernichtet dastand, als er die Gesellschaft in derselben erblickte, und zugleich das spöttische Lächeln gewahr wurde, welches auf seine Kosten die Gesichter seiner zahlreich versammelten Bekannten verklärte. Mit einem Gefühle ohne Namen glaubte er sich verhöhnt und absichtlich belauscht. Er sah sich schon zum Stadtmährchen geworden und zwar auf eine, derjenigen ganz entgegengesetzte Weise, die seiner Eitelkeit sonst so schmeichelhaft gedünkt hatte. Sein erster Entschluß war, die Spötter mit eiserner Stirne zu braviren, doch einem paar tausend Menschen gegenüber ist das ein schwieriges Unternehmen. Er richtete sich zwar hoch empor, und stellte sich an den, am hellsten beleuchteten Platz in der Loge, aber nach einigen Augenblicken wurde ihm diese Lage doch so unerträglich, daß er seiner Dame den Arm bot und ohne auf ihren Wunsch, das Ende der Oper abzuwarten, zu achten, das Schauspielhaus mit ihr verlies.

[158] Vicktorine bewährte bei dieser Gelegenheit abermals die oft gerühmte Kraft ihres Karakters, indem sie, wenn gleich mit großer innerer Anstrengung, im Aeußern so ruhig als möglich sich zeigte. Besorgniß, Freude, Mitleid mit der Kränkung, die ihr Vater erleiden mußte, Furcht vor der nächsten Stunde, in der sie ihn wiedersehen sollte, wogten in ihrem Gemüthe und regten die Ahnung einer nahen bedeutenden Wendung ihres Geschicks in ihr auf. Die Art mit welcher der Rittmeister Horst sie diesen Abend zum Besuche des Theaters beinahe gezwungen hatte, machte ihr den Antheil, den er an diesem seltsamen Zusammentreffen haben mochte, nur zu deutlich, und sie wußte nicht, ob sie ihm denselben verdanken, oder ihn darüber tadeln sollte. Dazwischen quälte sie Ernings Zudringlichkeit, mit der dieser ein Gespräch anzuknüpfen versuchte, in welchem er zu erforschen gedachte, welchen Eindruck Sir Charles Betragen auf sie gemacht habe. Es ward ihr nicht leicht, den unverschämten Frager auf würdige und doch nicht beleidigende Weise in den, ihm gebührenden [159] Schranken fest zu halten. Um ihm zu entgehen, suchte sie der Oper alle die Aufmerksamkeit, wenigstens scheinbar zuzuwenden, welche Agathe und das Fräulein Natalie ihr wirklich schenkten.

Die aus allen ihren Himmeln hinabgestürzte Babet zeigte bei weitem nicht so viel Fassung, sondern spielte eine sehr trübseelige Rolle. Unter dem Vorwande unleidlicher Kopfschmerzen hatte sie sich in den Hintergrund der Loge zurückgezogen, wo ihrem feinem Ohr beinahe keine Silbe von dem Gespräche ihres Oheims mit dem Doctor Erning entging. Helle Thränen, welche sie umsonst zu verhehlen suchte, rollten ihr dabei über die hochroth erglühenden Wangen herab, und fielen auf das Kreuzchen von Korallen, das sie auf der Brust trug, das traurige Denkmal schöner Stunden.


Das Unternehmen, sich eine Rosabella in die nämliche Stadt nachkommen zu lassen, in welcher man die reiche, schöne, von Verehrern umlagerte [160] Erbin eines sehr Ehrliebenden und dabei auf den Ruf seines Hauses mit Recht stolzen Mannes zu heirathen gedenkt, gränzt so sehr an das Abentheuerliche, daß man es selbst einem so verschrobnen Karakter, wie den des Sir Charles, kaum zutrauen kann, ohne ihn zugleich für wenigstens halb wahnwitzig zu erklären. Und doch hatte ihn zu diesem Schritte nur hauptsächlich die Langeweile verleitet, welche Vicktorinens abgemessenes Betragen und Babets, ihm aus tausend Gründen täglich lästiger werdendes Hingeben in ihm erregten. Daneben beleidigte die Verzögerung seiner Vermählung mit Vicktorinen seinen Stolz auf die empfindlichste Weise, und doch erlaubte eben dieser Stolz ihm nicht, die nöthigen Schritte zu thun, welche einzig diese Verbindung herbeiführen konnten. Auch das Leben in einem zwar glänzenden, aber doch sittlich beschränktem Kreise des höheren Mittelstandes kam seinen verwöhnten Sinnen allmählig so schaal und abgestanden vor, daß er es ohne anderweitige Zerstreuung nicht länger ertragen zu können glaubte. Und so lies er sich [161] wirklich von allen diesen zu einer Handlung verleiten, welcher nicht einmal die heftigste Leidenschaft hätte zur Entschuldigung dienen können. Diese war indessen durchaus nicht im Spiele, denn Sir Charles hatte Zeitlebens weder die schöne Rosabella, noch irgend ein sterbliches Wesen außer sich selbst geliebt. Nur die unseelige Neigung, sich stets glänzend zu zeigen und durch Reichthum und persönliche Vorzüge alle Andern zu überbieten, hatten ihn bestimmt, um jeden Preis eine Verbindung mit einer Person anzuknüpfen, welche während seines langen Aufenthalts in Paris als eine seltsame und merkwürdige Erscheinung großes Aufsehen erregte.

Vielleicht war noch nie ein Mädchen dieser Art auf einen so sonderbaren Standpunkt in ihrer Welt hingerathen, als eben Rosabella, in dem Augenblicke, da Sir Charles ihre Bekanntschaft machte. Ihre wirklich blendende Schönheit erregte überall das größte Aufsehen; im gewöhnlichen Leben bezauberte sie alle, die ihr nahten und war stets von Männern jedes Alters umgeben, welche [162] ihr die höchste Bewunderung zollten. Doch auf dem großen Operntheater, wo sie unter den Tänzerinnen einen sehr untergeordneten Rang einnahm, herrschte ein seltnes Mißgeschick über sie. Sobald sie die verhängnißvollen Bretter betrat, wollte ihr auch das Unbedeutendste nicht gelingen, sie stand, von aller der ihr sonst eignen Grazie verlassen, wie unkenntlich da, und trotz der angestrengtesten Bemühungen war es ihr unmöglich, auf der Bühne sich nur als den Schatten von dem zu zeigen, was sie außer derselben wirklich war. Daher wurde ihr jedesmaliges Auftreten gleichsam das Signal zu einem ganz eignen Kampf unter den Zuschauern; die verhältnißmäßig doch immer nur kleine Zahl ihrer persönlichen Verehrer suchte durch lauten Beifall ihren Muth zu erhöhn, während das große, durch die Leistungen der, in diesem Fach bedeutendsten Künstler verwöhnte Publikum jeden ihrer mißlungnen Versuche unbarmherzig rügte. Der Partheigeist, der in Paris bei jeder Gelegen heit erwacht, versäumte nicht, auch hier sich thätig zu bezeigen, und unglücklicher Weise für [163] die arme Rosabelle war ihre Parthei gewöhnlich die schwächste und erlitt schmähliche Niederlagen.

Morgens vergöttert, Abends ausgepfiffen, führte Rosabella zwischen der stillen Bewunderung ihrer Verehrer im Hause und dem lauten Tadel des Publikums im Theater, ein wahrhaft trostloses Leben, und so nahm sie Sir Charles Erbieten an, sie in eine andere Lage zu versetzen. Ein ihr von ihm ausgesetztes bedeutendes Jahrgeld half ihr seine, bald darauf erfolgende Abreise nach Deutschland mit großer Fassung ertragen, aber ihr Herz sehnte sich ewig im Stillen nach den verhängnißvollen Brettern zurück, die an Allen, welche einmal sie betraten, eine eigne, nie zu lösende Zauberkraft üben. Das magische Wort Kabale, dieser mächtige Trost aller schlechten Schauspieler und Schauspielerinnen, tröstete auch Rosabellen über ihr bisheriges Mislingen und sie folgte daher mit Entzücken dem von Sir Charles an sie abgeschickten Kammerdiener nach Deutschland, indem sie hoffte, auf den vornehmsten Bühnen dieses, ihr durchaus fremden Landes als Gastspielerin zu glänzen, und in der Ferne als eine der [164] ersten Tänzerinnen die Lorbeeren zu erndten, welche ihr undankbares Vaterland ihr versagte, indem es, ihrer Meynung nach, ihren Werth absichtlich verkenne.

Sir Charles dachte indessen gar nicht daran, diese ihre Hoffnung zu erfüllen und sie öffentlich auftreten zu lassen, im Gegentheil waren für ihn die tausend kleinen Ränke und Künste, die er anwenden mußte, um ihr Daseyn zu verbergen, gerade das interessanteste. Rosabella mußte es sich daher gleich bei ihrer Ankunft gefallen lassen, in einem ganz abgelegenen, wenn gleich sehr elegant eingerichteten Gartenhause in tiefer Verborgenheit ein durchaus eingezognes Leben zu führen, welches ihr gleich in den ersten Tagen die peinlichste Langeweile verursachte. Es währte nicht lange, so gähnte sie mit Sir Charles um die Wette, und dieser wußte, um dem verdrüßlichen Zustande ein Ende zu machen, keinen bessern Rath, als daß er nach und nach einige seiner näheren Bekannten bei ihr einführte. Rosabella wurde in diesem kleinen Kreise freilich für eine polnische [165] Gräfin ausgegeben, welche, durch Familienrücksichten dazu bewogen, eine Zeit lang in tiefer Verborgenheit zu leben wünschte, aber ihr eigentliches Verhältniß zu Sir Charles blieb deshalb doch niemanden ein Geheimniß, um so weniger, als seine ungemeßne Eitelkeit ihn selbst dazu brachte, es oft sehr deutlich errathen zu lassen. Ohne daß er etwas davon ahnete, ging die Geschichte der schönen Rosabella gar bald wie ein Lauffeuer von Ohr zu Ohr, die halbe Stadt wußte darum, bewunderte die seltne Frechheit des jungen Mannes und war auf den Ausgang begierig; nur Kleeborn hörte nichts davon, weil niemand der Erste seyn mochte, ihn davon zu unterrichten, und weil wir auch das, was uns zunächst betrifft, gewöhnlich zuletzt zu erfahren pflegen.

Das hohe Spiel, welches Sir Charles in diesem kleinen Kreise seiner Vertrauten einführte, gewährte zwar ihm einige Zerstreuung, da aber Rosabella keinen Theil daran nahm, so gerieth sie bald in die verdrüßlichste Laune, in die ein so verwöhntes Wesen nur gerathen kann. Um doch [166] einen Zeitvertreib zu haben, fing sie an, ihren Beschützer mit tausend Eifersüchteleien zu quälen, besonders in Hinsicht auf seine Braut, die er immer, um sie nur einigermaßen zu beruhigen, als ein wahres Fratzenbild ihr beschrieb. Endlich verlangte sie sogar, durch den Augenschein sich zu überzeugen, daß jene wirklich so häßlich sey, als man sie ihr darstellte, und es gelang ihr, Sir Charles zu dem Versprechen zu bewegen, sie einmal ins Theater zu führen, um ihr Vicktorinen von ferne zu zeigen.

Dieser verhängnißvolle Abend, an welchem die neue Oper gegeben ward, schien Sir Charles zur Erfüllung eines Versprechens, an welches er zu seinem großen Ueberdrusse täglich gemahnt ward, ganz auserlesen zu seyn, denn das Gespräch am Morgen hatte ihn fest überzeugt, es werde niemand aus dem Kleebornschen Hause das Theater besuchen. Er führte also die Schöne wirklich hinein, bezeichnete ihr das häßlichste junge Mädchen, dessen er in den ersten Rang Logen ansichtig werden konnte, als die ihm bestimmte Braut, und [167] ergötzte sich heimlich an der Wirkung seiner wohl ausgesonnenen List, bis der Anblick der wahren Vicktorine ihn in einen Abgrund von Zorn und Verlegenheit stürzte, in welchem er die sonst gewohnte Fassung völlig verlor.

Er schäumte beinahe vor Wuth, indem er Rosabella den Arm bot und sie, ohne auf ihre Gegenrede zu hören, die Logentreppe mehr hinabriß, als daß er sie geführt hätte. Unten hob er sie wie im Fluge in seinen Wagen und befahl, sie in ihre Wohnung zurück zu führen. Im heftigsten Kampfe mit sich selbst lief er nun noch einigemale unter den Arkaden vor dem Schauspielhause auf und ab, um zu überlegen, ob es rathsam sey, den Erfolg dieser Begebenheit ruhig abzuwarten, oder gleich jetzt zu dem alten Kleeborn zu gehen, ihm entweder wegen des niedrigen Belauerns seiner Schritte zur Rede zu stellen, oder auch, – nachdem nun die Stimmung wäre, in der er ihn treffen würde – zu suchen, auf eine gute Art allen Verdacht von sich abzuwenden.

Rosabella fuhr inzwischen nach Hause, ohne recht[168] zu wissen wie ihr geschehen sey, und suchte nur zu begreifen, warum sie die Oper nicht hatte bis ans Ende sehen dürfen, was sie recht von Herzen bedauerte. Ihre Hoffnung, auf deutschen Theatern als ein Stern erster Größe zu glänzen, war durch den Anblick einiger Statistinnen sehr hoch gestiegen, welche an diesem Abend auf ziemlich ungeschickte Weise durch ganz gewöhnliche Tänze das fehlende Ballet zu ersetzen gesucht hatten, und Rosabella, fest überzeugt, daß man in Deutschland nichts besseres kenne, wiegte sich eben in goldenen Träumen von ihrem künftigen theatralischen Glanz, als Sir Charles, noch immer wie ein Wüthender, zu ihr hineinstürzte, sie mit Vorwürfen und Drohungen überhäufte, ihr befahl, auf der Stelle zur Abreise sich zu bereiten, und dann wieder in der nächsten Minute ihr verbot, sich nur vom Platze zu bewegen.

Rosabella hörte und sah ihm eine Weile ganz verschüchtert zu und war dabei in nicht geringer Angst, denn sie fürchtete wirklich, daß ein plötzlicher Unfall ihn seines Verstandes beraubt habe. [169] Doch als mitten im Zorne die Erklärung der Ursache desselben ihm entschlüpfte, und er sogar ihr verrieth, wie er sie zu täuschen gemeynt habe, da hielt die lebhafte Französin sich nicht länger. Die verzweiflungsvolle Lage ihres Geliebten erschien ihr mit einemmal in einem so komischen Lichte, daß sie darüber in lautes Gelächter ausbrach, welches immer unaufhaltsamer wurde, je mehr Sir Charles sich darüber erzürnte. Selbst nach dem er beim Fortgehen die Thüre so unsanft hinter sich zugeschlagen hatte, daß das ganze Haus davon erbebte, lachte Rosabella noch immer fort, und es währte sehr lange, ehe sie sich wieder einigermaßen zu fassen vermochte.


Der Rittmeister erwartete indessen Vicktorinen an der Thüre ihres väterlichen Hauses und trug die Zitternde in der Freude seines ehrlichen Herzens beinahe die Treppe hinauf, ohne diesesmal um seine Agathe sich zu bekümmern. »Horst!« flüsterte Vicktorine, athemlos vor Furcht, den erzürnten [170] Vater unter die Augen zu treten, – »Horst was haben sie angestellt!«

»Befreit habe ich Sie, Kusinchen, mein der Tante gegebenes Wort habe ich gelöset,« erwiederte er ihr jubelnd, indem er sie ins Wohnzimmer führte, wo sie zu ihrer großen Beruhigung niemanden antraf als Angelika, die ihr freudig entgegeneilte.

»Du bist befreit, meine Vicktorine, ich hoffe Du bist es und wirst es bleiben,« sprach Angelika und drückte sie liebevoll an ihr Herz. »Anna wird, wenn sie heimkehrt, den Trost haben, ihren Liebling fröhlicher, hoffnungsreicher wieder zu finden, als sie ihn verließ, ihre Thränen werden schneller versiegen wenn sie – O Vicktorine,« setzte sie schnell abbrechend hinzu, »ich selbst bin in diesem Augenblicke so seelig, so innig erfreut, vor allem darüber, daß die schwere Wahl von Dir genommen ist, dem Vater widerstreben zu müssen, oder die heilige Treue zu verletzen.«

Vicktorinens Augen flossen vor Wehmuth über, indem sie die Freundin betrachtete, die jetzt plötzlich[171] sehr bleich werdend, in ihre Arme sank, und mit dem Abglanz des Himmels im fast brechenden Blick, zu ihr hinauf sah. Die Arme war unglücklicher Weise Zeuge eines sehr stürmischen Auftritts zwischen Horst und dem alten Kleeborn gewesen, als beide aus dem Theater nach Hause kamen; Schrecken und Furcht hatten sie dabei weit gewaltsamer ergriffen, als ihre schwachen Kräfte es zu tragen vermochten und obgleich Horst die erste freie Minute benutzte, um sie zu beruhigen, so vermochte sie es dennoch nur mit der größten Anstrengung, bis zu Vicktorinens Heimkehr sich aufrecht zu erhalten.

Freundlich wie immer eilte Agathe augenblicklich herbei, sie zu unterstützen. »Laß mich das müde Kind zur Ruhe bringen,« sprach sie, indem sie sorgsam sie fortführte, »überlaßt sie ruhig meiner Pflege, ich wanke und weiche die ganze Nacht nicht von ihr. Horst mag indessen hier der Verkündiger seiner eignen Thaten seyn und den Dank der Dame sich abfordern, der er sich zum Ritter geweiht hat,« setzte sie im Herausgehen [172] mit dem ihr eignen schalkhaften Lächeln hinzu.

»Ist es nicht, als sähe man eine geknickte Lilie an eine vollblühende Zentifolie gelehnt?« sprach Horst, indem er den beiden Mädchen nachblickte. »Und Sie, Kusinchen!« setzte er hinzu, indem er sich zu Vicktorinen wandte, die ihrem so lange zusammengepreßten Herzen noch immer in Thränen Luft machte, »Sie kommen mir auch gerade wie eine vom Platzregen durchnäßte Nachtigal vor, die es gar nicht glauben mag, daß die Sonne wieder scheinen wird, obgleich sie schon durch die Wolken bricht. Gott mag wissen, wie ich heute zu poetischen Vergleichen komme, aber ein Wunder ist es nicht, wenn ich am Ende selbst, unter so seltsamen Leuten auch anfange, etwas seltsam zu werden. Habe ich mich doch wie ein Kind auf den Jubel gefreut, der heute Abend hier unter uns laut werden sollte, und nun wird die Eine ohnmächtig und ich bekomme darüber meine Braut, die einzige recht vernünftige Person unter uns, diesen Abend nicht wieder zu [173] sehen. Die Andre, die vor Allen Ursache hat froh zu seyn, will hier auf den Sopha in Thränen zerfließen, und unsre kleine Babet dort drüben sitzt in einem Eckchen zusammengedrückt und hat Migräne. Ist das die neue gebildete Art sich zu freuen, so bleibe ich bei der alten, die mir weit besser gefällt.«

Babet, welche bis jetzt schwer seufzend da saß und bald ihre Ohrringe anfühlte, bald den Kamm, den sie aus ihren Locken gezogen hatte, mit trüben Blicken betrachtete, sprang jetzt auf, ergriff ein Licht, schleuderte auf Horst den wüthendsten Blick, den ihre hübschen blauen Augen nur aufzubringen vermochten, und verlies mit einem halb trotzigen halb weinerlichen »Gute Nacht!« das Zimmer, Vicktorine aber reichte mit bittend freundlicher Gebehrde dem Rittmeister die schöne Hand hin, ohne vor innerer Bewegung ein Wort hervorbringen zu können.

»Gute, liebe Vicktorine!« sprach Horst, indem er freundlich ihre Hand ergriff, »ich weiß wohl, daß ein junges Mädchen die Ereignisse des Lebens [174] mit ganz andern Augen ansieht als ein Husar, ich habe alle mögliche Ehrfurcht vor dem feineren Gefühle der Frauen und werde es nie wissentlich verletzen, aber jetzt wollte ich doch, sie sprächen zu mir, denn mir wird wahrhaftig allmählig zu Muthe, als hätte ich ein böses Gewissen, und ich habe es doch mit Allen, besonders mit Ihnen recht gut gemeynt, obgleich es mir jetzt vorkommen will, als hätte ich es Ihnen nicht recht gemacht. Ich bitte Sie, mir zu vergeben, wenn es so ist, obgleich ich nicht begreife wie es damit zugegangen seyn kann.«

»Glauben Sie mir,« erwiederte jetzt Vicktorine, indem sie mit gewaltsamer Anstrengung sich zusammennahm, »glauben Sie mir, ich fühle, was ich Ihnen ewig zu verdanken haben werde, aber, guter treuer Freund! verargen Sie es mir nicht, daß ich für jetzt mich noch nicht so freuen kann wie ich sollte; lassen Sie mir Zeit, mich selbst wieder zu finden. Alles ist mir wie ein Traum, Sie und Angelika sagen: ich sey befreit. Bin ich es denn? wird mein Vater – Ach, mein Vater! [175] wie bangt mir vor seinem Wiedersehen! und doch sehne ich mich darnach!«

»Heut,« erwiederte Horst, »werden Sie ihn nicht sehen, er wird die halbe Nacht hindurch auf seinem Comtoir vollauf zu thun haben, um den alten Müller, den Sie, liebe Vicktorine, weit mehr zu verdanken haben, als Sie wohl glauben, mit allen Nöthigen zu seiner Reise nach Amsterdam auszurüsten.«

»Müller reist nach Amsterdam!« rief die erstaunte Vicktorine.

»Noch vor Tagesanbruch und obendrein mit Kurierpferden,« antwortete Horst. »Er geht, um den alten Wißmann, dem er persönlich bekannt ist, über das Benehmen seines Sohnes weit besser mündlich ins Klare zu setzen, als dieses durch Briefe geschehen könnte. Der alte Herr, der ein sehr wackrer Mann seyn soll, wird gewiß selbst einsehen, daß man unter diesen Umständen Herrn Kleeborn nicht beschuldigen kann, er nähme sein Wort zurück, wenn er die Verbindung zwischen Ihnen und Sir Charles wie aufgelöset [176] betrachtet, indem dieser während seines langen Aufenthaltes bei uns noch nicht den geringsten Schritt gethan hat, um ihn an die Erfüllung desselben zu erinnern und sich überdem so betragen, daß dieser Bruch, als durchaus von seiner Seite herrührend, betrachtet werden muß. Glauben Sie nun, daß es mit Ihrer Befreiung Ernst sey?«

Vicktorine vermochte nur durch freudig bejahende Zeichen zu antworten und winkte ihm, fortzufahren.

»Auf diese Weise,« sprach Horst, »wird Ihr Vater der Sorge enthoben, seinem alten Freunde wortbrüchig zu erscheinen, und hoffentlich wird auch keine Abänderung in ihrem, durch die Zeit geheiligten, Beiden Ehre und Vortheil bringenden Verhältniß entstehen. Der gute alte Müller, der Ihnen wie Ihrem ganzen Hause mit unsäglicher Treue und Liebe ergeben ist, war der Erste, der diesen Vorschlag in Anregung brachte, als er den Zorn und zugleich die Verlegenheit Ihres Vaters sah. Denn ich rief ihn mir zur Hülfe [177] und durfte es, da ich wohl weis, in welchem Grade er das Vertrauen seines Herrn durch mehr als dreißigjährige Dienste sich erworben hat. Ich wünsche, Sie hätten gesehen, wie die Augen des alten Mannes glänzten, indem er versicherte, daß er, trotz seiner Jahre, die Beschwerden der Reise gern auf sich nehmen und wenn es seyn müßte Leib und Leben daran setzen wolle, um nur das liebe Fräulein Vicktorine vor einer Verbindung zu bewahren, der er immer mit schweren Herzen entgegengesehen habe. Sogar Herr Kleeborn selbst drückte gerührt ihm die Hand. Ich kann Ihnen den Trost geben, daß der Schmerz Ihres Vaters über das Fehlschlagen eines lange gehegten Lieblingsplans sich seit der Aussicht, seinen alten Freund nicht dadurch zu verlieren, sehr gemildert hat. Er hat mir sogar gedankt, daß ich, wenn gleich, wie er glaubt ohne es zu ahnen, die Veranlassung gegeben habe, ihn von der Gegenwart eines Menschen zu befreien, dessen immer unleidlicher werdender Uebermuth ihm täglich unerträglicher wurde, und der nur heute Morgen [178] durch die niedrigste Heuchelei sich ihm zum erstenmal in einem günstigeren Lichte zu zeigen wußte.«

»Also ist es wirklich wahr, und ich bin aller Qual und Sorge, jeder Furcht vor der nächsten Stunde, die oft mich fast zu Boden drückte, überhoben,« sprach Vicktorine hochaufathmend. »Wie kann ich je dieses Ihnen verdanken, denn daß Sie absichtlich die Katastrophe dieses Abends herbeiführten, werden Sie mir nicht ableugnen wollen. Und doch! ich ehre Ihren geraden Sinn zu sehr, um auch gegen Sie nicht ganz offen zu seyn, selbst mit Gefahr, Ihnen undankbar zu erscheinen. Lieber guter Horst, mußte es denn gerade auf diese Weise geschehen? konnten Sie meinem Vater nicht diese Aufsehen erregende Scene ersparen, die sein Stolz, und das mit Recht, sehr kränkend empfinden muß; war es nicht möglich, ihm auf sanftere Weise über den Unwerth dieses Menschen die Augen zu öffnen?«

»So sind die Mädchen,« erwiederte Horst lachend, »tragt sie auf den Händen bis Rom, und setzt sie am Thore etwas unsanft nieder, und [179] ihr werdet gescholten. Doch Sie sind wenigstens so billig, mich nicht wie einen Spion ungehört zu verdammen, sondern wollen erst ordentlich Kriegsrecht über mich halten. So hören Sie denn meine Vertheidigung.«

»Fürs erste will ich nicht läugnen, daß ich heut jeden Schritt unsers gemeinschaftlichen Feindes den ganzen Tag über bewachte, denn sein gar zu schmiegsames Betragen an diesem Morgen zeigte mir deutlich, daß er etwas im Schilde führe. Ich will nicht läugnen, daß Fräulein Natalie ohne mich an die heutige Oper schwerlich gedacht haben würde, und daß ich es für eine erlaubte Kriegslist hielt, durch sie das Zusammentreffen im Theater herbeizuführen, von dem ich fest überzeugt war, daß es so enden mußte, wie, gottlob! geschehen ist. Schon lange wartete ich auf eine solche Gelegenheit, Herrn Kleeborn über das unsittliche Leben seines erkohrnen Schwiegersohns die Augen zu öffnen. Die Ankunft der Tänzerin war mir schon einige Tage vor der Abreise der Tante bekannt geworden, und ich stand eben im Begriff, [180] auch sie davon zu benachrichtigen, als ihr plötzlicher Abschied uns alle überraschte. Warum sollte ich die letzten Augenblicke, welche die würdige Dame in unserem Kreise zubrachte, durch eine solche Nachricht beunruhigen, da ich überzeugt war, alles ohne ihre Hülfe an den Tag bringen zu können, besonders da sie mir noch in den letzten Stunden die Ehre erzeigte, mich zum Beschützer ihrer geliebten Vicktorine zu ernennen?«

»Aber, lieber Freund, konnten Sie denn nicht – –«

»Ihrem Vater alles erzählen, nicht wahr?« fiel Horst ein. »Für mein Leben gern hätte ich das gethan, aber wer stand mir denn dafür, daß Herr Kleeborn mir glauben, daß es jenem listigen Menschen nicht gelingen würde, sich weiß zu brennen, und dem alten Herrn ein X für ein U zu machen? Denn wer in der Welt zweifelt nicht gern so lange als möglich an einer Wahrheit, die seinen liebsten Wünschen widerspricht? Am Ende konnte dadurch vielleicht die öffentliche Erklärung Ihrer Verbindung nur noch beschleunigt werden. [181] Solchen Kämpfen durfte ich Sie nicht aussetzen, ich mußte den Augenschein unwiderleglich für uns sprechen lassen, und den sichersten Weg wählen, wenn gleich er nicht der angenehmste war.«

»Ich fühle wie sehr Sie Recht haben, und doch kann ich nicht umhin, die Kränkung, die mein Vater erduldet hat, schmerzlich zu empfinden. Was sagte er denn, wie benahm er sich?« sprach Vicktorine.

»Danken Sie Gott, daß Sie nichts davon gesehen und gehört haben, »erwiederte der Nittmeister, »und verlangen Sie nicht, es genauer zu erfahren. Daß der Papa anfangs sehr wild war, können Sie sich leicht denken; Sie kennen seine heftige, alles Widerspruchs ungewohnte Natur. Es war ein Glück, daß ich ihn nicht aus den Augen lies, sonst wäre er hingegangen, den Sir Charles zur Rede zu stellen, und daraus hätte doch nur sehr Unfreundliches entstehen können. Es dauerte lange, ehe ich ihn bereden konnte davon abzustehen. Endlich willigte er ein, als ich ihm vorstellte, daß Sie doch noch nicht förmlich [182] versprochen wären, und daher ein solcher Schritt von Seiten Ihres Vaters Sie nur erniedrigen könne. Am schwersten wurde es mir, ihn über die öffentliche Beschimpfung zu beruhigen die er erlitten zu haben glaubte, und ihm begreiflich zu machen, daß niemand beschimpft sey, als Sir Charles selbst: Zum Glück, kam Müller bald dazu, und half mir den aufgebrachten alten Herrn nach und nach in einem Grade besänftigen, wie ich es selbst sobald nicht erwartet hätte.«

»Was wird nun zunächst geschehen?« rief Vicktorine noch immer sehr beklommen. »Wie werde ich morgen meinem Vater finden? Wie wird Sir Charles sich ferner gegen uns benehmen? Ach wäre die Tante mir zur Seite, ohne Sie irre ich wie verloren und weis nicht was ich ergreifen soll.«

»Ich wollte auch, sie wäre bei uns, die würdige liebe Dame, erwiederte Horst, wenn ich gleich vielleicht Ihnen diesmal in Ihrem Geiste rathen kann. Geduld und Kurage, glauben Sie mir, Kusinchen, damit kommt man in der Welt überall [183] durch und die Tante selbst vermöchte es nicht, Ihnen etwas besseres zu empfehlen. Von dem fremden Narren werden Sie hoffentlich nichts mehr hören oder sehen, denn ich wüßte doch nicht, wie er, trotz seiner Frechheit es anfangen wollte, nach einem so öffentlichen Scandale sich noch hier im Hause zu zeigen. Und im höchsten Nothfall ist Horst auch noch bei der Hand. Beim Papa wird wohl schlecht Wetter im Kalender stehen, aber wenn das nun auch einige Tage oder Wochen hindurch währte – –«

»Alles, alles will ich mit der kindlichsten Unterwerfung ertragen,« fiel Vicktorine lebhaft ein. »Ich weis ja, welch ein lang gehegter Lieblingsplan ihm zu Grunde gegangen ist. Wie sollte ich da nicht alles thun, um meinem Vater zu beweisen, daß ich mit wahrem Schmerze mein Glück auf Kosten seiner Zufriedenheit erkauft sehe:«

»So ist's Recht,« sprach Horst, »die Tante selbst könnte nicht vernünftiger Ihnen rathen. Bleiben Sie dabei, Kusinchen, und lassen Sie für das Uebrige den lieben Gott sorgen.«


[184] Alle Fenster der Hauptetage im Hotel d'Angleterre standen am folgenden Morgen weit offen, und man sah deutlich das geschäftige Walten der Besen und Borstwische im Innern der Zimmer, denn Sir Charles und sein ganzes Gefolge waren über Nacht so vollkommen daraus verschwunden, wie die bunten Bilder einer Laterna-Magika von einer weißen Wand, wenn Licht herein gebracht wird. Keine Spur war von dem ganzen lustigen Treiben übrig geblieben, nur ein geschäftiger Lohnbedienter galoppirte noch durch die Straßen, um in den angesehensten Häusern der Stadt die zierlichsten mit Sir Charles Namen und p. p. c. bezeichneten Karten auszutheilen, und auch bei Herrn Kleeborn wurde eine ganze Hand voll derselben abgegeben.

So hatte denn auch für diesesmal der zweite Roman der schmerzlich betrübten Babet sein Ende erreicht, ohne daß ihr weiter etwas davon übrig geblieben wäre, als ein solches buntpapiernes, mit goldnem Rande verziertes Denkmal seeliger Täuschungen, und sie unterlies auch diesesmal nicht, [185] es reichlich mit ihren Thränen zu benetzen, ehe sie es zu Theodors Abschiedskarte legte.

Nach reiflicher Ueberlegung hatte Sir Charles am vorigen Abend es denn doch aufgegeben, Herrn Kleeborn über sein Erscheinen im Theater zur Rede zu stellen, wie er es anfangs willens gewesen war. Wilkinson und der Kammerdiener, seine beide Vertrauten, fühlten so gut als er selbst, daß dabei wenig Ehre zu erlangen seyn würde; sie riethen ihm daher nach Kräften davon ab, und brachten ihn lieber auf den Gedanken, plötzlich die Stadt zu verlassen, um sich auf diese Weise in den Augen des Publikums das Ansehen zu geben, als habe er absichtlich eine Verbindung auf eine so beleidigende Weise abgebrochen, die er, ihrer äußern Vortheile willen, doch im Grunde seines Herzens sehr ungern aufgab und gern wieder angeknüpft hätte, wenn dieses nur einigermaßen als möglich ihm erschienen wäre.

Auch die sogenannte polnische Gräfin verschwand mit ihm um die nämliche Stunde aus ihrer Wohnung, doch scheint sie sich bald darauf von ihm [186] getrennt zu haben, denn nach wenigen Wochen las man in öffentlichen Blättern von ihrem Auftreten als Tänzerin auf einigen der größten Theater in Deutschland, wo sie indessen auch nicht die erwartete Anerkennung ihres Talents gefunden zu haben schien.

Vicktorine hatte freilich noch eine harte Scene mit ihrem Vater zu bestehen, der sie, was lange nicht geschehen war, in sein Kabinet rufen lies, um ihr anzukündigen, daß ihre Verbindung mit Sir Charles völlig aufgehoben sey. Er unterlies es nicht, sie dabei mit Vorwürfen über ihr wohlberechnetes kaltes Benehmen gegen diesen zu überhäufen, welches, wie er ihr Schuld gab, den jungen Mann angereizt habe, sie so wohl als ihren Vater absichtlich zu beleidigen. Vicktorine trug alles mit Geduld, wie sie es sich vorgenommen hatte, und wagte es sogar nicht auch nur eine Silbe ihm entgegen zu stellen, als er sie zuletzt warnte, sich ja nicht durch diesen Vorfall nur um einen halben Schritt einer Verbindung mit dem jungen Holm näher gebracht zu glauben. Er [187] redete sich selbst immer tiefer in seinen Zorn hinein, je länger er sprach und die demüthige Ergebenheit, mit der sie alles über sich ergehen lies, brachte ihn immer mehr auf, bis er sie endlich entlies, weil er nichts mehr zu sagen wußte und sich obendrein heiser gesprochen hatte.

Die Art, mit der viele der geachtetsten Männer der Stadt gegen Herrn Kleeborn Sir Charles letztes Bekragen erwähnten, trug viel dazu bei, ihn heiterer zu stimmen, und wenigstens den Wahn einer durch dasselbe erlittenen Beschimpfung ihm zu benehmen, aber dennoch vergingen viele Wochen, ehe er es über sich gewinnen konnte, Vicktorinen mit gewohnter Freundlichkeit zu begegnen. Geschah dieses ja einmal in einem Augengenblicke des Vergessens, so suchte er gewiß im nächsten dieses Versehen durch verdoppelte Härte wieder zu verbessern.

