Friedrich Schlegel
Georg Forster

Fragment einer Charakteristik
der deutschen Klassiker

[78] Über nichts wehklagt der Deutsche mehr als über Mangel an Deutschheit. »Wir haben siebentausend Schriftsteller, sagt Georg Forster (Kl. Schr. III, 362), und noch gibt es in Deutschland keine öffentliche Meinung.« In der Tat, wenn die Sache nicht einmal in Regensburg in Anregung gebracht, und allen Untertanen ein Nationalcharakter von Reichswegen befohlen wird; oder wenn es nicht etwa einem Sophisten der Reinholdischen Schule gefällt, die allgemeingültigen Prinzipien der Deutschheit allgemeingeltend zu machen: so hat es allen Anschein, daß die Deutschheit noch geraume Zeit nur ein gutherziges Postulat, oder ein trotziger und verzagter Imperativ bleiben werde.

Über notwendige Übel soll man nicht jammern. Ebenso wenig fruchtet neidische Anfeindung der Nachbaren, kindisch erkünstelte Selbstvergötterung und eigensinnige Verbannung des Fremden, welches so oft ein wesentlicher Bestandteil zu der neuen Mischung ist, durch welche wir allein noch zu eigener Vortrefflichkeit gelangen können. Selbst die an sich rühmliche und nützliche Erneuerung kann den Zweck nicht erreichen, welchen die meisten doch wohl dabei gehabt haben mögen. Was mit unsrer jetzigen Bildung, denn in dieser allein besteht doch unser eigentümlicher Wert, gar keinen Zusammenhang mehr hat, ist nicht bloß alt, sondern veraltet. Alle echte, eigne und gemeinschaft- Bildung, welche noch irgend in Deutschland gefunden wird, ist, wenn ich so sagen darf, von heute und gestern, und ward fast allein durch Schriften entwickelt, genährt, und unter den Mittelstand, den gesundesten Teil der Nation, verbreitet. Das allein ist Deutschheit; das ist die heilige[78] Flamme, welche jeder Patriot, hell und stark zu erhalten und zu vermehren, an seinem Teil streben sollte! Jeder klassische Schriftsteller ist ein Wohltäter seiner Nation, und hat gerechte Ansprüche auf ein öffentliches Ehrendenkmal. Ein Denkmal: aber nicht eben in Erz oder Marmor; auch kein Panegyrikus. Das schönste Denkmal für einen schriftstellerischen Künstler ist: daß sein eigentlicher Wert öffentlich anerkannt wird; daß alle einer allgemeinen Ausbildung Fähige immer wieder mit Liebe und Andacht von ihm lernen; daß einige die Eigentümlichkeit seiner Geisteswerke bis auf die feinsten Züge durchforschen und verstehen lernen.

Es will verlauten: Wir hätten keine klassischen Schriftsteller, wenigstens nicht in Prosa. Einige habens laut gesagt: aber tölpisch. Andere wollen dem gemeinen Mann das Untere der Karten nicht sehen lassen, und reden leise. Wenn wir nur recht viel klassische Leser hätten: einige klassische Schriftsteller, glaube ich, fänden sich noch wohl. Sie lesen; viel und vieles: aber wie und was? Wie viele gibt es denn wohl, welche, auch nachdem der Reiz der Neuheit ganz vorüber ist, zu einer Schrift, die es verdient, immer von neuem zurückkehren können; nicht um die Zeit zu töten, noch um Kenntnisse von dieser oder jener Sache zu erwerben, sondern um sich den Eindruck durch die Wiederholung schärfer zu bestimmen, und um sich das Beste ganz anzueignen? So lange es daran fehlt, muß ein reifes Urteil über geschriebene Kunstwerke unter die seltensten Seltenheiten gehören. Daß einsichtsvolle Bemerkungen über Bilder, Gemälde und Produkte der Musik verhältnismäßig so ungleich häufiger sind, entspringt gewiß größtenteils daher, daß hier die Dauer des Stoffs und der lebendigere Reiz schon von selbst zur öfteren Wiederholung einladet.

Es soll Philosphen geben, welche glauben: wir wüßten noch gar nicht, was Poesie eigentlich sei. Dann könnten wir auch durchaus gar nicht wissen, was Prosa ist: denn Prosa und Poesie sind so unzertrennliche Gegensätze, wie Leib und Seele. Vielleicht auch nicht, was klassisch. Und jenes unbesonnene Todesurteil über den Genius der deutschen Prosa wäre also um vieles zu voreilig.

Zwar in einem gewissen Sinne, der wohl der eigentliche und ursprüngliche sein mag, haben alle Europäer keine klassischen Schriftsteller zu befürchten. Ich sage, befürchten: denn schlechthin unübertreffliche Urbilder beweisen unübersteigliche Grenzen der Vervollkommnung. In dieser Rücksicht könnte man wohl sagen: der Himmel behüte uns vor [79] ewigen Werken. Aber die Menschheit reicht weiter, als das Genie. Die Europäer haben diese Höhe erreicht. Es kann fernerhin kein schriftstellerischer Künstler so nachahmungswürdig werden, daß er nicht einmal veralten, und überschritten werden müßte. Der reine Wert jedes Einzelnen wirkt ewig mit fort: aber die Eigentümlichkeit auch des Größten verliert sich in dem Strome des Ganzen. Wenn wir aber unter klassischen Schriften einer Nation nur solche verstehen, die in irgendeiner nachahmungswürdigen Eigenschaft noch nicht übertroffen sind, bis dahin also Urbilder bleiben sollen: so haben die Deutschen deren so gut, wie die übrigen gebildeten Völker Europas. Auch solche, die eigentlich der Nation angehören, und durch ihre Allgemeinheit in Gehalt und Geist ein eigentümliches, bleibendes Gemeingut aller bildungsfähigen Mitbürger einer Sprache sind; wenn gleich weniger, wie andre Nationen. Sollen nehmlich klassische Schriften es nicht bloß für diese oder jene Zunft; sollen sie allgemeine Urbilder sein: so muß die Bildung, welche sie mitteilen, nicht bloß eine echte, aber einseitige, und bei gewissen Grenzen schechthin stillstehende, oder wohl gar umkehrende, sondern eine ganz allgemeine und fortschreitende sein; so muß ihre Richtung und Stimmung den Gesetzen und Forderungen der Menschheit entsprechen.

Auch in Prosa. Ja, eigentlich künstlerische Schriften sind wohl in unserm Zeitalter weit weniger geschickt, ein gemeinsames Eigentum aller gebildeten und bildungsfähigen Menschen zu sein. Zwar wirkt jene liebliche Naturpoesie, welche vielmehr ein freies Gewächs, als ein absichtliches Kunstwerk ist, auf alle, die nur allgemeinen Sinn haben, auch ohne besonders ausgebildetes Kunstgefühl; und auch der Roman geht darauf aus, die geistige, sittliche und gesellschaftliche Bildung wieder mit der künstlerischen zu vereinigen. Aber jene zarten Pflanzen wollen nicht auf jedem Boden wild wachsen, noch die Verpflanzung ertragen, oder in Treibhäusern gedeihen. Der höfliche Sprachgebrauch nennt auch vieles Poesie, was weder schönes Naturgewächs, noch schönes Kunstwerk, sondern bloße Äußerung und Befriedigung eines rohen Bedürfnisses ist. Sie ist allgemein, aber nicht im guten Sinne; nämlich, sie arbeitet für die große Mehrheit der Bildungslosen. Und der Roman ist in der Regel, wie ein lockrer Gesell, der unglaublich geschwind lebt, alt wird und stirbt. Überhaupt kann jede menschliche Kraft nur durch entschiedne Absonderung von allen übrigen zu echter Bildung gedeihen: jede solche [80] Trennung des ganzen Menschen aber ist nicht für alle; sie erfordert mehr und leistet weniger, als zu einer allgemeinen Bildung notwendig ist.

