I
Frühmorgens, in den Schlummer herein, hörte Weldein die Stimme seiner Frau. Sie stand, zum Fortgehen angekleidet, neben seinem Bette und sagte: »Guten Morgen, Karl, ich muß in die Arbeit.« Sie nähte außer dem Hause. Weldein zog die Decke bis über das Kinn, er erinnerte sich dunkel, daß er sich angekleidet ins Bett geworfen hatte. »Guten Morgen«, erwiderte er. Sie sah ihn an, mitleidig, resigniert. »Der Kleine ist schon in der Schule ... und was machst denn du?«
»Hab' heut keine Arbeit. Laß mich schlafen.«
Sie ging. Alles das war ihr nichts Neues. Bei der Türe wandte sie sich um. »Vergiß nicht, heute ist der Zins zu zahlen. Das Geld liegt abgezählt in der Lade.« Und sie sah wieder ihren Mann an, schien sich eines andern zu besinnen. Sie schritt zu dem Wäschekasten, öffnete die Lade und nahm Geld heraus ... »Ich will es lieber selber zahlen.«
»Gut, zahl es selber«, lachte er.
Sie ging mit einem letzten traurigen Blicke. Und Karl Weldein lag da, allein, halb wachend, mit offenen Augen. Das Zimmer sah ärmlich, aber wohlgehalten aus. Durch die zwei blanken Fenster blitzten die Morgenstrahlen der Frühlingssonne. Die Wanduhr schlug in einförmigem Tick-Tack ...
Plötzlich sprang Weldein aus dem Bette. Er stand da in Frack und mit weißer Krawatte; das Hemd zerknittert, die Schuhe bestaubt, die kurzgeschnittenen Haare wirr, die Augen rotgerändert. Er trat zu dem einfachen Wandspiegel, der über der Kommode hing. Er betrachtete sich und lächelte. »Guten Morgen, Herr Weldein«, sagte er, »guten Morgen.« Dann tänzelte er im Zimmer umher und begann ein Lied zu pfeifen. Dann setzte er sich auf den Bettrand, schlug die Beine übereinander und dachte nach ... Er mußte sich allmählich besinnen. Daß es kein Traum gewesen, das stand nun fest; wie wäre er sonst in diesem Anzug ins Bett gekommen? Es war also Leben und Wahrheit.
Und er sah sich wieder in jenem Wirtshaus, wo das Abenteuer [47] begonnen hatte. Er sah sich mit jenen ärmlich gekleideten Leuten an einem Tische sitzen und Karten spielen, wie er es so oft getan. Er empfand sogar wieder den Geruch der qualmenden Lampe, die wie immer auf dem Tische stand, und die rundliche Gestalt des Wirtes erschien vor ihm, die in der Türe gelehnt war, als jene Fremden herein traten. – Gestern abend war es geschehen ...! War es denn möglich?
– Er hatte sein Geld verloren, alles, alles! Und die Fremden, die an dem Spiel ein heiteres und neugieriges Gefallen fanden, hatten ihm Geld gegeben, damit er weiterspielen könnte, und – nun begann das Glück, das unerhörte, rätselhafte Glück.
...Weldein erhob sich vom Bettrande und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Seine Augen glühten, wie er nun sein Erlebnis in Gedanken ein zweitesmal durchlebte ... Er sah sich mit den beiden Fremden die dumpfe Wirtsstube verlassen, er hatte dort nichts mehr zu suchen; die anderen Spieler, denen er all ihr Geld abgewonnen, waren verdrossen aufgestanden.
Und wie er nun in der engen Vorstadtgasse stand und die beiden Fremden näher betrachtete, die ihm erschienen waren wie die guten Geister im Märchen! ... Er mußte ihnen erzählen, wem sie eigentlich geholfen hatten. Ach ja, wem! Einem armen Anstreicher, der einmal Maler hatte werden sollen und dem alles fehlgeschlagen war, was er begonnen ... aber wahrhaftig auch alles! Nun hatte er für Weib und Kind zu sorgen, brachte sich auch mühselig und redlich durch die Welt. Nur zuweilen kam es wie ein böses Verhängnis über ihn; das war in jenen Wochen, in denen er spielen und trinken mußte, ja, mußte! ob er wollte oder nicht. Und auch im Spiel immer das alte Unglück! Heute wieder, wie jedesmal!