Vicktorine blieb sich in ihrem Betragen immer gleich, und suchte durch die kindlichste Ergebung, und nie ermüdende Aufmerksamkeit auf jeden seiner Wünsche, das Herz des Vaters sich wieder [188] zu gewinnen, aber es fielen dennoch täglich neue unangenehme Scenen vor, bei denen niemand mehr litt als die arme Angelika. Liebe und Ruhe waren das Element ihres Daseyns und der zarte Faden, an dem ihr Leben noch schwebte, erzitterte oft im allerschmerzlichsten Mitgefühle bei jeder stillen Thräne, jedem leisen Seufzer ihrer Vicktorine. Für den eignen Schmerz hatte sie keine Thränen mehr, sie liebte ihn sogar, denn er erschien ihr jetzt wie ein Engel des Lichts, der sie der Vollendung immer näher führte, doch bei dem Anblicke des getrübten Frühlings ihrer in voller Jugendherrlichkeit blühenden Freundin öffnete sich von neuem diese Quelle, und stieg oft mit stechendem Schmerze, wie aus der tiefsten Tiefe ihrer Brust, in das verklärte Auge, das lange schon im Vorgefühl der nahen Himmelsseeligkeit nur zu lächeln gewohnt war.


[189] Inhalt einiger der Papiere, welche Anna von Falkenhayn in den verborgenen Fächern des elfenbeinernen Kästchens fand.


Bernhard von Leuen an seinen Bruder Albert von Leuen. Gleich nach des Erstern Ankunft auf der Insel Maltha geschrieben.


Um Dir, guter Albert! meinen letzten Abschiedsgruß zu senden, benutze ich die Rückkehr des Schiffes, das mich mit dem günstigsten Winde wie im Fluge von Venedig hierher brachte. In dem freudigen Rausche der jetzt Dich beseeliget, hast Du, Glücklicher! hoffentlich längst schon die einzige Täuschung verschmerzt, welche ich mir jemals gegen Dich erlaubte, indem ich nicht, wie ich Dich glauben lies, von der kleinen Reise nach St*** nochmals zu Dir zurückkehrte. Warum sollte auch meine ernste, trübe Gestalt sich nochmals in das Paradies Eurer jungen Liebe stöhrend eindrängen wollen? Wer selbst nicht glücklich ist, meide ja die Gesellschaft [190] der Glücklichen, seine Gegenwart ist unheilbringend, sie wirft erkältende Schatten in die frisch aufgehende Blüthe des Lebens; denn wer dieser sich recht erfreuen soll, der darf nie daran erinnert werden, wie leicht alles anders seyn könnte, und wie oft zwischen Morgen und Abend eines einzigen Tages die unerwartete Entscheidung eines ganzen Menschenlebens liegt.

Die Kluft zwischen mir und meinem Vaterlande ist jetzt sehr bedeutend, und meine Ruhe, das einzige Gut nach welchem ich streben kann, erfordert, daß ich alles meide, was jene Kluft mir auch nur scheinbar verkleinern könnte. Ich habe viel zu vergessen und wem es damit wahrer Ernst ist, der hüthe sich vor dem Schreiben, denn die Feder ist in dieser Hinsicht die gefährlichste Vertraute. Daher wirst auch Du sogar nur selten Nachricht von mir empfangen, und vielleicht gehen Jahre darüber hin. Was könnte ich Dir auch von mir zu melden haben? Die Geschichte meines Lebens ist hoffentlich abgeschlossen, und was ich über Dich und Deine Verhältnisse Dir sagen[191] könnte, würde doch nichts anders seyn, als Wiederholung der ernsten Bitten und Ermahnungen, die ich Dir während unsers kurzen Beisammenlebens unaufhörlich an das Herz legte. Selbst schon dieser Brief kann beinahe nichts anders als jene Wiederholungen enthalten; bewahre ihn wohl, lies ihn zuweilen wenn Du nach mir und meinem Rathe Dich sehnst, und möge Dir dann seyn, als hörtest Du nochmals die warnende Stimme des von der Natur Dir zugegebenen Freundes, der Dich und Dein Glück im Herzen trägt und tragen wird, wenn gleich seine gegenwärtige Stimmung ihm nicht erlaubt, Dir aus der Ferne oft ein Zeichen davon zu senden.

Vor Allem laß mich die dringendste meiner Bitten Dir nochmals vortragen, die Bitte: nie, unter keinen Umständen die stille Burg unserer Väter mit einem andern Wohnorte zu vertauschen. Wer, wie Du, das hohe Glück reiner Liebe, die Krone des Lebens errungen hat, der strebe doch ja nach Einsamkeit mit der Geliebten; nur in dieser kann es wachsen und dauernd bestehen, so [192] wie die Alpenrose sich auch nur im reinen Aether ihrer hohen einsamen Berge in all' ihrer Pracht entfalten kann. Albert! bange Sorge um Dich bewegt mein Gemüth. O fliehe die Welt, wenn Du Dein Glück Dir rein bewahren willst! laß Dich von ihrem Flitterglanze nicht verlocken. Du kennst sie nicht, Du weißt nicht, Du ahnest nicht, wie die edelste Natur, das Meisterwerk des hohen Schöpfers, in jenem glänzenden Gewühle hinabgezogen, entwürdigt werden kann. Ich aber habe es erfahren! Du und Luise, ihr einfachen, fröhlichen, harmlosen Kinder, was wolltet ihr dort? Wie könntet ihr beide in Eurer glücklichen Unbefangenheit jemals ungestraft es wagen, Euch jenem schlüpfrigen Pfade anzuvertrauen, der selbst den Erfahrnen, von Jugend auf mit ihm Bekannten Verderben und Untergang droht.

Du wirst auf der Burg unserer Väter mit Deiner Luise Dich zwar einsam, doch nicht allein befinden, denn Hunderte gehören zu Euch, die durch Deine Geburt von der Natur an Dich gewiesen wurden und jetzt hoffend zu Dir hinaufblicken, [193] Du selbst hast freilich im Laufe Deines jungen Lebens noch nichts verbrechen, guter Albert, aber bei aller Deiner Schuldlosigkeit hast Du dennoch vieles gut zu machen, was in frühern Zeiten Deine Vorfahren verschuldeten, ob gezwungen oder freiwillig? gilt hier gleich. Betrachte in den Dörfern, die zu Deinen Besitzungen gehören, die armen verfallnen Hütten, den elenden Zustand ihrer mehr als zur Hälfte verwilderten Bewohner; dieser Anblick wird Dich besser über das was Dir obliegt belehren, als Worte es vermöchten. Nie wird Langeweile Dir nahen, weil es Dir an Beschäftigung nie fehlen kann, wenn Du mit redlichem Eifer die Pläne zur Verbesserung des Zustandes Deiner Güter auszuführen suchst, die ich Dir vor meiner Abreise zum Theil schriftlich vorlegte; auch Luise wird in heiter verständiger Thätigkeit Dir zur Seite als Deine Gehülfin sich beglückt fühlen, und sich nach andern Freuden niemals sehnen.

Ein Name wie der Deine, von Ahn zu Ahn Jahrhunderte hindurch ehrenvoll bis auf Dich herabgeführt, ist ein Kleinod, dessen Werth Du nie [194] zu hoch anschlagen kannst, wenn Du dabei die heiligen Verpflichtungen nicht aus den Augen verlierst, welche diese unverdiente Gunst des Schicksals Dir auferlegt. Erinnerst Du Dich noch, wie uns Beiden das Herz aufging, als wir Hand in Hand in der, dem Andenken unsrer Vorfahren gewidmeten Gallerie standen und die lange Reihe ehrwürdiger Gestalten betrachteten, welche vor uns in diesen Räumen walteten? Und doch war der erste unter ihnen, er, der einzige, welcher keine Ahnen aufzuzählen hatte, bei weitem der Größte. Denn viel ehrenvoller ist es, der Gründer eines kraftvollen herrlichen Stammes zu seyn, als sich, durch das Verdienst edler Vorfahren gehoben, auf schon gebahntem Wege gemächlich durch die Welt helfen zu lassen.

Doch Dir, mein Bruder! eröffnet sich eine Aussicht, die Ehrenkrone unsers Stammvaters mit ihm einst theilen zu können. Zwar bist Du der letzte unsers alten edlen Namens, doch hoffentlich wird er wieder neues Leben gewinnen, und Du stehst einst in der Mitte zwischen der langen [195] Reihe unsrer Vorfahren und einer zahlreich erblühenden, bis in die späteste Zeit hinab reichenden Nachkommenschaft. Du kannst es erringen, daß einst Deine Urenkel und die Deiner Unterthanen, vorzüglich vor Deinem Bilde gern bewundernd verweilen und daß der Vater, indem er dem Sohne es zeigt, zu ihm spreche: neige dich ehrfurchtsvoll vor diesem Albert, er verlieh dem zu seiner Zeit fast ganz gesunknem Hause der von Leuen neues Leben, er allein erhob es wieder zu seinem ursprünglichen Glanze, indem er Freude und Wohlhabenheit bis in unsre Hütten verbreitete und durch Thätigkeit, Umsicht und weise Sparsamkeit wieder aufbaute, was eine verworrene, unheilbringende, kriegerische Zeit zerstört hatte.

Doch glaube nicht, daß ich verkenne, auf welch' ein schweres Unternehmen ich hier hindeute; oft schon, mein theurer Bruder, wenn Du vergebens nach Dir genügenden Worten suchtest, um Deine gränzenlose Dankbarkeit mir auszudrücken, fiel es mir schwer aufs Herz, daß ich durch die Uebertragung [196] der Rechte meiner Erstgeburt Dir weniger als Nichts gewährte, wenn Du nicht selbst mit rastlosem Eifer Dein Leben daran setzen willst, um Dein Besitzthum wieder zu dem zu erheben, was es vor den Verwüstungen des siebenjährigen Krieges, und der aus den langen Abwesenheiten seiner Eigenthümer entstehenden Verwahrlosung gewesen ist. Einem edlen freien Geiste wird es unendlich leichter, Neues zu schaffen, als Verworrenes, Zerstörtes wieder zu ordnen und aufzurichten. Es wollte mir daher oft unbillig erscheinen, daß ich Dir, dem Knabenalter kaum Entwachsenen, eine so schwere Aufgabe aufbürden konnte, und einzig die Ueberzeugung, daß ich durch diese Handlung nur der Zeit um einige Jahre zuvoreile, konnte mich darüber beruhigen. Nach dem gewöhnlichen Laufe der Natur wären Dir, dem um viele Jahre jüngern Bruder, dennoch die Verpflichtungen einst zugefallen, die Du, von mir veranlaßt, schon jetzt übernimmst. Als geistlicher Ritter hättest Du ihnen noch weniger genügen können, unser alter edler Name wäre mit Dir erloschen [197] und das Eigenthum unsrer Väter, die Sorge für das Glück derer, die seit undenklicher Zeit vom Vater auf den Sohn gewohnt waren, dem Schutz eines von Leuen anvertraut zu seyn, wäre fremden Händen zugefallen. Da sey Gott vor, daß ich dies zugeben solle, wenn ich es ändern kann.

Ich, mein Albert! ich bin vom Schicksal unabwendbar bestimmt, einsam zu leben und zu sterben, ich müßte es, und wärst Du nie geboren. Sahst Du niemals einen Baum, stark und fest dem äußern Anschein nach, aber an der eigentlichen Wurzel seines Lebens nagt ein heimlicher Wurm, er kann noch eine Weile fortgrünen, doch der Raum um ihn her bleibt ewig öde, und in seinem kalten Schatten sproßt kein junges Leben wieder auf. Sahst Du je einen solchen Baum? Er war das Bild Deines Bruders. Frage mich nicht weiter, ich kann und will keine Deiner Fragen über diesen Punct beantworten, aber glaube mir, wenn ich mit dem tiefen Ernst eines auf den Tod Verwundeten Dir sage: es ist so.

[198] Laß diesen Ausspruch Dich nicht zu sehr um meinetwillen betrüben, denn ich habe einst auch gelebt, ein kurzes aber schönes, vom seeligsten Traume hochbeglücktes Leben, doch jetzt ist es dahin. Für andere kann ich noch wirken, so lange die Sonne mir scheint, für mich nicht mehr, denn ich habe keinen Wunsch mehr auf Erden, alles, alles ist vorbei. Daß ich aber, indem ich that, was ich für Recht und nöthig erkannte, zugleich Dein und Luisens Glück erbauen durfte, das ist die letzte Gunst, welche das Geschick mir gewährte; ich achte sie um so höher, je weniger ich mir noch einer solchen im Laufe meines Lebens gewärtig war.

Sorge auch übrigens nicht um mich; zwar bin ich bis heut' hier völlig fremd geblieben und weiß Dir über die hiesige Zustände nichts mitzutheilen, doch Raum für Thätigkeit giebt es überall. Ich brauche nur diesen noch, auch hier werde ich ihn entdecken und denke, so mich ganz leidlich von einem Tage zum andern hinüber zu helfen.

Zugleich mit diesem Briefe wird das Dir wohlbekannte [199] Kästchen von Elfenbein Dir eingehändigt werden, welches lange Jahre hindurch in unsrer Familie hochgehalten und bewahrt wurde. Ich sende es Dir zurück, weil es hier dereinst sehr leicht in fremde Hände fallen könnte; bewahre es wohl und lasse es nie von Dir, behalte es zu meinem Andenken, wenn es Dir dadurch vielleicht lieber werden sollte. Du findest es mit einigen Kleinigkeiten an Schmuck und Seltenheiten angefüllt, wie dieses Land sie bietet. Uebergieb diese Deiner Luise in meinem Namen; sie sind an sich beinahe ohne Werth, doch ich hoffe, Luise wird um meinetwillen sie nicht verschmähen.

Den Ring mit meinem Bildniß, den Du jenen Dingen beigefügt findest, bestimme ich Dir, denn ich weiß, es wird Dich freuen, eine so treue Kopie meiner Züge zu besitzen, doch trage ihn nie an Deiner Hand, und lass' auch Deine Luise dieses nie thun. Eine der schmerzlichsten Erinnerungen knüpft sich für mich an den Anblick dieses Ringes; er darf nie zum Schmucke dienen, da er [200] die Hand nicht schmücken durfte, für die er ursprünglich bestimmt war. Und nun lebe wohl! Gott erhalte Dir Dein jetziges Glück und segne Dich mit Kraft und Muth und Ausdauer für die Bahn, welche Du zu gehen hast.


Albert von Leuen an seinen Bruder Bernhard, achtzehn Jahre später geschrieben.


Wenn Du diese Schriftzüge erblickst, mein edler schwer beleidigter Bernhard, so hat die alles ausgleichende Hand des Todes den Müden wirklich zur Ruhe geleitet, den Du schon vor langen Jahren zu den Verstorbenen zähltest. Dem Lebenden mußtest Du zürnen, weil er, schwach und verblendet, den Pfad nicht zu halten wußte, den Du so weise als liebevoll ihm bezeichnet hattest; dem Todtgeglaubten hast Du vergeben, dies fühlte er wohl, darum mochte er Dir nie wieder nahen, im Laufe des trüben Daseyns, das er in tiefer Verborgenheit auf Erden noch fortführte, und[201] wahrscheinlich einige Jahre hindurch noch fortführen wird.

Daß Du aber dem Bruder gern ein willig Ohr leihen wirst, wenn er, gleichsam aus seinem Grabe herauf, Dir am Ende seiner Bahn Rechenschaft ablegen will, davon bin ich eben so überzeugt, als daß dieses Bekenntniß seiner Verirrungen wie seiner Leiden ein menschliches Herz bei Dir finden wird; denn auch sie waren menschlich. Kein Verbrechen lastet auf Deinem armen Albert, das glaube fest; der immer wache innere Richter giebt ihm das Zeugniß, daß sein Streben zum Bessern stets redlich war, wenn er gleich leider weder von der Natur noch durch seine Erziehung sich dazu eignete, das zu werden, was Deinem höheren Geiste aus ihm zu bilden möglich schien.

Und nun lass' mich noch einmal in meinem Leben wie der Bruder zum Bruder aus vollem Herzen zu Dir reden. Der letzte Ruhepunkt, den ich auf Erden zu finden bestimmt war, ist erreicht. Mein Pilgerstab hängt über dem kleinen Altar meiner Laren, und soll nicht wieder herabgenommen [202] werden, bis er zur Gruft mich begleitet. Doch jetzt lebe ich noch, und ein unwiderstehliches Gefühl drängt mich zu Dir. Ich, der Verwaiste, Verlassene – durch Schuld oder Unglück, nenne es wie Du willst – von allem was mir einst lieb war Verbannte, ich werfe mich an Deine Brust, um Dir zu klagen, wie ich irrte und wie die Strafe jedem meiner Irrthümer auf der Ferse folgte.

Ich muß Dir auch mittheilen was mir gelang, was mich erfreute, und welche Aussicht auf eine, alles ausgleichende Zukunft sich mir eröffnet, indem doch eine Hoffnung mir fröhlich erblüht, eine von den vielen, die ich in eitle Truggebilde sich auflösen sah.


Es wird nöthig diesen Brief hier zu unterbrechen, um dem, was Albert seinem Bruder aus seinem spätern Leben mittheilt, eine kurze Uebersicht der frühern Ereignisse desselben einzuschalten, die Albert, als Bernharden vollkommen bekannt, [203] übergehen mußte. Zugleich wird dem Leser einiges wieder ins Gedächtniß zurückgerufen, was schon vorläufig nur flüchtig erwähnt ist.

Albert wurde bekanntlich in Rom, dem Geburtsorte seiner Mutter, zum geistlichen Stande erzogen, dem er bei den sehr gesunkenen Verhältnissen seines Hauses ohnehin gewidmet worden wäre, selbst wenn seine Eltern sich nicht nach einer kurzen, höchst unglücklichen Ehe wieder von einander getrennt hätten. Doch überdem öffnete der mächtige Schutz eines Oheims seiner Mutter dem Knaben eine der allerglänzendsten Aussichten auf der für ihn gewählten Bahn, denn als Kardinal und erklärter Liebling des damaligen Pabstes übte dieser eine fast unumschränkte Gewalt in seinem Wirkungskreise aus. Zwar lies er als ein sehr frommer, den Vorschriften seiner Kirche streng ergebener Geistliche sich nur selten einen Mißbrauch seiner Macht zu schulden kommen, dem Nepotismus jedoch, dieser allgemeinen Erbsünde der höheren römischen Geistlichkeit, vermochte er nicht zu widerstehen und so benutzte er zu Gunsten seines [204] Großneffen dem ihm verliehenen Einfluß, indem er, mit Umgehung aller Ordensregeln, dem Knaben fast noch in der Wiege die Anwartschaft auf eine bedeutende Komthurey des Maltheserordens zu verschaffen wußte, welche Andre durch jahrelange Anstrengung im Dienste des Ordens sich erst erwerben müssen.

Sobald der Knabe weiblicher Pflege einigermaßen entbehren konnte, ward er von seinem vornehmen Beschützer der mütterlichen Aufsicht entzogen und dem Pater Jeronimo übergeben, einem sehr gelehrten Benediktiner, der seine eigne Jugend stets in klösterlicher Einsamkeit zugebracht hatte, und mit frommer Scheu die ihm ganz unbekannte Welt als einen Sündenpfuhl betrachtete. Letzterem nicht nahen zu müssen, hielt er für das größte Glück auf Erden.

Albert wuchs an der Seite dieses Greises in so tiefer Einsamkeit auf, als wäre er mit ihm durch einen Zauberspruch in die Thebaische Wüste versetzt worden. Er sah beinah nichts und kannte nichts als seinen Lehrer, seine Bücher und die [205] vier engen Wände einer Zelle im Kloster oder des kleinen Zimmers im Pallaste seines Oheims, welche er gemeinschaftlich mit seinem Lehrer bewohnte. Denn Pater Jeronimo theilte seine Zeit zwischen dem Kloster und dem Kardinal, der ihn zu seinem Allmosenier ernannt hatte und ihn hauptsächlich deshalb auch zu Alberts Erzieher erwählte, um den Knaben weniger aus den Augen verlieren zu müssen.

Albert konnte sich nicht nach Genüssen und Freuden sehnen, die er selbst dem Namen nach nicht kannte, aber wie alle von der Natur nicht ganz verwahrlosete Kinder, dürstete er nach Beschäftigung, jemehr er heran wuchs, und Jeronimo benutzte dieses, um ihn so früh als möglich in das Reich der Wissenschaften einzuführen, dem er selbst alles Glück seines stillen einförmigen Lebens verdankte. Das Talent und die unermüdliche Wißbegierde des Knaben entzückte seinen Lehrer; er brachte es bald dahin, die klassischen Schriftsteller Roms und Griechenlands mit ihm in ihrer Ursprache lesen zu können. Zu ihren [206] Dichtern sogar ging er über, ohne daß es dem in kindlicher Unbefangenheit grau gewordnen Alten einfiel, mit welchen Ahnungen eines, von dem seinen ganz verschiedenen, genußreichen Lebens diese den Knaben erfüllen mußten, welcher zum Jüngling heranreifte. Während Pater Jeronimo mit trockner Schulgelehrsamkeit seinem Zöglinge die technischen Schönheiten eines seiner Lieblingsdichter auseinander setzte, oder in Vergleichung der verschiedenen Lesarten irgend einer dunklen Stelle sich vertiefte, führte die jugendliche Phantasie den scheinbar Aufmerksamen auf Adlersflügeln weit weg in ein magisches Land, wo alles ihn entzückte und nichts ihm deutlich war, am wenigsten seine Wünsche und Hoffnungen.

Indessen wurde Albert unter der Leitung seines Lehrers dennoch grundgelehrt. In Athen, im alten Rom, in der Geschichte der Völker, unter den Sternbildern des nächtlichen Himmels, war er vollkommen zu Hause, doch von den Verhältnissen des wirklichen praktischen Lebens wußte er in seinem zwanzigsten Lebensjahre weit weniger, [207] als ein gewöhnlicher Knabe von acht Jahren. Der Kardinal war indessen mit der geistigen Ausbildung seines Großneffen vollkommen zufrieden, das übrige, meynte er, würde zu seiner Zeit schon von selbst sich finden, und er trug kein Bedenken, als Albert das dazu erforderliche Alter erreicht hatte, ihm anzukündigen, daß er zur Reise nach Maltha sich bereit halten solle.

Alberts Mutter war während dieser Zeit in einem Kloster gestorben, dem sie, um den Himmel mit den Verirrungen ihres Lebens zu versöhnen, ihr ganzes Vermögen hinterließ. Ihr Sohn war nun einzig aus die Großmuth des Kardinals angewiesen, der ihn auch sehr freigebig mit allem versah, was er zu seiner Reise bedurfte, ihm sogar erlaubte, durch Deutschland zu gehen und sich in Triest einzuschiffen, weil Albert sehnlichst darnach verlangte, seinen nie gesehenen Bruder kennen zu lernen.

Die Reise selbst, auf die sich Albert, wenn gleich nicht ohne heimliches Bangen, sehr gefreut hatte, erfüllte in der Wirklichkeit durchaus nicht [208] seine Erwartungen, besonders nachdem er die Alpen im Rücken hatte. Das laute Treiben und Lärmen der im Schweiße ihres Angesichts arbeitenden Menschen, die Noth der Armen, besonders aber die ihm barbarisch klingenden Töne einer ihm völlig unverständlichen Sprache, machten auf ihn den widrigsten Eindruck. Alles was er sah und hörte, kontrastirte so sehr mit seinen goldenen Träumen, daß er einem vertrauten Kammerdiener seines Oheims, welchen ihn dieser zum Begleiter mitgegeben hatte, alle Besorgungen der Reise überließ, und nur aus dem Wagen stieg, um nächtlich zu ruhen.

Durch diese Art zu reisen geschah es denn, daß er auf seinem väterlichen Schlosse eben so unbekannt mit der Welt und den Menschen anlangte, wie er von Rom ausgegangen war. Wer ihn sah und hörte hätte glauben können, es habe ihn ein Wolkenwagen durch die Lüfte geführt, ohne je die Erde zu berühren.

Er traf seinen Bruder nicht auf Leuenstein, man wußte nicht einmal mit Gewißheit zu sagen, [209] wo sich dieser jetzt aufhielt, und der arme Albert fühlte sich bei dieser Nachricht so verlassen, wie nie zuvor in seinem Leben. Das einzige Erfreuliche für ihn war, daß er mit dem im Schlosse wohnenden Justiziar sich in französischer Sprache leidlich verständigen konnte, und daß dieser sich ziemlich bereitwillig zeigte, einstweilen für die Bequemlichkeit des jungen Herrn zu sorgen, bis Bernhard von Leuen von der Ankunft seines Bruders benachrichtigt werden konnte.

Der alte Kammerdiener Giovanno eilte sobald als möglich seiner schönen Heimath wieder zu, ohne auf Alberts Bitten zu achten, denn es schien dem verwöhnten Südländer unmöglich, zwischen den hohen, Waldbewachsnen Bergen länger zu verweilen, in deren Mitte Schloß Leuenstein auf einer bedeutenden Anhöhe lag.

Albert war nun mit einemmale von allen seinen gewohnten Umgebungen getrennt, ohne auch nur den kleinsten Ersatz für diese gefunden zu haben. Die so lange ersehnte Freiheit, welche ihm jetzt im vollsten Maaße zutheil geworden [210] war, beängstigte den klösterlich erzogenen Jüngling statt ihn zu erfreuen, und ihm war ungefähr so zu Muthe, wie es einem Kanarienvogel seyn mag, der dem Käfig, in dem er aufwuchs, unbedachtsam entschlüpfte, und nun wie verloren mit ungeübtem Flügelschlage über Wiesen und Gärten ängstlich flattert. Die Welt kam ihm so weit und so unheimlich vor, daß er einige Tage dazu brauchte, ehe er nur zu dem Entschlusse kommen konnte, das Schloß zu verlassen und einsame Wanderungen in den romantisch schönen Umgebungen desselben anzustellen. Der Anblick der freien Natur, den er früher beinah nie genossen hatte, verfehlte indessen nicht, auf ihn den tiefsten Eindruck zu machen; er befreundete sich gar bald mit ihr, denn in ihr fand er zuerst seine Dichter wieder, und seine frische Jugendphantasie wußte beide zu einem entzückenden Ganzen zu vereinen. Liebeglühend drückte Albert Bäume und Blumen an seiner mit süßer, namenloser Wehmuth erfüllten Brust, ward nicht müde die Nympfe Echo zu wecken, rief der Dryas, ihm aus den Wipfeln [211] ihrer hohen Buchen nur einmal zu erscheinen, und trieb dieses phantastische Spiel bis die sinkende Nacht ihn zwischen die alten dunkeln Mauern seiner väterlichen Burg wieder zurückbannte.

In ziemlich weiter Entfernung von dieser war er eines Morgens nicht lange nach seiner Ankunft, seinen Virgil in der Hand, auf einem ihm noch unbekannten Pfad gerathen, der zwischen hohen Gesträuchen am Saume eines, von einem kleinen See begränzten Waldes hinführte, als ein ängstliches Rufen um Hülfe ihn plötzlich aus seinen wachen Träumen aufschreckte. Es schien vom See herzukommen, Albert theilte blitzschnell das diesen ihm verbergende Gesträuch, um an das Ufer zu gelangen, und stand im nächsten Momente geblendet vor einer Göttererscheinung.

Galathea mit ihren Gespielinnen! war sein erster Gedanke, als er vier schöne junge Mädchen kaum zwanzig Schritte vom Ufer in einem kleinen Kahne sitzen sah. Doch bald ward er von ihrer irrdischen Natur überzeugt, denn so wie sie seiner ansichtig wurden, streckten sie alle unter ängstlichen [212] Klagetönen die runden weißen Arme ihm entgegen. Ihnen war das Ruder entglitten, das sie ohnehin schwerlich zu führen wußten. Die armen Kinder glaubten wegen einer nicht weit davon liegenden Mühle sich in der dringendsten Todesgefahr zu befinden, obgleich der spiegelhelle, von keinem Lüftchen gekräuselte See gerade an dieser Stelle sehr flach war, und der Kahn eigentlich auf dem Sande schon fest saß.

Albert hatte zwar noch nie Gelegenheit gehabt, den Umfang seiner physischen Kräfte kennen zu lernen, oder sich durch Behendigkeit und Besonnenheit aus irgend einer Verlegenheit zu ziehen, aber er bedachte sich dennoch keinen Augenblick, sich muthig den Fluthen anzuvertrauen, die ihm kaum bis über die Fußknöchel reichten. Dann ergriff er einen hinter dem Kahn herschwimmenden Strick, der inwendig befestigt, diesen am Ufer anzubinden wahrscheinlich gedient hatte, und zog das Fahrzeug sammt seiner reizenden Last etwas näher ans Land; endlich suchte er große Steine zusammen, um den schönen Kindern eine Brücke zu [213] bauen, und so gelang es seinem Bemühen, sie alle ziemlich trocknen Fußes ans Land zu bringen.

Kaum fühlten sie festen Boden unter sich, so begannen die vier Mädchen alle zugleich, ihrem Erretter mit vielem Wortaufwande und großem Eifer ihre Dankbarkeit bezeigen zu wollen, doch leider verstand Albert keine Silbe von dem was sie sagten und er hätte dieses auch nicht gekonnt, selbst wenn er der deutschen Sprache vollkommen mächtig gewesen wäre, denn seine Seele, alle seine Sinne waren in seinen dunkel flammenden Augen, und von der Hand aus, die zum erstenmal in seinem Leben eine Mädchenhand berührt hatte, strömte ein nie gekanntes verzehrendes Feuer durch sein ganzes Wesen hin. Erglühend und erbleichend stammelte er einige italienische Worte und verging fast in unerwartetem Entzücken, als Luise, die jüngste unter den vier Schwestern, ihm in der nämlichen Sprache antwortete. Zum erstenmal, seit der alte Giovanno ihn verlassen hatte, trafen die süßen gewohnten Töne wieder sein Ohr und von Lippen, die selbst [214] der fehlerhaften Aussprache einen ganz eigenthümlichen Reiz zu verleihen wußten. Auch die übrigen Mädchen suchten nun in der Geschwindigkeit das wenige Italienische zusammen, das sie hauptsächlich aus Opernarien erlernt hatten, um mit dem schönen schwarzgelockten Jüngling eine Art von Konversation anzuknüpfen.

Albert befand sich wie im Traume; so vielem Zauber vermochte er nicht zu widerstehen, um so weniger, da es ihm gar nicht einmal in den Sinn kam, dieses zu wollen. Entzückt, betäubt, kaum seiner selbst sich bewußt, wandelte er an Luisens Seite durch die schattigen Sternalleen des parkähnlich ausgehauenen Waldes und stand, ehe er sich dessen versah, vor einer zahlreichen, unter den Säulen eines sehr schönen modernen Landhauses versammelten Gesellschaft. Scheu wie ein Reh, wäre er gern zurück in das Gebüsch geflohen, aber da war an kein Entrinnen zu denken.

Die Mädchen hatten unterwegs seinen Namen von ihm erforscht und stellten ihn unter diesem ihren Eltern vor, indem sie zugleich recht ausführlich [215] die große Gefahr, aus welcher der junge Fremde sie errettet hatte, erzählten, solche bis zum Schauderhaften vergrößerten und nicht unterließen, Alberts bei dieser Gelegenheit bewiesenen Heldenmuth bis in die Wolken zu erheben. Dies mußte einigen der Anwesenden ein leichtes sarkastisches Lächeln entlocken, denn der sehr verlegene Held dieser großen Begebenheit stand, trotz der überstandenen Wassersnoth, in vollkommen trockner Kleidung da.

Baron Steinau und seine Gemalin, die Eigenthümer des Schlosses, ermangelten indeß nicht, auf die freundlichste Weise von der Welt über die große Verwegenheit ihrer Töchter zu schelten, und deren noch immer verstummenden Erretter mit Danksagungen und Lobsprüchen zu überhäufen, von denen dieser in der Angst seines Herzens keine Silbe verstand. Da Baron Steinau schon früher von Alberts isolirter Lage auf dem jetzt öden Leuenstein gehört hatte, so lud er ihn in sehr fließendem Italienisch und auf die einnehmendste Weise ein, bis zur Ankunft des ältern [216] Herrn von Leuen bei ihm als seinem nächsten Guthsnachbar zu verweilen, und sich ohne allen Zwang als ein Mitglied seiner Familie zu betrachten.

Albert hätte aus Mangel an Bekanntschaft mit den Formen des geselligen Lebens gar nicht gewußt, wie er es anfangen könne, um eine solche Einladung von sich zu weisen, selbst wenn er dazu geneigt gewesen wäre, aber er begriff schon jetzt gar nicht mehr die Möglichkeit zu leben, ohne die holde Luise zu sehen. Tief erröthend verbeugte er sich vor dem Baron, ohne weiter ein Wort hervorbringen zu können, und so wurden von dieser Stunde an seine Umgebungen, sein Empfinden, seine Gedanken, ja sein ganzes Leben auf eine Weise umgestaltet, die ihm selbst bis zum Unglaublichen wunderbar geschienen hätte, wenn es ihm nur möglich gewesen wäre, auf einen einzigen Augenblick aus dem ewigen Freudentaumel, in welchem er schwebte, zur Rückkehr in sich selbst zu erwachen.

Das Haus des Barons Steinau war in der [217] ganzen Umgegend bei weitem das glänzendste auf viele Meilen in der Runde; die Familie desselben bestand außer den vier Töchtern noch aus zwei Söhnen, von denen der älteste, ein vollkommen für die Welt gebildeter junger Mann, mit Albert in gleichem Alter war. Auch der verlobte Bräutigam der ältesten Tochter war zugegen, und nächstdem vergrößerten noch mehrere für den ganzen Sommer eingeladene Gäste beiderlei Geschlechts die Gesellschaft.

Die Unterhaltung, in welcher der feinste gesellige Ton vorherrschte, wurde gewöhnlich in französischer Sprache geführt, in welcher auch Albert sich auszudrücken verstand, doch sprachen Mehrere in dem Zirkel seine Muttersprache und die Töchter des Hauses, vor allen Luise, beeiferten sich, ihm deutsch zu lehren, wobei er im kurzen die auffallendsten Fortschritte machte. Alle, vom Herrn des Hauses, bis zum geringsten der Diener begegneten ihm mit der größten Aufmerksamkeit, jedes Mitglied der Gesellschaft suchte auf das freundlichste, seinem Mangel an geselliger Gewandheit [218] zu Hülfe zu kommen. Die ältern Herrn und Damen nannten ihn lächelnd l'Ingénu, und die anmuthige Naivetät mit welcher der Jüngling in die ihm so neue Welt hinein sah, flößte ihrer Seltenheit wegen Allen ein gewisses Interesse für ihn ein, und machte Jedermann ihm geneigt.

So von Allen begünstigt, so freundlich angezogen von allen Seiten, lebte und athmete Albert doch nur in Luisens Gegenwart allein. Der Funke der glühendsten Leidenschaft, den ihr erster Anblick in seinem Gemüthe geweckt hatte, schlug bald zur hell lodernden, nicht mehr zu erstickenden Flamme auf. Alles um ihn her trug bei, sie zu nähren und zu vergrößern, besonders der ihm ganz neue Anblick des traulichen Verhältnisses zwischen Konstanzen, der ältesten Schwester, und ihrem verlobten Bräutigam. Die mächtige Leidenschaft, die aus Alberts Augen blitzte, in jeder seiner Handlungen, jedem seiner Worte unverkennbar sich aussprach, konnte nicht verfehlen, auf das junge Herz der kaum funfzehnjährigen Luise den tiefsten Eindruck zu machen und bald war sie [219] selbst überzeugt, nicht minder heftig zu lieben, als sie geliebt wurde. Ihre Eltern, denen dieses unter ihren Augen sich entspinnende Verhältniß unmöglich entgehen konnte, thaten ihrerseits wenigstens keinen Schritt, um störend dazwischen zu treten. Sie wußten wenig mehr von Alberts persönlicher Lage, als daß es der jüngere Bruder sey und alles, was der allgemeine Ruf von dem ältern verkündete, bestärkte sie in der Hoffnung, daß dieser sich gewiß geneigt finden lassen würde, Alberts Glück auf jede Weise zu fördern. Da sie sich überdem die innere Zerrüttung ihres Vermögens nicht füglich länger selbst verbergen konnten, die mit einer Lebensweise entstanden war, welche die Kräfte ihres Vermögens weit überstieg, so mußte jede Aussicht zur Versorgung einer ihrer Töchter ihnen unter diesen Umständen doppelt willkommen seyn.