Unter allen eigentlichen Prosaisten, welche auf eine Stelle in dem Verzeichnis der deutschen Klassiker Anspruch machen dürfen, atmet keiner so sehr den Geist freier Fortschreitung, wie Georg Forster. Man legt fast keine seiner Schriften aus der Hand, ohne sich nicht bloß zum Selbstdenken belebt und bereichert, sondern auch erweitert zu fühlen. In andern, auch den besten deutschen Schriften, fühlt man Stubenluft. Hier scheint man in frischer Luft, unter heiterm Himmel, mit einem gesunden Mann, bald in einem reizenden Tal zu lustwandeln, bald von einer freien Anhöhe weit umher zu schauen. Jeder Pulsschlag seines immer tätigen Wesens strebt vorwärts. Unter allen noch so verschiednen Ansichten seines reichen und vielseitigen Verstandes, bleibt Vervollkommnung der feste, durch seine ganze schriftstellerische Laufbahn herrschende Grundgedanke; ohngeachtet er darum nicht jeden Wunsch der Menschheit für sogleich ausführbar hielt (S. Ans. I, 351 folg.).

Fesseln, Mauern und Dämme waren nicht für diesen freien Geist. Aber nicht der Name der Aufklärung und Freiheit, nicht diese oder jene Form war es, woran er hing. Er erkennt und ehrt in seinen Schriften jeden Funken vom echten Geist gesetzlicher Freiheit, wo er ihn auch trifft: in unumschränkten Monarchien, wie in gemäßigten Verfassungen und Republiken; in Wissenschaften und Werken, wie in sittlichen Handlungen; in der bürgerlichen Welt, wie in der Erziehung und deren Anstalten (Ans. III, 221 folg.). Er redet für die Öffentlichkeit der bürgerlichen Rechtspflege (Ans. III, 32) so warm, wie gegen den gelehrten Zunftzwang und das Berufen auf das Wort des Meisters (Kl. Schr. IV, 369, 381 folg.). Auch das Vorurteil sollte nicht mit Gewalt bekämpft werden. Mit edlem, männlichem Eifer widersetzte er sich in der köstlichen Schrift über Proselytenmacherei der verfolgungssüchtigen Beschränktheit handwerksmäßiger Aufklärer, welche selbst in der Dämmerung tappen. Ihm stand es an, zu sagen (Kl. Schr. III, 226 folg.): »Frei sein, heißt Mensch sein.«

Bei jener rührenden Schilderung in den »Ansichten« (II, 233), wie er, nach einer Trennung von zwölf Jahren, das Meer, gleich einem alten Freunde, zum erstenmale wieder begrüßt habe, sagt er die merkwürdigen Worte: »Ich sank gleichsam unwillkürlich in mich selbst zurück, und vor meiner Seele stand das Bild jener drei Jahre, die ich auf dem Ozean zubrachte, und die mein ganzes Schicksal bestimmten.« – Für seinen Geist [81] war die Weltumseglung vielleicht die wichtigste Hauptbegebenheit seines Lebens: dagegen die Trennung von Deutschland auf seine letzten Schriften keinen bedeutenden Einfluß gehabt; wohl aber, wider Recht und Billigkeit, auf die Beurteilung selbst der früheren. – War seine Reise mit Cook wirklich der Urkeim, aus welchem sich jenes freie Streben, jener weite Blick vielleicht erst später völlig entwickelte: so möchte man wünschen, daß junge Wahrheitsfreunde, statt der Schule, häufiger eine Reise um die Welt wählen könnten; nicht etwa nur, um die Verzeichnisse der Pflanzen zu bereichern, sondern um sich selbst zur echten Lebensweisheit zu bilden.

Eine solche Erfahrung bei solchen ursprünglichen Anlagen, einer offnen Empfänglichkeit, einem nicht gemeinen Maß analytischer Vernunft, und stetem Streben nach dem Unendlichen, mußte in der Seele des Jünglings den Grund zu jener Mischung und steten Verwebung von Anschauungen, Begriffen und Ideen legen, welche die Geisteswerke des Mannes so merkwürdig auszeichnete. Immer achtete er den Wert einer universellen Empfänglichkeit (Kl. Schr. V, 27), und lebendiger Eindrücke aus der Anschauung des Gegenstandes (Vorr. der Kl. Schr.) ganz so hoch, wie er es verdient. Wenn in seiner Darstellung gleich die Ordnung oft umgekehrt ist: so war für seinen Geist doch immer eine äußre Wahrnehmung das Erste, gleichsam der elastische Punkt. Er geht vom Einzelnen aus, weiß es aber bald ins Allgemeine hinüberzuspielen, und bezieht es überall aufs Unendliche. Nie beschäftigt er die Einbildungskraft, das Gefühl oder die Vernunft allein: er interessiert den ganzen Menschen. Alle Seelenkräfte aber in sich und andern gleich sehr und vereinigt auszubilden; das ist die Grundlage der echten Popularität, welche nicht bloß in konsequenter Mittelmäßigkeit besteht.

Dieses Weitumfassende seines Geistes, dieses Nehmen aller Gegenstände im großen und ganzen gibt seinen Schriften etwas wahrhaft Großartiges und beinah Erhabnes. Nur freilich nicht für diejenigen, welche das Erhabne allein in heroischen Phrasen erblicken können. Stelzen liebte Forster nicht, brauchte sie auch nicht. Er schreibt, wie man in der edelsten, geistreichsten und feinsten Gesellschaft am besten spricht.

Seine Werke verdienen ihre Popularität durch dieechte Sittlichkeit, welche sie atmen. – Viele deutsche Schriften handeln von der Sittlichkeit: wenige sind sittlich. Wenige vielleicht in höherm Maß, wie Forsters; in ihrer Gattung wenigstens, keine. Zwar strengere Begriffe zu haben, ist [82] wohlfeil, wenn es bloß Begriffe sind. Was er wußte, meinte und glaubte, war in Saft und Blut verwandelt. Wie in allen Stücken, so auch in diesem wird man Buchstaben und Namen ohne den Geist, in Forsters Schriften vergeblich suchen. Überall zeigt sich in ihnen eine edle und zarte Natur, reges Mitgefühl, sanfte und billige Schonung, warme Begeisterung für das Wohl der Menschheit, eine reine Gesinnung, lebhafter Abscheu alles Un rechts. Wenn sein Unwille sich zuweilen bei geringen Anlässen unverhältnismäßig lebhaft äußert: so kann doch das seltne Übermaß sittlicher Reizbarkeit an einem Erdensohne immer noch für einen schönen Fehler gelten. Dabei findet man seine Denkart fester, strenger und männlicher, als die beinah weibliche Milde seines Wesens, die gleich beim ersten Blick so sehr auffällt, vermuten ließ. Ein lebendiger Begriff von der Würde des Menschen ist in seinen Schriften gleichsam überall gegenwärtig. Dieses, und nicht jenes lügenhafte Bild des Glücks, das so lange am Ziele der menschlichen Laufbahn stand, »ist ihm die oberste Richtschnur aller sittlichen Urteile und der echte Wegweiser des Lebens« (Kl. Schr. VI, 316); wie sich doch von dem Ton des Zeitalters und der ausländischen Philosophie, in dem, und durch die er seine wissenschaftliche Bildung zuerst empfing, erwarten ließ. Nach diesem echt sittlichen Grundbegriff betrachtete er auch die Gegenstände der bürgerlichen Welt. Zwar könnte er nach einzelnen Stellen besonders etwas früherer Schriften (z.B. Kl. Schr. I, 191 folg.) zu behaupten scheinen, allgemeine Beglückung sei der Zweck des Staats. Nimmt man seine Gedanken aber, wie man überall bei ihm tun muß, im großen und ganzen: so ergibt sich, daß nichts seinem Kopfe und Herzen mehr widerstehen konnte, als die Lehre, der einsichtsvollere Herrscher dürfe die Untertanen zwingen, nach seiner Willkür glücklich zu werden. Dieses erhellt besonders aus dem Aufsatz Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit. Er ist fest überzeugt, daß auch die edelste Absicht unrechtmäßige Gewalt nicht beschönigen könne (Kl. Schr. VI, 214). Den freien Willen der einzelnen Bürger erklärt er, als notwendige Bedingung ihrer sittlichen Vervollkommnung, für das Heiligste (Kl. Schr. III, 6).