Wer aber waren die Fremden? Er hatte sie einfach darum gefragt, und sie nannten sich vor ihm: der eine Graf Spaun, der andere Freiherr von Reutern, was ihm weiter nicht sonderbar vorkam; denn daß es junge Leute von Adel waren, das hatte er ihnen auf den er sten Blick angesehen.
...Und jetzt, während sie durch die abendlich stillen Gassen der Vorstadt schritten, entschied sich Weldeins Los! – Denn die beiden Männer an seiner Seite waren erfindungsreich, lustig und kühn. Wäre ihnen sonst ein so seltsamer Plan durch den Kopf geflogen? Hätten sie sonst den Streich ausgedacht, den sie mit ihm vollführten?
Und nun zogen, der Reihe nach, die seltsamen Bilder der heutigen [48] Nacht vor ihm vorüber. Er erblickte sich im Laden des Friseurs, wo sein wirres Haupt-und Barthaar sorglich hergerichtet wurde; er sah sich in dem Ankleidezimmer des Grafen, wo man ihn mit dem eleganten Gesellschaftsanzuge versah, den er jetzt noch am Leibe trug. Und dann – dann sah er sich mitten unter all jenen reichen und vornehmen Herren am grünen Tische sitzen, in dem großen, prächtigen Spielsaal des Klubs mit den vielen glänzenden Spiegeln, und er erinnerte sich, wie er, der Verabredung getreu, einen schweigsamen Amerikaner vorstellen mußte, den der Zufall der Reisen einmal auch hierher gebracht, die alten Freunde aufzusuchen, die er kennengelernt ... wo nur? ... in Moskau ... oder Paris. Die zwei Herren, die ihn heraufgebracht, hatten wohl nicht gedacht, wie ihr Karnevalsscherz enden würde ... Mit brennender Deutlichkeit sah Weldein alles wieder vor sich; ihm war, als fühlte er die glatten Karten in seiner Hand; er erblickte die Goldstücke, die Banknoten, die sich vor ihm häuften; er erinnerte sich, wie auf dem Stuhl neben ihm ein eisgefüllter Kübel mit einer Flasche Champagner stand, und wie er Glas auf Glas von dem berauschenden Getränke hinunterstürzte. Auch des eigentümlichen Ausdruckes in den Gesichtern der anderen Spieler entsann er sich völlig genau: wie sie zuerst erstaunt waren über sein nie versagendes Glück, und wie dann das Erstaunen in Bestürzung überging, als er mit jeder Karte gewann ... und endlich aufstand, leuchtenden Auges, aber wortlos starr ob seines Abenteuers – ein reicher Mann!
Und nun hatte der Graf ihn über die breite mit Teppichen bedeckte Treppe hinabgeleitet, ohne ein Wort mit ihm zu sprechen. Sie standen unten beim offenen Tore. Die Straße vor ihnen war menschenleer. Die Laternen brannten hell, eine wunderbare milde Luft wehte durch die Nacht. »Gehen Sie ... Herr Weldein ... gehen Sie nach Hause ...«, sagte der Graf. Und Weldein stand auf der Straße, allein – mit einem Vermögen in der Tasche. Er wandte sich um, sein hochgeborener Freund verschwand eben im Stiegenhause, ohne sich noch einmal umzusehen ... Die Flammen in den Straßenlaternen tanzten, und Weldein schwankte davon ...
Und wie er nun überdenken wollte, was in dieser Nacht weiter mit ihm geschehen, stauten sich seine Gedanken. Er besann sich kaum, wie er nach Hause gekommen. Aber alles hatte er erlebt, wahrhaftig erlebt, und er war reich, daran gab es keinen Zweifel mehr ... Und während er im Zimmer auf und ab ging, murmelte er vor sich hin:
[49] »Was nun? – Die heutige Nacht bleibt mein Geheimnis ... denn diese Nacht ist nur der Anfang eines neuen Lebens ... In einigen Tagen verschwind' ich aus der Stadt, jawohl, ich verschwinde aus der Stadt ... Meine Frau mag ohne Sorge sein, ich werde ihr schreiben, wohin sie mir nachzukommen habe. Nach dem Süden – – nach Monte Carlo ... wo ich nicht der Anstreicher Weldein bin, wo mich niemand kennt! ...« Er versank in Sinnen.