Nach mehreren Wochen, welche Albert im gastlichen Hause des Barons Steinau verlebt hatte, langte endlich Bernhard, gleich nach seiner Flucht von der verkannten Geliebten auf Leuenstein an, [220] ohne eine Ahnung von des Bruders Nähe zu haben; denn sowohl die Briefe aus Rom, welche Alberten anmelden sollten, als die Boten, welche von dem Justiziar zu Leuenstein ausgeschickt worden waren, hatten durch ein eigenes Zusammentreffen mehrerer Zufälligkeiten ihn verfehlt.

Bernhards sehr trübe Stimmung erlaubte ihm nicht, Alberten persönlich in dem ihm ganz fremden Kreise des Barons Steinau aufzusuchen; er begnügte sich, ihm seinen Wagen zu schicken um ihn zu sich holen zu lassen, und dieses war für den armen Albert ein allerdings sehr günstiger Zufall. Denn die Verzweiflung, mit welcher dieser die früher sehnlichst herbei gewünschte Nachricht von der Ankunft seines Bruders so anhörte, als würde sein eigenes Todesurtheil ihm verkündet, hätte gewiß auf Bernhards, damals ohnehin sehr hart verletztes Gemüth, den traurigsten Eindruck machen müssen. Bleich, zitternd, verstummend im tiefsten Schmerz bestieg Albert endlich den Wagen, und sein Zustand während der kurzen Fahrt war in der That bedauernswürdig zu nennen. [221] Doch seine Quaal stieg bis zum Unerträglichen als er auf Leuenstein angelangt war, und nun den Blick fest an den Boden geheftet, vor dem hohen edlen Manne stand, dem er angehörte, ohne ihn je gesehen oder auch nur seine Persönlichkeit sich deutlich gedacht zu haben. Er fühlte sich erdrückt von Bernhards Nähe, welche das Ende seines kurzen Glücks ihm verkündete; er konnte nicht reden, kaum athmen, und es bedurfte aller der milden Ueberredungskraft, die Bernhard in so hohem Grade besaß, um den fast Vernichteten anfangs nur einiges Vertrauen einzuflößen. Doch dieses wuchs von Minute zu Minute, sobald Albert es nur einmal über sich gewann, die Augen zu dem Bruder aufzuschlagen, der mit unendlicher Liebe und Milde im Blick und Herzen, ihm mit offenen Armen gegenüber stand, und der Brust voll eigener Quaalen vergaß, über dem Bemühen den Zagenden aufzurichten. Mit überströmenden Augen warf Albert sich jetzt in diese Arme, an diese Brust, und das Geständniß seiner hoffnungslosen Leiden, seiner [222] Verzweiflung, ergoß sich unaufhaltsam über seine Lippen mit jener Gewalt der hinreißendsten Beredsamkeit, die unwiderstehlich das Herz trifft, weil sie tief und wahr aus dem Herzen kommt.

Nie konnte Bernhards Gemüth einem Bekenntnisse dieser Art empfänglicher seyn, als gerade in diesem Augenblick, wo alle Hoffnung auf eigenes Lebensglück ihm verschwunden war. Alberts und Luisens traurige Lage erregte sein inniges Mitgegefühl und forderte ihn unwiderstehlich zur Errettung des in der Blüthe der Jugend hoffnungslos untergehenden Paares auf. Was er nach einigen Tagen reiflicher Ueberlegung zu diesem Zwecke mit der edelsten Aufopferung seiner selbst beschloß, ist dem Leser bekannt, und daß nicht bloßes, in Schwäche ausartendes Mitleid zu diesem Entschlusse ihn bewog, daß andre sehr ernste Ansichten dabei mit vorwalteten, beweist sein oben angeführtes Schreiben aus Maltha. Alberts reines Gemüth, sein vielseitig, wenn gleich noch nicht für das praktische Leben gebildeter Geist, wurden bald mit hoher Freude von seinem Bruder anerkannt; [223] Bernhard benutzte jede Stunde, um, so viel es die Kürze der Zeit erlaubte, seinen Albert zu den Geschäften vorzubereiten, welche künftig ihm obliegen würden; diesen hingegen hob der innigste Wunsch, dem edlen Bruder seine Dankbarkeit auszudrücken, weit über sich selbst empor und verlieh ihm eine früher nie gekannte kräftige Regsamkeit. Er gelobte mit Entzücken, sein Leben zwischen seiner Luise und der Erfüllung der Wünsche seines Bruders zu theilen; er hörte mit nie ermüdender Aufmerksamkeit auf dessen belehrenden Rath, warf sich mit dem schönen Eifer unverdorbener Jugend in die ihm vorgezeichnete Bahn, und begann mit so viel Ernst, so vieler Anstrengung sie zu verfolgen, daß Bernhard die schönsten Hoffnungen einer ihn und Alle beglückenden Zukunft daraus schöpfen mußte. Auch das dankbare Gefühl, mit dem Luise in Bernhard den Gründer ihres ganzen Lebensglückes verehrte, läßt sich nicht in Worte fassen; sie versprach gleichfalls seinen Rath in allem so zu folgen, als wäre es der Befehl eines zu ihrem [224] Heile vom Himmel herabgestiegenen höheren Wesens. Bernhard war in ihren Augen ein Halbgott, zu dem sie nur mit staunender Bewunderung seiner Größe hinauf sah, Albert ein Sterblicher; sie fühlte, daß sie sich jenem nur mit scheuer Ehrfurcht nahen dürfe, diesen liebte sie herzlich mit allen seinen Mängeln; doch läßt sich nicht ableugnen, daß ihr letztere nie sichtbarer erschienen, als wenn er der hohen edlen Gestalt seines Bruder gegenüber stand.

Die Vermählung des jungen Paares ward in Luisens väterlichem Hause sehr glänzend gefeiert, doch Bernhard mochte mit seinem zerrissenen Gemüth kein Zeuge davon seyn; ohne förmlichen Abschied begab er sich einige Tage früher auf den Weg zu seiner Bestimmung, und Albert und Luise blieben ganz allein in ihrer weitläufigen alten Burg. Der in gebürgigen Gegenden gewöhnlich früher eintretende Herbst scheuchte bald darauf alle Gutsnachbare in die Stadt; auch Baron Steinau mit den Seinen kehrte zum Schauplatz seiner gewohnten Winterfreuden zurück; Albert [225] aber hielt standhaft an das seinem Bruder geleistete Versprechen, Leuenstein nicht zu verlassen, und auch Luise, die im Rausche der ersten jungen Liebe den Winteraufenthalt auf dem Lande sehr romantisch fand, stimmte freudig ihm bei. Monate vergingen und Albert schwebte noch immer wonnetrunken in einem Meer von Seeligkeit, nur in der Liebe seiner Luise war er seines Daseyns sich bewußt, jede Stunde schien ihm wie aus seinem Leben gerissen, die er außer dem Bereich ihres seelenvollen Auges, ihres anmuthigen Lächelns zubringen mußte; er sah, er dachte nichts als sie, und alles andere rings um ihn her war für ihn so gut als verloren.

Bernhards Schreiben aus Maltha rüttelte ihn zuerst aus seinen süßen Träumen wieder auf; ein leiser Ausdruck der Unzufriedenheit schien ihm über die edlen schönen Züge seines Wohlthäters zu schweben, als er den Ring mit dem Porträt des Bruders betrachtete, und das dunkle Erröthen eines nicht ganz freien Bewußtseyns glühte dabei auf Alberts Wangen. Gewaltsam nahm er sich [226] jetzt zusammen, indem er nochmals sich gelobte, jedes Bedingniß der ihm gewordenen Seeligkeit zu erfüllen, um die Erwartungen des edlen Schöpfers seines Glückes in keiner Hinsicht zu täuschen; leider aber fand er jetzt bei dem ersten Versuche, sich der Verbesserung seines jetzigen Eigenthums anzunehmen, Schwierigkeiten, die er, durch Bernhards Nähe gehoben, sich so groß nimmer gedacht hätte. Er verstand es zwar, die Bahnen der Kometen zu berechnen und die Lösung keiner noch so verwickelten Aufgabe der höhern Mathematik war ihm zu schwer, aber ihn schwindelte vor den bogenlangen, wahrscheinlich nicht ohne Absicht verworrenen Rechnungen und Tabellen, welche seine Beamten ihm vorlegten, und die Unmöglichkeit sich da hin durch zu finden, schlug seinen Muth fühlbar nieder.

Mit der praktischen Oeconomie ging es ihm nicht besser; er las mit unerhörtem Eifer alles, was über diesen Gegenstand geschrieben ward, der gerade in dieser Zeit anfing viele der ersten Köpfe, besonders in England zu beschäftigen; [227] doch alle zum Theil sehr kostspieligen Versuche, die er nach jenen Vorschriften anstellte, fielen unglücklich aus, theils weil sie am unrechten Platz angewendet wurden, theils weil man sie nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit auszuführen suchte.

Seine große Unerfahrenheit, verbunden mit seinem Mangel an Menschenkenntniß, verleitete ihn auch zu unzähligen Mißgriffen anderer Art. Er wandte oft seine ganze Aufmerksamkeit Gegenständen zu, die an sich wenig bedeuteten und lies darüber das Wichtigere aus der Acht; er entdeckte und bestrafte kleine Betrügereien und übersah die gröbsten Unterschleife, welche dicht unter seinen Augen vorgingen. Weder sein Mißgeschick, noch seine eigene Unfähigkeit, am allerwenigsten das aus beiden hervorgehende traurige Resultat, konnte ihm lange verborgen bleiben, und alles dieses vereint beugte ihn tief. Sein ihm angeborner, durch die klösterliche Erziehung noch mehr ausgebildeter Hang zur Schwermuth erwachte von neuem und er wurde mit jedem Tage trüber und [228] mißmuthiger. Die arme Luise begann unter diesen Umständen gar bald sich heimlich nach dem fröhlichen Leben in dem heitern Hause ihrer Eltern zurück zu sehnen, denn der Abstand war gar zu groß. Sie seufzte oft recht schmerzlich aus tiefster Brust, wenn sie mit aller ihrer Liebenswürdigkeit dem armen Albert kein Lächeln mehr abzugewinnen vermochte, und ihr sonst immer klares Auge füllten Thränen, wenn er mit trübem Blick sie an seine gramerfüllte Brust drückte, statt, wie sonst, sich mit ihr des Lebens in der schönen, sonnenhellen Welt heiteren Sinnes zu freuen.

Albert sah den Kummer der noch immer Heißgeliebten, und fühlte mit unnennbarem Weh, daß es nicht in seiner Macht stand, ihn völlig zu heben; indessen wollte er es doch versuchen, ihn wenigstens einigermaßen zu zerstreuen. Er bemühte sich ihre kleinen Wünsche zu erforschen, um durch deren Erfüllung ihr Leben zu erheitern. Sie liebte die zierliche Eleganz der häuslichen Umgebungen, an die sie in ihrer Eltern Hause von Jugend auf gewöhnt worden war, und Albert [229] überraschte sie freudig mit manchem Geschenk dieser Art. Doch jedes von diesen machte wieder andre Dinge nothwendig, weil es zu dem von alten Zeiten her vorhandenen Geräthe nicht paßte; Albert sah sich dadurch unmerklich zu sehr bedeutenden Ausgaben verleitet, denn nach und nach wurde das ganze Schloß mit modernem Hausgeräthe versehen, welches mit großen Kosten aus der ziemlich entfernten Residenz herbeigeschaft werden mußte. Das neue Ameublement erforderte auch eine neue Einrichtung der Zimmer; Tapezirer, Maler, Handwerker aller Art wurden verschrieben, überall ward gehämmert, vergoldet, gemalt, bis das von Außen noch immer uralte Schloß von innen einem Feenpallaste glich, aus dem beinahe jede Spur seiner frühern ehrwürdigen Alterthümlichkeit verschwunden war.

Alberts Blick trübte sich oft und sein Herz war ihm schwer, wenn er diese, so ganz außer Bernhards Plänen liegende Umwandlung betrachtete, doch Luise lächelte wieder, laut schallte ihr Gesang durch das Haus, wenn sie in liebenswürdiger [230] Geschäftigkeit von einem Zimmer zum andern eilte, um dieses oder jenes Neue anzuordnen; es war ihm unmöglich, den Himmel dieses geliebten Wesens von neuem zu trüben, er freute sich ihrer Freude und trug Sorge und Kummer gern allein.

Die tiefe Einsamkeit, in der Luise an der Seite eines stets in Geschäften sich abmühenden Gatten lebte, machte es allerdings wünschenswerth, ihr eine erheiternde Gesellschaft gewähren zu können, und Albert selbst fiel zuerst auf den Gedanken, einige ihrer Jugendfreundinnen einzeln und abwechselnd zu ihr einzuladen. Diesen folgten bald mehrere Besuche, Luisens Eltern versäumten nicht nach und nach alle ihre Bekannten in dem Hause ihrer Tochter einzuführen, und Albert sah sich bald von dem Geräusche der großen Welt in seinem eignen Schlosse umringt, das nie aufzusuchen er seinem Bruder feierlich gelobt hatte. Jeder Gedanke an häusliche Stille verschwand vor dem immer mehr sich vergrößernden Schwarme von Besuchenden, die oft wochenlang auf Leuenstein verweilten; Luisens Eltern trugen [231] alles dazu bei, den Ton in Alberts Hause immer höher zu steigern, ohne daß Albert den Muth hatte, sich diesem Unheil zu widersetzen. Er fürchtete Luisen dadurch zu betrüben, die ihre Eltern zärtlich liebte und in deren Seele keine Ahnung davon kam, daß Baron Steinau es sehr angenehm und bequem finde, bei seiner Tochter eine Lebensweise fortführen zu können, an welche er gewöhnt war und die er selbst im eignen Hause nicht länger ausführbar zu machen vermochte.

Ein zahlloses Heer französischer Emigranten überschwemmte um diese Zeit Deutschland und wußte mit seiner tiefen Verdorbenheit, seiner Frivolität, seiner Anmaßung, aber auch mit seinem unübertrefflichen Talent für die feinste Geselligkeit sich überall Eingang zu verschaffen. Auch Alberts Schloß wurde von dieser allgemeinen Landplage nicht verschont, denn Baron Steinau hatte seinem unbesonnenen Betrogen dadurch die Krone aufgesetzt, daß er einige dieser gefährlichen Gäste als ihm besonders lieb gewordene Hausfreunde bei seinen Kindern einführte, und über all, [232] wo es nur einem einzigen Emigranten gelungen war festen Fuß zu fassen, folgten bald mehrere nach, die mit unbeschreiblicher Gewandheit in kurzer Zeit dort unumschränkt zu herrschen wußten, wo sie zuerst als unglückliche Verbannte mitleidige Aufnahme fanden. Vom Morgen bis zum Abend mußte Albert jetzt seine junge schöne Luise von Marquis und Vicomtes umschwärmt sehen, welche das ganze Schloß umkehrten, um alles auf den Ton der elegantesten Zirkel von Paris oder Versailles umzustimmen. Ihn selbst aber schienen sie wie einen Fremden zu betrachten, dessen düstre Aussenseite freilich sehr schlecht hieher passe, den man aber dulden müsse und nicht ganz degoutiren dürfe, weil er doch einmal der Gemahl der Dame vom Hause sey. Bei der ihm zur zweiten Natur gewordenen Anspruchslosigkeit verlor Albert in diesen Umgebungen das wenige Selbstvertrauen gänzlich, das er noch besaß; er fühlte sich ungewandt und unbeholfen in der Mitte dieser glänzenden Fremdlinge, die nichts hatten und nichts achteten als den äußern Schein; er konnte es sich [233] nicht ableugnen, daß diese ihn selbst in den Augen seiner Luise verdunkelten und verdunkeln mußten; er glaubte zu sehen wie Luisens Herz sich immer mehr von ihm abwende, und ward leider immer weniger liebenswürdig, je mehr die Ueberzeugung, nicht mehr geliebt zu seyn, in seiner Seele sich festsetzte, wie das leider immer zu geschehen pflegt.

Es braucht wohl nicht besonders erwähnt zu werden, daß Alberts häusliche Lage nicht urplötzlich, sondern allmählig während dem Laufe mehrerer Jahre diese traurige Umwandlung erlitt. Luise hatte ihm während dieser Zeit mehrere Kinder geboren, von denen nur das älteste, ein Knabe von etwa fünf Jahren, am Leben blieb; ein jüngerer war erst wenige Wochen alt, als Bernhard zum zweitenmal von Maltha nach Deutschland zurückkehrte, um sich zu der Armee der alliirten Mächte zu begeben, welche zu jener Zeit im Begriff stand, den Feldzug gegen die französischen Demokraten zu eröffnen. Damals, wie Bernhard ein Jahr nach seiner Flucht nach Maltha zurück eilte, um seine heißgeliebte Anna noch einmal[234] wieder zu sehen, als ihm in ihrer Rähe die früher ungeahnete Größe des Opfers klar wurde, durch welches er, viel zu voreilig für die ganze Seeligkeit seines eignen Lebens, das Glück seines jüngern Bruders erkauft hatte, da vermochte er es nicht über sich, durch den Anblick des jungen glücklichen Paares den eignen Schmerz noch zu erhöhen.

Die Zeit hatte diesen Schmerz zwar nicht gemildert, aber Bernhard war durch sie gewöhnt worden, ihn mit Fassung zu tragen und so entschloß er sich, einen ziemlich bedeutenden Umweg nicht zu achten, um auf seinem Wege zur Armee den Bruder und die Burg seiner Väter noch einmal zu begrüßen, ehe er den großen Kampfplatz betrat, von welchem nicht wiederzukehren vielen Tausenden bestimmt war.

Als Bernhard die Gränze seiner ehemaligen Besitzungen betrat, bemerkte er zuerst mit steigendem Unmuthe, wie schonungslos die Axt noch vor kurzem in den herrlichen Waldungen gewüthet hatte, welche von jeher den größten Schatz derselben [235] ausmachten. Jahrhunderte hindurch, mitten im wildesten Drange der Zeiten, hatte keiner seiner Vorfahren es gewagt, sie so frevelhaft anzutasten, weil alle sie als eine nie versiegende Quelle von Wohlhabenheit betrachteten, die durchaus verlangte, sorgsam gepflegt und verständig benutzt zu werden. Sein Unmuth vermehrte sich, indem er weiter ritt und überall den fruchtbarsten Boden unverantwortlich vernachlässigt sah. Doch als Schaaren halb nackter, hungernder Kinder ihn in den Dörfern bettelnd verfolgten, als er aus den elendsten Hütten, die je ihm vorgekommen waren, bleiche Jammergestalten scheu hervorlauschen sah oder wilde zigeunerartige Gesichter, die, mit dem Gepräge dumpfer Rohheit bezeichnet, ihn anstarrten, da hielt er sich nicht mehr, der edelste Zorn schwellte seine schmerzlich bewegte Brust und flammte aus seinen dunkel blitzenden Augen.

»Albert!« rief er beinahe laut, »Albert, leichtsinniger Knabe, hältst du so dein Gelübde? lohnst du mir so für ein Opfer, dessen wahren [236] Werth niemand er messen kann, und das von nun an durch deine Schuld wie ein entehrender Flecken auf meinem Leben haften muß!« Er ritt langsamer, um sich nur einigermaßen wieder zu bemeistern, ehe er das Schloß erreichte; sein Blick wurde immer düstrer, je näher er ihm kam; doch wer beschreibt sein schmerzliches Erstaunen, als er nun das Innere der Burg seiner Väter betrat. Er schritt durch die lange Gallerie hindurch, von deren Wänden die ehrwürdigen Gestalten seiner Ahnen sonst auf ihn herabzublicken schienen. Diese waren nicht mehr dort, er sah die ihm so unaussprechlich theuren Bilder durch Spiegel, Vergoldungen, blitzende Girandolen und allen Flitter der damaligen Mode verdrängt; sie selbst waren, wenn sie noch existirten, wahrscheinlich in irgend einem düstern abgelegenen Winkel des Schlosses hin verbannt.

Glühend vom edelsten gerechtesten Zorn, der je in einer menschlichen Brust entbrannte, nahte er dem kerzenhellen großen Saal, aus welchem eine lustige Janitscharen-Musik ihm entgegen schallte. [237] Hoch und furchtbar wie ein zürnender Apoll blieb Bernhard am Eingange desselben stehen, sein Auge flammte, seine Brust hob sich gewaltsam, indem er die im Walzer sich drehenden Tänzer überschaute, um Albert und Luise unter ihnen aufzufinden. Niemand achtete auf ihn, niemand bemerkte ihn, denn er hatte seine Ankunft vorher nicht gemeldet, weil er seinen Bruder freudig zu überraschen gehofft hatte. Da umschlangen ihn plötzlich zwei zitternde Arme, als wolle jemand zu seinen Füßen in den Staub sinken; es war Albert.

Bernhard heftete schweigend den finstern Blick auf ihn, und die in gänzlicher Muthlosigkeit eingesunkene Gestalt des Armen, der Ausdruck tiefen unheilbaren Grams in seinen Zügen, entwaffneten Bernhards Zorn im Augenblick. Er drückte den unglücklichen Bruder an seine feste männliche Brust. »Albert, mein armer Albert!« sprach er mit dem weichen Ton des tiefsten Mitleids, »was ist mit Dir geschehen?« Albert vermochte nicht zu antworten.

Jetzt kam auch Luise herbei, um ihren Wohlthäter[238] mit unverstellter Freude zu begrüßen; sie war ganz unbefangen, denn sie hatte keine Ahnung davon, daß Bernhard hier irgend Grund zur Unzufriedenheit finden könne. Sie hatten ja ihr Wort gehalten, denn sie waren, wie er es verlangt, auf Leuenstein geblieben, und Albert mühte sich Tag und Nacht bei seinen Geschäften ab. So ging ihrer Meynung nach alles ganz vortrefflich, denn leider verband Albert mit seinen übrigen Schwächen auch noch die, Luisen über die wahren Ursachen seines Kummers nie aufzuklären, um sie in ihrer Freude nicht zu stören.

Bernhard war jetzt vollkommen Herr seines empörten Gefühles geworden; er erwiederte Luisens Gruß so freundlich, als es ihm in diesem Augenbicke möglich war, denn er wollte sie nicht ohne Noth verwunden, und war billig genug, aus ihrer frohen Unbefangenheit zu schließen, daß sie wenigstens nicht absichtlich die Zerstörerin aller seiner Pläne für ihr und seines Bruder Glück geworden war. Er sah ein, daß sie einem Kinde glich, welches spielend den verzehrenden Feuerbrand [239] in die vollen Scheuern seiner Eltern wirft, ohne zu wissen was es thut.

Am folgenden Tage beobachtete er Luisen aufmerksamer, und seinem im Leben geübten Blick ward es nicht schwer, dieses offene jugendliche Wesen ganz zu durchschauen. Er sah, wie Luise als Gattin ihre Pflicht dadurch auf das vollkommenste zu erfüllen glaubte, daß sie ihrem Albert im alltäglichsten Sinne des Wortes die unverbrüchlichste Treue bewahrte und übrigens ihm bei seiner Schwermuth, die sie Verdrüßlichkeit nannte, gern so viel als möglich aus dem Wege ging, um ihn nicht durch ihr fröhliches Wesen zu reizen oder zu verletzen. Daß sich in der ewigen Zerstreuung, in der sie jetzt lebte, ihr Herz von ihm gewendet habe, schien sie selbst kaum zu wissen. Uebrigens hielt sie sich in der Verwaltung ihres Hauswesens für eine treffliche Wirthin, weil sie es an nichts fehlen lies, um selbst die verwöhntesten ihrer Gäste zu befriedigen, und ein stiller Triumph strahlte aus ihren Augen, wenn irgend einer derselben überlaut versicherte, bei ihr wäre alles [240] deliziös, tout comme à Paris. Ihr ältestes Kind, ein Knabe von etwa fünf Jahren, ward von ihr wie ein Spielzeug betrachtet, das sie zu nicht geringer Unbequemlichkeit der Gesellschaft fast nie von ihrer Seite lies. Das ganze Haus fürchtete die Ungezogenheit des kleinen Plagegeistes, nur die Franzosen nicht. Diese fütterten ihn mit Bonbon, nannten ihn un charmant petit Lutin, lachten über seine Unarten und halfen ihm neue ersinnen, alles pour faire rire Madame sa mère. Das jüngste Kind kam noch gar nicht in Betracht, es war erst wenige Wochen alt und im Grunde besser versorgt, als alles Uebrige im Hause, denn es hatte eine ausgezeichnet gute Amme, die es recht mütterlich liebte und pflegte.

Bernhard vermochte nicht ohne den tiefsten Schmerz den fast hoffnungslosen Verfall des häuslichen Glücks zu überschauen, das er so felsenfest gegründet zu haben vermeynte. Sein Zorn, der sich bei manchen Anlässen stets von neuem wieder in ihm regte, lös'te sich jedesmal in tiefes Mitleid auf, wenn er seinen Bruder sah und hörte. [241] Unaufgefordert ergriff dieser die erste vertrauliche Stunde, um ihn ganz unumwunden zu gestehen, wie er Leben und Glück in zweckloser, keine Ruhe kennender Thätigkeit zersplittern, und unerachtet seines angestrengtesten Bemühens die auf seinen Gütern ruhende Schuldenlast vermehrt habe, statt sie zu vermindern. »Ich weiß, Bernhard,« sprach er, »Du bist gerecht, Du wirst meiner Versicherung glauben, daß dieses glänzende Elend, in welchem ich leben muß, mir noch nie auch nur einen genußreichen Augenblick gewährt hat. Aber durfte ich meiner Luise etwas versagen, das ihr durch meine Schuld getrübtes Daseyn erheitern kann? Ich fühle es, meine Liebe kann sie nicht mehr beglücken, ich sehe das liebliche Wesen an meiner Seite in Mißmuth vergehen, das, hingerissen von meiner wilden Leidenschaftlichkeit, mich zu lieben glaubte und so in jugendlicher Unerfahrenheit sich mir opferte. Täglich fühle ich, bitter bereuend, wie so ganz verschieden sich ihr Daseyn an der Seite eines andern Mannes gestaltet hätte. Luise bedarf einer festen leitenden Hand, um sich [242] zum Vortrefflichsten zu erheben, und ich bin unfähig, sie ihr zu reichen. Was bin ich? ein durch seine frühere mönchische Erziehung für das Leben auf ewig Verdorbener. Nie hätte ich es wagen sollen, an mein von Grund aus verfehltes Daseyn das Glück Anderer knüpfen zu wollen, nie hätte ich, von Liebe bethört, mich in Luisens schönes Jugendleben eindrängen müssen! schweigend und duldend hätte ich bleiben sollen was ich halb schon war, ein dunkler, einsamer Mönch. Luise wäre dann glücklich und frei; das Erbtheil unserer Väter, dessen ich unwerth bin, wäre in Deinen Händen wieder geworden was es früher gewesen ist und ich – unbeweint und vergessen in mei ner stillen Gruft, ruhte ich schon längst von aller der Sehnsucht, von allen den Schmerzen aus, die ich in reiner verschwiegener Brust getragen hätte, bis sie mich hinabzogen. Die Palme des ewigen Friedens wäre dort oben schon längst der hohe Lohn meiner Entsagung auf Erden!«

Bernhard hörte seinen Bruder ohne alle Unterbrechung schweigend an; seine Klagen drangen bis [243] in die tiefsten Tiefen seines Gemüths, denn sie waren ihm nur der laut werdende Nachhall leiser Vorwürfe, die schon ohnehin zu oft und zu schmerzlich in seinem Innern sich regten. Indessen gewann er es doch über sich, den Muth des tiefgebeugten Bruders durch ernstes männliches Zureden fürs erste wieder zu erheben und dann ernstlich auf Mittel zu sinnen, um wieder gut zu machen, was noch gut zu machen möglich sey.

Vor allen Dingen suchte Bernhard jetzt Luisens Eltern ohne große Umschweife von der eigentlichen Lage Alberts zu unterrichten, und legte es ihnen sehr fest und bestimmt ans Herz, wie es ihre Pflicht sey, durch Rath und Beispiel ihre Kinder auf den rechten Weg zu ihrem Glücke zurückzuleiten, statt sie zu neuen größern Verirrungen zu veranlassen, die endlich ihren gänzlichen Untergang herbeiführen müßten. Doch er fand nur halbes Gehör.

Steinau und seine Frau waren von jeher gewohnt, über alles Unangenehme leicht hinweg zu schlüpfen, und Bernhards sehr ernste Vorstellungen [244] schienen ihnen deshalb, wenn nicht beleidigend, doch wenigstens sehr unbequem. Sie suchten ihnen daher für den Augenblick zu entgehen und erfanden noch am nämlichen Abend einen Vorwand, um zur Stadt zurückzukehren, wo sie jetzt für immer ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten; denn ihr eigenes Gut war schon längst in den Händen ihrer Gläubiger und wurde zu deren Besten administrirt.

Einige der Gäste, die mit ihnen gekommen waren, begleiteten sie, die übrigen folgten ihnen am andern Tage; denn Allen war gleich beim ersten Anblick des ernst umherblickenden Malthesers unheimlich zu Muthe geworden. Selbst die Emigranten bequemten sich, Bernhards ziemlich deutlich ausgedrückte Wünsche zu verstehen und ihm einige ruhige Tage in der Mitte der Seinen zu gewähren. Und so war denn die lange vermißte Ruhe auf Leuenstein wieder eingekehrt und Bernhard hatte Raum gewonnen, den Schleier so schonend als möglich zu heben, der Luisen gegen ihr eigenes und ihres Gatten Wohl verblendete.

Luise hörte den ernsten Warner mit größerer [245] Fassung an als er es erwartet hätte, denn der Eindruck seines frühern Edelmuths war noch bei weitem nicht in ihrem Gemüthe erloschen. Bernhards Bild schwebte ihr noch immer, selbst während seiner Abwesenheit, als das Ideal aller männlichen Liebenswürdigkeit, Hoheit und Würde vor, sie gedachte seiner nie ohne Bewunderung und Verehrung, und nur die strahlende Höhe, auf welcher ihr dankbares Gefühl ihn stellte, hatte vielleicht früher das Aufkeimen einer weit zartern innigern Liebe in ihrem Herzen erstickt, als sie je für Albert empfunden hatte.

Ueberdem war Luise jetzt kaum ein und zwanzig Jahre alt, und in diesem Alter pflegt eine an sich gutgeartete Natur sich nicht leicht gegen die warnende Stimme eines, als wohlwollend anerkannten Freundes zu verhärten.

Sanft weinend aber willig gelobte sie daher, dem Rath ihres edlen und weisen Beschützers nach besten Kräften zu folgen und von der ihr von ihm vorgezeichneten Bahn zum stillen häuslichen Glück sich hinfort so wenig als möglich wieder [246] abzuwenden. Bernhard wagte zwar nicht, diesem Versprechen unbedingten Glauben zu schenken, aber er war dennoch wenigstens von ihrem guten Willen überzeugt. Zum zweitenmal legte er in dieser Stunde ihre Hand in die seines Bruders, drückte beide mit glänzenden Augen an seine von tausend verschiedenen Empfindungen bestürmte Brust, und wandte sich dann von ihnen, um seine treue Sorge für ihre glücklichere Zukunft fortzusetzen. Die unabänderlich vorher bestimmte Kürze seines Aufenthalts hatte ihn gleich bei seiner Ankunft auf Leuenstein abgehalten, den Zustand der höchst verworrenen Angelegenheiten seines Bruders genauer zu untersuchen, aber er hatte in seinem Herzen beschlossen, diesem einen erfahrnen wohlgesinnten Freund zuzuführen, der eben so geschickt als willig sey, sich seiner anzunehmen.

Seine Wahl war dabei auf den Baron Meinau, einer seiner früheren Jugendfreunde gefallen, der seit wenigen Jahren ein mäßiges, nur wenige Stunden von Leuenstein entferntes Landgut bewohnte, dessen ursprünglichen Werth er, nach dem [247] Urtheil aller in diesem Fache Erfahrnen, durch Fleiß und wohl angewandte ökonomische Kenntnisse während der kurzen Zeit fast verdoppelt hatte. Zu diesem führte Bernhard am letzten Tage seines Aufenthalts in der Burg seiner Väter Albert und Luisen, und schon auf dem Wege fielen ihm die blühenden Felder, die üppigen Wiesen, die freundlichen Dörfer auf, welche Meinaus Besitzungen vor andern der Nachbarschaft auszeichneten.

Sein alter Freund erkannte ihn sogleich und empfing ihn mit offenen Armen und ungeheuchelter Freude; auch Albert und Luise fanden die freundlichste Aufnahme, und während Frau von Meinau Luisen mit jener anspruchlosen Zuvorkommenheit zu unterhalten suchte, welche sogleich die Herzen gewinnt, fand Bernhard Gelegenheit, dem Baron Meinau in Alberts Beiseyn das wichtige Anliegen zu eröffnen, das ihm besonders am Herzen lag. Er hatte früher Gelegenheit gehabt, diesem sehr bedeutende Dienste zu leisten, und obgleich er es selbst längst vergessen zu haben schien, [248] so ergriff Meinau doch mit herzlicher Freude die Gelegenheit, die so ganz unerwartet sich ihm bot, um Bernhard durch mehr als Worte zu beweisen, daß er jener Vergangenheit noch immer dankbar gedächte. Er zeigte sich daher sehr bereitwillig, alle Zeit, die er von seinen eigenen Geschäften abmüßigen könne, Alberten zu widmen, und versprach diesen überall durch Rath und That, so viel er dieses vermöchte, zu unterstützen.

Mit sehr erleichtertem Herzen kehrte Bernhard, Albert und Luise nach Leuenstein zurück und brachten noch einige Stunden im traulichen Gespräche zu, bis der Morgen graute. Dann drückte Bernhard noch einmal seine Lieben an sein Herz, entfernte sich stumm und warf sich auf sein bereit stehendes Pferd, um nun endlich seiner ernsten Bestimmung entgegen zu eilen.

Gleich nach Bernhards Abreise bemühte sich Baron Meinau, das seinem Freunde gegebene Wort im vollsten Sinne desselben zu erfüllen, doch leider stellte ihm die überall in Alberts Angelegenheiten herrschende Verwirrung Schwierigkeiten [249] dabei entgegen, die er so groß sich nimmer gedacht hatte. Er wandte jede seiner freien Stunden daran, nur fürs erste den Betrag der auf den von Leuenschen Gütern ruhen den Schuldenlast zu erforschen, aber es währte sehr lange, ehe er nur damit zu Stande kommen konnte, und endlich ward er mit Schrecken gewahr, daß die von Albert in der letzten Zeit aufgenommenen Summen dessen eigne unvollkommene Angabe derselben um mehr als die Hälfte überstiegen. Ueberdem mußte diese Schuld sich mit jedem Jahre beträchtlich vermehren, wenn man nicht bald Mittel und Wege fand, einige bösartige Wucherer zu befriedigen, denen Albert theils aus Unerfahrenheit, theils verleitet durch den Rath seines gewissenlosen Justiziars, in die Hände gefallen war.

Meinau sah für den Augenblick keine Möglichkeit, die dazu nöthigen sehr bedeutenden Summen aufzubringen; er konnte es nicht unterlassen, seine daraus entstehende Besorgniß gegen Albert zu äußern, und obgleich er dabei so schonend als möglich verfuhr, so drückte er damit doch den [250] Stachel der Reue immer tiefer in das Herz des Armen, das durch die täglich steigende Gewißheit von Luisens Gleichgültigkeit ohnehin schmerzlich verwundet war, so daß Meinau alle Mühe hatte, seinen Muth nur etwas zu erheben und ihn durch freundliche Trostgründe vor gänzlicher Hoffnungslosigkeit zu bewahren.