Freilich treibt er die Sittlichkeit nicht so handwerksmäßig, wie manche Erziehungskünstler und Meister der reinen Vernunft, welche sich nun einmal mit der ganzen Schwere ihres Wesens darauf gelegt haben. Der gesellschaftliche Schriftsteller, welcher die gesamte Menschheit umfassen soll, darf eine einzige wesentliche Anlage derselben nicht so [83] einseitig auf Unkosten der übrigen ausbilden, wie es dem eigentlichen Sittenlehrer und Sittenkünstler von Rechts wegen erlaubt ist. Forster erkennt einen Wert, auch jenseits der Gesetze des Katechismus, und hält echte Größe, trotz aller Ausschweifungen, für Größe. Der erste Keim dieser natürlichen, aber seltnen Urteilsart, lag schon in seiner allgemeinen Vielseitigkeit, scheint sich jedoch erst später ganz entfaltet zu haben.

Seine Anbetung unerreichbarer und in ihrer Art einziger Vortrefflichkeit, kann schwärmerisch scheinen. Ja, man könnte ihm wirkliche Grundsätze der geistigen Gesetzlosigkeit aufzeigen; wenn jeder Zweifel, jeder Einfall, jede Wendung (wie Kl. Schr. VI, 96) ein Grundsatz wäre. Nur darf man nicht jeden übertriebenen Ausdruck gleich für ein Kennzeichen weichlicher Hingebung erklären; wiewohl er sich dem Genuß der schönen Natur leidend (Ans. III, 190) hingab, und hier die Zergliederung des Eindrucks für des Genusses Grenze hielt. Vielleicht nicht mit Unrecht. Seine bestimmte und bedingte Würdigung großer Menschen und Menschenwerke aber, die man nicht wie Natur genießen soll, ist ein Beweis von selbsttätiger Rückwirkung. Es darf nicht für Schwärmerei gelten, demjenigen einen unbedingten Wert beizulegen, was nur diesen oder gar keinen haben kann; oder an menschliche Größe überhaupt zu glauben, und zum Beispiel die Sittlichkeit der übergesetzlichen Handlungen des Brutus (Kl. Schr. IV, 367) und Timoleon (Kl. Schr. VI, 298) anzuerkennen.

Auch muß man nie über einzelne Worte mit ihm mäkeln. Leser, welche nicht dann und wann durch einen Hauch beleidigt werden, und über ein Wort mäkeln können, sind gewiß auch für die Schönheiten von der feineren Art stumpf. Nur soll man nicht alle Gegenstände durchs Mikroskop betrachten. Man sollte sich ordentlich kunstmäßig üben, eben sowohl äußerst langsam mit steter Zergliederung des Einzelnen, als auch schneller und in einem Zuge zur Übersicht des Ganzen lesen zu können. Wer nicht beides kann, und jedes anwendet, wo es hingehört, der weiß eigentlich noch gar nicht zu lesen. Man darf mit Grund voraussetzen, daß Forster oft auch mit polemischer Nebenabsicht gegen die herrschende Mikrologie und Unempfänglichkeit für genialische Größe den Ton hoch angab. Denn bei seiner Vielseitigkeit konnte ihm die »Rückseite des schönen Gepräges« (Ans. I, 68) selten ganz entgehen. Er kannte zum Beispiel die Grenzen von Gibbons Wert recht wohl (Kl. Schr. II, 289), ohngeachtet er seine Verkleinerer so unwillig straft.[84] Denn nichts konnte ihn mehr aufbringen, als eine solche Verkennung des echten Verdienstes, welche neben der Beschränktheit und Verkehrtheit auch üblen Willen verrät. Wenn er diese Saite berührt, so bekommt seine sonst so friedliche und milde Denkart und Schreibart ordentlich schneidende Schärfe und polemischen Nerv. Edler, rühmlicher Eifer für alles Große, Gute und Schöne! Und ohne alle einseitige Vorliebe für eine Lieblingsgattung. Bereitwillig huldigte er dem echten Genie jeder Art. Franklin und Mirabeau, der Schauspieler Iffland und der sokratische Hemsterhuys, Raffael, Cook und Friedrich der Große fanden in einem und demselben Manne einen doch nicht oberflächlichen Bewundrer.

Wenn die sittliche Bildung alle Wollungen, Begehrungen und Handlungen umfaßt, deren Quelle und Ziel die Foderung ist, alles Zufällige in uns und außer uns durch den ewigen Teil unsres Wesens zu bestimmen, und demselben zu verähnlichen: so gehört dazu auch vornehmlich diejenige freie Handlung, durch welche der Mensch die Welt zur Gottheit adelt. Auch bei Forster ging der gegebne Glaube voraus, und veredelte sich erst später in einen freien, dem er aber nie untreu ward. Er verabscheute auch hier die Geistesknechtschaft, und haßte die geistliche Verfolgungssucht, samt ihrem gehässigen Unterschiede zwischen Orthodoxie und Heterodoxie (Ans. I, 95 – 98). Der gänzliche Mangel an Schönheitsgefühl (Ans. I, 134), und die marklose Schwäche des Charakters (Ans. I, 209), welche sich in der Frömmigkeit nur allzuvieler Gläubigen zeigt, konnte ihm keine Achtung einflößen. Er hielt das Schwelgen in himmlischen Gefühlen sehr richtig für entmannende Seelenunzucht (Ans. I, 29 – 32), aber er glaubte standhaft an die Vorsehung. Es ist nicht bloß die unendliche Lebenskraft der allerzeugenden und allnährenden Natur, über die er sich oft mit der Begeistrung ihrer geweihtesten Priester, eines Lukrez oder Büffon, in Bewunderung ergießt. Auch die Spuren von dem Endzweck einer allgütigen Weisheit verfolgt er in der umgebenden Welt und in der Geschichte der Menschheit mit wahrer Liebe und mit jener nicht bloß gesagten, sondern tief gefühlten Andacht, welche einige Schriften von Kant und Lichtenberg so anziehend macht.

Aber nicht bloß diese und jene Ansicht, sondern die herrschende Stimmung aller seiner Werke, ist echt sittlich. Sie ist es von der jungfräulichen Scheu vor dem ersten Fehltritt und der erbaulichen Nutzanwendung in »Dodds Leben«, welches man nicht ohne das Lächeln der Zuneigung über seine jugendliche Arglosigkeit lesen kann, bis zu seinen [85] merkwürdigsten Empfindungen und Gedanken über die furchtbarste aller Naturerscheinungen der sittlichen Welt, welche, außer dem Anschein der größten weltbürgerlichen Wichtigkeit, schon durch ihre Einzigkeit und an Ausschweifungen jeder Art ergiebige Größe, die vollste Teilnahme seines Beobachtungsgeistes an sich ziehn mußte, in den »Parisischen Umrisse« und in den letzten Briefen.