»Gut, sehr gut ...« Er warf den Frack ab, tat ihn samt dem übrigen Zubehör seiner eleganten Person von gestern in ein Bündel. Bald stand er im Arbeitsgewande vor dem Spiegel. Er lachte wieder ... »Guten Morgen, Herr Weldein«, rief er laut, jubelnd beinahe. Er trat zum Fenster, schaute auf die Straße. Ein sonniger Frühlingstag! Er öffnete beide Flügel. Lind wehte der Morgen um seine Stirn. Er tat einen tiefen Atemzug, mit einem stolzen erobernden Blicke schaute er in die Höhe ... Drüben im Nachbarhause war alles wie sonst; bei einigen Fenstern noch die Vorhänge herabgelassen; bei anderen sah man Frauen im Morgenkleid putzen und abstauben, dann wieder ganz im Hintergrunde der Zimmer verschwinden. Unten bei der geöffneten Ladentür hämmerte der Schuster ... Alle waren fleißig, waren bei der Arbeit.
Karl Weldein trat vom Fenster zurück, zündete sich eine Zigarre an und legte sich der Länge nach aufs Bett. Er war reich, er war glücklich. Er ruhte vielleicht eine Stunde lang, die Zigarre lag neben dem Bette ausgebrannt auf dem Boden, als er erwachte. Mit einem dumpfen Gefühl im Kopfe erhob er sich ... Es war ihm etwas Wichtiges eingefallen. Wo war sein Geld? – Er hatte irgend etwas damit getan. Aber was? Ach ja, freilich ... wie er von jenem Tore aus durch die Straßen taumelte, da war es ihm ja plötzlich durch den Sinn gefahren, daß er das Geld nicht mit sich nach Hause nehmen konnte ... es war zuviel! ... Da war ihm nun der tolle Gedanke gekommen, seinen Reichtum zu verstecken ...
In der Nacht war es ihm so ganz natürlich erschienen – in jenen Augenblicken, da ihm der Kopf von dem glühenden Weine wirbelte und heiß war –, daß er das Geld vor der Frau, vor den Nachbarn, vor allen Menschen überhaupt verstecken müßte! ... Er hatte eine seltsame Empfindung von Angst, beinahe von Schuld gehabt, als er in der Nacht durch die Straßen schwankte, die ihm jetzt fast sonderbarer vorkam als sein ganzes Abenteuer ...
[50] ...Aber was tat es weiter? – Am Ende hätte auch wahrhaftig seine Frau das Geld vorzeitig gefunden ... und da ... hätte es dann im Kasten liegen und einrosten können ... Nun, es war jetzt geschehen ... er hatte seinen Reichtum versteckt – und er hatte einfach nichts anderes zu tun, als ihn wieder zu holen. Freilich nicht jetzt ... erst in der Nacht. In der Nacht mußte er hingehen ... hingehen ... hingehen ... Er griff sich an die Stirn ... Wohin gehen? ... Nun ja ... von dem Gebäude des Klubs aus durch jene lange Straße ... und dann ... ja, wohin dann ... ja, links ... und dann ... Ja, wohin? Wohin war er gegangen? ... Links ... links ... links ... Und Weldein suchte in seinem Gedächtnisse. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Er stampfte auf den Boden. Er murmelte ... Wohin ... Er schrie ... Wohin? Er ging mit gesenktem Haupte im Zimmer hin und her, im Kreise. Er fing an, in singendem Tone vor sich hinzusagen: Wohin ... wohin ... wohin?
Nun stand er wieder beim offenen Fenster. Wagen rasselten vorbei. Er schlug die Flügel wieder zu. – Wagenrasseln. Das hatte er auch heute nacht gehört, kurz vorher ... »Nun, nur Ruhe«, sagte er sich. »Also ... die Wagen rasselten in der Straße ... gut ... und dann ging ich links.« Er stand still da, die Stirn am Fensterkreuz, und grübelte. Er erinnerte sich genau an die dunkle lange Straße ... dann kam eine Kreuzung – er war zur linken Hand weitergegangen – und von da an ... wohin? ...
Er stand da, minutenlang, totenblaß, den Schweiß auf der Stirn. Es war, um toll zu werden! Er nahm seinen Hut, der auf dem Tische lag und setzte ihn auf. Er stürzte die Tür hinaus, die Treppe hinunter und fort, fort – dorthin!