Während der weise wohlmeynende Freund, welchen Bernhard seinen Bruder geschenkt hatte, sich so thätig für dessen Wohl bemühte, fühlte auch seine Gattin sich von ihrem Herzen gezogen ihm zu helfen: denn diese wirklich liebenswerthe Frau war zu gewohnt, ihrem Gatten in allem hülfreich zur Seite zu stehen, als daß sie dieses nicht auch in einer Angelegenheit hätte versuchen sollen, die ihm so sehr am Herzen zu liegen schien. Sie begann daher ganz unvermerkt Luisens sich anzunehmen, gegen die sie mit ihren acht und zwanzig bis dreißig Jahren sich ohnehin recht matronenartig vorkam. Halb scherzend, halb im Ernst suchte sie die junge Frau zu bewegen, der Verwaltung des innern Hausstandes sich mehr als[251] sonst anzunehmen, und da sie ihr hierin überall mit dem besten Beispiele voranging, so lernte Luise auch bald, wenigstens in der Gegenwart ihrer neuen Freundin, sich ihrer bisherigen Nachlässigkeit zu schämen.

Luise konnte es sich nicht verhehlen, daß Frau von Meinau mit nicht geringern Ansprüchen an das Leben in die Welt getreten sey als sie selbst, auch sie hatte vor ihrer Vermählung im Hause ihrer reichen angesehenen Eltern in der Residenz und sogar am Hofe mitten in den glänzendsten Zirkeln gelebt, deren schönste Zierde sie war; sie hatte Talente und überhaupt eine weitumfassende geistige Bildung sich erworben, welche Luise nicht besaß und klagte dennoch nie über die Einsamkeit des Landlebens und stand dennoch mit nie ermüdender Thätigkeit ihrem Hauswesen und der Erziehung ihrer Kinder vor, ohne je damit prunken zu wollen. Wenn sie Abends an ihrem schönen Wiener Pianoforte, dem einzigen glänzenden Hausgeräth das sie besaß, ihre Zuhörer bezauberte, oder im kleinen Kreise ihrer Bekannten am Theetisch [252] die Seele der Unterhaltung war, so merkte niemand es ihr an, wie sie den Tag über in ihrem Haushalte sich beschäftigt hatte und oft selbst mit Hand anlegte, wenn ihr dieses nöthig zu werden schien.

Ein zweites Verdienst um Luisen, welches diese ihr noch inniger verdankte, erwarb Frau von Meinau sich dadurch, daß auf ihre Veranlassung das Leben auf dem Lande sich im Laufe der länger werdenden Abende weit freundlicher gestaltete, als Luise erwartet hatte. Keine Woche verging, in der nicht beide Familien wechselseitig einander mehreremale besuchten. Einige Prediger und Beamte aus der Nachbarschaft, Leute von deren Existenz Luise bis jetzt gar keine Notiz genommen hatte, vergrößerten zuweilen mit ihren, zum Theil recht gebildeten Frauen und Töchtern den kleinen Kreis. Musik, gemeinschaftliches Lesen oder erheiterndes Gespräch füllten die langen Abende aus. Luise vergaß sehr oft in diesen anspruchslosen Umgebungen der früheren rauschenden Freuden und entzückte Alle durch ihre [253] jugendliche Heiterkeit. Doch leider kehrte freilich die alte Leere wieder in ihr Herz zurück, sobald sie einige Tage mit Albert allein ohne andre Gesellschaft verleben mußte. Dann vermochte sie es nicht über sich, ihre Unzufriedenheit mit ihrer jetzigen Lage ihm zu verbergen, und der arme Albert flüchtete sich gewöhnlich in sein einsames Zimmer, um sich dort ungestört und ohne Zeugen dem bittern Schmerze zu überlassen, der verzehrend und langsam an seinem Leben nagte.

So mochten denn, wechselnd zwischen gute und böse, einige Monate seit Bernhards Abreise hingegangen seyn, als eines Morgens einige Landleute sich auf Leuenstein meldeten, um über die Verwüstungen zu klagen, die ein wilder Eber auf ihren Feldern anrichtete. Schon seit geraumer Zeit waren alle Thiere dieser Art in jenen Gegenden ausgerottet worden, und die Erscheinung eines einzelnen, das sich wahrscheinlich aus einem andern fernen Gebiete hinüber verirrt hatte, setzte gerade ihrer Seltenheit wegen die Leute in um so größere Angst. Meinau war eben zugegen [254] und rieth eine große allgemeine Jagd anzustellen; die ganze Nachbarschaft ward aufgeboten, um das Thier zu erlegen. Alle zogen am frühsten Morgen des folgenden Tages mit Hunden und Jägern, begleitet von fröhlicher Jagdmusik, von Leuenstein aus in den herbstlich gefärbten Wald, an dessen Zweigen nur einzelne Blätter noch gelb und röthlich im Sonnenschein spielten.

Der Mittag nahte heran; Luise hatte mit Hülfe ihrer Freundin alles zum Empfange der wahrscheinlich sehr ermüdeten Jäger vorbereitet, und beide Frauen saßen nun mit ihrer Arbeit an einem Fenster, von welchem sie die in den Wald ausgehauene lange Allee überschauen konnten, durch die jene zurückkommen mußten. – »Horch!« rief Luise, »hörst Du Hallalli blasen? die Jagd ist aus, sie müssen bald hier seyn.«

Frau von Meinau öffnete das Fenster. »In der That,« sprach sie, »ich höre Hörnergetöne aus der Ferne. Und wie mild und erquickend die Luft vom Tannenwalde herüberweht! komm [255] Luise, der Tag ist zu schön um ihn ganz im Zimmer zu verleben; lass' uns den Männern bis zu dem runden Platze entgegen gehen, wo alle die Alleen sich kreuzen; dort können wir sie unmöglich verfehlen.«

Beide Frauen wandelten nun Arm in Arm durch den Garten dem Walde zu, und hatten den bestimmten Platz bald erreicht, an welchem sie zu verweilen beschlossen. Frau von Meinau vertiefte sich rechts ins Gesträuch, um von den Zweigen einer jungen, noch mit allen ihren Blättern prangenden Eiche einen Kranz für den Sieger zu flechten; Luise blieb mitten auf dem Platz stehen, und sah einem Eichhörnchen zu, das sich mit lustigen Sprüngen von einem der hohen, im Sonnenstrahl erglühenden Tannenwipfel zum andern schwang. Hundegebell und Hörnergetön schallten aus der Ferne, die Jagd schien näher zu kommen, ein Schuß fiel und wenige Augenblicke darauf knisterte und rasselte es ungefähr dreißig Schritte vor Luisen im Gesträuch zur linken Hand; der durch eine leichte Wunde zur entsetzlichsten Wuth [256] aufgereizte Eber brach hervor und rannte, schäumend vor Schmerz und Zorn, gerade auf die Wehrlose zu. Sie wollte seitwärts zu ihrer Freundin fliehen, ihr Fuß verwickelte sich in Brombeerranken, die über ihren Weg sich ausbreiteten, sie fiel und verlor das Bewußtseyn. Der Eber eilte noch immer auf sie zu, schon war er nur wenige Schritte noch von ihr entfernt, sie rettungslos dem greuelvollsten Tode verfallen, als ein Reuter im gestrecktesten Galopp aus einer Seitenallee, welche nach Meinaus Besitzungen führte, sich zwischen sie und das wüthende Thier warf.

Der Eber wandte nun seine Wuth gegen diesen neuen Ankömmling, der nur, mit einer Reitgerte bewaffnet, ihr nichts entgegensetzen konnte. Im Nu verwundeten die furchtbaren Hauer des Ungeheuers das edle durch gewaltiges Spornen ohnehin sehr wild gewordene Pferd, dies bäumte und überschlug sich mit seinem Reiter, der unter dasselbe zu liegen kam. Glücklicherweise war ein Theil der Jagd indessen herbeigekommen, zwei gewaltige Saufänger packten den Eber noch gerade [257] im rechten Augenblick, da er seine Wuth an den Unglücklichen auslassen wollte; sie zwangen ihn, sich gegen sie zu wenden, und ein glücklicher Stoß von Meinaus starker Hand machte bald darauf dem Kampfe ein Ende.

Auch Albert kam jetzt herbei, und sah mit unaussprechlichem Entsetzen sein geliebtes Weib bleich und starr wie eine Todte am Boden liegen; er rief tausendmal überlaut Luisens Namen, warf sich neben sie hin mit der Geberde an Wahnsinn gränzender Verzweiflung, und vor Schrecken völlig unfähig, ihr die kleinste Hülfe zu leisten, verlangte er nur mit ihr zu sterben.

Indem eilte auch Frau von Meinau bleich und zitternd herbei. Sie hatte aus der Ferne in Todesangst zugesehen. Selbst kaum im Stande, sich aufrecht zu erhalten, wollte sie die Freundin unterstützen, welche eben anfing, sich von selbst zu erholen, doch indem sie sich zu ihr beugte, fiel ihr Blick auf Luisens Befreier. Diesen hatten die Jäger unterdessen unter seinem Pferde hervorgezogen und er saß mit Blut bedeckt geduldig [258] da, den Rücken an einen Baum gelehnt, von ihm zu Hülfe Eilenden umringt.

»Oskar,« schrie sie mit dem tonlosen Schrei des höchsten Entsetzens. »Oskar, o stirb nicht, stirb nicht mein Bruder ohne mich!« Sie warf sich neben ihm in das mit seinem Blute benetzte Gras, zerriß ihr Kleid, um die Kopfwunde zu verbinden, aus der das Blut sein Gesicht überströmte, umschlang ihn mit ihren Armen und zuckte erschrocken zusammen, da sie gewahrte, wie weh die leiseste Berührung ihm that, während er mit halberstorbener Lippe sie zu beruhigen suchte und ihr versicherte, daß er sich durchaus nicht gefährlich verwundet fühle.

Die Scene, welche jetzt erfolgte, läßt sich nicht beschreiben. Freude, Schmerz, Erstaunen, Dankbarkeit, bewegten jede Brust und äußerten sich auf tausendfältige Weise. Luise hatte sich indessen vollkommen wieder erholt, stumm und bleich wie eine Bildsäule kniete sie mit gefaltenen Händen neben dem Verwundeten, den starren Blick so fest auf ihn geheftet, als wäre außer ihm die [259] ganze Welt ihr verschwunden. Albert lag zu seinen Füßen, Thränen überströmten sein Gesicht. »Engel, zur Rettung eines Engels vom Himmel gesandt,« sprach er, »wie soll ich Dir danken! wie Dich nur nennen, der, selbst wehrlos, mit unerhörtem Heldenmuthe sich für eine ihm ganz Unbekannte dem gräßlichsten Tode entgegenstürzte!« – »Ich sah Frauen in Gefahr, da galt kein Bedenken, ich konnte nicht anders,« erwiederte Oskar mit schmerzlichem Lächeln und kaum hörbarem Ton.

Die Jäger hatten indessen unter Meinaus Leitung aus Tannenzweigen eine Art von Trage zusammengezimmert und mit weichem Moose bedeckt, auf welche der Verwundete freilich unter großen Schmerzen gelegt ward, um ihn nach Leuenstein zu bringen. Alle Männer wetteiferten untereinander, ihn abwechselnd auf den Schultern zu tragen, Luise und Frau von Meinau gingen neben her, ihn zu unterstützen; so kam langsam, einem Leichenbegängnisse ähnlich, der Zug im Schlosse an, der am Morgen unter Hörnerschall fröhlich ausgegangen war.

[260] Zum Glück konnte Oskar sogleich die nöthige ärztliche Hülfe erhalten, denn Meinau hatte Besonnenheit genug gehabt, um gleich im ersten Augenblick einen reitenden Boten nach einem ziemlich geschickten Wundarzte, der in der Nähe wohnte, auszuschicken. Diesen fanden die Ankommenden schon im Schlosse vor und sein Ausspruch nach dem ersten Verbande gab wenigstens Beruhigung. Weder die Kopfwunde noch die übrigen Verletzungen, die Oskar beim Sturze mit dem Pferde erlitten, drohten die mindeste Gefahr für sein Leben; doch freilich war der linke Arm zerbrochen, der rechte verrenkt, die Schmerzen welche er litt waren groß, und Monate mußten wahrscheinlich darüber hingehen, ehe es ihm möglich werden durfte, das Schloß zu verlassen, um sich zu seiner Schwester zu begeben.

Dieser, wenn gleich an sich traurige, doch auch in andrer Hinsicht tröstliche Ausspruch eines als geschickt anerkannten Arztes, beruhigte Alle; selbst Frau von Meinau vergaß einigermaßen über die Erhaltung ihrer Freundin den Schmerz, den geliebten[261] Bruder nach jahrelanger Trennung so wieder finden zu müssen; nur Albert wollte es kaum wagen in seinem Herzen der Hoffnung Raum zu gewähren. Die Gräßlichkeit der Gefahr, in welcher er seine Luise gesehen hatte, schwebte unabläßlich in furchtbarer Deutlichkeit vor seiner aufgeregten Phantasie, sein eignes Leben schien ihm jetzt an dem ihres heldenmüthigen Befreiers zu hängen, und er wußte sich vor den entsetzlichen Bildern, die ihn stündlich verfolgten, nicht anders zu retten, als daß er, stets bedacht für Oskars Erhaltung zu sorgen, auch Luisen ermahnte, der Erfüllung dieser heiligen Pflicht sich ausschließlich zu weihen.

In Luisens weicher Seele steigerte sich nur zu leicht der Enthusiasmus der Dankbarkeit bis zur Leidenschaft hinauf, ja man könnte sagen, daß diese die einzige Leidenschaft sey, welche sie bis dahin wahr und wirklich empfunden hatte. Bernhard erweckte sie zuerst in ihr, aber seine höhere Natur hielt sie ab, ihn anders als aus der Ferne zu verehren. Oskar hingegen stand ihr weit näher [262] und daß er als Kranker stets ihres Beistandes bedurfte, machte ihn ihr mit jedem Tage noch werther. Sie verließ ihn so selten als möglich und wachte über ihn wie eine Mutter über den Liebling ihres Herzens. So lange er durch den Verband gehindert wurde, sich seiner Hände bedienen zu können, suchte sie mit unglaublicher Aufmerksamkeit auch den kleinsten seiner Wünsche zuvorzukommen, und hiedurch sowohl als durch tausend andere Zufälligkeiten, wie sie das häusliche Leben mit sich führt, entstand zwischen beiden ein zartes, namenloses Verhältniß, dem sie sich hingaben, ohne weiter darüber zu denken. Ueberdem wurde Frau von Meinau durch ihre häuslichen Pflichten oft abgehalten, sich der Pflege ihres Bruders so anzunehmen, wie sie es wohl gewünscht hätte, und so blieb diese Sorge Luisen größtentheils allein überlassen.

Oskars ungeschwächte Jugendkraft beförderte seine Genesung; er durfte weit früher als man gehofft hatte es wagen, sein Lager und bald auch sein Zimmer zu verlassen und entwickelte nun auch [263] im häuslichen Beisammenseyn die liebenswürdigsten Eigenschaften. Schon seine männlich schöne Gestalt mußte auf den ersten Anblick für ihn einnehmen. Die zwar nicht regelmäßig schönen, aber ausdruckvollen Züge seines sehr angenehmen Gesichts waren der treuste Spiegel jeder Regung seines Gemüths, dabei trug sein ganzes Wesen einen Anstrich von Ritterlichkeit, der ihm außerordentlich gut stand, und sich besonders in der zartesten Achtung gegen Frauen äußerte. Lebhaft und leicht erregbaren Geistes, riß er alles unwiderstehlich mit sich fort, wenn er in seiner schönen wohlklingenden Sprache über irgend einen Gegenstand, der ihn innig ergriffen hatte, mit dem Enthusiasmus eines Begeisterten sich äußerte. Mit einem sehr angenehmen sonoren Organ verband er das seltene Talent ein ausgezeichnet guter Vorleser zu seyn, oft auch begleitete seine rührende, gerade ans Herz dringende Tenorstimme Luisens ziemlich mittelmäßiges Spiel auf der Guitarre, die er selbst zwar meisterhaft zu behandeln wußte, aber mit seinem noch immer gelähmten [264] Arme nicht zu berühren wagte. Abends erzählte er zuweilen Luisens ältestem Knaben wundersame Mährchen, die den sonst ewig Unruhigen festbannten und denen selbst die Mutter gern zuhörte.

So verstand er es auf die verschiedenste Weise, sich selbst zu Andrer Freude zu vervielfältigen und allein durch seine Gegenwart den Geist innerer Unzufriedenheit und Langerweile aus diesem Hause zu bannen, der bis dahin den Frieden desselben so oft getrübt hatte.

Mit immer steigender Zufriedenheit bemerkte Albert den wohlthätigen Einfluß der Gegenwart seines neuen Freundes auf die Gemüthsstimmung seiner Luise. Nie fand er sie mehr in stillen Thränen, wie wohl sonst oft geschehen war, nie klagte sie mehr über die in Leuenstein herrschende Einsamkeit, kein Zeichen der Unzufriedenheit entschlüpfte ihr, wenn ihr arbeitsmüder Gatte Abends mit anscheinendem Mangel an Theilnahme ihr zur Seite saß. Albert sah sie jetzt immer heiter, immer freundlich, mit Augen aus denen Jugend, Gesundheit und kindliche Freude am Leben strahlten. [265] Sie erschien ihrem Gatten völlig so, wie er zuerst im Hause ihrer Eltern sie sah, auch sein Herz ward ihm leichter und ein Nachgefühl der zu schnell entschwundnen Seeligkeit der ersten Tage ihrer Vereinigung gab auch ihm einen Theil seiner entflohnen Heiterkeit wieder zurück.

Daß Oskar es war, der diese glückliche Veränderung seines häuslichen Zustandes herbeiführte, fand Albert eben so natürlich, als Luisens Betragen gegen diesen. Ihre grenzenlose Dankbarkeit, ihre Art diese zu äußern, machten ihm die Geliebte nur noch werther, denn er war überzeugt, daß nie genug für den geschehen könne, der ihm das höchste Kleinod seines Daseyns mit Gefahr des eignen Lebens erhalten hatte. Oskar stand neben Bernhard in Alberts Herzen; was dieser ihm schenkte hatte jener ihm erhalten; er fühlte dabei, daß Oskars Liebenswürdigkeit ihn angezogen haben würde, selbst wenn er ihm nicht alles zu verdanken hätte und war stolz darauf, ihn überall als den Mittelpunkt des Lebens in seinem Hause betrachtet zu wissen.

[266] Nie kam dabei das niederdrückende Gefühl des Zurückgesetztwerdens in Alberts Seele, das ihn so oft der Verzweiflung nahe gebracht hatte, als noch die Fremden in seinem Eigenthume herrschten; denn niemals zeigte Oskar nur eine Spur des Uebermuths, durch welchem jene sich auszeichneten; nie suchte er sich hervorzudrängen und in seinem ganzen Wesen ward auch nicht die mindeste Ahnung der seltnen Eigenschaften sichtbar, die ihn vor Tausenden auszeichneten, ohne daß er den hohen Standpunkt zu bemerken schien, auf welchen Alle ihn stellten.

Der Winter hatte sich indessen sehr früh und mit fast beispielloser Härte eingestellt; kaum durften völlig Gesunde es ungestraft wagen, sich im Freien der grimmigen Kälte auszusetzen, und der Arzt wiederholte täglich, daß Oskar durchaus noch nicht daran denken könne Leuenstein zu verlassen, so lange der scharfe Frost anhielt. Wie groß mußte daher Alberts Erstaunen seyn, als Oskar gerade am kältesten Tage, den man bis dahin gehabt hatte, mit der Bitte in sein Zimmer trat, [267] ihn sogleich zum Baron Meinau fahren zu lassen, weil er bei diesem einige Zeit zu verweilen Willens sey.

Alberts erster Gedanke war, daß bei seinen Freunden irgend ein Unglück vorgefallen seyn müsse; er betrachtete Oskar genauer, während dieser ihm versicherte, daß dieses keinesweges der Fall sey; er sah ihn ungewöhnlich bleich, alle Züge seines Gesichts deuteten auf eine heftige Bewegung in seinem Innern; sein sonst immer heiteres Auge glänzte im feuchten Schimmer zurückgedrängter Thränen und seine Lippe zuckte schmerzlich, indem er in kaum verständlichen Worten die eben ausgesprochene Bitte um Pferde und Wagen nochmals wiederholte.

Albert vermochte nicht, ihm zu antworten, er strengte alle seine Geisteskräfte an um zu errathen, was seinen Freund so heftig ergriffen und ihn zu dem Entschlusse bewogen haben könne, so plötzlich von Leuenstein sich zu entfernen. Er erinnerte sich, daß Oskars ungewohnter Trübsinn ihm schon seit einigen Tagen aufgefallen sey, daß [268] er bemerkt habe, wie dieser öfterer als sonst die Einsamkeit gesucht und besonders Luisen absichtlich zu meiden schien, und nun glaubte er mit einemmal den Schlüssel zu dessen jetzigen räthselhaften Benehmen gefunden zu haben.

»Ich sehe wie es ist, Freund Oskar, ich, der ich in meinem Leben nichts errathe, ich durchschaue Sie dennoch diesesmal,« rief Albert mit freundlichem Lächeln und ergriff Oskars Hand, die in der seinen zuckte. Daß Oskar immer bleicher ward und sich kaum noch aufrecht zu halten vermochte, bemerkte Albert nicht, sondern fuhr aus der Fülle seines liebenden argwohnlosen Gemüths zu reden fort. »Es darf nicht seyn,« sprach er recht herzlich bittend, »Sie dürfen uns noch nicht verlassen und auf diese Weise nun vollends gar nicht. Was zwischen Ihnen und meiner Luise vorgefallen seyn mag, verlange ich nicht zu wissen, aber das weis ich, daß Sie es nicht auf diese Weise aufnehmen würden, wenn Sie das liebenswürdige Geschöpf so kennten als ich. Ich möchte sogar keine der kleinen Launen meiner [269] Luise an ihr vermissen, denn sie ist doch ein Engel der Güte. Ich gehe zu ihr, sie selbst wird eilen, alles wieder gut zu machen, sie selbst wird Sie bitten uns nicht zu verlassen, ich weis, da können Sie unmöglich widerstehen.«

Albert eilte zu Luisen, ehe Oskar so viel Fassung gewann, ihn daran hindern zu können. Er fand sie auf ihrem Sofa in Thränen. Bei seinem Eintritt verhüllte sie ihr Gesicht und unterdrückte nur halb einen Schrei des schmerzlichsten Erschreckens.

»Du weißt es also schon, ich sehe es,« sprach Albert, »er will fort, in dieser entsetzlichen Kälte, die ihm den Tod geben kann. Das darf nicht seyn, nicht war Luise? Nur Du kannst es hindern. Komm, liebe Luise, sey gut, vergiß was zwischen Euch vorgefallen seyn mag, und hilf mir ihn erbitten. Bezwinge diese kleine Aufwallung, mein geliebtes Weib, denke: er ist der Retter unseres Lebens, ein freundliches Wort von Dir und alles ist wieder gut; komm meine Luise.« Albert wollte ihre Hand fassen, doch sie entriß [270] sie ihm mit ungewohnter Heftigkeit, drückte laut schluchzend das Gesicht noch tiefer in die Sofakissen hinein und winkte ihm, abwehrend, fortzugehen.

»O über die großen erwachsenen Kinder!« rief Albert halb entrüstet, halb traurig, indem er Oskar wieder aufsuchte; er fand ihn vertieft in schmerzlicher Betrachtung vor Luisens Büste stehen und begann nun, ihn mit Bitten zu bestürmen, ein Paar Menschen nicht zu verlassen, die in ihm ihren Schutzengel entfliehen sähen. Alles was unbegränzte Dankbarkeit, tiefgefühlte Hochachtung, innige Freundschaft und der heißeste Wunsch des Gelingens nur eingeben können, brachte er mit jener unwiderstehlichen Beredsamkeit vor, die ihm stets eigen war, sobald er von den Regungen seines tiefen Gemüthes sich hinreißen lies. Er beschwor Oskar bei allem, was ihm heilig sey, Luisens vorübergehenden, gewiß nur aus Kränklichkeit entstandenen Unmuth nicht so schwer an ihm und ihr zu ahnden. Er versicherte ihm, daß sie gewiß mit Entzücken dem sich ihr wieder zuwendenden [271] Freunde entgegen eilen und alles daran setzen würde, um nur den heldenmüthigen Retter ihres Lebens zum Verzeihen und zum Vergessen zu bewegen.

Was auch Oskar ihm einzuwenden versuchte, alles war verloren. Albert hörte nicht darauf und ward immer wärmer, immer unwiderstehlicher, je länger er sprach, so daß Oskar endlich die Unmöglichkeit fühlte, sich hier länger in den Schranken zu halten, die er sich gesetzt hatte, um seinen edlen Freund zu schonen.

»Albert! laß ab von mir, ich beschwöre Dich,« rief er zuletzt in höchster Spannung, hingerissen von seinem Gefühl, »laß ab von mir, und höre auch mich, Du unerbittlicher Feind Deiner Selbst. Edle, argwohnlose, kindlich reine Seele!« setzte er unendlich weich hinzu, »höre mich endlich an. Ich kann Dich betrüben, aber betrügen kann ich Dich nicht. Und müßte ich Dein schönes Gemüth noch tiefer verwunden, ich kann gegen Dich dennoch nicht unwahr seyn. So erfahre denn durch mich, wovon kein Gedanke in Deine ahnungsfreie [272] Seele kam, ich liebe Luise, Deine Luise, Dein Weib! ich liebe sie mit verzehrender Gluth, ich lebe, ich athme nur in dieser Liebe, die ihr erster Anblick in mir entflammte, und die ich dennoch zu spät mit unsäglichem Schrecken erkannte. Albert, ich kämpfe seit vier Tagen den fürchterlichsten Kampf mit mir selbst, umsonst, ich liebe nur sie, ich kann nichts denken, nichts fühlen als diese Liebe. Trennung ist Tod. Ich beschloß zu bleiben, mein Geheimniß in tiefster Brust zu begraben. Ich unseeliger Thor, wie konnte ich ihr zu verbergen hoffen, was mir selbst jetzt offenbar war! Ein unglückseeliger Zufall entriß mir diesen Morgen ein Geständniß, das mich – – Luise weiß alles! Albert, bestehst Du noch darauf mich hier fest halten zu wollen?«

Albert stand regungslos wie eine Bildsäule. »Luise weiß Alles, sagst Du, Alles! – Und sie?« hauchte er fast unhörbar, mit kaum bewegter Lippe. »Und sie?« wiederholte er dringender, und sein Auge suchte mit dem Ausdruck unaussprechlicher Angst in Oskars Zügen zu lesen.

[273] »Lass' mich fliehen, dränge selbst mich über Deine Schwelle,« rief Oskar in wilder Verzweiflung. »Verbanne mich! lass' mich elend seyn aber schuldlos; dränge mich mit Gewalt fort! fort! fort! um Luisenswillen, um Deinetwillen, fort von hier, verstoße mich, verbanne mich.« Seine noch nicht ganz wiederhergestellten Kräfte verließen ihn, er sank in einen Sessel und verhüllte mit beiden Händen sein Gesicht.

Albert betrachtete ihn eine Weile schweigend und ging dann einigemal mit immer fester werdendem Schritte im Zimmer auf und ab. Dann stand er wieder vor Oskar still und ergriff dessen fast leblose Hand. Als sey ein neuerer, höherer Geist über ihn gekommen, so verändert, so erhaben war in diesem Augenblick Alberts Haltung, seine ganze Gestalt; sein Auge strahlte in hoher Verklärung, wie das Auge eines Sterbenden im letzten Momente des scheidenden Lebens, welcher der Erde nicht mehr angehört. Nie zuvor sah er seinem Bruder Bernhard so ähnlich.

»Oskar,« fing er mit kaum merklich bewegter [274] Stimme und sehr gemäßigtem Tone an, »lieber Oskar, Sie hatten Recht, ich sehe ein, es ist gut daß Sie noch heute Ihre Schwester besuchen, und es soll meine angelegentlichste Sorge seyn, daß dieses ohne Gefahr für Ihre Gesundheit geschehen könne. Mein edler, hochgeliebter Freund, wir brauchen beide Zeit, um uns selbst wieder zu finden, aber glauben Sie mir nur, alles wird sich ordnen, wir werden beide ruhiger werden und Sie kehren gewiß einst und bald in froherer glücklicherer Stimmung nach Leuenstein zurück. Oskar, Sie würdigten mich eines ungemessenen Vertrauens, wo Tausende an Ihrer Stelle – doch es wäre Beleidigung Sie nur mit jenen zu vergleichen. Wir beide haben in dieser schmerzlich schönen Stunde einander erkannt, auf ewig. Sie wissen jetzt, daß ich Ihres edlen Vertrauens nicht unwerth bin, geben Sie mir den letzten Beweis davon, daß Sie dies glauben, indem Sie nur eine Frage noch mir offen und ohne Rückhalt beantworten. Weiß außer mir noch jemand, weiß Meinau oder Ihre Schwester – – –« [275] »Guter Gott, wie wäre dies möglich!« rief Oskar, »wie könnte ich Andern gestehen was ich mir selbst kaum gestand!«

»Nun dann,« erwiederte Albert, indem er Oskars Hand an seine Brust drückte, »nun dann, so gewähre mir noch die Bitte, auch ferner gegen alle zu schweigen und Deiner Schwester Haus nicht zu verlassen, bis wir beide in der Stimmung sind, mit gefaßtem Muth zu überlegen, welch' ein Entschluß hier zu fassen steht, der uns allen die entwichene Ruhe wiederzugeben vermag. Wir alle drei sind reines Herzens; es wird ein Ausweg sich entdecken lassen, wir haben nichts zu befürchten als in zweckloser Uebereilung die, so uns lieb sind, zu verwunden. Lass' dies uns vermeiden und mögen dann Gott, Zeit und der unbestechbare Richter, den jeder von uns im Busen trägt, über alles Andere entscheiden.«

Alberts seltene, wie durch höhere Eingebung über ihn gekommene Geistesstärke, welche in des noch tiefer gebeugten Oskars Gegenwart seinen Muth erhob, und ihn in dieser erschütternden [276] Scene aufrecht erhielt, brach zusammen, so wie er sich wieder in seinem einsamen Zimmer allein sah. Er hörte den Wagen aus dem Schloßhofe fortrollen, in welchem Oskar sich entfernte, ohne Luisen wieder gesehen zu haben, und ihm war, als gingen die Räder desselben zermalmend über seine Brust hinweg.

»Dort fährt er hin,« rief Albert, übermannt vom Schmerze des Augenblicks, »dort fährt er hin, er, dessen Leben ich beraubte, noch eh' ich ihn sah, und mit ihm verläßt das ganze Glück des geliebtesten Wesens auf Erden unser verödetes Haus. Niemand bleibt der armen Luise als ich, den sie schon lange nicht mehr liebt, den sie nie lieben konnte, den sie jetzt hassen, verabscheuen muß, seit sie den Einzigen gefunden hat, der ohne mein unseeliges dazwischentraten ihr Leben zu einer Kette von Seeligkeit umgewandelt hätte! Ich bleibe, um täglich, stündlich den Vorwurf ihres Unglücks, ihr tiefes Leiden in ihren Augen zu lesen! Ich Unseeliger habe zwei Wesen getrennt, die der Himmel selbst für einander bestimmte. [277] Und was habe ich mir gewonnen? Unaussprechlichen Jammer, ewige Reue. Oskar und Luise! wo giebt es ein Paar, diesem zu vergleichen? Sie hätten sich gefunden, sie mußten sich finden. Ohne mich blühte jetzt Luise in unentweihter voller Jugendpracht ihm entgegen, doch ich, selbstsüchtig und grausam, benutzte die jugendliche Unerfahrenheit des kindlich lieblichen Geschöpfs; ich zerstörte in der Knospe die Blume, nun wird sie an meiner Seite dahin welken! O, läge ich ruhig und still in meinem Grabe! Noch wäre es nicht zu spät, beiden lacht noch das Leben im Jugendglanz, beide könnten vereint noch glücklich mit einander seyn. Bernhards edler Wille würde dennoch erfüllt, ich habe Söhne, unser alter edler-Name wird in ihnen fortblühen, und sie würden unter Oskars Pflege den Unglücklichen nicht vermissen, der ihnen nichts geben konnte als das Leben.«

Ergriffen von diesem Gedanken, gefoltert von unbeschreiblichen Quaalen, sank Albert auf die Knie und betete mit Innbrunst um augenblicklichen [278] Tod, den freiwillig zu wählen fromme Ueberzeugung ihn abhielt. So glühend, so ernstlich wie er, hat vielleicht kein zum Sterben Verurtheilter jemals um Leben gefleht. Dann sprang er wieder auf, tausend Entschlüsse, tausend Gedanken, tausend Möglichkeiten durchkreuzten sich verwirrend in seinem Gemüthe und brachten ihn dem Wahnsinn nah. Nichts ward ihm klar als die Nothwendigkeit, Luisen ihre Freiheit wieder zu geben, und mit dieser die Anwartschaft auf eine glückliche Zukunft an Oskars Seite. Vergebens strengte er sich an, um eine Möglichkeit zu entdecken dieses vollbringen zu können. Scheidung war hier kein Ausweg, denn Luise bekannte sich so wie er selbst zur katholischen Kirche, und diese gestattet in einem solchen Falle keine zweite Verbindung, so lange der erste Gatte noch lebt. Auch der selbst verschuldete traurige Zustand seines Vermögens und seiner von Bernharden ihm anvertrauten Güter fiel ihm ein und erhöhte seine Quaal wie seine Unentschlossenheit. So verbrachte er die Stunden des Tages in nutzlosem fürchterlichem [279] Kampfe mit sich selbst, bis die frühe Abenddämmerung hereinbrach. »Gott!« rief er endlich in wilder Verzweiflung aus und warf sich mit gerungenen Händen abermals auf den Boden hin, »Gott, Du siehst meinen Jammer! die Bahn liegt vor mir, die ich gehen muß, klar und deutlich überschaue ich sie, aber der Zugang zu ihr bleibt mir ein nie zu lösendes Räthsel. Erleuchte mich! ich habe niemand auf Erden, der in dieser furchtbaren Nacht der Verwirrung die Hand mir bieten könnte, ich habe niemand als Dich! Erhöre das bange Flehen Deines verzweiflenden Geschöpfs, rufe mich ab aus diesem Labirinthe von Leiden, oder sende mir ein sichtbares Zeichen Deiner Gnade, das mir zum Führer diene in dieser Wüste des Lebens.«

In diesem Moment öffnete sich die Thüre, Albert sprang erschrocken auf. Es war nur einer seiner Diener, der Licht brachte und zugleich ein schwarzgesiegeltes ziemlich starkes Briefpacket ihm überreichte, welches so eben der Bote von der nächsten Post abgegeben hatte. Mechanisch nahm [280] Albert es an und öffnete es, eigentlich nur, um dem Bedienten, der noch einige Augenblicke im Zimmer beschäftigt blieb, seinen heftig bewegten Zustand zu verbergen. Doch einzelne Worte zogen dennoch seine Aufmerksamkeit an, indem er die in dem Packet enthaltenen Papiere ohne eigentlich zu lesen nur flüchtig überschaute. Er zwang sich aufmerksamer zu lesen, und der Inhalt derselben fesselte ihn endlich ganz. Als er vollendet hatte, rieselte Todeskälte ihm den Nacken hinab, sein Haar sträubte sich und die Hand zitterte konvulsivisch, in welcher er die Papiere hoch empor hob. »Du hast mich erhört!« rief er bleich wie ein Sterbender, den starren Blick zum Himmel gerichtet, »Du hast das Zeichen mir gegeben, das ich vielleicht an Deiner Gnade frevelnd mir erflehte. Ich beuge mich tief in den Staub vor Dir, ich folge zitternd aber willig dem Wink Deiner allmächtigen Hand. Nimm das Opfer gnädig an, seegne Luise und Oskar!«

Das Packet, welches Albert gerade in diesem Moment erhielt und das seine aufgeregte Phantasie [281] so wunderbar ergriff, enthielt die Nachricht von dem im hohen Alter erfolgtem Absterben des Kardinals, seines Großoheims und zugleich die Abschrift von dessen letzten Willen. Der fromme Greis hatte eine Hälfte seines wirklich fürstlichen Vermögens der Kirche zu wohlthätigen Stiftungen hinterlassen, die zweite Hälfte desselben in reiche Legate unter seine Freunde, Verwandte und alte treue Diener vertheilt. Albert war mit einem reichen Vermächtnisse bedacht worden, das beinahe dreimal so viel betrug als die Summe, welche nach Meinaus Berechnung nöthig war, um alle seine Schulden zu tilgen.