Was soll man an diesen Briefen mehr bewundern und lieben? Den Scharfsinn? Den großen Blick? Die rührende Herzlichkeit des Ausdrucks? Die unerschütterliche Rechtlichkeit und Redlichkeit der Denkart? Oder die sanfte, milde Äußerung des tiefsten, oft Verzweiflung scheinenden Unmuts? – Am achtungswürdigsten ist es vielleicht, daß bei einem Anblick, wo hohle Vernünftler, wie der Pöbel, sobald es über eigne Gefahr und Klugheit hinausgeht, nur über das Unglück zu deklamieren pflegen; wo Menschen, die nur gutartig, nicht sittlich sind, sich höchstens bis zum Mitgefühl mit der leidenden Tierheit erheben; er nur um die Menschheit trauert, und allein über die sittlichen Greuel zürnt, deren Anblick sein Innres zerriß. Das ist echte Männlichkeit.

Wenn die rückständigen Briefe diesen entsprechen: so wird die deutsche Literatur durch die vollständigere Sammlung der Forsterschen Briefe, zu der bei Bekanntmachung der letzten Hoffnung gegeben ward, mit einem in jeder Rücksicht lehrreichen, köstlichen, und in seiner Art einzigen Werke bereichert werden.

Man hat es unbegreiflich gefunden, daß die »Parisischen Umrissen« parisisch sind, daß sie Farbe des Orts und der Zeit verraten; und unverzeihlich, daß der denkende Beobachter das Unvermeidliche notwendig fand. Es ist nicht bloß von den armen Sündern 1 die Rede, welche Forsters Schriften nach seinen bürgerlichen Verhältnissen beurteilt haben. Menschen, deren erstes und letztes Prinzipium alles Meinens und Handelns, deren Gott die Wetterfahne ist, verdienen kaum Erwähnung, geschweige denn zergliedernde Widerlegung. Selbst von gebildeten, denkenden Männern erwartet man oft vergebens, daß ihnen der himmelweite Unterschied zwischen der Sittlichkeit eines Menschen und der Gesetzmäßigkeit seiner Handlungen geläufig wäre. Sogar ein, wie es [86] scheint, rechtlicher, aber wenigstens hier oberflächlicher Beurteiler hat die »Umrisse« unsittlich, die letzten Briefe leichtsinnig gefunden 2. Und es ließ sich doch mit einem einzigen Blick auf den ganzen schriftstellerischen Forster erkennen, daß man hier kein Wort genauer nehmen dürfe, als wir es im raschen Gedränge des Lebens und im lebhaften Gespräch zu nehmen pflegen. »Ist es nicht Torheit, sagt er einmal in den »Ansichten« (III, 218), die Schriftsteller richten zu wollen, wegen einzelner Empfindungen eines Augenblicks, wo man vielmehr ihre Offenherzigkeit, das Herz des Menschen aufzudecken, bewundern sollte? Die schnellen tausendfachen Übergänge in einer empfänglichen Seele zählen zu wollen, die sich unaufhörlich jagen, wenn Gegenstände von außen, oder durch ihre lebhafte Fantasie hervorgerufen, auf sie wirken, wäre wirklich verlorne Mühe.«

Für ein Lehrgebäude mag die gänzliche Freiheit auch von den geringsten Widersprüchen die wesentlichste Haupttugend sein. An dem einzelnen ganzen Menschen aber im handelnden und gesellschaftlichen Leben entspringt diese Gleichförmigkeit und Unveränderlichkeit der Ansichten in den meisten Fällen nur aus blinder Einseitigkeit und Starrsinn, oder wohl gar aus gänzlichem Mangel an eigner freier Meinung und Wahrnehmung. Ein Widerspruch vernichtet das System; unzählige machen den Philosophen dieses erhabenen Namens nicht unwürdig, wenn er es nicht ohnehin ist. Widersprüche können sogar Kennzeichen aufrichtiger Wahrheitsliebe sein, und jene Vielseitigkeit beweisen, ohne welche Forsters Schriften nicht sein könnten, was sie doch in ihrer Art sein sollen und müssen.

Mannichfaltigkeit der Ansichten scheint flüchtigen, oder an Lehrgebäude gewöhnten Beobachtern gern gänzlicher Mangel an festen Grundbegriffen. Hier war es aber wirklich leicht, diejenigen wahrzunehmen, welche unter dem Wechsel der verschiedensten Stimmungen, und selbst bei entgegengesetzten Standpunkten, in den »Umrissen« wie in den Briefen, unveränderlich bleiben. Und welche Grundbegriffe sind es, an denen F. so standhaft aushielt? – Die unerschütterliche Notwendigkeit der Gesetze der Natur, und die unvertilgbare Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen: die beiden Pole der höhern politischen Kritik! Sie herrschen allgemein in allen seinen politischen Schriften, welche deshalb um so mehr Wert für uns haben müssen, da auch viele [87] unsrer besseren Geschichtskünstler nur wie Staatsmänner die Klugheit einzelner Entwürfe und Handlungen würdigen, zu wenig Naturforscher sind. Die gründlichsten Naturrechtslehrer hingegen sind oft im Gebiet der Erfahrung am meisten fremd, in deren Labyrinth man sich doch nur an dem Leitfaden jener Begriffe finden lernt.

In dem Wesentlichsten, dem Gesichtspunkt, sind also diese hingeworfnen Umrisse ungleich historischer, als manches berühmte und bändereiche Werk über die Französische Revolution. Über einzelne Äußerungen kann natürlich jeder, der die Zeitungen innehat, jetzt Forstern eines Bessern belehren. Der Wert seiner treffendsten und feinsten Beobachtungen aber kann nur von wenigen erkannt werden, weil ihre Gegenstände zugleich sehr geistig und sehr umfassend sind. Ist seine Ansicht aber auch durchaus schief und unwahr: so ist sie doch nicht unsittlich. Dieselben Verbrechen und Greuel, welche dem beobachtenden Naturforscher mit Recht nur für eine Naturerscheinung galten, empörten sein sittliches Gefühl. Nirgends hat er nur versucht, sie wegzuvernünfteln; oft selbst in den »Umrissen« laut anerkannt. Auch konnte ihm wohl die leichte Bemerkung nicht entgehen, daß der stete Anblick vergossenen Menschenbluts, Menschen, die nur zahm, nicht sittlich sind, fühllos und wild mache. Nur mußte er es freilich beschränkt finden, daß so viele in der reichhaltigsten aller Naturerscheinungen nur allein das wahrnehmen wollten (Kl. Schr. VI, 383). Hatte er so ganz unrecht zu glauben, daß man vieles zu voreilig den Handelnden zurechne, was aus der Verkettung der Umstände hervorging (Kl. Schr. VI, 347, 385)? Doch war er nicht von denen, welche die Naturnotwendigkeit bis zum Unsittlichen anbeten, und im dumpfen Hinbrüten über ein hohles Gedankenbild von unerklärlicher Einzigkeit endlich selbst zu forschen aufhören. Er unterschied das Zufällige, und sagt ausdrücklich: »Was die Leidenschaften hier unter dem Mantel der unerbittlichen Notwendigkeit gewirkt haben mögen, wird der Vergeltung nicht entgehen« (VI, 384). Welche Eigenschaften sind es denn, die er am meisten rühmt, deren Annäherung er wahrzunehmen glaubt, hofft oder wünscht? – Vaterlandsliebe (S. 358), allgemeine Entsagung, große Selbstverleugnung (S. 380), Unabhängigkeit von leblosen Dingen (S. 355), Einfalt in den Sitten (S. 356), Strenge der Gesetze (S. 357). – Darf man auf den endlichen Umsturz des allgemeinen herrschenden Egoismus (S. 351, 352) auch nicht einmal hoffen? Oder ist vielleicht schon das ein Verbrechen, daß die Französische Revolution [88] samt allen ihren Greueln, Forstern den festen Glauben an die Vorsehung dennoch nicht zu entreißen vermochte? Daß er es, was von diesem Glauben unzertrennlich ist, mit der Beobachtung der Weltbegebenheiten im großen und ganzen hielt (Kl. Schr. VI, 365, 366)?

Daß er auch hier die »Rückseite des Gepräges« kannte, läßt schon jene Vielseitigkeit seines Geistes erwarten, womit er unter andern in der merkwürdigen Stelle einer frühern Schrift, nachdem er die engländische Verfassung soeben mit Wärme gepriesen hat, auf »den Gesichtspunkt deutet, aus welchem ihre Vorzüge zu unendlich kleinen Größen hinabsinken« (Ans. III, 159, 160). Die gleichzeitigen letzten Briefe beweisen es. Denn wahr ists, in den »Umrissen« sucht er alles zum Besten zu kehren. Auch nimmt er bis auf die geringsten Kleinigkeiten absichtlich die Person und den Ton eines französischen Bürgers an. Das letzte ist nur eine schriftstellerische Wendung, um lebhafter zu polemisieren: denn in den letzten Briefen redet ein echter Weltbürger, deutscher Herkunft. Überhaupt liebte er es auch in allgemeinen Abhandlungen nicht, allein zu lehren. Seine dramatisierende Einbildungskraft schuf sich gern Gegner, wenn er einen Gegenstand von mehr als einer Seite beleuchten wollte (Kl. Schr. VI, 262). Und nicht zum Schein: er lieh ihnen starke Gründe und lebhaften Vortrag. Diese Manier seines Geistes kann man unter andern auch in dem Aufsatz über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit studieren.

Wenn man nicht gar leugnen will, daß es für einige Gegenstände verschiedne Gesichtspunkte gebe: so muß man auch zugeben, daß ein redlicher Forscher solche Gegenstände absichtlich aus entgegengesetzten Standorten betrachten dürfe.

In Rücksicht auf die alles zum Besten kehrende im großen und ganzen nehmende Art zu sehen und zu würdigen, sind, so paradox es auch klingen mag, die »Kritischen Annalen der englischen Literatur« die beste Erklärung und Rechtfertigung der »Parisischen Umrisse«. Sie herrscht auch hier, und mit Recht; denn nichts ist unhistorischer, als bloße Mikrologie ohne große Beziehungen und Resultate. Doch nie greift er zu solchen Lizenzen, wie sich Philosophen der alten und neuen Zeit, und solche, die des Namens gewiß nicht am unwürdigsten sind, in der Erklärung heiliger Dichter und alter Offenbarungen erlaubt haben. Es war nicht Zufall. Er wußte recht gut um die »Lindigkeit, mit der er hier das kritische Zepter führte« (Kl. Schr. V, 199). Man vergleiche nur einige seiner eigentlichen Rezensionen mit den ungleich milderen Urteilen in jenen [89] allgemeinen Übersichten; zum Beispiel die von Robertsons Werk über Indien. Viele sind mehr Anzeigen als Beurteilungen; einige beweisen, daß er auch streng würdigen konnte, und daß er in jenen Jahrbüchern nicht bloß aus Charakter, sondern aus Grundsatz, so mild urteilt. Aus diesem Gesichtspunkt muß man auch einige Äußerungen über verschiedene Gegenstände der deutschen Literatur nehmen, deren schwache Seiten er übrigens sehr gut kannte (Kl. Schr. V, 31, 32, 41–63 folg.).

Solche kritische Annalen in großem Stil und Gesichtspunkt, wären eins der dringendsten, aber schwerer zu befriedigenden Bedürfnisse der deutschen Literatur. Die Deutschen sind ein rezensierendes Volk; und in den sämtlichen Werken eines deutschen Gelehrten wird man eine Sammlung von Rezensionen ebenso zuversichtlich suchen, als eine Auswahl von Bonmots in denen eines Franzosen: aber wir kennen fast nur die mikrologische Kritik, welche sich mit einer mehr historischen Ansicht nicht verträgt. Die allzu große Nähe des besondern Gegenstandes, worauf die Seele jedes einzelnen, als auf ihren Zweck, sich konzentriert, verbirgt ihr auch des Ganzen Zusammenhang und Gestalt. Vielleicht sind beide Arten von Kritik gleich notwendig; gewiß aber sind sie subjektiv und objektiv durchaus verschieden, und sollten daher immer ganz getrennt bleiben. Es ist nicht angenehm, da, wo man gründlich, ja mikrologisch zergliedernde Prüfung erwartete, wenn etwa ein Günstling an die Reihe kommt, mit weltbürgerlichen Phrasen und den Manieren der Historie abgefertigt zu werden.

Ebenso widersinnig ist es, wenn man ohne Vorkenntnis der einzelnen Schrift eines Autors rezensierend zu Leibe geht, für den, vielleicht eben darum, weil er Charakter hat, nur durch wiederholtes Studium aller seiner aus und in einem Geist gebildeter Werke, der eigentliche Gesichtspunkt gefunden werden kann, auf den doch alles ankommt. Auch ohne Leidenschaft oder üblen Willen muß das Urteil dann wohl grundschief ausfallen. Nur das Gemeine verkennt man selten. Es wäre endlich Zeit, dem Gegenstand, welchen die Beurteiler so lange nur seitwärts angeschielt haben, auch einmal von vorn grade ins Auge zu schauen.

Es ist das allgemeine und unvermeidliche Schicksal geschriebner Gespräche, daß ihnen die Zunftgelehrten übel mitspielen. Wie breit und schwerfällig haben sie zum Beispiel von jeher die Sokratische Ironie mißdeutet und mißhandelt, auf die man anwenden könnte, was Plato vom Dichter sagt: Es ist ein zartes, geflügeltes und heiliges Ding. Auch [90] Forster kennt die feinste Ironie, und von groben Händen wird sich der flüchtige Geist seiner geschriebnen Gespräche nie greifen lassen. Denn das sind alle seine Schriften, fast ohne Ausnahme; ohnerachtet der Ausdruck noch lange nicht so abgerissen, hingeworfen und keck ist, wie in ähnlichen Geisteswerken der lebhafteren Franzosen: sondern periodischer, wie es einem Deutschen ziemt.

Es verlohnt sich wohl der Mühe, Forsters Schriften nicht zu verkennen. Wenige deutsche sind so allgemein geliebt. Wenige verdienen es noch mehr zu werden. Sie vollständig zergliedern, hieße den Begriff eines in seiner Art vortrefflichen gesellschaftlichen Schriftstellers entwickeln. Und in weltbürgerlicher Rücksicht stehen diese, deren Bestimmung es ist, alle wesentlichen Anlagen des Menschen anzuregen, zu bilden und wieder zu vereinigen, oben an. Diese für das ganze Geschlecht wie für einzelne, unbedingt notwendige Wiedervereinigung aller der Grundkräfte des Menschen, welche in Urquell, Endziel und Wesen eins und unteilbar, doch verschieden erscheinen, und getrennt wirken und sich bilden müssen, kann und darf auch nicht etwan aufgeschoben werden, bis die Vervollkommnung der einzelnen Fertigkeiten durchaus vollendet wäre; das hieße, auf ewig. Sie muß mit dieser zugleich, als gleich heilig, und zu gleichen Rechten, verehrt und befördert werden; wenn auch nicht durch dieselben Priester. Weltbürgerliche, gesellschaftliche Schriften sind also ein ebenso unentbehrliches Mittel und Bedingnis der fortschreitenden Bildung, als eigentlich wissenschaftliche und künstlerische. Sie sind die echten Prosaisten; wenn wir nehmlich unter Prosa die grade allgemeine Heerstraße der gebildeten Sprache verstehn, von welcher die eigentümlichen Mundarten des Dichters und des Denkers nur notwendige Nebenwege sind.