Eine Anweisung war dem Briefe beigefügt, gegen welche er den vollen Betrag des Vermächtnisses bei einem der ersten Handelshäuser in St*** erheben konnte, sobald er sich als der, dem es bestimmt war, legitimirte.

Mit jener an Todeskälte gränzenden Fassung, die dem auf den Fluthen des Lebens Müdegetriebenen das Ansehen scheinbarer Ruhe gewährt, setzte Albert sich hin, um an Luisen zu schreiben, [282] die unter dem Vorwande großer Nervenschwäche an diesem Tage niemanden vor sich lies. Er meldete ihr, daß ein dringendes Geschäft ihn zwinge, morgen in aller Frühe nach St*** zu reisen. Sie lies ihm mündlich zurücksagen, daß sie sich zu schwach fühle, um ihn noch vor seiner Abreise zu sehen, daß sie hoffe, er würde nicht lange ausbleiben und ihn bitte, das jüngste Kind nebst seiner Wärterin bis B** mitzunehmen, wo ihre Eltern wohnten, indem eine sehr bösartige Blatterepidemie anfange, unten im Dorfe und in der Umgegend Ueberhand zu gewinnen und sie daher wünsche, den Kleinen bei den Großeltern in Sicherheit zu wissen. Albert hörte von diesem allen nur, daß Luise ihn nicht wiedersehen wolle.

Die Nacht ward zum Theil unter dem Einpacken der zu seiner Legitimation nothwendigen Papiere hingebracht. Sein Herz lag tod und schwer in seiner Brust und keine Thräne kam in seine heißbrennenden Augen. Noch einmal zog er durch alle Zimmer seines Schlosses, wie ein [283] rastloser Geist, der weder im Himmel noch auf Erden eine bleibende Stätte findet. Der Morgen dämmerte, leise öffnete Albert die Thüre zu Luisens Zimmer, sie schlummerte sanft und hörte ihn nicht. Noch einmal betrachtete er die holde Gestalt, wie sie in jugendlicher Anmuth, aufgelöst in süßem Vergessen dalag. Tief und schmerzlich, in blutigen Zügen prägte das geliebte Bild sich ihm ins gemarterte Herz für eine Ewigkeit ein. Er wagte es nur, eine ihrer Locken zu küssen, um sie nicht zu wecken und riß sich dann von ihr los, wie ein Verzweifelnder vom Leben scheidet. Im Wagen versank er anfangs in dumpfes starres Hinbrüten und ward es gar nicht gewahr, daß die Wärterin, seinen schlummernden Knaben auf dem Schooß, ihm gegenüber saß. Doch als ein flammendes Lichtmeer sich über Erde und Himmel ergoß, und die spät aufgehende Sonne in ihrer winterlichen Pracht Bäume und Felder mit blitzenden Rubinen übersäete, da wachte auch das Kind auf und streckte, laut jauchzend für Freude, dem Vater die kleinen Arme liebkosend [284] entgegen. Ein Strom von Thränen stürzte jetzt aus Alberts Augen und erleichterte sein bis zum zerspringen zusammengedrücktes Herz. Er nahm das zarte kleine Wesen in seine Arme, das sich in dem, vor jedem Eindringen der Kälte sorgfältig geschützten Wagen sehr behaglich fühlte, und in seiner wortlosen Sprache seine Freude auszudrücken strebte.

»Dich habe ich noch!« rief Albert; »doch noch ein Wesen das zu mir gehört! Dich gab ein Gott mir zum Troste mit in die verödete Welt. Und willst Du immer mir bleiben? Willst Du mich niemals verlassen?« Das Kind schlang lächelnd ihm beide Aermchen um den Nacken. Es war zu viel für sein Herz, er gab es der Wärterin zurück und weinte laut.

Ohne Plan für sich selbst war Albert in die Welt hinausgezogen, nur des Entschlusses sich bewußt, von allem was ihm theuer war zu scheiden. Doch der Anblick seines Kindes gab ihn sich selbst wieder zurück. In dem rastlosen kummervollen Leben das er bis jetzt geführt hatte, [285] war ihm wenig Raum für die Beschäftigung mit seinen Kindern geblieben und oft waren ganze Wochen vergangen, ohne daß er sie zu Gesichte bekam. Doch jetzt beim Anblicke dieses wirklich sehr schönen muntern Knaben, der so ganz unerwartet sein Reisegefährte geworden war, regte sich die Vaterliebe mächtig in ihm und erwärmte wohlthätig sein fast erstorbenes Gemüth. Die Reise kam ihm nach dem heftigen Kampfe, der ihr voranging, wie Ausruhen vor und es gelang ihm, sich im Laufe derselben zu sammeln und eine Ansicht dessen zu gewinnen, was jetzt für ihn am nächsten zu ergreifen sey.

So wie sie B**, dem Wohnorte von Luisens Eltern sich näherten, kündigte er der treuen Renate an, daß er willens sey durch diese Stadt gerade durchzufahren und sie mit dem Knaben noch weiter mit sich zu nehmen. Die gute Frau war damit außerordentlich zufrieden, indem die Reise dem Kleinen sehr wohl zu bekommen schien und sie sich überdem von dem Aufenthalt bei der Frau Großmama nicht viel versprach, die gerade [286] gegen diesen ihren jüngsten Enkel niemals große Liebe bezeigt hatte.

Nach wenigen Tagen langten die Reisenden glücklich in St*** an, wo Albert zuerst darauf bedacht war, das reiche Geschenk seines erblichenen Wohlthäters sich auszahlen zu lassen, was ohne alle Schwierigkeiten vollbracht wurde. Dann setzte er unter den gehörigen Formalitäten seinen letzten Willen auf und legte ihn gerichtlich nieder, nachdem er eine Abschrift davon nehmen lies, die er an seinen Freund Meinau zu senden Willens war. In diesem Testamente übertrug er dem Baron Meinau die Vormundschaft über seinen ältesten in Leuenstein zurückgelassenen Sohn, und bestimmte ein Drittheil der Einkünfte seiner Güter für die Erziehung desselben, zwei Drittheile aber, nebst der Wohnung in Leuenstein überlies er seiner Gattin auf Lebenslang, sogar, wie er ausdrücklich hinzusetzte, im Fall sie sich zum zweitenmale vermählen sollte.

Dem Baron Meinau sandte er, nebst der Abschrift dieses Testaments, eine unumschränkte Vollmacht [287] für die Zeit in welcher er selbst abwesend wäre; zugleich übermachte er ihm die Hälfte der von seinem Oheim ererbten Summe, bat seinen edlen Freund, diese nach bestem Wissen zur Verbesserung seiner Besitzungen anzuwenden, benachrichtigte ihn von dem Absterben des Kardinals und trug ihm zugleich auf, Luisen zu melden, daß er nach Italien zu gehen gedenke, um dort das Grab des väterlichen Beschützers seiner Jugend zu besuchen. Er bat sie, ihm zu verzeihen, daß er seinen Sohn mit sich auf die Reise nähme, indem das Kind ihm jetzt zu lieb geworden wäre, als daß es ihm unmöglich sey, sich von ihm zu trennen. Der zweiten Hälfte der so unverhofft ererbten Summe erwähnte Albert in diesem Briefe nicht, denn diese glaubte er, mit Recht ausschließend als sein Eigenthum und als das künftige Erbtheil seines jüngern Sohnes betrachten zu können; aber er empfahl nochmals seine Luise in den dringendsten, rührendsten Ausdrücken dem Schutze seines Freundes und bat ihn zugleich, Oskar seiner unveränderten Liebe und Dankbarkeit zu versichern [288] und ihm zu sagen, daß er fest darauf rechne, ihn bei seiner Heimkehr noch in der Nachbarschaft von Leuenstein anzutreffen.

Der Brief ward versiegelt und abgeschickt, und Albert fühlte sich von diesem Augenblick an von seiner ganzen Existenz, von allen ihren Freuden und Hoffnungen, von allen ihren Schmerzen und Sorgen auf ewig geschieden, ein heimathloser Wanderer auf Erden. Die Ueberzeugung, jetzt einzig an sich selbst gewiesen zu seyn, ohne eine Seele die ihm nahe genug geblieben wäre, um ihm auf seinem ferneren Wege eine leitende Hand zu reichen, gab ihm eine Selbstständigkeit, die er sich nie zugetrauet hätte. Er glich einem Kinde, welches gehen lernt und immer weniger schwankend vorwärts schreitet, sobald es sich nur einmal entschließen konnte, die Gegenstände loszulassen, an die es bis dahin sich ängstlich angeklammert hielt.

Alberts Hauptsorge war jetzt, sein Daseyn Allen, die früher ihn gekannt hatten, zu verbergen, um sowohl vor den Augen der Welt als derer, die [289] durch engere Bande an ihn gefesselt waren, spurlos zu verschwinden. Unerachtet seiner bisherigen Unerfahrenheit in allem, was zum practischen Leben gehört, gelang es ihm, dieses auf die zweckmäßigste Weise auszuführen. Den einzigen Bedienten, der ihn von Leuenstein aus begleitet hatte, schickte er in St*** unter einem wohl ersonnenen Vorwande zurück, ehe er noch selbst diese Stadt verließ, um angeblich die Reise nach Rom anzutreten. Unterwegs wandte er sich in gerad entgegengesetzter Richtung von dem Wege ab, von dem man glauben mußte, daß er ihn genommen habe; mit großer Vorsicht verwandelte er seinen alten adlichen Namen, sobald er dieses sicher und unbemerkt wagen durfte, in einem unbekannten bürgerlichen und eilte nun, so schnell er konnte, der von Leuenstein entferntesten Gegend in Deutschland zu, das er nicht ohne Noth zu verlassen entschlossen war.

Die treue Renata, die er, so viel dies schicklich und möglich war, in einen Theil seines Geheimnisses einweihte, ließ sich leicht bewegen, durch [290] einen heiligen Eid zum ewigen Verschweigen seines wahren Namens und Standes sich zu verbinden, da er ihr gelobte, sie nie von dem Kinde zu trennen, an dem sie mit wahrhaft mütterlicher Zärtlichkeit hing, und das von nun an für das ihre gelten sollte.

Je weiter Albert von dem ehemaligen Schauplatz seines Wirkens und Lebens sich entfernte, je besser gelang es ihm, seine Zukunft in seinem Gemüthe zu ordnen. Seine frühere, nie ganz erstickte Liebe zur Wissenschaft erwachte wieder, überdem fühlte er, daß nur anhaltende ernste Beschäftigung ihn auf die Länge vor Wahnsinn und Verzweiflung bewahren könne, und so beschloß er alles anzuwenden, um sich noch so viel möglich die Kenntnisse zu erwerben, die ihm mangelten, um späterhin seinen Sohn zu einem würdigen, nützlichen Mitgliede der menschlichen Gesellschaft zu bilden und ihn vor den Fehltritten zu bewahren, zu denen seine Unerfahrenheit im Leben ihn selbst verleitet hatte.

Sobald er weit genug sich von Leuenstein entfernt glaubte, miethete er daher Frau Renata [291] in einem artigen, mitten in einer der reizendsten Gegenden belegenen Landhause ein, wo er sie für eine ihm nah verwandte Wittwe ausgab, welche mit ihrem einzigen Kinde in ländlicher Stille zu leben wünsche. Er selbst aber bezog eine damals sehr berühmte, einige Meilen von jenem Landhause entfernte protestantische Universität, wo er förmlich seine Studien begann, die ihm durch die unter Pater Jeronimos Leitung erhaltene klassische Erziehung sehr erleichtert wurden. Seine Erscheinung fiel an diesem Orte niemanden auf, denn man war es in jener Zeit mehr gewohnt als jetzt, Jünglinge erst im reiferen Alter die Universität beziehen zu sehen; überdem hatte Albert eben erst sein sechs und zwanzigstes Jahr zurückgelegt und sah weit jünger aus, als er eigentlich war.

Da er beinahe alle Gesellschaft und besonders öffentliche Orte mied, so wurde seine Existenz kaum bemerkt. Seine einzige Erholung nach wochenlanger Arbeit schränkte sich auf einen Besuch bei seinem Sohne ein, der unter Renatas treuer Pflege recht munter und kräftig heranwuchs.

[292] In Leuenstein hatte man indessen, wenige Monate nach Alberts Entfernung in der Zeitung die Nachricht gelesen, daß an der italienischen Küste ein Schiff sammt der ganzen Mannschaft und allen darauf befindlich gewesenen Passagieren zu Grunde gegangen sey. Dabei wurde besonders das Schicksal eines Baron Albert von Leuen mit Bedauern erwähnt, der sich mit seinem Sohne und dessen Wärterin in Triest eingeschifft hatte, um dem noch sehr jungen unmündigen Kinde den Uebergang über die Alpen zu ersparen, und der nun sammt diesen auf so traurige Weise ebenfalls den Tod in den Wellen gefunden hatte.

Welchen schmerzlichen Eindruck diese Nachricht sowohl auf Luisen als Oskar und den Baron Meinau machen mußte, ist leicht zu erachten, doch nichts gleicht Alberts tiefem Seelenleiden, als er bald darauf sich im Namen seiner Frau und seines Freundes Meinau in allen Zeitungen auf das dringendste aufgefordert sah, von seinem Leben und seinem jetzigen Aufenthalte Nachricht zu geben, indem man immer noch hoffe, daß jenes Gerücht [293] von seinem Untergange ungegründet gewesen sey. Diese Aufforderungen wurden mehrere Monate hindurch immer rührender und erschütternder wöchentlich wiederholt, und der schwere Kampf zwischen Alberts noch immer unbesiegten treuen Liebe und dem Glauben, daß die Heißgeliebte nur durch seinen anscheinenden Tod das ihr von jeher bestimmt gewesene Glück finden könne, erhob sich denn jedesmal von neuem in seinem Gemüthe. Die Stimme der Gattin und des Freundes lockten ihn mit unaussprechlicher Lieblichkeit aus der Ferne, oft war er nahe daran, den Schritt zurückzuthun, durch welchen er Heimath, Namen, ja seine ganze Existenz auf Erden freiwillig hingab, um nur Luise wahrhaft glücklich zu wissen, aber er hielt dennoch fest an der einmal gewonnenen Ueberzeugung: hier standhaft bleiben zu müssen, um nicht aus schnöder Eigenliebe sowohl an Luisen als an dem edlen Retter ihres Lebens unwürdig zu handeln.

Diese quälenden Nachklänge aus seinem vergangenen Leben hörten endlich auf; doch nun erschien [294] ein volles Jahr nach seiner Abreise von Leuenstein ein Aufruf andrer Art, der ihn von Gerichtswegen ermahnte, sich binnen Jahresfrist zu melden, widrigenfalls er für todt erklärt und seiner Gattin die Erlaubniß ertheilt werden würde zur zweiten Ehe zu schreiten. Albert schwieg und meldete sich nicht, aber noch schmerzlicher als zuvor fühlte er sich tief in der Seele verwundet, obgleich er nichts anders bezweckt und erwartet hatte. Noch gewaltsamer traf ihn die, Freunden und Verwandten gewidmete Ankündigung von Oskars und Luisens Vermählung, die er nach Ablauf des ihm gesetzten Termins ebenfalls in den Zeitungen las. Sie schien ihm der letzte Todesstoß alles seines Hoffens auf Erden, und dennoch hatte er gewähnt, seine Rechnung mit dem Leben ganz abgeschlossen zu haben.

Tief erschüttert sank er aufs Krankenbette, wo er mehrere Wochen hindurch in wohlthätigen Fieberphantasien alles vergaß, nur nicht seine Liebe. Als er endlich wieder zum Leben erwachte, schien es ihm selbst, er gehöre schon zu den Todten. [295] Wie ein abgeschiedener Geist überschaute er noch einmal mit jener süßen wehmüthigen Ruhe, die jedes Genesen nach schwerer Krankheit begleitet, den kurzen aber dornenvollen Pfad seiner Vergangenheit, und segnete nun das Geschick, das, indem es ihn aus der Welt stieß, ihm dennoch einen geliebten theuren Zweck seines künftigen Daseyns mit in die Verborgenheit gab, zu der er sich von nun an verurtheilt sah. Nochmals gelobte er sich, denselben mit treuem Eifer sich zu weihen und in Zukunft nur dem Kinde zu leben, das lächelnd wie ein tröstender Engel an seinem Lager stand; das letzte Band das ihn noch an das Leben fesselte und ihn bewog, es muthig zu tragen.

Nachdem Albert vier Jahre auf der Universität verlebt hatte, sah er die Nothwendigkeit ein, ernstlich darauf zu denken sich endlich einen bleibenden Wohnort zu wählen, als plötzlich Frau Renata erkrankte und durch ihren bald darauf erfolgten Tod ihn bestimmte, diesen Entschluß zu beschleunigen. Albert weinte schmerzlich bittre [296] Thränen am Grabe der treuen Pflegerin seines Sohnes; sie war die Einzige, die noch zuweilen Luisens Namen ihm nannte, und er fühlte sich nun durch ihren Verlust noch mehr verwaiset, als je zuvor. Er ermannte sich indessen wieder, nahm seinen Knaben, der jetzt beinahe fünf Jahre alt, der weiblichen Pflege allenfalls entbehren konnte, und trat mit ihm, von einem einzigen Diener begleitet eine Reise an, um irgendwo in Deutschland einen Ort aufzufinden, in welchem er zwar in tiefer Verborgenheit, doch dem größern Wirkungskreise der Welt nahe genug leben könne, um seinen Sohn die Unbekanntschaft mit ihr zu ersparen, die der einzige Grund seines verfehlten Daseyns und aller seiner frühern Leiden gewesen war.

Beschluß des oben abgebrochenen Briefes von Albert an seinen Bruder Bernhard.

In dieser großen lebensreichen Handelsstadt, in welcher ich nun schon seit zwölf Jahren einheimisch [297] bin, denke ich auch den Rest meiner Tage vollends abzuspinnen, so lange es Gott gefällt.

Wenn aber nun wirklich meine letzte Thräne geweint, mein letzter Seufzer verhallt ist, und ich vom Fiebertraum des Lebens nun endlich unter dem Rasenhügel ausruhe, den ich unfern meiner bescheidenen Wohnung im duftigen Schatten einer uralten Linde mir längst zum letzten Asyl erwählt habe, dann, mein Bruder, mein hochgeliebter Bernhard, dann wird ein Dir unbekannter Jüngling vor Dich hintreten und Du wirst wähnen, Dich selbst durch ein Wunder wieder in neu erblühter Jugend zu sehen. Nimm ihn in Deine Arme, an Dein Herz, denn dieser Jüngling ist mein Sohn, ist Dein Neffe Bernhard Raimund von Leuen. Vergönnt es die ewige Weisheit, welche das unsichtbare Reich dort drüben, wie hier unten das sichtbare allmächtig beherrscht, so umschwebt in jener heiligen Stunde mein entfesselter Geist Euch, theure Beide! und Du fühlst das Wehen seiner, unbegreifliche aber gewisse Seligkeit verkündenden Nähe. Von jenem Augenblicke [298] an lege ich die Bestimmung des künftigen Geschicks meines Raimunds in Deine Hände, des einzigen Wesens, das mein sonst so freudenarmes Daseyn durch einen Hoffnungsstrahl zu erheitern vermochte. Raimund entwickelt schon jetzt mit jedem Tage die treffendste Aehnlichkeit mit Dir, mein Bernhard, und täuscht mich nicht die Liebe des Vaters zum Sohne, die so oft und gern unsern Blick verblendet, so ist es nicht nur die edle schöne Gestalt, die er von Dir ererbte, sondern es glüht auch ein unsterblicher Funken Deines Geistes in seinem Innern und in seiner Brust schlägt ein Herz, dem Deinen gleich. Liebe mich in ihm, wie ich Dich in ihm immer geliebt habe. Ach sein Anblick allein erleichterte mir den herben Schmerz unserer hoffnungslosen Trennung, und wenn er sprach, drang mir in seiner Stimme der milde tröstende Ton der Deinen tief ins Herz, der Stimme, die nie, nie wieder hören zu dürfen mein trauriges Loos auf Erden ist.

Mein Sohn bringt das elfenbeinerne Kästchen Dir wieder zurück, das Du von Maltha aus an [299] mich sandtest. In den nur Dir und mir bekannten geheimen Fächern desselben lege ich diese letzten Bekenntnisse eines schon längst der Welt Abgestorbenen nieder, nebst allem was einst dazu dienen kann, meinem Sohne das Anrecht an den alten edlen Namen zu erhalten, den seine Geburt ihm verlieh. Er selbst kennt sich bis jetzt nur als Raimund Holm, und Dir mein Bruder bleibt es überlassen zu entscheiden: ob er jemals erfahren soll, welch einem ehrwürdigen Stamme er entsprossen ist, oder ob er noch ferner nur auf sich selbst zurückgewiesen, als der Sohn eines unbekannten dunkeln Bürgers, für den er sich hält, die Bahn verfolgen soll, für die ich ihn erzogen habe. Auch auf ihr kann er einst als ein geachtetes, nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft sich Ehre, Ansehn und alles, was man im gewöhnlichen Leben Glück nennt, erwerben; es wird ihm dieses sogar leichter gelingen können, als es dem nicht reichen, jüngsten Sohne eines alten adlichen Hauses gelingen könnte.

Noch ein Bekenntniß bin ich Dir schuldig und[300] warum sollte ich länger anstehen, es Dir freimüthig abzulegen? Ich habe meinen Sohn im Glauben der Kirche erzogen, die seines Vaters Hause jetzt am nächsten steht. Raimund ist Protestant, ich selbst bin es in meinem Herzen schon seit ich die Universität verließ, obgleich ich nie öffentlich zu jener Kirche überging. In meinem jetzigen Wohnorte konnte kein äußeres Bedingniß zu einem solchen Schritte mich zwingen, gegen den ich immer eine Abneigung fühlte, und warum sollte der Mensch das Heiligste was er hat, seinen Glauben, ohne Noth und ohne Beruf den Augen der Welt darlegen wollen? Dich aber, mein Bruder! und Deinen milden vorurtheilsfreien Sinn kenne ich zu gut, um zu fürchten daß Du mir zürnen könntest, weil ich hier von der Bahn unsrer Väter und auch von der Deinen abgewichen bin. Du traust mir gewiß zu, daß nur wahre innere Ueberzeugung mich bestimmen konnte, und Du wirst auch meinen Raimund nicht weniger lieben, weil sein Vater bei dessen Erziehung dieser Ueberzeugung gefolgt ist.

[301] Ob Du aber aus Familienrücksichten es nun nicht gerathner finden wirst, Raimund, den ersten Protestanten in unserem Hause, in der Dunkelheit seines bürgerlichen Namens verharren zu lassen, darüber vermag ich, aus Unbekanntschaft mit den Gründen, die dabei vorwalten könnten, nicht zu entscheiden. Du wirst wie immer das Beste zu wählen wissen und ich überlasse Dich hierin mit der vollkommensten Ruhe Deiner freien Wahl, denn ich weiß, daß Raimunds wahres Glück nicht von der Veränderung seines Namens abhängig ist. Nur Deiner Liebe bedarf er, wenn er nun ohne mich allein in der Welt steht, nur diese entziehe ihm nicht, und möge er immer, wenn Du es so willst, dem süßen Wahn überlassen bleiben, daß er sie nur Deinem Herzen verdanke und nie erfahren, daß in diesem auch die Stimme, des Bluts für ihn spreche.

Indessen könnten aber doch einst Zustände eintreten, die Dich bestimmten Raimund als den, der er seiner Geburt nach ist, in der Welt auftreten zu lassen. Ist dieses jemals der Fall, so [302] beschwöre ich Dich, mein Bruder, bei allem was Dir heilig ist, bei Deiner künftigen Ruhe, bei Deiner Hoffnung auf eine seelige Zukunft: gieb nie zu, nie, unter keiner Bedingung, daß dies geschehe so lange seine Mutter noch lebt. Was würde aus Luisen, was aus Oskar werden, wenn sie von der Verlängerung meines traurigen Daseyns Kunde bekämen! und wie könnte dieses ihnen dann noch verborgen bleiben, wenn Raimund wieder ans Licht träte? Nein, nein, lasse sie bis an ihr Ende in dem Wahne verharren der sie beseeligt, den ich mit meinem Leben ihnen erkaufte. Alles, alles was ich erstrebte, Luisens innrer Friede, das ganze Glück ihres Daseyns wären bei einer solchen Entdeckung auf immer verloren. Raimunds Wiedererstehen böte seiner Mutter keinen Ersatz, er war nie das Kind ihrer Liebe, die sich einzig auf ihren Erstgebornen beschränkte und ihre Thränen um ihn, wie die um mich – sind längst schon getrocknet.

Ich habe vollendet und scheide jetzt von Dir. Bald, mir sagt es ein unbezwingliches Vorgefühl [303] meines nahen Scheidens aus dieser Welt, bald, recht bald werden diese Blätter in Deinen Händen seyn. Laß keine bittre Thräne des Schmerzes sie netzen, halte fest an der tröstenden Gewißheit: daß sobald Dein Auge auf ihnen ruht, Dein armer lange verbannter Albert endlich durch Nacht und Dunkel zu der ewigen lichthellen Heimath den Weg fand, wo er freudig Deiner harret, um Dich nie wieder zu verlieren. Die Liebe aber, die dann in Deiner Brust aufs neue gewiß für ihn erwachen wird, beglücke seinen Sohn; sie ist das herrlichste Erbtheil, das sein Vater ihm hinterlassen konnte. Feire zuweilen mit ihm das Andenken Deines Bruders und freue Dich, daß dieser endlich hinüber gelangt ist, ins Land der ewigen Ruhe.

Albert von Leuen.


Alberts Hoffnung hatte ihn abermals getäuscht, er mußte noch den großen Schmerz erfahren, seinen Bruder Bernhard zu überleben, ohne an [304] dessen Grabe weinen zu können. Alle verjährten Schmerzen seines verarmten Lebens erwachten in ihm von neuem bei dieser Todesnachricht; jeder seiner Tage bildete von nun an ein Glied der langen Kette trüber Erinnerungen, die Muth und Athem raubend, ihn immer fester umschlang bis an sein Grab.

Es ist schwer zu errathen, was er während seiner übrigen Lebenszeit bei dieser traurigen Veränderung der Dinge mit den Papieren beabsichtigte, welche er in den elfenbeinernen Kästchen niedergelegt hatte! Sie zu vernichten verhinderte ihn wahrscheinlich jenes heimliche Grauen, das wohl ein jeder bei ähnlichen, wenn gleich vielleicht minder wichtigen Gelegenheiten schon empfand. Denn das geschriebene Wort steht außer uns und sieht gar fremd und wundersam uns an, als ob Geister die todten Züge bewachten und mit unsichtbarer Gewalt die Hand fesselten, die schon zum Zerstören gehoben ward. Aus einigen, in Alberts Nachlaß vorgefundenen Papieren scheint hervorzugehen, daß er zuweilen Willens war, sich [305] das Kästchen mit ins Grab geben zu lassen, aus andern aber, daß er mit dem Gedanken umging, es an einem sicheren Orte zu deponiren und dabei einen weit entfernten Zeitpunct, den Luise aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erleben konnte, zu bestimmen, in welchem Raimund es zurücknehmen und eröffnen sollte. So viel ist indessen gewiß, daß der Tod ihn übereilte, eh' er hierüber mit sich selbst einig geworden war, und daß der für Raimund so wichtige Inhalt desselben diesem wahrscheinlich auf immer ein Geheimniß geblieben wäre, wenn nicht Anna zufälligerweise ihn entdeckt hätte.

Auch Luise überlebte Bernhard nicht lange, den sie noch immer dankbar verehrte; sie starb wenige Monate später als ihr erster Gemahl, an den Folgen einer heftigen Erkältung. Oskar, der jetzt an Leuenstein keine Ansprüche mehr hatte, verließ diese Gegend, um in weiter Ferne Vergessenheit eines Glücks zu suchen, dessen er sich nie mit vollem Genusse und ganz reinem Bewußtseyn hatte erfreuen können. Denn Alberts bleiche trübe Gestalt [306] stieg oft vor seinem innern Sinne auf, und der Gedanke, durch das unzeitige Bekenntniß seiner Liebe zu Luisen den frühen Untergang dieser edlen, nur zu weichen Natur herbeigeführt zu haben, drang sich ihm bei jedem Anlasse auf und ließ nie ganz von ihm ab.

Leo Bernhard, Alberts ältester Sohn und Meinaus Zögling, blieb also vor der Hand der einzige anerkannte Eigenthümer der weitläuftigen Besitzungen, die unter der Aufsicht seines trefflichen Vormundes und mit Hülfe der beträchtlichen Summen, welche Albert diesem übermacht hatte, wieder in den blühendsten Zustand versetzt worden waren. Meinau hatte während seiner langen Vormundschaft mit mehr als väterlicher Sorgfalt über die Erziehung des ihm anvertrauten Mündels gewacht, doch kein ganz glücklicher wenn gleich auch kein ganz niederschlagender Erfolg lohnte sein edles Bemühen. Leo war im Aeußern wie im Innern ganz das Ebenbild seiner Mutter, er besaß die ihr eigene Liebenswürdigkeit und Grazie, aber auch die ihr eigene Indolenz, die es ihr von jeher [307] unmöglich gemacht hatte, sich ernst und anhaltend zu beschäftigen. Vergebens strebte Meinau diesem Characterzuge seines Mündels entgegen, Leo blieb wie er war, aber er schenkte wenigstens seinem edlen Pflegevater das innigste Vertrauen, und hing an ihm mit wahrhaft kindlicher Liebe.

Niemals, selbst nachdem er schon seit mehreren Jahren mündig geworden war, konnte Leo zu dem Entschlusse kommen, sich vom Baron Meinau unabhängig zu betrachten und die Verwaltung seines Eigenthums selbst zu übernehmen. So oft dieser nur Miene machte, ihm von der Führung seiner langen Vormundschaft Rechnung ablegen zu wollen, stürmte Leo mit den dringendsten Bitten auf ihn ein, mit solch einer Zumuthung ihn zu verschonen, wenigstens bis dahin, wo er von einer großen Reise ins Ausland zurückgekehrt seyn würde, die er nächstens zu unternehmen Willens sey.

Diese Reise aber ward durch die übergroße Zärtlichkeit seiner Mutter von einem Jahre zum andern verschoben, und Meinau fuhr indessen fort, [308] sich der Verwaltung der Güter anzunehmen, obgleich sein zunehmendes Alter ihm dieses Geschäft ziemlich zu erschweren begann.

Eigentlich mochte er wohl selbst gewissermaßen sich davor fürchten, das, was er so mühsam erbaut und eben dieser Mühe wegen lieb gewonnen hatte, unter der Leitung eines gutmüthigen Schwächlings wieder zu Grunde gehen sehen zu müssen.

Indessen schien ein vernichtender Geist über dem Hause der von Leuen zu walten und es dem Untergange zuführen zu wollen, denn auch Leo überlebte nicht lange den Tod seiner Mutter. Der Tag, an dem er seine immer aufgeschobene Reise wirklich antreten wollte, war bestimmt; eine große Jagd, zu der die ganze Nachbarschaft eingeladen wurde, sollte den Vorabend derselben feiern. Hörnergetön und Hundegebell tönten lustig durch den Wald, wie an jenem verhängnißvollen Tage, an welchem Oskar Luisen von der Wuth des wilden Ebers errettet hatte; doch die allgemein herrschende Freude ward auch diesesmal, und [309] auf noch schrecklichere Weise in Trauer und Angst umgewandelt. Ein unglücklicher Fehlschuß von der Hand eines seiner Jugendfreunde gab dem armen Leo augenblicklichen Tod; er fiel lautlos beinahe auf der nämlichen Stelle, wo seine Mutter einst in Todesgefahr geschwebt hatte.

So schien denn nun wirklich der traurige Fall eintreten zu wollen, den Bernhard vorahnend gefürchtet und durch die Vermählung seines Bruders abzuwenden gehofft hatte. Der Stamm der von Leuen war anscheinend ausgestorben und die jetzt im blühendsten Zustande sich befindenden großen Besitzungen desselben standen, in Folge uralter Familienverträge, im Begriff, einem weit entfernten Zweige desselben zuzufallen, der einen ganz andern Namen führte, in einem ganz andern Theile von Deutschland wohnte und mit den ehemaligen Eigenthümern des Schlosses Leuenstein nie in persönlicher Verbindung gestanden hatte. Auch würde die Uebergabe der Güter in kurzem erfolgt seyn, wenn nicht Baron Meinau, dieser treuste Freund seiner Freunde, sich dem kräftig entgegengesetzt hätte.

[310] Alberts Andenken war nie in Meinaus Herzen erloschen; eine leise Ahnung hatte stets ihn davon abgehalten, der Nachricht von dessem Untergange auf dem Meere unbedingten Glauben zu schenken.

Späterhin erreichten ihn dunkle Gerüchte von Leuten, die den Verlorengeglaubten bald hier bald da in fernen Städten begegnet seyn wollten und bestärkten ihn in seinem Zweifel an Alberts Tode. Als Oskar, der Bruder seiner Frau, ihm in einer vertrauten Stunde den Inhalt seiner letzten Unterredung mit Albert entdeckte, als endlich Luisens leidenschaftliche Neigung für den Retter ihres Lebens sich immer deutlicher offenbarte, da gerieth Meinau, bei seiner genauen Kenntniß von Alberts Character, sogar auf Vermuthungen, die ihn das mehr als heldenmüthige Benehmen desselben und dessen Beweggründe, beinahe ganz der Wahrheit gemäß errathen ließen. Er versuchte daher in öffentlichen Blättern, dem einzigen Wege dazu der ihm offen stand, den allzu Großmüthigen durch dringendes Bitten zur Heimkehr zu bewegen. Alles [311] blieb indessen vergebens, Albert schien durchaus bei seinem einmal gefaßten Entschlusse verharren zu wollen, und Meinau hielt sich zuletzt in seinem Gewissen für verpflichtet, ihn nicht weiter auf seinem Wege zu stören. Er schwieg also ebenfalls und setzte sich Oskars und Luisens Vermählung nicht entgegen, weil er überzeugt war, dadurch am sichersten in dem hohen Sinn seines edlen Freundes einzugehen, den er bewundernd verehren mußte.

Jetzt aber waren die nun alle dahin, welche Albert durch sein Verschwinden zu beglücken gedacht hatte. Außer dem weit entfernten Oskar lebte niemand mehr, dessen Ruhe durch das Wiedererscheinen des Verschwundenen hätte gestört werden können, und keine Rücksichten waren noch vorhanden, welche den Baron Meinau abhalten konnten alles anzuwenden, um das von ihm redlich verwaltete Eigenthum seines Freundes so lange vor fremden Händen zu bewahren, als er selbst nicht von dem Tode des rechtmäßigen Eigners überzeugt wäre. Die Zeitung, welche den Schiffbruch [312] gemeldet, hatte nur höchst unbestimmte Nachricht von diesem gegeben, nicht einmal den Namen des Schiffes genannt; und obgleich Albert seit langen Jahren für todt geachtet wurde, so ließ sich wenigstens die Möglichkeit nicht abstreiten, daß sein damals unmündiger Sohn beim Schiffbruch gerettet und noch am Leben sey. Meinau entschloß sich daher, gleich nach dem Tode seines unglücklichen Mündels zu einer Reise in die Residenz, um dort der höchsten Behörde seine Zweifel an dem völligen Erlöschen dieses Hauses vorzulegen.

Meinau war persönlich in jener Stadt sehr geachtet, es fehlte ihm nicht an bedeutenden Verbindungen und auch das Haus der von Leuen stand dort von jeher im hohen Ansehen. Selbst der Fürst hatte nicht ohne Schmerz von dessen Erlöschen gehört. Meinau erhielt also ohne große Schwierigkeiten den Aufschub der Uebergabe der Güter den er verlangte, bis er von dem Leben oder Sterben Alberts und seines Sohnes genügendere Beweise einziehen könne. Zugleich wurde[313] ihm von hoher Hand die einstweilige Verwaltung der von Leuenschen Besitzungen abermals übertragen, weil man bei seiner allgemein anerkannten Redlichkeit und Einsicht überzeugt war, daß sich niemand besser dazu eigne.

Alberts Name erschien jetzt abermals, vereint mit dem seines Sohnes, in allen öffentlichen Blättern, selbst in denen des Auslandes. Raimund las unzähligemal die Nachricht von denen im Schlosse Leuenstein so schnell auf einander gefolgten Todesfällen, ohne zu ahnen, daß hier von seiner Mutter und seinem Bruder die Rede sey. Noch weniger kam ein Gedanke daran in seine Seele, daß er selbst der Bernhard Raimund von Leuen seyn könne, der so dringend aufgefordert wurde, von seinem Leben und Aufenthalte Nachricht zu ertheilen.

Auf Meinaus Veranlassung wurden indessen auch in Triest, wo Alberts Schiff ausgelaufen, und an der Küste, wo es gescheitert seyn sollte, die genaueste Nachfrage angestellt. Die weite Entfernung der Oertlichkeiten, die vielen Jahre, [314] die verstrichen waren, seit jenes Unglück sich ereignet haben sollte, erschwerten jeden Schritt und es verging eine lange Zeit, ohne daß man nur irgend eine Auskunft erhalten konnte. Eben so wurde auch den Personen vergeblich nachgeforscht, die bald nach Alberts Verschwinden ihm im Auslande begegnet seyn wollten. Nirgends war eine Spur von dem zu finden, was man suchte, aber man stieß auch auf keinen neuen Beweis für Alberts und Raimunds Untergang. Undurchdringliches Dunkel ruhte über Beider Geschick.

Durch ein sonderbares Zusammentreffen der Umstände war aber auch der nächste Agnat der von Leuen verschollen und wurde ebenfalls allgemein für verstorben gehalten, ohne daß seine Erben gültige Beweise seines Ablebens beibringen konnten. Er war während des Befreiungskrieges nach einem Gefechte vermißt worden, aber niemand hatte ihn fallen sehen, niemand ihn auf der Wahlstatt unter den Todten gefunden. Auch nach diesem wurde daher in allen Zeitungen Nachfrage gehalten und auf das dringendste um Nachricht [315] von seinem Tode oder Leben gebeten, doch seine Erben waren in ihren Nachforschungen um nichts glücklicher als Baron Meinau in den seinigen. So gingen ein paar Jahre hin, während denen in dieser wichtigen und verwickelten Sache nichts entschieden wurde. Baron Meinau freute sich dieses Aufschubs und benutzte ihn nach besten Kräften; doch als fortwährend keine Aussicht für die Erfüllung seiner Wünsche sich zeigen wollte, so begann freilich seine Hoffnung allgemach sehr zu sinken und Ahnungen stiegen in seinem Gemüthe auf, die ihn muthles zu machen drohten.

Wie freudig mußte ihn daher ein Kurier überraschen, der aus dem Stifte von Anna von Falkenhayn an ihn abgesandt, ihm von ihr die Nachricht überbrachte, daß Bernhard Raimund von Leuen aufgefunden und noch am Leben sey; daß er zwar für den Augenblick sich in einem fremden Welttheile befinde, jedoch hoffentlich bald wieder nach Europa zurückkehren werde. Rasch wie ein Jüngling, trotz seiner siebenzig Jahre und seiner Silberlocken, warf sich Baron Meinau augenblicklich [316] in den Reisewagen, um zu ihr, die ihm eine so frohe Botschaft sandte, hinzueilen und sich von den nähern Umständen ihrer Entdeckung unterrichten zu lassen. Zwar hatte er Anna noch nie gesehen, aber aus seines entschlafenen Freundes Bernhards Briefen kannte er sie genugsam, um sie innig zu verehren und von ihrer Theilnahme an dem Hause von Leuen fest überzeugt zu seyn. Auch Anna ehrte und liebte in ihm den treuen Freund ihres Verklärten, sie wußte daß dieser ihm bis an seinen Tod stets das unbedingteste Vertrauen geschenkt hatte, und sah ihn und seine nähere Bekanntschaft deshalb mit verdoppelter Freude entgegen.

So wie Meinau in Annas Wohnorte angelangt war, eilte diese ihm den Inhalt des elfenbeinernen Kästchens vorzulegen und zu seiner größten Freude fand er darin Beweise für Raimunds Ansprüche, welche ihm unwiderleglich scheinen mußten. Sogar das Taufzeugniß desselben fehlte nicht, denn Albert hatte in der Nacht, da er von Leuenstein sich auf immer entfernte, dieses zufälliger [317] Weise unter den Documenten mitgenommen, die er damals zu seiner Legitimation als Erbe des Kardinals brauchte. Der Baron und Anna brachten miteinander einige Tage in Berathschlagungen zu über die Schritte, welche sie während Raimunds Abwesenheit zur Vertheidigung seiner Rechte gemeinschaftlich thun wollten. Auch die Beweise für seine Geburt wurden dabei nochmals ernstlich erwogen und genau untersucht. Meinau konnte nicht umhin, den seltnen Geist, den geübten Scharfblick zu bewundern, welchen Anna bei dieser Gelegenheit an den Tag legte. Die Leichtigkeit, mit welcher sie bei einem Geschäfte, das so weit außer dem gewohnten Bereich der Frauen lag, das Verworrenste zu durchschauen vermochte, setzte ihn oft in Erstaunen, doch noch weit inniger fühlte er sich bewegt, wenn der Gedanke an Bernhard sie lebhafter ergriff und sie für den Augenblick weit weg von dem Gegenstande, der Beide beschäftigte, in das dämmernde Reich der Erinnerung zurückführte. Dann feierte er mit ihr in mancher schönen ernsten Stunde das Andenken [318] des hochgeliebten Freundes, dessen Bild auch er noch immer im treuen Herzen bewahrte. Beide tauschten gegen einander manchen schönen Zug aus seinem Leben aus, und das Gespräch schien nimmer enden zu wollen, bis sie verstummend, vom Gefühle inniger Wehmuth überwältigt, von einander scheiden mußten und Anna sich in ihr einsames Kabinet zurückzog, um ungesehen zu weinen.

Meinau rüstete sich endlich zur Abreise in die Residenz, wohin Anna ihm auf einige Tage zu folgen versprach; denn für den Augenblick hielten ihre eignen Verpflichtungen sie ab, sich wieder auf lange Zeit von ihrem Stifte zu entfernen. Sie war bereit, sobald dieses nöthig würde, als Zeuge für Raimund aufzutreten und die wichtigen Verbindungen, in denen sie selbst mit dem regierenden Fürstenhause stand, konnten allerdings, wenigstens zur Beschleunigung beitragen.

Uebrigens war sie um ihre Lieben im Kleebornschen Hause unbesorgt. Angelikas Briefe zeugten von ungewohnter Heiterkeit, und Vicktorine, das [319] wußte sie, bedurfte seit der Entfernung des Sir Charles für den Augenblick ihrer Gegenwart nicht, obgleich diese über der Tante lange Abwesenheit die bittersten Klagen führte und sie auf das dringendste beschwor, bald wieder zu ihr zurückzukehren. Die Tante kannte die heftige Natur dieses ihres Lieblings zu gut, um nicht den Entschluß zu fassen, die Entdeckung von Raimunds wahrem Stande und Namen Vicktorinen bis zur völligen Entscheidung seiner Angelegenheiten zu verschweigen. Und dieses war ein Grund mehr, um fürs erste deren Nähe zu meiden; denn sie fühlte wohl, daß es ihr sehr schwer fallen würde, den unablässigen Fragen und Bitten des geliebten Kindes zu widerstehen.


»Fast möchte ich auf meine alte Tage anfangen, recht modern abergläubig zu werden,« rief Meinau der Tante entgegen, als er in ihr Zimmer trat, um sich vor seiner Abreise in die Residenz bei ihr zu beurlauben. »Ich kann es mir [320] beinahe nicht aus dem Sinne bringen, daß es der Schutzgeist des von Leuenschen Hauses gewesen sey, der mich inspirirte die Rechte eines Unsichtbargewordenen zu verfechten, welcher, nach dem Urtheil fast aller vernünftigen Leute, nur in meiner Einbildung noch existiren konnte. Auch war es gewiß nur dieser schützende Genius, der Ihnen zugleich so ganz zur rechten Zeit das elfenbeinerne Kästchen in die Hände spielte. Ihre wichtige Entdeckung hätte nur um einige Wochen sich verspäten dürfen und ich befände mich jetzt in nicht geringer Verlegenheit. Denn wunderbarer Weise ist auch Raimunds nächster, lange vermißter Agnat in diesen Tagen wieder von den Todten erstanden. So eben erhielt ich die Nachricht davon, die zum Glück uns jetzt ziemlich gleichgültig seyn kann. Ich hoffe, er soll keinen Prozeß gegen uns anstellen wollen, und thut er es ja – nun so ist das jetzt desto schlimmer für ihn.«

»Wir leben doch in einer wunderlichen Zeit,« erwiederte Anna. »Ich habe schon oft daran gedacht, daß es den Romanschreibern in unsern Tagen [321] gar nicht schwer fallen kann, die seltsamsten Verwickelungen zu ersinnen, ohne Furcht der Wahrscheinlichkeit damit zu nahe zu treten. Denn Verlorengehen und Wiederkommen, für Tod gehalten werden und Wiederauferstehen sind vollkommen an der Tagesordnung in der jetzigen Welt.«

»Freilich,« antwortete Meinau, »freilich ist die Zeit vorbei, in der man von Tausenden nur mit Gellert sagen durfte: er lebte, nahm ein Weib und starb, um ihren ganzen Lebenslauf beschrieben zu haben. Auch der Unbedeutendste hat in den letzten Jahren etwas erlebt das des Erzählens werth ist. Man muß leider nur zu viel davon hören und lesen.«

»Setzen Sie hinzu,« sprach Anna, »daß auch die Meisten mehr Städte und Länder gesehen haben, als ihre Großeltern nur recht zu benennen wußten. Wer selbst nie auf Reisen ging, hatte wenigstens zwischen seinen vier Pfählen überflüssige Gelegenheit, die Bewohner der entferntesten Länder kennen zu lernen. Die Welt kommt mir darüber als recht enge geworden vor, [322] denn Rom, Moskau, London, Paris, Petersburg scheinen uns beinahe dicht vor der Thüre zu liegen und wir haben uns gewöhnt, die Bewohner dieser Städte fast wie Gevattersleute und Nachbarskinder anzusehen.«

»Jetzt wäre es die rechte Zeit für den Kosmopolitismus, der in unsrer Jugend so Mode war wie vor kurzem die deutschen Röcke,« erwiederte Meinau, »aber von der großen Weltansicht mag niemand mehr etwas wissen, auch sie ist aus der Mode gekommen. Jeder will sich nur auf das Nächste, nur auf seine Landsmannschaft beschränken! Doch lassen wir die Welt zusehen, wie sie mit sich selbst fertig wird und erlauben Sie mir für jetzt, Ihnen ganz in der Kürze die Abentheuer des zuletzt Wiedererstandenen mitzutheilen, von denen dessen Oheim mir Nachricht giebt. Sie sind an sich seltsam genug, und können wohl einiges Interesse für den armen Klarenau erwecken, gegen dem wir alle beide doch einen kleinen Widerwillen fühlen, welchen er wahrscheinlich nicht verdient.«

[323] Die Tante willigte freundlich ein, indem sie bemerkte, daß sie sich allerdings ein wenig geneigt fühle, es dem jungen Manne übel zu nehmen, daß er sich beikommen lasse noch am Leben zu seyn, und Meinau fing seine Erzählung an:

»Daß Klarenau,« sprach er, »sich den Lützowschen Jägern zugesellte, um gegen den allgemeinen Feind zu Felde zu ziehen, ist Ihnen vielleicht bekannt. Gewiß aber haben Sie es eben so wenig wie ich selbst vergessen, auf welche unwürdige und empörende Weise diese tapfern Verfechter des Vaterlands von dessen Feinden für Räuberbanden erklärt, und mitten im Waffenstillstande überfallen, ja sogar größten Theils vernichtet wurden. Klarenau wollte gleich beim ersten Allarm des Ueberfalls sich auf sein Pferd schwingen, der Sattel war in der Eile nicht recht befestigt worden, das sehr muthige Thier bäumte sich, er fiel, brach ein Bein, blieb in dem allgemeinen Tumult unbemerkt liegen und gerieth völlig wehrlos in die Gefangenschaft der Feinde, ohne an der Seite [324] seiner tapfern Kampfgenossen sich einen ehrenvollen Tod oder Befreiung erfechten zu können.«

»Mehrere Monate hindurch wurde er als Kriegsgefangener von einem Lazarethe ins andere geschleppt, ohne daß sein Leben dem unbeschreiblichen Elende erlegen wäre, das er dulden mußte. Er war zu noch größerem aufgespart. Sein Fuß heilte bei der schlechtesten Behandlung halb durch ein Wunder und er nebst mehreren seiner Unglücksgefährten wurden zuletzt nach Frankreich in die Gefangenschaft abgeführt. Von den Mißhandlungen, der Noth, dem gräßlichen Hohn, kurz von allem, was diese Beklagenswerthen auf dem langen Wege durch ein feindliches Land ertragen mußten, schweige ich, um Sie nicht zu wehmüthig zu stimmen, meine Geschichte wird ohnedem noch traurig genug. Die mehrsten Gefangenen starben unterwegs, wo sie in Gefängnisse, in Zuchthäusern eingeschlossen wurden, so lange sie nicht wandern mußten; nur einige wenige, und Klarenau unter diesen, langten an ihrem fürchterlichen Bestimmungsort, dem Arsenal von Toulon an, in [325] welchem viele tausende von Galeerensclaven jeden Tag die Sonne anklagen, daß sie über solche Gräuel aufgehen mag.«

»In diesen Aufenthaltsort für schwere Verbrecher wurden damals mehrere deutsche Gefangene gesendet, denn man nannte sie Räuber, Brigands, eben weil sie ihr Vaterland von Räubern zu befreien aufgestanden waren.«

»Solch unermeßlich hartes Loos traf auch Klarenau. Gehüllt in elende Lumpen, den kahlgeschornen Kopf mit der rothen platten Mütze bedeckt, die den Galeerensclaven bezeichnet, wurde hier der unglückliche Jüngling von seinen Landsleuten sogleich getrennt.«

»Alle Galeerensclaven werden gewöhnlich zu zweien und zweien vermittelst einer langen Kette aneinander geschmiedet, und auch er erhielt einen abscheuerregenden Missethäter auf diese Weise zum Gefährten, von dem er jetzt Tag und Nacht unzertrennlich blieb. Trocknes hartes Brod, Wasser, höchstens eine elende Wassersuppe, ist die einzige Nahrung jener Unglücklichen, sie war auch [326] die seine und bei dieser mußte er Arbeiten verrichten, wie man sie kaum einem Lastthiere aufbürden sollte. Jedem seiner schrecklichen Tage folgte eine noch weit furchtbarere Nacht in dem untern Raume einer der Galeeren, denen alle diese Gefangene jeden Abend zugetrieben werden. In diesem düstern Aufenthalt, den die Hölle kaum an Gräßlichkeit übertreffen kann, mußte Klarenau, um nächtlich zu ruhen, mit seinem entsetzlichen Gefährten eine hölzerne enge Bank theilen, zusammengeschichtet mit mehreren Hunderten von Elenden, die hinabgesunken zu dumpfer Thierheit oder schaamloser Frechheit – – – hochwürdige Frau, es sind beinahe vierzig Jahre daß ich in meiner Jugend als neugieriger Reisender auch in diesen Abgrund aller Greuel einen Blick geworfen habe, und noch steht das Bild davon unauslöschlich in meiner Seele. Ihre Phantasie mag ich nicht damit beflecken, genug ich bin überzeugt, daß die wegen der Behandlung ihrer Christensclaven so übel berüchtigten Raubnester an der afrikanischen Küste, nichts entsetzlicheres aufzuweisen haben können.«

[327] »Klarenau sank eines Tages unter einer schweren Last, die ihm aufgebürdet worden war, ohnmächtig zusammen, denn seine Kräfte waren völlig erschöpft. Er wurde für krank erklärt und in eines der für die Galeerensclaven bestimmten Lazarethe abgeführt, einen dumpfen, düstern, grabähnlichen Kerker. Monate lang schmachtete er hier zwischen Leben und Sterben. Paris wurde indessen erobert, Deutschlands Befreiung war erfochten, die Kriegsgefangenen wurden losgegeben, er erfuhr nichts von alle dem und war vergessen. Die wenigen seiner Leidensgefährten, die in ihrem tiefen Elende diesen großen Tag erlebten, gedachten bei ihrer Befreiung seiner nicht mehr, oder zählten auch ihn zu den Todten, den sie seit ihrem ersten Eintritt in diesen Schreckensort nicht wieder sahen.«

»Abermals genas Klarenau, unerachtet alles Mangels und Elends, in seinem traurigen Verpflegungsorte. Er wurde wieder an das Tageslicht gelassen, und mußte jetzt denen im Arsenal arbeitenden Handwerkern zur Hand gehen, da man [328] ihn für schwere Arbeiten untauglich fand. Doch blieb er immer noch in Ketten und allnächtlich erwartete ihn noch immer die schreckliche Ruhestätte in der Galeere. Wer er sey, warum er hierher geführt worden, hatten seine durch den täglichen Anblick des höchsten menschlichen Jammers bis zur vollkommensten Gleichgültigkeit verhärteten Aufseher längst vergessen oder es nie erfahren. Keine Seele wandte theilnehmend sich ihm zu, und so blieb alles Große und Herrliche ihm verborgen, was während seines Aufenthalts im Lazareth die halbe Welt in einen Taumel von freudigem Entzücken versetzt hatte. Hoffnungslos schleppte er noch lange Zeit sein trauriges Daseyn und seine Ketten von einem Tage zum andern, ehe auch ihm die Stunde der Befreiung schlug.«

»Doch endlich kam sie heran. Einer der angesehensten Beamten, der über die großen hydraulischen Arbeiten im Arsenal die Aufsicht führte, begegnete ihm eines Tages zufälliger Weise. Die Gestalt des Unglücklichen fiel ihm auf, er redete ihn an und erfuhr mit wahrem Entsetzen, wer er [329] sey und wie schuldlos er leide. Der menschenfreundliche Mann eilte sogleich in die Stadt, um die Entdeckung anzuzeigen, daß noch ein Kriegsgefangener, vergessen, auf der Galeere schmachte, und er brachte es wirklich dahin, daß Klarenau schon am folgenden Tage die Jahrelang entbehrte Freiheit wieder erhielt. Sein gütiger Befreier versah ihn nicht nur mit der nöthigen Kleidung, sondern auch mit einer kleinen Summe Geldes, die Klarenau zu ersetzen versprach, sobald er die Heimath wieder erreicht habe. Schnell, als glühe der Weg ihm unter den Sohlen, floh er nun durch Toulon durch, hinaus ins Freie, um nur die Thürme dieser ihm entsetzlichen Stadt nicht länger sehen zu müssen, zu denen er aus seinem tiefen Elende so oft hoffnungslos hinaufgeblickt hatte. Denn ehe er sie aus dem Gesichte verlor, konnte er nicht mit voller Seele an seine wiedererlangte Freiheit glauben.«

»Seine Kräfte, die dem fürchterlichsten Unglücke widerstanden hatten, erlagen dem freudigen Gefühle, mit dem er sich endlich am Ufer [330] des Meeres, frei wie ein Vogel in der Luft, wiederfand. Mitleidige Fischer nahmen den bis zum umsinken Ermatteten in ihre kleine, von Olivenbäume umschattete Hütte auf, die unerachtet des darin vorherrschenden südlichen Schmutzes ihm ein Paradies zu seyn dünkte. Er sah sich genöthigt, mehrere Monate bei diesen guten Leuten zu verweilen, ehe er sich genugsam erholt hatte, um die weite Reise in das nun befreite Vaterland antreten zu können. In dieser Zeit schrieb er mehrere Briefe an seine Verwandte in Deutschland. Die Fischer nahmen sie mit, wenn sie ihre Fische nach Toulon zum Markte trugen, und versprachen sie dort auf die Post zu geben; denn ihn selbst hielt ein unüberwindlicher Abscheu davon zurück, sich dem Schauplatze seines unvergeßlichen Elendes wieder zu nähern, das sich noch immer, so wie er die Augen schloß, in den allergräßlichsten Traumbildern ihm erneuerte. Wahrscheinlich aber müssen seine Hausleute mit dem Bestellen der Briefe nicht recht umzugehen gewußt [331] haben, denn kein einziger hat je den Ort seiner Bestimmung erreicht.«

»Klarenaus abgeschorne Locken waren indessen wieder gewachsen, seine Gesundheit erstarkte bei der gesünderen Kost und in der alles belebenden Seeluft, die mit erquickenden Düften beladen ihn umwehte. Müde des Wartens, da noch immer keine Antwort auf seine Briefe kam, ergriff er endlich den Wanderstab und machte sich zu Fuß auf den Weg, ohne zu wissen wie er, selbst bei dieser wohlfeilen Art zu reisen, mit den wenigen Franken auskommen werde, die er von dem durch seinen großmüthigen Befreier ihm vorgestreckten Gelde noch übrig behalten hatte. Er verließ sich dabei auf das Glück, das seit kurzem sich ihm wieder zuwenden zu wollen schien. Es war ihm auch günstig, wenn gleich es ihm zuerst diese Gunst ein wenig unsanft bewies.«

»Der Wanderer war noch nicht weit von Toulon auf dem Wege nach Marseille fortgeschritten, als er sich plötzlich in einer als unsicher berüchtigten Gegend von Räubern umringt sah; ein Schlag [332] auf den Kopf streckte ihn bewußtlos hin, rein ausgeplündert blieb er regungslos liegen, während die Räuber, die ihn für getödtet halten mußten, mit seiner wenigen Habe entflohen. Wahrscheinlich wäre er nie wieder zum Leben erwacht, wenn nicht ein junger deutscher Kaufmann, der zufällig des Weges reisete – – –«

»Ihn mitleidig aufgenommen hätte,« fiel hier Anna ein, die so lange mit immer steigender Aufmerksamkeit zugehört hatte. »Dieser Samariter,« fuhr sie fort, ohne durch Meinaus Erstaunen sich stöhren zu lassen, »dieser mitleidige Samariter ließ den Verwundeten fürs erste nach dem nahen Dörfchen Oliulles und dann nach Toulon ins Maltheserkreuz tragen, wo er selbst abgestiegen war. Dort pflegte er seiner mit großer Sorgfalt, bis er selbst nach einigen Tagen wieder abreisen mußte; bei seiner Abreise übergab er ihn einem sehr angesehenen wackern in Toulon etablirten deutschen Kaufmann, Namens Weiler, in dessen Familie der Arme ebenfalls mit Herzlichkeit aufgenommen und mit der größten Aufmerksamkeit verpflegt wurde, [333] bis er völlig genesen, ausgerüstet mit Geld und Empfehlungen – – –«

»Hochwürdige Frau!« unterbrach Meinau sie jetzt, der sich in seiner Verwunderung nicht länger mäßigen konnte.

»Raimund war es!« rief Anna, helle Freudenthränen im Auge und ohne ihm weiter zum Worte kommen zu lassen. »Raimund Holm, Raimund Bernhard von Leuen!« Sie eilte jetzt, dessen Brief herbeizuholen, und dem Baron die auf dieses Ereigniß Bezug habende Stelle daraus mitzutheilen.

»Nun wahrhaftig, das kommt immer besser!« rief Meinau jetzt fröhlich aus, als Anna zu lesen aufgehört hatte. »So wäre denn der Roman völlig fertig, nur etwas Liebe muß noch hinein, die findet sich. Der gehörige Edelmuth wird auch am Ende nicht ausbleiben, denn hoffentlich wird doch Klarenau nicht mit dem Erretter seines Lebens einen Proceß anfangen wollen, um diesen um sein rechtmäßig ererbtes Eigenthum zu bringen; [334] und so wären wir ja mit einemmale aller Furcht vor Streit und Aerger entledigt.«


Der Aufenthalt in Kleeborns sehr schönem Landhause, das er während der Sommerzeit mit den Seinen gewöhnlich zu bewohnen pflegte, gewährte den beiden Freundinnen Angelika und Vicktorine wenigstens ein ruhigeres Daseyn, als das Leben in der Stadt ihnen bieten konnte. An jedem schönen Abende wandelten sie Arm in Arm auf der hohen Terrasse vor dem Hause auf und nieder, bis die sinkende Nacht die weite Aussicht über Strom und Land und Meer mit ihrem dunkeln Schleier verhüllte.

Sehnsuchtsvoll blickte Vicktorine dem majestätischen Laufe der mächtigen Schiffe nach, wenn sie auf dem prächtigen breiten Strome, der dicht am Garten vorüberfloß, mit geschwellten, von Abendschein gerötheten Seegeln dem lange ersehnten Hafen zueilten. Dann wandte sie seufzend das umdüsterte Auge der dämmernden Ferne zu, wo [335] der Strom dem Meere sich vereint, bis es' in Thränen überfloß und Himmel und Erde und Meer in eins ihr verschwammen.

Angelika betrachtete vor allem gerne den tiefblauen Himmel, wenn an ihm ein Stern nach dem andern auftauchte. Auch ihrer müden Brust entrang sich dann manch leiser Seufzer, und ein trübes Lächeln schwebte um die bleiche Wange und den lieblichen festgeschlossenen Mund, der keiner Klage sich mehr öffnete. Beide Freundinnen suchten die Heimath ihrer Liebe auf, die eine dort oben, im glänzenden geheimnißvollen Reiche, von Tausenden im ewigen Sphärentanz einander umkreisenden fernen Sonnen; die andere zwar noch auf der grünenden blühenden Erde, aber weit, weit weg, jenseits der immer bewegten Wogen, die, wie der nächtliche Himmel, dem Sterblichen ein Bild der Unendlichkeit sind.

Agathe umflatterte zuweilen die Beiden, so wie ein leichter luftiger Schmetterling fröhlich die rothe und die weiße Rose umtanzt, welche die Kunst des Gärtners einem einzigen Stocke entblühen [336] lies. Aber sie wußte doch dabei die zu schonen, welche nicht so glücklich waren als sie selbst, und hüthete sich sorgsam davor, sie durch unzeitig angebrachten Scherz zu verletzen. Ihr Lieblingsplätzchen im Garten war eine kleine Anhöhe, von der sie den Weg übersehen konnte, welchen Horst gewöhnlich kam, wenn er sie besuchen wollte. Mehr als zehnmal des Tages erstieg sie diese, sogar wenn sie wußte daß er heute unmöglich kommen könne, und war er nun da, so schalt sie ihn tapfer aus, denn er fing gewöhnlich an, die Tage und Wochen zu berechnen, die bis zu dem im Herbst angesetzten Hochzeitstage noch vergehen mußten. Die Kleine pflegte bei solchen Gelegenheiten sich gewaltig zu ereifern, was ihr indessen nach ihres Bräutigams Urtheil recht allerliebst stand, der daher auch nie unterließ, sie zum Zorne zu reizen.

»Ich habe es Dir schon tausendmal gesagt,« sprach sie einst, »daß das eine ganz alberne und unnütze Rechnung ist. Wie kann ich denn heurathen ohne die Tante und wer kann vorher wissen, [337] wenn die kommen wird. Daß sie mir den Kranz aufsetzt und keine andere, das steht nun einmal fest; doch wo sie jetzt stecken mag, wissen die Götter. Sie schreibt ja nur alle Jubeljahre einmal. Kommen aber wird sie und zur rechten Zeit auch, darauf verlasse Dich, denn sie hat es mir versprochen. Wir können schon warten bis sie Zeit dazu hat, denke ich; ein Paar Wochen oder Monate sind ja keine Ewigkeit.«

Während dieses Streites hatte Vicktorine ein Zeitungsblatt ergriffen das zufällig dalag, und studirte es sehr emsig und zwar nach ächter Mädchenart nur die letzte Seite desselben, denn um politische Angelegenheiten bekümmerte sie sich nach geschlossenem Frieden nur wenig. Doch seit Raimunds Entfernung interessirten sie die Schiffsnachrichten ungemein, die gewöhnlich am Ende der Zeitungen neben den übrigen Bekanntmachungen ihren Platz finden.

»Meine gute liebe Agathe,« sprach Vicktorine jetzt, indem sie das Blatt niederlegte und die kleine Braut recht herzlich umarmte, »liebes, liebes [338] Kind, glaube mir, wir sind beide vergessen. Ich weiß jetzt, daß wichtigere Dinge, Ereignisse, die ihr weit näher am Herzen liegen, die Tante so beschäftigen, daß wir die Hoffnung aufgeben müssen, sie sobald wiederzusehen. Flechte Dir selbst Deinen Kranz und drücke ihn Dir schnell in die Locken, ehe der Sturm ihn Dir entführt. Baue in Zukunft auf niemand als auf Gott und auf Dich selbst.«

»Und das alles steht da in der Zeitung!« rief Agathe voller Erstaunen.

»Und obendrein in einer uralten, sieh' nur selbst, vom siebenzehnten April,« setzte Horst lächelnd hinzu, der indessen das Blatt aufgenommen hatte. Er fing nun an, es leise zu durchlaufen. »Schiffe angekommen – ausgelaufen – wir bitten um stille Theilnahme –« murmelte er lesend. »Unsre gestern gefeierte Verbindung – ja wer erst so weit wäre! – einem gesunden Mädchen beschenkt – Hm! da finde ich doch auf Ehre nichts. Doch halt, da ganz unten steht noch etwas mit lateinischen Lettern, [339] das wird es seyn.« Mit lauter Stimme las er nun eine jener an Albert und Raimund von Leuen gerichteten Aufforderungen, Nachricht von ihrem Leben und Aufenthalt zu geben, welche Baron Meinau in allen Zeitungen hatte einrücken lassen. Der Inhalt derselben schien ihm aufzufallen, denn er las sie noch ein paar mal vor sich mit großer Aufmerksamkeit durch, ehe er das Blatt wieder hinlegte.

»Ich verstehe Sie noch immer nicht, liebe Vicktorine,« sprach er endlich. »Daß es mehr Leute in der Welt giebt, die Raimund getauft sind, ist längst bekannt, das Einzige auffallende dabei ist nur, daß auch der Vorname des Vaters zutrifft. Vor ein paar Tagen habe ich diesen auf dem Denkmal gelesen, das sein Sohn ihm auf seinem Grabe hat errichten lassen, und dessen schöne einfache Form mir im Vorübergehen auffiel. Die Leute sagen: der alte Holm sey ein sonderbarer, sehr ernsthafter Mann gewesen, der etwas eignes, geheimnißvolles in seinem Wesen gehabt habe. Aber mein Gott, Kusinchen, wie bleich Sie werden! habe ich Ihre eignen Gedanken nicht getroffen,[340] so ist ja alles was ich sagte nur ein wunderlicher Einfall, auf den Sie gewissermaßen mich selbst gebracht haben.«

Vicktorine antwortete wenig, das Gespräch nahm eine andere Wendung, Horst entfernte sich bald darauf, um nach Hause zu reiten, und Agathe begleitete ihn, um ihn zu Pferde steigen zu sehen.

»Angelika,« rief Vicktorine, sobald sie mit dieser allein war, »liebe Angelika, welchen Sturm hat dieser Scherz in mir aufgeregt. Mehr als Scherz konnte Horst mit dem, was er sagte, nicht meynen; da er die Geschichte der Tante nicht kennt, so fielen ihm nur die Vornamen derer, welche gesucht werden, und nicht der Name von Leuen auf. Und doch hat er, ohne es zu beabsichtigen, mich in ein Meer von Zweifeln gestürzt. Ahnungen erstehen in mir, denen meine Vernunft sich vergebens widersetzt. Dieses Blatt ist vom siebenzehnten April. Am nämlichen Tage erhielt die Tante Raimunds Brief, am nämlichen Tage kündigte sie uns ihre schon auf den nächsten Morgen bestimmte Abreise an. War es dieses Blatt, [341] in welchem die Verwandte Ihres Bernhard gesucht werden, oder war es der Brief, was sie zu jenem schnellen Entschlusse bewog? oder errieth Horst, ohne es zu ahnen, die Wahrheit, und Brief und Blatt wirkten vereint zum nämlichen Zwecke? Ist Raimund der, den man sucht, – und tausend früher nicht beachtete Umstände drängen sich mir jetzt entgegen, um mich in dieser Ahnung zu bestärken, – ist er ein Edelmann, so wird mein Vater bei seinen uns bekannten Grundsätzen um so weniger in unsre Verbindung einwilligen wollen, und ist er es nicht, und kehrt er glücklich zu mir zurück, wer wird uns dann in Schutz nehmen, wenn Anna es nicht thut? wer bei meinem Vater uns so vertreten, wie sie allein es kann? Sie bleibt uns fern, Anna wird den Bruder, den Neffen ihres Bernhards wiederfinden, die ihrem Herzen weit näher stehen als wir. Wir sind vergessen!«

»Armes, liebes, unruhiges Herz, wie sinnreich bist Du, zu Deiner eigenen Quaal!« unterbrach sie Angelika. »Anna vergißt Dich nicht, das [342] glaube fest. Wie konnte nur je in Deinem eignen treuen Gemüth ein so frevelhafter Gedanke aufkommen?«

Jeder Trost, den Angelika aufbringen konnte, ging indessen an Vicktorinen verloren, denn zufolge ihrer ungeduldigen Natur konnte diese eher alles andere ertragen als Ungewißheit. Die Tante war ihr von jeher der sichtbare Schutzgeist ihrer Liebe gewesen, von ihrer Gegenwart unterstützt, war Vicktorine fähig zu hoffen; doch nun war nicht nur sie, sondern zugleich mit ihr jede Spur von Raimunds jetzigem Leben ihr verschwunden, und sie fand eine Art grausamer Freude darin, sich ihrem Kummer und jeder Besorglichkeit ohne Schonung gegen sich selbst hinzugeben. Auch die gegenwärtige Stimmung ihres Vaters trug in dieser Zeit nicht wenig dazu bei, sie in Angst und Unruhe zu versetzen. Dieser war freilich weit milder und freundlicher gegen sie geworden, als er es bald nach der Auflösung ihres Verhältnisses zu Sir Charles gewesen war; die Liebe zu seinem einzigen Kinde schien nicht nur in dem Gemüthe [343] des Alten wieder erwacht, sondern sie äußerte sich zuweilen ganz eigen, auf eine Weise, die bei seiner gewohnten Heftigkeit um so rührender erschien, je mehr sie gegen die rauhe Behandlung abstach, die Vicktorine früher von ihm zu erdulden gehabt hatte. Eben diese Veränderung in seinem Wesen, deren Grund sie vergebens zu errathen suchte, erweckte aber in Vicktorinens, dem Vater kindlich ergebenem Gemüthe Besorgnisse, die nicht ganz ungegründet zu seyn schienen.

Kleeborn war viel bleicher und dabei viel stiller als sonst, auch oft in Gedanken versunken und dabei recht von Herzen betrübt. Der alte Müller kehrte noch immer nicht von Amsterdam zurück und Vicktorine glaubte zu bemerken, daß ihres Vaters trübe Stimmung mit der verlängerten Abwesenheit desselben in Zusammenhang stünde; doch aus leicht zu errathenden Gründen vermied sie es, hierüber eine Frage zu wagen.


[344] Die drückendste Schwüle hatte einen ganzen langen Sommertag hindurch auf der Natur gelastet, schwere Ungewitter stiegen im Laufe desselben aus allen Himmelsgegenden auf und standen, oft kämpfend, einander gegenüber. Die hohen Linden vor dem Hause beugten sich krachend vor des Sturmes Gewalt, vom schwarzumzogenen Himmel stürzten Wolkenbrüchen ähnliche Regenströme herab, gelbe Blitze umspielten die hohen Wipfel der uralten Bäume, und die Erde schien in ihren Vesten vor der lauten Stimme des Donners zu erzittern. Dann ward es wieder Friede in der Natur, die kämpfenden Elemente schienen versöhnt bis neue Wolkengebürge sich aufthürmten, neue Donner diese zerrissen und der eben beendete Kampf sich noch furchtbarer von neuem entflammte.