Die allgemeine Vorliebe für Forsters Schriften ist ein wichtiger Beitrag zu einer künftigen Apologie des Publikums gegen die häufigen Winke der Autoren, daß das Publikum sie, die Autoren, nicht wert sei. Jeder, vom Größten zum Geringsten, meint auf das wehrlose Geschöpf unritterlich und unbarmherzig losschlagen zu müssen. Mehrere haben ihm sogar ins Ohr gesagt, was der Gottesleugner bei Voltaire dem höchsten Wesen: »Ich glaube, du existierst nicht.« – Indessen stehn doch nicht bloß einzelne Leser auf einer hohen Stufe, wo sie der Schriftsteller nicht [91] gar viele antreffen möchten. Selbst das große, allgemein verachtete Publikum hat nicht selten, wie auch hier, durch die Tat richtiger geurteilt, als diejenigen, welche die Fabrikate ihres Urteilstriebes öffentlich ausstellen. – Freilich mögen viele wohl nur blättern, um die Zeit zu töten, oder um doch auch zu hören, und mitsprechen zu können. Die Gründlicheren hingegen lesen oft zu kaufmännisch. Sie sind unzufrieden mit einer Schrift, wenn sie nicht am Ende sagen können:Valuta habe bar und richtig empfangen. Kaum können Autoren, die sich nur durch bedingtes Lob geehrt finden, seltner sein, wie Leser, die ohne Passivität bewundern, und dem in seiner bestimmten Art Vortrefflichen die Abweichungen und Beschränkungen verzeihen können, ohne die es doch nicht sein würde, was es Gutes und Schönes ist, und sein soll.

Je vortrefflicher etwas in seiner Art ist, je mehr ist es auf sie beschränkt. Fodert von Forsters Schriften jede eigentümliche Tugend ihrer Gattung; nur nicht auch die aller übrigen. An der vornehmsten kommt kein andrer deutscher Prosaist ihm auch nur nahe; an Weltbürgerlichkeit, an Geselligkeit. Keiner hat in der Auswahl der Gegenstände, in der Anordnung des Ganzen, in den Übergängen und Wendungen, in Ausbildung und Farbe, so sehr die Gesetze und Foderungen der gebildeten Gesellschaft erfüllt und befriedigt, wie er. Keiner ist so ganz gesellschaftlicher Schriftsteller, wie er. Lessing selbst, der Prometheus der deutschen Prosa, hat seine genialische Behandlung sehr oft an einen so unwürdigen Stoff verschwendet, daß er scheinen könnte, ihn aus echtem Virtuoseneigensinn eben deswegen gewählt zu haben.

Wie in einem streng wissenschaftlichen und eigentlich künstlerischen Werke vieles sein muß, was der gebildeten Gesellschaft gleichgültig oder anstößig ist: so darf auch das gesellschaftliche Werk nach jenem Maßstabe in Gehalt und Ausdruck vieles zu wünschen übrig lassen, und kann doch in seiner Art klassisch, korrekt und selbst genialisch sein.

Die meisten können sich das Klassische gar nicht denken, ohne Meilenumfang, Zentnerschwere und Äonendauer. Sie fodern die Tugend ihrer Lieblingsgattung auch von allen übrigen. Sie könnens nicht begreifen, daß ein Gartenhaus anders gebaut werden müsse, wie ein Tempel. – Einen Tempel baut man auf Felsengrund; alles von Marmor, aus dem gediegensten und vornehmsten Stoff; den festen Gliederbau des einfachen und großen Ganzen in Verhältnissen, welche nach tausend Jahren so richtig und schön sind, wie heute. Also auch umfassende Werke geschichtlicher Kunst, die einigen das Höchste scheinen, was der menschliche [92] Geist zu bilden vermag. In einem solchen würde freilich der lose Zusammenhang des immer verwebten Besondern und Allgemeinen in Forsters Schriften schlaff und unwürdig scheinen. Manches, was hier an seiner Stelle eben das Beste ist, wie die Einleitungen zu »Cook, der Entdecker«, »Botanybay« und dem Aufsatz über Nordamerika, würde dort ein unverzeihlich üppiger Auswuchs sein.

Noch eher leidlich ist jene Verkehrtheit wohl, wenn sie aus einseitiger Liebhaberei für eine besondre Art entspringt. Oft sind es aber gewiß die nehmlichen, die Forstern, als zu leicht für sie, zurückschieben, welche auch Winckelmanns und Müllers Meisterwerke wegen der Schwerfälligkeit vernachlässigen. Sie wollen Rosen vom Eichbaum pflücken, und wehklagen, daß man aus Rosenstöcken keine Kriegsschiffe zimmern könne:


––unkundig dessen, was möglich
Sei, und was nicht: auf welcherlei Art die Gewalt einem jeden
Sei umschränkt, und wie fest ihm die scharfe Grenze gesteckt sei.

Dem Vorurteil, daß solche leichte gesellschaftliche Werke, deren Leichtigkeit nicht selten die Frucht der größten Kunst und Anstrengung ist, überhaupt nichtdauern könnten, widerspricht die Geschichte besonders derjenigen alten Urschriften, die immer noch neu sind. Die zarten Gewebe der Sokratischen Muse zum Beispiel, an die wir uns in einer Charakteristik der Forsterschen Schriften wohl erinnern dürfen, haben viele Jahrhunderte wirksam gelebt, und sind nach einem langen Winterschlaf wieder zu neuer Jugend erwacht, während so manche schwere Arbeit in dem Strom der Zeit untersank.

Aber ich möchte das doch zweifelhafte und ominöse Merkmal der Unsterblichkeit am liebsten ganz aus unserm Begriff vom Klassischen entfernt wissen. Möchten doch Forsters Schriften recht bald so weit übertroffen werden, daß sie überflüssig, und nicht mehr gut genug für uns waren; daß wir sie von Rechts wegen antiquieren könnten!

Bis jetzt aber ist er in den wesentlichsten Eigenschaften eines klassischen Prosaisten noch nicht übertroffen; in andern kann er mit den Besten verglichen werden. Jene Eigenschaften sind um so nachahmungswürdiger, da es dieselben sind, welche am sichersten allgemein wirken, und doch im Deutschen am seltensten und am schwersten erreicht werden können. Forster bewies auch darin seine universelle Empfänglichkeit und Ausbildung, daß er französische Eleganz und Popularität des Vortrags, und engländische Gemeinnützigkeit, mit deutscher Tiefe des [93] Gefühls und des Geistes vereinigte. Er hatte sich diese ausländischen Tugenden wirklich ganz zugeeignet. Alles ist aus Einem Stück in seinen Schriften, und hat deutsche Farbe. Denn er blieb ein Deutscher; noch zuletzt in Paris fühlte er seine Deutschheit sehr bestimmt.

Will man nur das Fehlerfreie korrekt nennen: so sind alle vom Weibe Gebornen notwendig inkorrekt;

So ist es jetzt, so war es zuvor, und so wird es stets sein.