Doch die Strahlen der dem Untergange sich nahenden Sonne zertheilten endlich den Wolkenschleier, der sie fast den ganzen Tag über verhüllt hatte. Zurückgerollt zu beiden Seiten, bildete er ein hochgewölbtes, in den glühendsten [345] Farben prangendes Flammenthor, in dessen Mitte die Siegerin sich langsam dem Horizonte zuneigte. Jede einzelne Woge des breiten majestätisch hinrollenden Stromes prangte in goldigem Purpur, Myriaden zerstreuter Edelsteine blitzten auf der grünen Erde, jedes Blatt, jede Blume, jeder Grashalm glänzte in mehr als königlicher Pracht, berauschende Düfte entströmten den blühenden Orangenbäumen auf der Terrasse, den Levkoyenbeeten, den dunkeln Nachtviolen, und drüben im Osten strahlten drei Regenbogen dicht neben einander, in so hoher seltner Farbenpracht, daß man nicht unterscheiden konnte, welcher der Abglanz des andern sey. Es war als wollten sie mit jenem westlichen, immer glühender sich wölbenden Thore wetteifern, unter welchem die Sonne immer tiefer sich senkte.

»O welch ein Abend!« sprach tiefaufathmend Angelika, indem sie, auf Vicktorinens Arm gelehnt, unter die hohen Säulen vor dem Hause hinaustrat. »Laß mich hier Luft schöpfen, ich habe den Tag über ihrer so wenig gehabt, die Brust war [346] mir so enge. Laß mich jetzt in langen Zügen die balsamisch erquickende Kühle trinken.«

Sorgsam führte Vicktorine die aetherisch verklärte Gestalt einem bequemen Sitze unter den Säulen zu und nahm schweigend ihr zur Seite Platz. In Andacht und stiller Bewunderung versunken, blickten beide eine Weile hinaus in die wundervolle Pracht, welche sie umgab.

»Siehst Du im Osten den Bogen des Friedens? der ewigen Hoffnung?« sprach endlich Angelika, »und täuscht mein Auge mich vielleicht – es thut es jetzt zuweilen – oder sind es wirklich ihrer drei?«

»Es sind ihrer drei,« erwiederte Vicktorine, die jetzt mit immer steigender Besorgniß den ungewöhnlich strahlenden Glanz der Augen ihrer Freundin gewahr wurde, welche den ganzen Tag über von der schwülen Luft sehr bedrückt gewesen war.

»Es sind wirklich ihrer drei,« wiederholte Anlika. »Wunderbar! nie zuvor habe ich diese [347] seltne Pracht gesehen. Und dort die Sonne! Liebe Vicktorine, welch ein Bild meines kurzen Lebens war dieser Tag. Immer mußte ich daran denken. Zuerst der trübe beklemmende Morgen. Dann die kurzen Sonnenblicke, der Regen, das Ungewitter, und nun die köstliche himmlische Ruhe dieses glanzerfüllten Abends! Sieh', Liebe, ist es nicht als wolle dort im Westen der Himmel sich öffnen, und uns einen Blick in das Reich seiner Herrlichkeit gewähren? und die untergehende Sonne, will sie uns nicht nach Osten hinweisen, wo sie noch immer wieder aufgehen wird, wenn sie mir schon lange nicht mehr leuchtet? Nach dem Osten, den sie jetzt, indem sie von uns Abschied nimmt, so überherrlich mit dem tröstlichen Bilde schmückt, das Gott einst der vor seinem Zorne zagenden Erde gab, und dem Menschen dabei zu hoffen gebot. Und nun kommt bald die milde ernste Nacht mit ihren Sternen am Himmel heraufgezogen. Dann schlummern wir in Frieden – und träumen auch wohl.«

»Sprich nicht so viel, meine Angelika,« bat [348] Vicktorine, »komm, Liebe, komm ins Haus, Du bist matt und erschöpft.«

»O nein! o nein!« rief Angelika mit ungewohnter Lebhaftigkeit. »Mir ist wohl, unbeschreiblich wohl, mir ist wie noch nie in meinem Leben. Sey nicht besorgt um mich,« setzte sie schmeichelnd hinzu, indem sie Vicktorinens Aengstlichkeit bemerkte. »Meynst Du, ich sehe nicht was jetzt Dein liebes Herz beklemmt? Aber lass' Dir nicht bangen, wenn nun jetzt wohl bald auch mein Abend kommt; bangt es mir doch auch nicht, und möge er nur diesem Abende so gleichen, wie mein Leben diesem Tage glich. Ich habe noch nie mit Dir davon gesprochen, doch heute geht mir in Wonne das Herz auf. Bringe der geliebten Anna meinen letzten Gruß und meine gute Nacht, wenn es so weit seyn wird. Sage ihr, daß ich mich nicht gefürchtet habe allein einzuschlafen, sage ihr, daß ich beim Entschlummern mich nicht nach ihr gesehnt habe, denn ich kenne keine Sehnsucht mehr auf Erden. Aber ich freue mich, daß ihre Abwesenheit den einzigen Schmerz [349] mildern wird, den ich mir bewußt bin, ihr jemals gegeben zu haben. Sage ihr auch noch, daß ich sie dort jubelnd empfangen werde, denn wahrscheinlich ist sie die erste unter meinen Lieben, die mir nachfolgen wird.«

»Angelika, Du zerreißest mir das Herz,« rief Vicktorine, und sank vor ihr hin, und verbarg das von Thränen überströmte Gesicht in ihrem Schooße.

»Liebes, liebes Herz, was bewegt Dich denn so?« sprach Angelika und strebte liebkosend, Vicktorinen zum Wiederaufstehen zu bewegen »Was fürchtest Du denn heut? Ich sage Dir ja und gewiß es ist so, mir ist in diesem Augenblick so unaussprechlich wohl, wie noch nie in meinem Leben. Ich fühle wie von Engelsflügeln mich gehoben, als wäre die Last des Lebens schon von mir genommen, als brauche ich gar nicht mehr zu athmen, so leicht ist es mir in der Brust, die mir den ganzen Tag über so enge war. Kannst Du denn wirklich mir nicht wünschen, daß mir immer so seyn möge? kannst Du, Du Herz voll [350] Liebe, Dich freuen, wenn ich noch lange jeden Athemzug mit stechendem Schmerz erringen muß, kannst Du es mir mißgönnen daß ich nun bald dort, dort – – –«

Angelika verstummte und sah süß lächelnd mit träumerischen Blick in die goldene Abendpracht hinaus; Vicktorine weinte still und von ihr unbemerkt, ihr zur Seite.

»Es ist seltsam,« fing Angelika nach einer kleinen Pause wieder an, »oder ist Dir vielleicht auch so? Mir ist als müste ich etwas hier erwarten – jemanden – als stände etwas Großes, Erfreuliches, mir ganz nahe bevor, als – Horch!« rief sie, plötzlich von ihrem Sitze sich erhebend, »horch! hörst Du nicht? Hörst Du die Stimme?«

»Ich höre nichts,« erwiederte Vicktorine, »aber Du machst mir unaussprechlich bange; komm liebe Angelika, komm hinein, die Abendluft muß Dir schaden.«

»Wunderliches Kind,« rief Angelika ein wenig [351] heftig, »ich sage Dir ja, mir ist wohl. Aber den Wagen hörst Du doch?«

»Nein – doch ja –« antwortete Vicktorine, »es ist als käme ein Wagen ganz von ferne den Hügel herab. Aber Du weist, von hieraus können wir die Landstraße nicht sehen, so nahe sie auch am Garten vorbeigeht. Jetzt höre ich das Fahren deutlicher, komm ins Haus, im vorderen Salon, da können wir – –«

»O nein, o nein,« rief Angelika sie festhaltend. »Wieder! – die Stimme! o mein Gott! Hörst Du die Stimme denn nicht? ganz nahe. Die Stimme, die ich nie wieder zu hören meynte. Ganz deutlich – hörst Du? hörst Du?«

»Es ist mein Vater,« erwiederte Vicktorine. »Jetzt höre ich es recht gut, der Wagen fährt in den Hof. Was kann so spät noch ihn aus der Stadt herführen? und heut' am Posttage, da pflegt er nie zu kommen.«

»Hörst Du die Tritte nicht? näher und immer näher – und wieder die Stimme!« flüsterte athemlos und zitternd Angelika. »Stille, stille, – [352] die Tritte – die Stimme – sein Gang, seine Stimme!«

»Es ist der Vater,« sprach Vicktorine.

»Ich bringe Euch einen Fremden, der nach der Tante fragt,« sagte Kleeborn, indem er aus dem Hause hervortrat. »Es schien ihm viel daran gelegen, ihren Aufenthalt auf der Stelle zu erfahren, er hat sie in ihrem Stifte aufgesucht und nicht gefunden. Du, Vicktorine, als ihre fleißige Correspondentin, kannst ihm die beste Auskunft geben. Der Abend machte sich schön, die Post hatte nicht viel gebracht, da entschloß ich mich kurz, und fuhr noch mit ihm hinaus.«

Während Kleeborn so sprach, trat eine schlanke blasse Gestalt hinter den Säulen hervor. Des Fremden erster Blick fiel auf Angelika. Weit vorgebogen erröthend, erbleichend, im schnellsten Wechsel, mit starr auf ihm gehefteten Auge, hielt diese sich zitternd an der Bank fest, von der sie eben aufgestanden war.

Alle Stufen die vom Hause hinabführten mit Blitzesschnelle überspringend, stand der Fremde im [353] nächsten Momente dicht vor ihr. Ohne Laut, ohne sich zu regen, betrachteten beide einander, all' ihr Leben war in diesem Blick! »Angelika!« rief der Fremde, und, fest umschlungen, sanken beide, eins in den Arm des andern auf die Knie. Angelika schien ohnmächtig zu werden. Der Fremde hielt sie in seinen Armen, als wolle er nimmer und nimmer sie lassen.

»O tragt sie hinein!« rief Vicktorine mit gerungenen Händen in tödlicher Angst. »Sie stirbt! sie stirbt! o tragt sie ins Haus.«

Kleeborn trat jetzt hinzu und nahm die leichte Last in seine starken Arme. Der Fremde erhob sich mit ihr, aber er ließ sie nicht los. Der sehr bewegte Alte trug sie mit der größten Sorgfalt ins Haus und legte sie auf einen Sofa. Sie lag da wie ein schlafender Engel, keine Spur von Schmerz in den schönen Zügen. Ferdinand von Klarenau, er war der Fremde, kniete neben ihr, wechselnd im Ausdruck furchtbarer Angst und entzückender Freude hielt er sprachlos den Blick auf sie geheftet.

[354] »Sie regt sich, sie schlägt die Augen auf!« rief Vicktorine.

Der letzte Strahl der sinkenden Sonne umfloß in diesem Augenblicke Ferdinanden und verklärte ihn wunderbar. Angelika betrachtete ihn mit festem ernsten Blick. »Todesengel,« flüsterte sie, »schöner ernster Bote, kommst Du mich abzurufen in dieser geliebten Gestalt?«

»Angelika, Du lebst! ich lebe! wir haben uns wieder und können glücklich noch seyn,« rief Ferdinand und drückte sie an seine ungestüm wogende Brust.

»Ferdinand!« rief Angelika fast überlaut. »Mein, mein Ferdinand, ja Du bist es, ja Du lebst. Sie richtete sich auf, sie legte das schöne todtenbleiche Gesicht auf seine Schulter, sie umschlang seinen Nacken, fest, fest, mit beiden Armen. Du lebst Ferdinand, Du lebst! Die Wonne – o nein sie tödtet uns nicht – nein, nein, niemand stirbt vor Freude – nein man stirbt vor Freude nicht – Ferdinand!« hauchte sie zuletzt fast unhörbar. Ihr Haupt sank tiefer, ihre Arme hielten ihn noch immer.

[355] »Sie wird wieder ohnmächtig,« rief Vicktorine, und legte mit Hülfe ihres Vaters sie in die Sofakissen zurück. Vicktorine versuchte alle Mittel, die ihr zu Gebote standen, um Angelika ins Leben zu rufen; Kleeborn eilte hinaus, um den Wagen nach einem Arzte auszuschicken.

»Erwache, Angelika, erwache!« rief Ferdinand mit furchtbarem Tone in Todesangst.

Angelika erwachte nie wieder.


Der unglückliche Klarenau war, so wie er Deutschlands Gränze erreichte, zu Angelikas Oheim, dem Baron Sternwald hingeeilt, bei dem er die Geliebte noch zu finden hoffte. Die schlecht verhehlte Verlegenheit, mit der er dort empfangen ward, schien ihm gleich auf nichts Gutes zu deuten; sie entsprang indessen doch nur aus dem beschämenden Gefühle der Nachlässigkeit, mit der man sich seit langer Zeit um das Geschick einer so nahen Verwandten gar nicht weiter bekümmert hatte. Es währte lange, ehe man unter einem [356] Haufen alter Papiere die Adresse der Pröbstin von Falkenhayn auffinden konnte, bei der, wie man versicherte, Angelika sich in diesem Augenblick nur zum Besuche aufhielt. Klarenaus liebevolle Ungeduld ließ ihm nicht Zeit, das unwürdige Benehmen von Angelikas Verwandten weiter zu ahnden, er eilte unaufhaltsam den Wohnort der jetzigen Beschützerin seiner Geliebten aufzusuchen, doch leider fand er Anna nicht daheim, sie war gerade in dieser Zeit in der Residenz, um Raimunds Angelegenheiten zu fördern.

Der einzige Bediente, den Klarenau in ihrer Wohnung zu Gesicht bekam, wußte ihm den Ort nicht mit Bestimmtheit zu nennen, wohin sie gereist sey. Er meinte sie würde wohl nach ** zu ihrem Schwager, dem reichen Herrn Kleeborn gegangen seyn, denn sein Kamerad, der lange mit ihr dort gewesen sey, habe ihm gesagt, daß sie versprochen habe, im Sommer zur Hochzeit einer ihrer Nichten wiederzukommen. Von Angelika wußte der Bediente gar nichts zu sagen, er war erst seit kurzen in Annas Dienst, und hatte jene weder [357] gesehen noch von ihr gehört. Die Ungeduld, welche Klarenau immer vorwärts zu eilen trieb, ward heftiger; böse Ahnungen kamen hinzu, und so hielt er sich nicht damit auf, an einem Orte, mit dessen Einrichtungen er völlig unbekannt war, nähere Nachrichten einziehen zu wollen. Er schrieb sich Kleeborns Namen auf und reiste Tag und Nacht bis er ** erreichte.

Der fernere traurige Erfolg seiner Nachforschungen ist dem Leser bekannt. Nach Angelika hatte er Herrn Kleeborn gar nicht gefragt, denn die Möglichkeit, sie hier zu finden, fiel ihm nicht ein, und Kleeborn war schon zu gewohnt, sie als ein Mitglied seiner Familie zu betrachten, als daß es ihm hätte in den Sinn kommen können, ihrer besonders zu erwähnen.

In unentweihter Schönheit, lächelnd wie ein schlummerndes Kind, mit dem die Engel spielen, lag Angelika von Rosen umgeben, in ihrem Sarge. Tag und Nacht blieb Ferdinand ihr zur Seite, so lange die holde Gestalt noch die Erde schmückte. Er folgte ihr in stummer Trauer, als sie endlich [358] nach einem ihrer Lieblingsplätze, in einen abgelegenen Theil des Gartens, getragen ward. Unter jungem Rosengebüsch und uralten Cypressen hatte ihr Kleeborn hier, auf Vicktorinens inständiges Bitten, die letzte Ruhestätte bereiten lassen. Ferdinand blieb die Nacht hindurch allein an ihrem Hügel. Am folgenden Tage bezog er ein kleines Haus, dicht neben demselben, das sonst wegen seiner herrlichen Aussicht zuweilen zu ländlichen Festen gedient hatte, und das Kleeborn ihm willig einräumte. Dort wohnte Klarenau von nun an in ungestörter Einsamkeit, er fühlte seine in den unerhörten Stürmen seines Lebens erschöpften Kräfte mit jedem Morgen tiefer sinken, und freute sich der ihm immer näher tretenden Hoffnung, bald neben der Geliebten auszuruhen. Sein Schmerz gewann dadurch jenen stillen rührenden Ausdruck, der, weit entfernt von Bitterkeit und Hadern mit Gott und der Welt, auf ein fromm ergebenes Gemüth deutet. Er floh die Gesellschaft, doch nicht die Menschen; oft saß er Stundenlang mit Vicktorinen an Angelikas Hügel und [359] ließ sich von dem schönen Zusammenleben der beiden Freundinnen erzählen, oder er sprach zu Vicktorinen von Raimund und seiner Errettung durch diesen, und von dem sehnlichen Wunsche, ihn noch einmal im Leben zu sehen, dessen Gestalt nur wie ein dunkles Traumbild aus seinen Fieberphantasien ihm vorschwebte. Den wackern Horst und dessen fröhliche Braut sah er ebenfalls gern und freute sich des frisch erblühenden Lebens dieser Beiden; sogar der alte Kleeborn war ihm lieb geworden, denn dieser fühlte das tiefste Mitleid für den Armen und trat immer so leise an ihn heran, als befände er sich in einer Kirche.

So ward er allen ein lieber milder Gefährte, und jeder ehrte seinen Schmerz, weil er auf so edle Weise ihn zu tragen wußte und niemanden durch denselben lästig fiel. Sie besuchten ihn gern an seinem stillen Hügel, zwischen dessen dunklen Cypressen sich unter seiner Leitung ein großes einfaches Kreuz von weißem Marmor erhob. Nur Babet ging ihm aus dem Wege, aber sie ließ es dennoch an schönen rührenden Redensarten [360] nicht fehlen, wenn sie so glücklich war, durch Erzählung seiner traurigen Geschichte die Aufmerksamkeit der Gesellschaft sich zuwenden zu können.

Horst hatte den schweren Auftrag erhalten, der Tante den Verlust ihrer Angelika zu melden, denn Vicktorine vermochte es in den ersten Tagen nicht die Feder zu führen. Er suchte auf die schonendste Weise ihr die traurige Nachricht zu verkünden, aber Annas Herz blutete dennoch bei dieser Botschaft aus tausend Wunden.

Mein süßes Kind! meine holde weiße Rose! ach warum mußte ich fern von Dir seyn, als Du das schöne Haupt zum ewigen Schlummer neigtest, schrieb Anna in ihrer Antwort an den Rittmeister. Jetzt erst verstehe ich, was mich immer so vorahnend ergriff, wenn ich den Namen Klarenau nennen hörte. Immer mußte ich denn aufzufinden suchen, wo ich früher ihn gehört, was mir ihn merkwürdig gemacht haben könne, und doch kam ich nie darüber zum klaren Bewußtseyn. Ganze Nächte hindurch hat dieser Name mich [361] verfolgt, jetzt weiß ich, daß Baron von Sternwald ihn mir einmal genannt hat, als er Angelikas hartes Geschick mir vertraute. Sie selbst nannte den Geliebten nie so, sie sprach immer nur von Ferdinand, und war von seinem Untergange so fest überzeugt, daß auch in mir kein Zweifel daran aufkommen konnte. Hätte man mir in dieser Zeit, da ich wegen einer Angelegenheit, in die auch ich verwickelt bin, ihn oft nennen hörte, nur ein einzigesmal als Ferdinand von Klarenau ihn bezeichnet, und dabei die lange Reihe seiner übrigen Vornamen weggelassen, die mich irre machten, ich glaube, daß mein Gedächtniß wieder erwacht wäre. Dann hätte ich die arme Angelika auf das Glück vorbereiten können, das ihr so nahe bevorstand, und die überraschende Freude hätte das weiche, nur an Leiden gewohnte Herz nicht gebrochen. Angelika lebte noch – ach wahrscheinlich doch nur, um einige Wochen oder Monate später die Welt mit bangem Widerstreben, im harten Kampfe zu verlassen, die Ferdinands Liebe ihr erst zum Paradiese umgewandelt hätte!

[362] O meine Angelika! im höchsten Lichtpunkt Deines sonst immer trüben Lebens, dem kein zweiter in solcher Herrlichkeit folgen kann, schlang Dein reiner Geist sich hinauf, Dein Herz brach in Wonne! Wer möchte nicht sterben wie Du?

Nach dem, was Sie, lieber Horst, von des armen Klarenau jetzigem Zustande mir schreiben, und dem, was ich sonst noch von seinem frühern Geschicke erfuhr, darf er hoffen, nicht lange mehr über den Hügel zu trauern, unter dem das Leben seines Lebens ruht. Seine Leiden während der fürchterlichen Gefangenschaft, in der er Jahre lang schmachtete, mußten seine Lebenskraft ohne Rettung untergraben.

Ach, ich weine um meine Angelika und dennoch fiel ihr auch in dieser Hinsicht ein glückliches Loos.

Du weiche sanfte Seele, wie hättest Du es tragen wollen, den Geliebten zweimal zu überleben.


[363] Der Winter kam heran, doch weder Bitten noch Vorstellungen vermochten es, den armen Klarenau zu bewegen, sich von seinem Cypressenhügel und der kleinen Wohnung in der Nähe desselben zu trennen; seine Freunde mußten sich entschließen, ihn einsam zurückzulassen, als sie ihr Haus in der Stadt wieder bezogen.

Agathens Hochzeit war durch den Tod der von allen betrauerten Angelika verschoben worden, selbst Horst hatte sich mit guter Art darin ergeben, denn die ihm eigne Gutmüthigkeit erlaubte ihm nicht, in der Nähe eines so Unglücklichen, wie Klarenau, ein fröhliches Fest zu begehen. Jetzt aber wurde, zu Anfange des Winters, der feierliche Tag von Herrn Kleeborn unwiderruflich bestimmt, so viel auch Agathe dagegen einwenden mochte, die durchaus erst die Ankunft der Tante abwarten wollte.

Selbst am Hochzeitsmorgen war indessen Agathe noch fest überzeugt, daß Anna sich zur rechten Zeit einstellen werde; »denn,« sagte sie, »sie hat es einmal versprochen und den Tag weiß sie [364] auch. Glaubt mir nur, sie kommt gewiß und daher könnt ihr es mit dem Anziehen noch immer anstehen lassen, ihr versteht es doch alle nicht wie sie, und wenn die Tante mich heute nicht anziehen soll, so braucht meinetwegen gar nichts daraus zu werden, heute.«

Jedoch die Zeit verging, die Stunde der Trauung rückte immer näher, das um Agathen versammelte Heer der Jugendfreundinnen, das nicht minder zahlreiche der Kammerjungfern wurde immer dringender in seinen Ermahnungen. Schon griff Babet mit sauersüßer Miene zu den Myrthen, um den Kranz daraus zu flechten und Agathe wurde recht ängstlich und betrübt, weil niemand mehr auf sie hören wollte. Da erscholl mit einemmal ein lautes Freudengeschrei von allen Lippen, alles schwirrte im fröhlichsten Aufruhr durcheinander, denn die Tante stand plötzlich mitten unter ihnen. Sprachlos für Freude und Schmerz lag Vicktorine in ihren Armen, Agathe lachte und weinte in einem Athem und erdrückte die geliebte Frau beinahe mit ihren Liebkosungen.

[365] Anna war mild und freundlich wie immer, sie begrüßte alle mit gewohnter Anmuth, doch ihr sonst helles Auge war von Wehmuth getrübt, sie wollte Angelika nicht erwähnen, um die junge Braut nicht zur Traurigkeit zu stimmen, aber es wurde ihr sehr schwer zu verbergen, wie schmerzlich sie in diesem frohen jugendlichen Kreise ihren stillen Liebling vermisse.

»Wer hatte nun Recht?« jubelte Agathe, als die Tante wirklich anfing, das ihr übertragene Amt zu verwalten; »aber da wollte niemand mir Glauben schenken, nicht einmal Vicktorine. Niemand hier kennt Sie so gut als ich, liebe Tante, denn Sie sehen es selbst, niemand baut so fest auf Sie als Ihre Agathe. Könnte ich Ihnen nur sagen wie lieb ich Sie habe, aber wo die Zeit dazu hernehmen? Erst anziehen, dann getraut werden, dann Ball bis zum hellen lichten Morgen. Ich mache mir heute nicht viel aus dem Tanzen, aber der Onkel und Mamsell Virnot lassen sich das nun einmal nicht nehmen. Und hernach entführt mich der Schwarze auf der Stelle [366] nach B**. Wie werde ich das alles nur überstehen? Getraut werden ist doch gar zu erschrecklich,« schluchzte sie zuletzt, und die hellen Thränen rollten ihr dabei aus den unschuldigen Kinderaugen.

Anna sprach ihr Muth ein und band ihr dabei ihr Hochzeitsgeschenk, eine Schnur der schönsten Perlen, um den runden weißen Hals. Agathe war gleich wieder das fröhliche Kind, welches seiner Freude kein Ende wußte, weil die Tante ihr etwas mitgebracht hatte. »Die Perlen sind köstlich, aber meinetwegen könnten es römische Glasperlen seyn, sie wären mir nicht minder lieb,« rief sie einmal über das andere.

»Und ich Arme? was bringen Sie mir?« flüsterte leise schmeichelnd Vicktorine.

»Hoffnung und auch sonst noch Manches,« antwortete Anna ziemlich ernsthaft. »Du hast aber an mir und meiner Liebe gezweifelt, Vicktorine, darfst Du es läugnen?« Vicktorine küßte erröthend mit zitternder Lippe ihre Hand. »Darum mußt Du warten bis morgen, heut ist Agathe [367] die Königin des Tages,« setzte Anna freundlicher hinzu.

Das Fest verging, wie solche Feste es pflegen, unter Weinen und Lachen. Der Ball, von dem Kleeborn sich wirklich nicht hatte abbringen lassen wollen, währte, bis mit grauendem Morgen der Wagen vorfuhr, der das junge Paar nach Horsts jetzigem Wohnorte bringen sollte. Anna, nebst einem großen Theil der übrigen Gesellschaft begleitete die in Thränen schwimmende Agathe und den hocherfreuten Bräutigam bis an denselben.

»Ich bin recht froh darüber,« sprach Anna zu Kleeborn, nachdem der Wagen fort war, »daß die jungen Leute den vernünftigen Entschluß gefaßt haben, sogleich in ihre Häuslichkeit einzuziehen, statt nach der neuesten Mode, sobald sie getraut waren, auf Reisen zu gehen. Die Freude am Wirthshausleben und die Sucht dem Glück auf der Poststraße nachjagen zu wollen, gewinnt jetzt unter allen Ständen nur zu sehr die Ueberhand; wenn das so fortgeht, so glaube ich, daß nach funfzig Jahren niemand mehr einer eigenen[368] Wohnung bedürfen wird, alles wird immer von Ort zu Ort ziehen, wie die wandernden Tartaren.«

»Ach, es geht doch nichts über das Reisen,« rief ein junges Mädchen, welches diese Bemerkung mit anhörte und die Thürme seiner Vaterstadt noch nie aus dem Gesichte verloren hatte.

»Nichts als die Freude sich wieder zu Hause zu finden,« erwiederte Anna, »aber um dieses zu fühlen muß man freilich erst gereist seyn.«


Kleeborn benutzte die erste ruhige Stunde des folgenden Tages zu einer ernsten vertrauten Unterredung mit der Tante, deren unerwartete Ankunft auch ihm sehr willkommen war.

»Ich habe Sie immer als eine ungemein kluge verständige Dame verehrt,« hob er an, »jetzt aber muß ich mehr wie jemals Ihre tiefe Einsicht bewundern. Was wäre jetzt aus Vicktorinen geworden, wenn nicht nach Ihrem Rath die Verlobung meiner Tochter mit dem nichtswürdigen Sir [369] Charles sich so verzögert hätte! Ich habe von unserem Müller die traurigsten Nachrichten aus Amsterdam erhalten; mein alter würdiger Freund Wißmann ist nicht mehr, er ist vor Kummer gestorben.« Dem Alten gingen bei diesen Worten die Augen über, er nahm sich aber zusammen, um der Tante den Inhalt von Müllers Berichten mitzutheilen.

»Von jeher hatte Sir Charles seinen kaufmännischen Geschäften mit der größten Nachlässigkeit vorgestanden und sie fremden Händen meistens übertragen. Da aber sein Etablissement in London als ein Nebenzweig des sehr geachteten Hauses seines Vaters in Amsterdam galt, so war das eine Zeit lang so hingegangen, ohne ihm in der öffentlichen Meynung sonderlich zu schaden. Während der letzten Jahre, die er auf dem festen Lande zubrachte, hatte indessen sein Hang zur Verschwendung eine an Wahnsinn gränzende Höhe erreicht, er trieb mehr als fürstlichen Aufwand, und forderte zu diesem immer beträchtlichere Summen. Niemand konnte besser berechnen wohin dieses am [370] Ende führen müsse, als sein erster Handlungsdiener, und dieser, um die gehoffte Erndte nicht zu verlieren, benutzte den ersten günstigen Augenblick, und machte mit allem Gelde, dessen er habhaft werden konnte, bei Zeiten sich aus dem Staube, indem er zugleich alles übrige dem Zufall überließ. Die nächste Folge davon war, daß Sir Charles Zahlungen plötzlich eingestellt werden mußten und sein Vater, der diese Nachricht ganz unvorbereitet erhielt, sank darüber, von einem Schlagfluß getroffen, auf das Sterbebette hin.«

»Müller fand ihn schon sprachlos und ohne Bewußtseyn, das er auch bis an seinen Tod nicht wieder erhielt.«

»Es war dem unglücklichen Alten zwar nicht verborgen geblieben, daß sein Sohn ziemlich wild in die Welt hineinlebe und viel Geld brauche, aber er hatte keine Ahnung davon gehabt, daß dieses so weit gehen könne, um dessen völligen Untergang und vielleicht auch den seines Vaters herbeizuführen. Sein plötzlicher Tod, die enge Verbindung, in der er mit dem Hause seines [371] Sohnes stand, führte in seinen eigenen Angelegenheiten eine Verwirrung herbei, deren vernichtende Folgen nur durch schleuniges Hinzutreten seiner Freunde abgewendet werden konnten, namentlich des alten Müller, der sich hier sogleich für Herrn Kleeborn thätig bewies. Sir Charles ließ während der Zeit nichts von sich sehen und hören, er schien von der Erde wie weggehaucht, aber es ging ein Gerücht, daß er während des Sommers in Spaa und Aachen, unter einem andern Namen, als Spieler von Handwerk aufgetreten sey.«

»Ach, liebes Fräulein Schwester,« setzte Kleeborn dieser Erzählung hinzu, »ich bleibe zwar bei alle dem wohlbehalten, aber ich werde doch, von schweren Sorgen gedrückt, in mein Grab gehen. Auf meinem wohlerworbenen Gute muß nach dem Glauben unsrer Vorfahren der Seegen ruhen, denn kein unrecht gewonnener Thaler ist dabei, aber wem soll man heut zu Tage noch vertrauen? Wem werde ich mein Kind und die Frucht meiner vieljährigen Arbeit einst hinterlassen? [372] Wer soll den Namen ehrenvoll fortführen, den ich mit Gottes Hülfe und redlichem Fleiße mir in der Handelswelt erworben habe, und auf den ich eben so viel halte, als ein Edelmann mit sechzehn Ahnen nur auf den seinen halten kann?«

Die Tante wollte ihm einigen Trost geben, aber er war nicht in der Stimmung, darauf zu hören.

»Seit ich alles dieses erlebte,« fuhr er fort, »habe ich schon zuweilen daran gedacht, noch bei meinen Lebzeiten alles aufzugeben, mir Güter zu kaufen und auf dem Lande meine Tage zu beschließen. Aber ich weiß, daß die Ruhe mich tödten würde. Mein Leben ist Arbeit und Arbeit ist mein Leben, Arbeit die ich verstehe und liebe. Und soll ich denn selbst einreißen was ich selbst erbaute? soll ich mein eigner Leichenstein werden? Es ist unmöglich, ich kann es nicht. Wäre Vicktorine ein Sohn, ich hätte ihn anders erzogen, als der gute aber schwache Wißmann seinen Taugenichts, und mir wäre geholfen; doch auch so ist und bleibt sie meine einzige Hoffnung auf Erden.«

[373] »Sie wird diese Hoffnung erfüllen, zweifeln Sie nicht daran,« erwiederte Anna. »Nur darf der Mensch dem Glücke die Gestalt nie vorschreiben wollen, in der es ihm erscheinen soll, sonst ruft er leicht sein Unglück herbei. Indessen habe auch ich etwas wichtiges Ihnen mitzutheilen, wozu ich mir Gehör von Ihnen erbitte. Doch zürnen Sie nicht, daß ich gleich anfangs einen Ihnen verhaßten Namen nennen muß, der junge Holm – – –«

»Weder er, noch sein Name sind mir verhaßt,« fiel Kleeborn ein. »Der junge Holm hat sich in der kurzen Zeit zu einem außerordentlich geschickten und ehrenwerthen Kaufmann ausgebildet. Er ist vor einigen Tagen in Amsterdam eingetroffen, schreibt Müller mir, er tritt dort recht verständig für die Herren Fischer ein, die mit dem Wißmannschen Hause fast eben so tief verwickelt sind als ich selbst, und seiner Leitung verdanken wir es größtentheils, daß der Name meines alten Freundes nicht noch im Grabe mit Schande bedeckt wird. Wie es aber zugehet, [374] daß er eher als sein Schiff nach Europa zurückgekehrt ist, weiß ich nicht.«

Anna gerieth bei der Nachricht, daß Raimund schon in Amsterdam wäre, in nicht geringes Erstaunen, doch sie barg dieses so gut sie konnte, und herzlich froh über die gute Meynung welche Kleeborn eben geäußert hatte, war sie im Begriffe das angefangene Gespräch fortzusetzen.

»Verzeihen Sie, Fräulein Schwester, daß ich Ihnen abermals in die Rede falle,« unterbrach Kleeborn sie von neuem. »Aber ich glaube zu sehen wo Sie hinaus wollen, und da muß ich Ihnen zuvorkommen. Der junge Holm kann nie mein Schwiegersohn werden, das mußte ich Ihnen sagen, ehe Sie weiter gehen. Ich gestehe es ein, daß er ein junger Mann ist, dessen außerordentliche Geschicklichkeit in seinem Fache den Mangel an hinreichendem Vermögen allenfalls aufwiegen könnte, aber er ist der Associé der Herren Fischer, sobald er zu Hause wieder anlangt. Mein Schwiegersohn muß meine Geschäfte und meinen Namen nach meinem Tode fortführen. [375] Mit Wißmann war es so, der wäre mit der Zeit hier an meine Stelle getreten, für dessen Londonner Etablissement war schon ein Andrer bestimmt, ich und das Haus in Amsterdam – ach es war ein schöner großer Plan, ich darf gar nicht daran denken. Nun es ist vorbei! – Daß ich aber einer kindischen Liebesgeschichte zu Gefallen so unrechtlich handeln sollte, den Herren Fischer ihren besten Arbeiter abspenstig zu machen, der sich obendrein in ihrem Hause gebildet hat, das werden Sie doch gewiß dem alten Kleeborn nicht zumuthen wollen, der Ihnen wohl zuweilen wie ein wunderlicher Kautz vorkommen mag, der aber doch dabei immer auf Ehre hält, trotz dem ersten Edelmann.«

»Hören Sie mich aber endlich einmal an, lieber Kleeborn, was ich Ihnen zu sagen habe ist ganz andrer Art als Sie wohl vermuthen,« sprach Anna, indem sie ein großes Packet Papiere vor sich auf den Tisch hinlegte. Kleeborns gewohnte Ehrfurcht vor allem, was einem Geschäfte ähnlich sah, bewog ihn, bei diesem Anblicke ihr alle [376] Aufmerksamkeit zu schenken, die sie nur verlangen konnte; er unterbrach sie nicht ein einzigesmal, während sie Alberts und dessen Sohnes Geschichte ihm theils erzählte, theils durch Vorlesung einzelner Stellen aus den vor ihr liegenden Papieren ihm deutlicher machte. Zuletzt legte sie ihm noch eine Abschrift der Anerkennungs-Urkunde des Lehnhofes vor, durch welche Raimund Holm als der letzte Zweig der von Leuen in den Besitz des Erbtheils seiner Väter eingesetzt ward, und einen Anschlag seiner jetzt ganz schuldenfreien Güter.

»Sie sehen wohl ein,« sprach Anna lächelnd, während Kleeborn die ihm vorgelegten Documente sehr aufmerksam durchging, »Sie sehen wohl ein, daß jetzt von des jungen von Leuen Verbindlichkeiten gegen Herrn Fischer nicht mehr die Rede seyn kann, und auch, daß bei dessen noch immer bestehender treuen Liebe zu Ihrer Tochter kein niedriger Eigennutz im Spiele ist; um so weniger, da das von seinem Vater ererbte Vermögen des jungen Mannes bedeutender ist, als Sie wohl [377] glauben, und ich mich auch jetzt in meinem Gewissen für verpflichtet halte, ihn zum Erben des größten Theils meiner Habe einzusetzen. Sie wissen, ich bin wohlhabend, aber ich verdanke dies einem Vermächtnisse des ältern Herrn von Leuen, der damals nicht wußte, daß sein Bruder, der Vater dieses Raimunds, noch am Leben sey, welcher sonst dessen natürlicher Erbe gewesen wäre.«

»Ich sehe, Fräulein Schwester,« erwiederte Kleeborn recht freundlich, »daß Sie mir hier eine Parthie für meine Tochter anbieten, die alles weit übertrifft, was ich jemals für das Mädchen erwarten konnte. Und dennoch bin ich gezwungen, sie zurückzuweisen.«

Anna erschrack gewaltig über diese deutlich ausgesprochene Erklärung, doch Kleeborn fuhr ganz gelassen fort zu reden. »Von allem dem Merkwürdigen, was ich heute von Ihnen vernommen habe, hat nichts einen tiefern Eindruck auf mich gemacht, als der Brief jenes Herrn Bernhard von Leuen, der ein sehr respektabler Mann gewesen seyn muß. Was er von den Verpflichtungen [378] schreibt, die von solchen großen Besitzungen unzertrennlich sind, hat meinen vollkommensten Beifall. Was indessen damals dem Vater galt, muß jetzt dem Sohne gelten, er kann nicht mehr daran denken, Kaufmann bleiben zu wollen. Wenn er rechtlich handeln will, darf er um Vicktorinens willen den ihn angebornen Pflichten nicht entsagen. Zwischen dem Gutsbesitzer und dem Kaufmann darf er sich nicht theilen wollen, denn dieser besonders erfordert einen ganzen Mann, namentlich in unsern Tagen, wo alles auf die Spitze gestellt wird.«

»Aber, lieber Herr Bruder, so bedenken Sie doch das Glück Ihres einzigen Kindes!« rief Anna.

»Glauben Sie nicht,« fuhr Kleeborn fort, der einmal ins Reden gekommen war, »glauben Sie nicht, daß ich aus blinder Anhänglichkeit an meinen gewiß nicht ungegründeten Widerwillen gegen Verbindungen Adliger mit Bürgerlichen hier so entscheidend spreche. Keine Regel ohne Ausnahme, pflege ich immer zu sagen, und wäre Vicktorine nicht meine einzige Erbin, nun so – aber wie [379] die Sache steht ist es unmöglich. Was der alte Herr von Leuen in seinem Briefe über die Erhaltung seines alten edlen Namens schreibt, ist mir ebenfalls wie aus der Seele gesprochen. Zwar habe ich keine Gallerie von Ahnenbildern aufzuweisen, ich weiß kaum, wer der Vater meines Großvaters war, aber was nicht ist, kann werden; warum sollte nach hundert oder zweihundert Jahren eine rechtliche bürgerliche Familie nicht auch mit Stolz auf ihre Vorfahren zurück sehen können? Wir haben schon der Beispiele. Ich will der Stammvater meines Hauses seyn, so gut als der erste von Leuen es der des seinigen war, den Ihr verstorbener Freund mit Recht über alle seine Nachfolger erhebt, und der vielleicht von seinem Eltervater weniger wußte als ich von dem meinen. Mein Name, meine Firma dürfen nicht untergehen. Vicktorine muß sich darin ergeben.«

»Einem Namen, einem bloßen Schalle soll die Arme geopfert werden!« rief Anna, hingerissen von ihrem Gefühl, auch wohl ein wenig vom Zorne gegen sich selbst, weil sie, ohne es zu denken, dem alten[380] Kleeborn die Waffen in die Hände gegeben hatte, die er jetzt ganz unerwartet gegen sie wandte.

»Handelten denn nicht in tausend ähnlichen Fällen Ihre Standesgenossen eben so?« erwiederte Kleeborn ebenfalls etwas gereizt. »Vicktorine aber wird nicht geopfert, Fräulein Schwester. Ich denke Kleeborns Tochter soll auch ferner noch unter Vielen die Wahl haben, wie sie bis jetzt sie gehabt hat, und ich will nichts weiter, als diese Wahl verständig zu leiten suchen, wie es dem Vater von Rechtswegen zukommt.«

Anna fühlte, daß heftiger Widerspruch den Alten leicht dahin bringen könnte ein Wort auszusprechen, welches er, wie sie ihn kannte, hernach nimmermehr zurückgenommen hätte. Sie unterdrückte daher den eignen Unmuth, den seine letzten Reden in ihr erweckten.

»Ich räume Ihnen ein,« sprach sie, »daß sich für Ihre Ansicht vieles sagen läßt, ich bin auch weit davon entfernt, das Gefühl zu tadeln das Sie zu diesen bestimmte. Aber ich bin auch Ihnen und den Ihrigen zu nahe verwandt und zu herzlich [381] zugethan, als daß ich Sie nicht ebenfalls darauf aufmerksam machen sollte, wie leicht und auf welche traurige Weise Sie dennoch das Ziel verfehlen können, daß Sie sich gesetzt haben. Vicktorinens Liebe gehört nicht zu jenen phantastischen Einbildungen, mit denen junge Mädchen ihres Alters sich zuweilen selbst zu täuschen pflegen. Sie sehen sie alle Tage, darum fällt Ihnen die Veränderung in ihrem Aeussern nicht auf, ich aber bin bei meiner Ankunft darüber erschrocken; sie ist ja nur noch der Schatten von dem, was sie war. Denken Sie an die arme Angelika.«

»Sagte ich es doch immer!« rief Kleeborn sichtbar beunruhigt. »Sie hat sich noch bei weitem nicht von ihrer letzten schweren Krankheit erholt. Sie sollte diesen Sommer nach Pyrmont, aber sie wollte nicht, das eigensinnige Ding. Jetzt soll aber doch auch gleich der Arzt gerufen werden!«

»Ließen Sie ihn nicht auch zur armen Angelika rufen?« sprach Anna, »mußte er nicht auf Ihren Antrieb Monate lang alle seine Kunst anwenden [382] um sie am Leben zu erhalten? und was hat es geholfen? Zeitlebens werde ich die väterliche Sorge und Freundlichkeit dankbar erkennen, die Sie dem lieben Kinde erwiesen haben? aber Sie haben dennoch ihr langsames Erlöschen mit ansehen müssen. Angelika starb unter ihren Augen am gebrochenen Herzen, ich fürchte: Vicktorine ist auf gutem Wege ihr zu folgen, wenn Sie nicht bei Zeiten der Arzt werden, der ihr allein helfen kann.«

»Es ist entsetzlich!« rief Kleeborn. »Sonst war doch die verdammte Krankheit mit dem gebrochnen Herzen nur in England zu Hause. Unsre Mädchen sind gar nicht wie ihre Mütter, die weinten ihr Gesetzchen, wenn es nicht nach ihren Willen ging und lebten darum doch flott weg.«

Anna seufzte recht aus tiefem Herzensgrunde, der Seufzer galt dem Andenken ihrer Schwester.

»Ich muß Ihnen nur gestehen,« sprach Kleeborn immer unruhiger werdend, »daß seit dem Tode der guten Angelika mir schon zuweilen ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf geflogen ist, [383] wenn ich meine Vicktorine so blaß und so betrübt sah. Es hat mir schon manchen Kummer gemacht, versichre ich Sie. Ich will ihr ja aber Zeit lassen, ich will in nichts sie übereilen. Sie ist ja kaum in den Zwanzigen und war immer kerngesund. Nicht wahr? Sie denken auch, daß sie sich wieder erholen wird?«

Anna regte sich nicht und antwortete keine Silbe. Kleeborn fing an, mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen, wie er immer that, wenn er über irgend etwas mit sich selbst nicht einig werden konnte. Dann stand er vor der Tante still. »Fräulein Schwester,« hob er an, »es gäbe vielleicht einen Ausweg. Sie sind eine Dame, der ein Mann wohl etwas vertrauen darf. Ich habe Ihnen etwas zu bekennen, das vielleicht – Sie sind – ich bin – ja wie gesagt, es wäre möglich, daß ein Ausweg sich fände, wenn Sie, wenn Vicktorine, wollte ich sagen – oder vielmehr wenn der junge Holm – Ach Gott, es geht doch nicht. Ihnen gerade kann ich es gar nicht sagen, denn – ich will es mir [384] noch besser überlegen, und Sie sollen davon hören, nur jetzt nicht.« Hiermit verließ Kleeborn das Zimmer, und Anna blieb in der quälendsten Ungewißheit zurück. Ein eben ankommender Brief aus Amsterdam erklärte ihr das Räthsel von Raimunds unerwarteter früher Rückkehr nach Europa. Horst hatte diese veranlaßt; jener Zeitungsartikel, den er zu Anfange des Sommers in Kleeborns Gartenhause las, hatte einen weit tiefern Eindruck auf ihn gemacht, als er sich damals merken lassen mochte. Er fühlte sich bewogen seinen und Raimunds Freund, den jüngern Herrn Fischer, aufzusuchen, um mit diesen sich darüber zu besprechen. Zufälligerweise hatte Anna von Falkenhayn so eben ein starkes Packet zur weitern Beförderung an Raimund eingesandt, und zugleich die Herren Fischer in einem besondern Schreiben gebeten, diesen sobald als möglich nach Europa zurückzurufen, weil eine wichtige Familienangelegenheit seine baldige Gegenwart erforderlich mache. Dieser Brief, der Zeitungsartikel, die Bewegung, in die Vicktorine über diesen gerathen war, wußte [385] Horsts natürlicher Scharfsinn so gut mit einander zu kombiniren, daß er dadurch der Wahrheit ziemlich nahe auf die Spur gerieth. Er beschloß, von seinen Vermuthungen gegen Vicktorine nichts zu äußern, aber seine Bitten und Vorstellungen bewogen Herrn Fischer, an Raimund zu schreiben, daß er, wenn er dieses zu seinem eignen Besten für nöthig hielt, die erste Gelegenheit zu seiner Rückkehr benutzen und die gänzliche Beendigung seines dortigen, von ihm sehr glücklich eingeleiteten Geschäftes einem zuverlässigen Manne übertragen möge, den man zum Gehülfen ihm mitgegeben hatte.

Ein nach Amsterdam bestimmtes Schiff lag eben in jenem Hafen seegelfertig. Raimund schiffte auf diesem sich augenblicklich ein, und kam nach einer sehr kurzen glücklichen Reise gerade zur rechten Zeit in Amsterdam an, um bei Berichtigung der Wißmannschen Angelegenheiten sich durch wohlangewandte Thätigkeit seinen wohlwollenden Freunden dankbar zu beweisen.

Glühende, kein Wanken kennende Liebe zu [386] Vicktorinen, innige, wahrhaft kindliche Neigung und Dankbarkeit gegen Anna, sprachen laut aus jeder Zeile in Raimunds Brief, doch die Wendung, die das Geschick während seiner Abwesenheit mit ihm genommen hatte, schien ihn mehr in Erstaunen zu versetzen, als ihn zu beglücken. In dem, was er bei dieser Gelegenheit aus seiner Eltern früherem Leben erfahren mußte, so schonend Anna es ihm auch beigebracht hatte, lag dennoch unendlich viel Schmerzliches und Erschütterndes; die Ungewißheit, welchen Einfluß diese Veränderung seiner Lage auf das künftige Gelingen seiner sehnlichsten Wünsche haben könne, kam dazu und so war es ihm unmöglich, der Freude sogleich in seinem Herzen Raum zu gewähren.

Auch Vicktorine wurde mehr traurig als erfreut, da Anna ihren unablässigen Bitten und Forschen endlich nachgab, und ihr alles, sogar Raimunds unerwartete Wiederkehr entdeckte. Ihn allen Gefahren einer weiten Seereise glücklich entronnen zu wissen, war ihr freilich ein sehr großer Trost, aber so ungeduldig sie früher die Entscheidung [387] ihres Geschicks herbeigewünscht hatte, so ängstlich bebte sie jetzt ihr entgegen, da sie glauben mußte ihn ganz nahe gegenüber zu stehen. Hoffnung war alles, was die Tante ihr zum Troste geben konnte, aber wir sind nie weniger geneigt, diese zu fassen, als in dem wichtigen Augenblick, wo alles auf dem Spiele steht. Anna selbst war von dem Schmerz über den Verlust ihrer Angelika zu ergriffen, als daß sie fähig gewesen wäre, Vicktorine kräftig wie sonst aufrecht zu erhalten. Ihre einzige, wenn gleich heimliche Freude war an diesem Tage, daß Vicktorine sehr bleich und mit trüben Augen bei Tische erschien, und daß Kleeborn darüber Essen und Trinken vergaß, mit kaum zu verhehlender Aengstlichkeit sie betrachtete, und dann ganz gegen seine gewohnte Art stumm und in sich gekehrt da saß.


Zu der Tante nicht geringem Erstaunen ließ Doctor Erning sich am frühen Morgen des nächsten Tages bei ihr melden; sie war seiner Besuche [388] nicht gewohnt, denn sie hatte sich stets davor gehüthet, mit ihm in nähere Verbindung zu gerathen, daher war sie auch jetzt willens ihn abweisen zu lassen; doch das ist kein Leichtes bei einem Manne seiner Art. Er sah sie durch die Spalte der halb geöffneten Thüre in ihrem Armstuhle völlig angekleidet sitzen, und dieses war ihm genug, um sogleich in ihr Zimmer zu dringen, ohne ihre Erlaubniß dazu vorher abzuwarten.

»Ich komme als geheimer Geschäftsträger,« rief er gleich beim Eintreten dem sehr ernsten Empfange entgegen, der aus ihren Augen ihm zu drohen schien, »eine Dame wie Sie, hochwürdige Frau, weiß gewiß, daß diese überall das Vorrecht haben, sich ungestraft etwas überlästig zu bezeigen.«

»So möchte ich mir aber doch vorher Ihr Creditiv ausbitten, ehe wir zur Conferenz schreiten,« erwiederte Anna mit sehr gemess'nem Ton.

»Das liegt schon in der Natur der Sache,« antwortete Erning, ohne sich dadurch irren zu lassen. »Kleeborn schickt mich in der bewußten [389] Heirathsangelegenheit an Sie ab, hochwürdige Frau. Sie wundern sich darüber? Ja, das ist nun einmal hier zu Lande nicht anders, ohne Erning kann nichts in Ordnung gebracht werden, er muß jung und alt aus der Klemme helfen. Die ehrliche Haut thut es auch gern.«

»Ich kann aber doch nicht umhin zu glauben, daß ich mit Herrn Kleeborn so stehe, daß er Ihnen heute diese Mühe hätte füglich ersparen können,« erwiederte Anna etwas vornehm.

Erning fand für gut, dieses nicht zu bemerken. »Ja, sehen Sie,« sprach er, »das hat so sein ganz eignes Bewandniß; Kleeborn hat ein ziemlich wunderliches Bekenntniß Ihnen abzulegen und fürchtet sich, wenn er dieses in Person wagen wollte, auf seine alten Tage ein wenig albern vor Ihnen dazustehen. Wie das eigentlich zusammen hängt, sollen Sie gleich erfahren, wenn Sie mir erlauben wollen mich zu setzen.«

Erning setzte sich, und – doch damit er dem Leser nicht eben so lästig falle, als er es der Tante war, möchte es rathsam seyn das, was er [390] bei ihr anzubringen hatte, mit Weglassung seiner eignen Art und Worte in der Kürze zusammen, zu fassen.

Der Hauptpunct davon war die Entdeckung, daß ein außer der Ehe geborner Sohn des alten Kleeborns am Leben sey, um dessen Daseyn nur wenige Vertraute wußten; daß zu diesen auch Erning gehörte war natürlich, denn diesem blieb so leicht nichts verborgen, was in dem weiten Kreise seiner Bekanntschaften vorgehen mochte. Der junge Vanderbrugge, so hatte Kleeborn seinen Sohn nach dessen Mutter genannt, war um mehrere Jahre älter als Vicktorine, und stets in Holland, wo er geboren, geblieben; seine Mutter, eine Holländerin, starb bald nach seiner Geburt. Dieser Umstand hatte seinem Vater es sehr leicht gemacht, das Daseyn dieses Kindes verborgen zu halten, aber der frühe Tod des gutmüthigen, wenn gleich schwachen Geschöpfs, welches ihm das Leben gegeben hatte, machte diesem dennoch viele Jahre hindurch manche trübe Stunde. Und als späterhin alle ihm in rechtmäßiger [391] Ehe gebornen Söhne nach und nach meistens noch in der Wiege hinwegstarben, und endlich nur die einzige Tochter Vicktorine, die Jüngstgeborne, am Leben blieb, so war Kleeborn oft geneigt, dieses Unglück als ein Verhängniß der strafenden Gerechtigkeit des Himmels anzusehen, der so auf die empfindlichste Weise den Tod jenes armen Mädchens an ihm rächen wollte.

Um gut zu machen, was noch gut zu machen möglich sey, nahm Kleeborn sich vor, für das Kind, das er öffentlich nicht anerkennen durfte, wenigstens väterliche Sorge zu tragen. Der alte Wißmann, sein erprobter vieljähriger Freund, war auch in dieser Angelegenheit sein Vertrauter gewesen, er hatte über die erste Erziehung des Kleinen die Aufsicht geführt und nahm ihn, da er heranwuchs auf Kleeborns Antrieb in sein Comtoir auf, wo er sich alle Mühe gab, einen tüchtigen und geschickten Kaufmann aus ihm zu bilden. Der beste Erfolg lohnte ihm dafür, er sowohl, als Kleeborn, hatten ihre Freude an den Knaben und als er völlig erwachsen war, beschlossen beide ihn [392] mit der Zeit in London an Sir Charles Stelle zu setzen, um auf diese Weise ihm eine recht günstige Aussicht für seine Zukunft zu sichern.

Das gänzliche Fehlschlagen jenes Planes trug viel zu Kleeborns Verdruß über die Auflösung der zwischen Vicktorinen und Sir Charles beabsichtigten Verbindung bei, und der bald nach diesem eintretende Tod des alten Wißmann, nebst allen daraus entspringenden übeln Folgen, vermehrten auch in dieser Hinsicht seinen Kummer und seine Sorge.

Müller unterließ es nie, in jedem Briefe die lobenswerthen Eigenschaften des jungen Vanderbrugge auf das rühmlichste zu erwähnen, und Kleeborn wurde dadurch zugleich erfreut und gekränkt. Sein väterliches Gefühl zog ihn zu dem Sohne hin, der in rechtmäßiger Ehe erzeugt, sein Trost und seine Freude geworden wäre, und es schmerzte ihn tief in der Seele, daß er ihn jetzt dennoch verleugnen müsse. So entstand ein ewiger, nie sich lösender Zwiespalt in seinem Gemüth und führte endlich auch jene Veränderung [393] in seinem Aeußern herbei, über die Vicktorine sich früher so betrübt und geängstiget hatte.

Bei dieser Verworrenheit in seinem Innern war es in der That ein Glück für den alten Kleeborn, daß Anna die Besorgniß, Vicktorinen, gleich der armen Angelika, hinsterben zu sehen, in ihm zu erregen gewußt hatte, denn nur diese brachte ihn dahin, endlich einen bestimmten Entschluß fassen zu können.

Der Gedanke an die Möglichkeit, seinen Sohn legitimiren zu lassen, den er bis dahin immer von sich gewiesen hatte, so oft er auch in ihm aufstieg, fing an, mehr Wahrscheinlichkeit für ihn zu gewinnen. Der Anschlag von Raimunds Gütern, den er mit großer Aufmerksamkeit durchgegangen hatte, überzeugte ihn, daß es an der Seite eines solchen Gatten Vicktorinen, selbst wenn ihr Vater sie völlig enterbte, dennoch an nichts von alle dem fehlen könne, was seiner Ansicht nach unumgänglich zu einem glücklichen Leben gehörte, an Reichthum, Ansehen und Glanz. Um ganz sicher zu gehen ließ er den Doctor Erning rufen, um [394] mit diesem seinen vieljährigen Vertrauten, nochmals alles reiflich zu überlegen, und so kam er endlich zu dem Entschlusse, der Tante Vorschläge thun zu lassen, welche sie so freudig überraschten, daß sie anfangs sehr geneigt war, sie für eine sinnreiche Erfindung des Doctors Erning zu halten. Kleeborn erbot sich, Vicktorinen seine Zustimmung zu ihrer Verbindung mit Raimund nicht länger zu versagen, wenn sie dagegen mit guter Art darein willigen wolle, den jungen Vanderbrugge als ihren Bruder zu betrachten, den er Willens war, in aller Form zu adoptiren, und ihm nicht nur seinen Namen, sondern auch nach seinem Tode die Handlung und die Hälfte seines Vermögens zu hinterlassen. Nächstdem sollte Vicktorine sich auch anheischig machen, ihr väterliches Erbtheil der Handlung nie zu entziehen, und sich mit den Zinsen zu begnügen. Um sie aber dafür zu entschädigen, wünschte er, daß Anna sich bereit finden lasse, sie an Raimunds Stelle zur Erbin einzusetzen, dessen gegründete Ansprüche Kleeborn zwar nicht ableugnete, aber dennoch [395] glaubte, daß dieser zu Gunsten Vicktorinens ihnen entsagen könne, ohne damit ein zu großes Opfer zu bringen.

Anna fand diese Bedingungen so billig und verständig, daß sie keinen Augenblick anstand, sie für sich und im Namen ihrer Schützlinge dankbar und freudig anzunehmen. Unerbeten gab sie obendrein die Versicherung, niemanden, sogar nicht Raimund und Vicktorinen zu entdecken, wie nahe Kleeborns adoptirter Sohn diesem eigentlich verwandt sey, und so ging Doctor Erning, triumphirend und mit Ruhm bedeckt, davon, um von dem Gelingen seiner Unterhandlungen Bericht abzustatten. Innerlich bedauerte er es nur, nicht mehr Schwierigkeiten dabei vorgefunden zu haben, um sein Verdienst bei deren Besiegung gehörig geltend machen zu können.

Die Geschichte neigt sich zum Ende, denn von glücklichen Menschen läßt sich eben so wenig erzählen, als von einer Seereise, auf welcher man, weder durch Stürme noch andre Widerwärtigkeiten belästigt, den erwünschten Haven in Sicherheit [396] und Ruhe erreichte. Müller, Raimund und Vanderbrugge langten nach wenigen Tagen zusammen im Kleebornschen Hause an, und wurden alle drei mit ungeheucheltem Wohlwollen von dem alten Herrn empfangen. Der freudige Taumel, von dem Raimund und Vicktorine bei der, alle ihre Hoffnungen übertreffenden Entwickelung ihres Geschicks sich ergriffen fühlten, der laute Jubel des wackern Horst und seiner Agathe, der Tante ernste, stille, an Wehmuth gränzende Freude, alles dieses läßt sich besser und leichter nachempfinden als beschreiben.

Die ersten Frühlingstage führten in ihrer von tausend schönen Hoffnungen duftenden Reihe auch den Tag herbei, an welchem die Tante einer zweiten, mit jungen Rosen um die Wette blühenden glücklichen Braut, den Myrthenkranz in die Locken flocht. Sie und alle zum Kleebornschen Hause Gehörende begleiteten das neuvermählte Paar nach Leuenstein, wo Meinau mit unsäglicher Freude schon lange vorher alle Anstalten zum festlichsten Empfange getroffen hatte.

[397]

Schon längst war jener unpassende Flitterputz völlig unscheinbar geworden, mit welchem vor langen Jahren das, durch seine Bauart und sein Alterthum ehrwürdige Schloß auf Luisens Veranstaltung mehr entheiligt als geschmückt worden. Baron Meinau hatte bei Zeiten dafür gesorgt, diese verblichenen Ueberreste wegräumen zu lassen, sobald nur Raimunds Ansprüche an das Erbtheil seiner Väter unwiderleglich erwiesen waren; denn er fürchtete durch ihren Anblick in Annas Gemüthe sowohl, als in dem des jetzigen Besitzers zu traurige Erinnerungen zu wecken. Seine, in ihren Silberlocken noch immer liebenswürdige Gattin half ihm bei dem Geschäfte die hohen, altväterlichen Säle und Zimmer auf würdige Weise wieder bewohnbar herzustellen.

Mit feinem Takt' und richtigem Sinne für das wahrhaft Schöne wußten beide jede Verzierung, jedes Geräthe so zu wählen, daß nirgend ein schreiender Contrast hervortrat, weder mit der Alterthümlichkeit des Gebäudes, noch mit der Modernität des jungen Paares, das es bewohnen [398] sollte. Alles Bunte, alles zu Glänzende wurde mit der größten Sorgfalt vermieden, und die vorherrschenden einfachen Formen der Gegenstände brachten überall den wohlthuendsten Eindruck hervor.

Jedes Stück des Ameublements schien genau für die Stelle gemacht, die es einnahm, und doch traf man nirgend auf Versuche, gothisches Schnitzwerk nachzukünsteln, oder durch Nachahmung der schweren, nicht von der Stelle zu bewegenden Unbehülflichkeit des Hausgeräthes unsrer Altväter den Geist einer längst ergrauten Vorzeit wieder herauf bannen zu wollen.

Vor allem aber wurde die lange Reihe der Ahnenbilder aus ihrem Verbannungsorte wieder hervorgesucht, und in ihre alten Rechte eingesetzt. In passenden Rahmen, von hundertjährigem Staube gereinigt, blickten sie von den hohen Wänden des ursprünglich ihnen geweihten Saales seegnend und freundlich auf das junge Paar herab, mit welchem Leben, Liebe und Freude in die lange verödeten Mauern wieder eingezogen waren.


[399] Seit jenen, das Glück so Vieler begründendem Tage hat das Schicksal der mehrsten, in diese Erzählung verflochtenen Personen keine bedeutende oder doch wenigstens keine schmerzliche Veränderung erlitten. Agathe und Horst sind noch immer froh und glücklich und gut wie Kinder, und Horst fühlt dabei nur die einzige Sorge, daß seine kleine Frau, die er auf den Händen trägt, ihm nicht vor der Zeit zu vernünftig werden möge.

Auch der alte Kleeborn ist sehr glücklich in seinem Sohne, dessen Kenntnisse und Betragen alle Wünsche und Erwartungen des Vaters noch übertreffen. Der junge Mann nimmt sich der Geschäfte seines Hauses mit so vielem Geschick und Eifer an, daß der Alte dadurch Zeit gewinnt, seine Kinder auf Leuenstein zuweilen zu besuchen. Alles, was er dort sieht und hört, gefällt ihm ungemein, würde ihm aber noch weit besser gefallen, wenn er dabei nur auch die Börse regelmäßig besuchen könnte. So aber treibt die Sehnsucht nach dem gewohnten Gewühl im Verlauf weniger Tage ihn stets wieder in die Heimath zurück.

[400] Babet ist seit einigen Wochen die verlobte Braut des jungen Kleeborn, doch mit der Geschichte dieser ihrer Liebe ließe keine Octavseite sich anfüllen. Es ging dabei so ganz prosaisch zu, wie bei jeder Parthie, welche allen dabei interessirten Personen konvenirt; was sich darüber sagen ließe, steht alles auf der Karte, mit welcher das junge Paar Freunden und Verwandten seine bevorstehende Verbindung ankündigte. Babet ist jedoch über den Mangel aller romantischen Begebenheiten bei dieser ihrer hoffentlich letzten Liebesgeschichte auf das vollkommenste dadurch getröstet, daß sie in Hinsicht auf Haus, Landsitz, Equipage und der Anzahl ihrer türkischen Shawls keiner Dame in der ganzen Stadt wird nachstehen dürfen. Da der junge Kleeborn bei großer Gutmüthigkeit auch viel Festigkeit des Karakters und einen natürlich richtigen, durchaus nicht ungebildeten Verstand besitzt, so steht zu hoffen, daß diese Ehe so ausfallen werde, wie die mehrsten. Sie wird vermuthlich gerade kein Himmel auf Erden, aber doch auch keine Hölle seyn.

[401] Daß Anna gleich nach ihrer Ankunft im Kleebornschen Hause es nicht versäumt hatte, den armen verwaiseten Klarenau am Grabe ihrer Angelika aufzusuchen, daß sie, so lange sie in seiner Nähe verweilte, alle die Zeit ihm schenkte, welche sie nicht der Sorge für Ratmund und Vicktorinen zuwenden mußte, bedurfte wohl nicht noch besonders erwähnt zu werden.

Damals brachte ihre Gegenwart den ersten, wahrhaft wohlthuenden Trost in das Herz des Unglücklichen. Der Anblick Raimunds, welchen er sogleich als seinen Retter wieder erkannte, die Ueberzeugung, daß Vicktorine, die treue geliebte Freundin seiner Verklärten, an der Seite dieses Mannes einer höchst beglückten Zukunft entgegen gehe, erweckte wieder die erste freudige Regung in seinem Gemüthe. Es fiel ihm nicht ein, mit dem Geschicke hadern zu wollen, weil es für Andere Rosen blühen ließ, von denen er nur die Dornen auf seinem Pfade angetroffen hatte; doch weder die dringendsten Bitten, noch ernste Vorstellungen konnten ihn bewegen, seine Einsamkeit [402] zu verlassen und dem glücklichen Paare nach Leuenstein zu folgen.

»Hier ist meine Heimath, und sie öffnet sich mir bald!« war alles, was er den Freunden erwiederte, indem er auf das von jungen Rosen üppig umblühte Marmorkreuz hinwieß, das aus dem dunklen Schatten von Cypressen hell hervorleuchtete. Seine verfallne Gestalt, das wunderbare Glänzen seiner Augen bestätigte nur zu sehr die Wahrheit dessen, was er aussprach, und Raimund und Vicktorine ließen, tief gerührt, endlich davon ab, ihn mit ihren Bitten noch länger zu verfolgen.

Jetzt ruht auch er, der in Wüsten des Lebens müde getriebene Pilger unter dem Kreuze, im Schatten der Rosen und Cypressen. Der Name Angelika bezeichnete den letzten Hauch seines Lebens, und sein brechendes Auge strahlte im Abglanze der ihm nahenden Himmelsseeligkeit, als er in den Armen des treuen Horst zum ewigen Schlummer es schloß.

Die Tante trat bald nach Vicktorinens Vermählung[403] von dem Schauplatze ihrer vieljährigen Thätigkeit ab, auf welchem nur das Bedürfniß, alle ihr verliehene Talente und Kräfte nützlich und ehrenvoll zu üben, sie so lange festgehalten hatte. Von den Damen des Stifts an, denen sie lange Jahre hindurch eine milde weise Freundin und Beratherin gewesen war, bis zu dem geringsten ihrer Untergebenen herab, vernahmen alle mit ungeheucheltem Schmerze ihren Entschluß, das Stift und die Stelle zu verlassen, die sie bisher in demselben ehrenvoll und zu aller Zufriedenheit bekleidet hatte; doch keine wagte es, ein Unrecht darin zu finden, daß sie in den letzten Jahren eines, größtentheils in Sorge um Anderer Wohl hingebrachten Lebens, von den Mühen desselben endlich auszuruhen wünsche.

Noch einmal wandte sie allen ihren Einfluß daran, eine ihrer würdige Nachfolgerin an ihrer Stelle als Pröbstin gewählt zu sehen, die sich ganz dazu eigne, ihren Verlust minder fühlbar zu machen; dann schied sie unter den lauten Klagen derer, welche sie zurückließ und folgte ihrem Herzen, [404] das sie nach Leuenstein zu den Kindern ihrer Wahl mächtig hinzog.

Mit einem seltsam aus Wonne und Weh zusammengesetztem Gefühle näherte sich Anna den alterthümlichen Mauern, in deren weiten Räumen sie einst bestimmt gewesen war, an Bernhards Seite als Herrin zu walten, und der Traum ihres Lebens zog noch einmal in lichten Bildern an ihrer Seele vorüber. Die hohen Wipfel der uralten Eichen, unter deren weit hingebreiteten Schatten Bernhard als Kind gespielt hatte, schienen ihr seinen Gruß zuzurauschen; in ahnendem Schauen fühlte sie seine geistige Nähe überall, im Hauche der Lüfte, im Dufte der blühenden Linden; jeder ferne Laut klang ihr, als riefe er sie bei Namen, und überall in den weiten dämmernden Sälen glaubte sie die geliebte Gestalt hervortreten zu sehen. Das ganze Schloß war ihr ein dem Andenken geweihter Tempel, mit frommer Freude und tief gefühlter Dankbarkeit preiset sie das Geschick, das ihr erlaubte, die letzten Tage ihres Lebens in ungestörter Ruhe an dieser heiligen [405] Stätte zu weilen, wo Bernhards Wiege einst stand. Was ihrem eignen Leben versagt ward, was während ihrer Jugendzeit nur in schönen Traumgebilden ihr vorschweben durfte, alles das sieht die Tante jetzt in dem geliebten Paare sich zur seltensten Wirklichkeit gestalten, zu dessen Wohles Begründung sich vor kurzem die Stimme geliebter Todten gleichsam noch aus dem Grabe erheben mußte. Vicktorine und Raimund stehen vor ihr wie das Spiegelbild ihrer eignen Blüthenzeit; beide entwickeln auch im Aeußern und unter ihren Augen eine, jeden Tag sich auffallender zeigende Aehnlichkeit mit dem, was sie selbst und der edle Bernhard von Leuen einst waren, und im Anblicke des jugendlichen Paares versunken, fühlt Anna oft Vergangenheit und Gegenwart vor ihrem Geiste in eins zerfließen.

Zwar naht auch ihr die ernste Zukunft unaufhaltsam, von deren Geheimnissen noch kein Sterblicher Kunde erhielt, aber sie naht ihr so leise, mit so langsam schonendem Fluge, daß niemand [406] von ihren Lieben und sie selbst kaum dieses Herannahen gewahr wird.

Unverändert im Aeußern wie im Innern sieht Anna ihr ohne Grauen entgegen, und so ziehen ihr liebend und geliebt, beglückend und beglückt, von den Tagen einer nach den andern im Genusse vollkommner Ruhe vorüber.

»Die Jugend darf im Morgenstrahle der Hoffnung sich sonnen,« spricht sie oft zu ihren Kindern, »der Mittag gehört der Gegenwart; im rauschenden Drange der Begebenheiten, bald sengend heiß, bald sanft erwärmend, bald in Wonne, bald in Quaal, geht er auch im Laufe unsers Lebens, wie in dem eines einzelnen Tages so schnell an uns vorüber, daß wir im raschen Wechsel kaum aufzuathmen vermögen; doch der milde, sanfte, erquickende Abend ist die Zeit der Alten, denn er allein ist der Erinnerung heilig. Und so wie die sinkende Sonne selbst die düstern Tannen mit einer goldnen Glorie verklärt und in rosigen Schimmer sie kleidet, so weiß auch die Erinnerung alle die Wetterwolken, welche unsern Lebensmittag [407] umstürmten, mit goldigen Purpurlichtern zu erhellen. Den Dornen, die einst uns verwundeten, raubt sie mit milder Hand ihren Stachel; wir fühlen die Schmerzen nicht mehr, wohl aber die Freude, diese einst überwunden und muthig getragen zu haben.«

Fußnoten

1 Ich kann jede Hanne zur Lady erheben.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schopenhauer, Johanna. Romane. Die Tante. Die Tante. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-EFAD-D