Ist aber jedes Werk korrekt, welches dieselbe Kraft, die es hervorbrachte, auch wieder rückwirkend durchgearbeitet hat, damit sich Innres und Äußres entspreche: so darf man in F.s Schriften auch nur jenegesellschaftliche Korrektheit suchen, welche die glänzende Seite der französischen Literatur und in ihr einheimisch ist. Man wird sie auch in F.s Schriften nicht vermissen: er hatte sie an der Quelle studiert (Kl. Schr. V, 261, 266, 344, 345). Sie ist es, die, wie sich auch an manchem französischen Produkt bewährt, an echt künstlerischen oder wissenschaftlichen Werken oft eben das Beste abschleifen würde. Einige deutsche Autoren hätten daher nicht versuchen sollen, was doch vergeblich war: sie da zu erreichen, wo sie nicht hingehört: denn Anmut läßt sich nicht errechnen, noch eine ungesellige Natur durch Zwang plötzlich verwandeln.

Zwar verliert sich sein Ausdruck je zuweilen ins Spitzfindige und Geschrobene. Das ist nicht Affektation, wie es mir scheint: sondern es entsprang lediglich aus dem arglosen und herzlichen Bestreben, sich ganz und offen mitzuteilen, und auch das Unaussprechliche auszusprechen. Wenn er hie und da seine Andacht lauter verrichtet, als es Sitte ist: so darf uns das wohl ein Lächeln abnötigen. Nur beklage ich den, welcher diese liebenswürdige kleine Schwachheit von jener eigentlichen Schminke nicht unterscheiden kann, in der eine tief verderbte Seele auch vor sich selbst im Spiegel ihres Innern erscheinen muß! – Vorzüglich finden sich solche Gezwungenheiten, worein auch wohl sonst natürliche und nicht ganz unbeholfne Menschen im Anfange eines Gesprächs aus gegründeter Furcht vor dem Platten zu verfallen pflegen, in den Einleitungen und Eingängen, oder wo er seines Tons noch nicht ganz Meister war. So ist weit mehr Koketterie in dem Aufsatz über Leckereien sichtbar, als in den Erinnerungen, die von ähnlicher Manier und Farbe der Schreibart, aber ungleich vollendeter sind. Dieses Werk, in der ganzen deutschen Literatur das einzige seiner Art, übertrifft alle übrigen an Glanz des Ausdrucks, an feiner Ironie, und an verschwenderischem Reichtum überraschend [94] glücklicher Wendungen. Und doch war es keine leichte Aufgabe, sich hier zwischen Scylla und Charybdis durchzuwinden, nie die Aufrichtigkeit zu beleidigen, und doch keine Schicklichkeit zu verletzen! – Gewiß aber ist in Forsters Schriften nur sehr weniges, was nicht in der besten Gesellschaft gesagt werden dürfte. Der Ausdruck ist edel, zart, gewählt und gesellig. Er läßt uns oft wie ein heller Kristall auf den reinen Grund seiner Seele blicken.

Der Gehalt eines gesellschaftlichen Schriftstellers darf ebensowenig nach streng wissenschaftlichem und künstlerischem Maßstabe gewürdigt werden, wie der Ausdruck. Der gesellschaftliche Schriftsteller ist schon von Amts wegen gleichsam verpflichtet, wie ich weiß nicht welcher Magister seine Dissertation überschrieb, von allen Dingen, und noch von einigen andern, zu handeln. Er kann gar nicht umhin, ein Polyhistor zu sein. Wer nirgends fremd ist, kann auch nirgends ganz angesiedelt sein. Man kann nicht zugleich auf Reisen sein, und seinen Acker bestellen. – Auch wird der freie Weltbürger sich schwerlich in eine enge Gilde einzunften lassen.

Kenner und Nichtkenner haben Forsters Kunsturteile vielfältig, hart, und zwar im einzelnen getadelt. Man hätte lieber kürzer und strenger gradezu gestehen sollen, daß ihm eigentliches Kunstgefühl für die Darstellungen des Schönen, welches einer isolierten Ausbildung durchaus bedarf, ganz fehle; auch in der Poesie. Keine Vollkommenheit der Darstellung konnte ihn mit einem Stoff aussöhnen, der sein Zartgefühl verletzte, seine Sittlichkeit beleidigte, oder seinen Geist unbefriedigt ließ. Immer bewunderte und liebte er im Kunstwerk den großen und edlen Menschen, die erhabene oder reizende Natur. Denn wie tief und lebendig das von jenem Kunstgefühl wesentlich verschiedne Naturgefühl in ihm war, davon geben viele unnachahmlich wahre Ergießungen in seinen Schriften vollgültiges Zeugnis. Auch für schöne dichterische Naturgewächse hatte er viel Sinn. Das beweist schon die Art, wie er eins der köstlichsten, die »Sakontala« auf vaterländischen Boden verpflanzte.

Als eigentümliche Ansicht dagegen ist ForstersKunstlehre sehr interessant; schon darum, weil sie so ganz eigen und selbst gefühlt ist; vornehmlich aber, weil sie ihren Gegenstand aus dem notwendigen Gesichtspunkt der gebildeten Gesellschaft betrachtet, welche es nie weit genug in der Kennerschaft bringen wird, um über den künstlerischen Wert, die Gerechtsame und Foderungen der Sittlichkeit und des Verstandes zu vergessen. So wird der gesellschaftliche Mensch im wesentlichen immer denken; und als die deutlich ausgesprochne Stimme einer so ursprünglichen [95] und ewigen Klasse der freien Natur hat F.s Kunstansicht einen sehr allgemeinen, bleibenden Wert. Jenes allgepriesene Kunstgefühl aber dürfte ein Rigorist selbst bei vielen vermissen, die stets Gedichte schreiben; bei vielen, die, was jene gearbeitet haben, wenn es gedruckt ist, erläutern.

Die wesentlichen Grundgesetze derjenigen künstlerischen Sittlichkeit, ohne welche der Künstler auch in der Kunst sinken, und seine künstlerische Würde und Selbstständigkeit verlieren muß, hat F. nicht nur mit der Wärme eigner Empfindung vorgetragen, sondern auch, insofern er selbst ein Künstler war, treu befolgt. Er durfte sagen: »Der Künstler, der nur für Bewunderung arbeitete, ist kaum noch Bewunderung wert.« (Ans. I, 127.) »Ihn muß vielmehr, nach dem Beispiele der Gottheit, der Selbstgenuß ermuntern und befriedigen, den er sich in seinen eignen Werken bereitet. Es muß ihm genügen, daß in Erz, in Marmor, auf der Leinwand oder in Buchstaben seine große Seele zur Schau liegt. Hier fasse, wer sie fassen kann!« (Ans. I, 84, 85, 176, 177.)

Auch von der Kunst selbst hatte er so hohe, würdige Begriffe, wie sich mit jener gesellschaftlichen Vielseitigkeit nur immer vertragen. Solche herrschen auch in dem Aufsatz: Die Kunst und das Zeitalter. Die darin entworfene Ansicht der Griechen, die er vorzüglich von Seiten der urbildlichen und unerreichbaren Einzigkeit ihrer Kunst faßte, mag, im ganzen genommen, unter den oberflächlichen leicht am richtigsten treffen. Bei seiner ursprünglich naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bildung; bei seinen herrschenden Grundgedanken von Fortschreitung und Vervollkommnung bleibt es eine herrliche Bestätigung seiner unglaublich großen Vielseitigkeit, daß er die Begriffe von urbildlicher Schönheit, und unerreichbar einziger Vollendung so lebendig auffassen, und seinem Wesen gleichsam ganz einverleiben konnte; ohngeachtet er die lähmende Idee des Unverbesserlichen mit Recht verabscheute, und behauptete, »daß, wenn ein solches Unding, wie ein vollkommnes System, möglich wäre, die Anwendung desselben für den Gebrauch der Vernunft dennoch gefährlicher als jedes andere werden müßte.« – Das Einzelne aber in jener Ansicht der Griechen sollte man ihm um so weniger strenge auf die Waage legen, da es ohnehin eine allgemeine Liebhaberei der deutschen Autoren ist, die Geschichte des Altertums zu erfinden; auch solcher, die in der gesellschaftlichen Natur ihrer Schriften durchaus keine Entschuldigung finden können 3. – Warum [96] will man doch alles von allen fodern! – Soll die Philologie als strenge Wissenschaft und echte Kunst getrieben werden: so erfodert sie eine ganz eigene Organisation des Geistes; nicht minder, als die eigentliche Philosophie, bei der man es doch endlich einzusehn anfängt, daß sie nicht für jedermann ist.

Unleugbar aber war Forster ein Künstler im vollsten Sinne des Worts, wenn man es nur überhaupt in seiner Gattung sein kann. Selbst das wirkliche Gespräch kann ein Kunstwerk sein, wenn es durch gebildete Fertigkeit zur höchsten Vollendung in seiner Art geführt wird, und in Stoff und Gestalt ursprünglichen geselligen Sinn und Begeisterung für die höchste Mitteilung verrät. Ein Kunstwerk: ebenso gut, wie das auch vorübereilende Schauspiel; der Gesang, welcher selbst verhallend nur in der Seele bleibt; und der noch flüchtigere Tanz. Von einem solchen Gespräch kann gelten, was F. so köstlich von der »Vergänglichkeit« gesagt hat, welche »der Schauspielkunst mit jenen prachtvollen Blumen gemein ist, deren Fülle und Zartheit alles übertrifft, die in einer Stunde der Nacht am Stengel der Fackeldistel prangen, und noch vor Sonnenaufgang verwelken« (Ans. 1, 87, 88). Wer es vollends versucht, dem schönen Gespräch, dieser flüchtigsten aller Schöpfungen des Genius, durch dieSchrift Dauer zu geben, muß eine ungleich größere Gewalt über die Sprache, dieses unauslernbarste und eigensinnigste aller Werkzeuge besitzen, indem er die Nachhülfe der mitsprechenden Gebärde, Stimme und Augen entbehrt. Auch muß er, um die Bestandteile, die er aus dem Leben nahm, oder die in seiner dramatisierenden Einbildungskraft von selbst entstanden, zu ergänzen und zu ordnen, mehr oder weniger auch erfinden, absichtlich darstellen, dichten.

Wenn aufrichtige und warme Wahrheits- und Wissenschaftsliebe, freier Forschungsgeist und stete Erhebung zu Ideen; wenn ein großer Reichtum der verschiedenartigsten Sachkenntnisse, die vielseitigste Empfänglichkeit und rückwirkende Selbsttätigkeit eines hellen Verstandes, feine Beobachtungsgabe, Entwicklungsfertigkeit, gesunde Vernunft, ein nicht bloß kühn, sondern auch treffend verbindender Witz, bei einem hohen Maß geistiger Mitteilungsfähigkeit; kurz, wenn die wesentlichsten Vorzüge der echten Lebensweisheit auf diesen schönen Namen hinreichende Ansprüche geben: so war Forster ein Philosoph.

Seine Gründlichkeit in den Naturwissenschaften, wo er wohl die ausgebreitetsten und genauesten Sachkenntnisse besitzen mochte, überlasse ich der Beurteilung der Kenner. Seine hervorspringendsten Eigenschaften, [97] die große Übersicht (Kl. Schr. I, 410), derBlick ins Ganze, der feine Beobachtungsgeist, glänzen hier unstreitig nicht minder, wie überall sonst. Durch seine weltbürgerliche und geistvolle Behandlung und Darstellung, hat er die Naturwissenschaften in die gebildete Gesellschaft eingeführt. Durch vielfache Verwebung mit andern wissenschaftlichen Ansichten, hat er sie, wo nicht erweitert, doch verschönert; wie hinwiederum das Interessante seiner politischen Schriften durch ihren naturwissenschaftlichen Anstrich ungemein erhöht wird. F. hat auch das Verdienst um deutsche Kultur, daß er zur Verbreitung einer zweckmäßigen Lektüre in Reisebeschreibungen, die im ganzen genommen doch ungleich nahrhafter ist, als die der gewöhnlichen Romane, so viel wirkte. –

Indessen würde es mir doch eine unerklärliche Ausnahme vom Charakter seines Geistes scheinen, wenn er grade nur hier die Fähigkeit einer ganz wissenschaftlichen, durchgreifenden und streng durchgeführten Methode besessen hätte, die sich sonst nirgends zeigt. Denn so voll seine Schriften auch sind von geistigen Keimen, Blüten und Früchten: so war er doch kein eigentlicher Vernunftkünstler; auch würdigte er die Spekulation aus einem kosmopolitischen Gesichtspunkt (Kl. Schr. II, 9). Er ist nicht von denen, die mit schneidender Schärfe, in senkrechter Richtung, grade auf den Mittelpunkt ihres Gegenstandes losdringen, und, ohne zu ermatten, auch die längste Reihe der allgemeinsten Begriffe fest aneinander ketten und gliedern können.

Ihm fehlte das Vermögen, sein Innres bestimmt zu trennen, und sein ganzes Wesen wiederum in eine Richtung zusammenzudrängen und ausdauernd auf einen Gegenstand beschränken zu können; ja überhaupt die gewaltige Selbstständigkeit der schöpferischen Kraft, ohne die es unmöglich ist, ein großes wissenschaftliches, künstlerisches oder geschichtliches Werk zu vollenden.

Doch möchte ich darum das Genialische seinen Schriften nicht absprechen, wenn diejenigen Produkte genialisch sind, wo das Eigentümlichste zugleich auch das Beste ist; wo alles lebt, und auch im kleinsten Gliede der ganze Urheber sichtbar wird, wie er, um es zu bilden, ganz wirksam sein mußte; wie bei F.s Werken so offenbar der Fall ist. Denn Genie ist Geist, lebendige Einheit der verschiedenen natürlichen, künstlichen und freien Bildungsbestandteile einer bestimmten Art. Nun besteht aber das Eigentümliche eben nicht in diesem oder jenem einzelnen Bestandteil, oder in dem bestimmten Maß desselben: sondern in dem Verhältnis aller. Grade diese ursprünglichen und erworbenen Fähigkeiten mußten in diesem Maß und in dieser Mischung zusammentreffen, [98] damit unter dem beseelenden Hauch des Enthusiasmus, welchen allein weder Natur noch Kunst dem freien Menschen geben können, etwas in seiner Art so Vortreffliches entstehen konnte. Eine so glücklicheHarmonie ist eine wahre Gunst der Natur; unlernbar und unnachahmlich.

Dieselbe gesellige Mitteilung befreundete also noch die einfachsten Bestandteile seines innersten Daseins, welche in seinen Schriften lebt, und immer ein unter den mannichfachsten Gestalten oft wiederkehrender Lieblingsbegriff seines Geistes war. Man könnte diese gesellige Wendung seines Wesens selbst noch in dem glänzend günstigen Lichte zu erkennen glauben, worin er den Stand erblickt, welchen der Austausch sinnlicher Güter vorzüglich veranlaßt und begünstigt, den Verkehr auch der geistigen Waren und Erzeugnisse, in sich, am freiesten und gleichsam in der Mitte aller übrigen Stände, auszubilden, und in der umgebenden Welt zu befördern (Ans. I, 304, 305). – Die Verwebung und Verbindung der verschiedenartigsten Kenntnisse; ihre allgemeinere Verbreitung selbst in die gesellschaftlichen Kreise, hielt er für den eigentümlichsten Vorzug unsers Zeitalters (Ans. I, 65 folg.), und für die schönste Frucht des Handels (Ans. II, 426 – 429). In dem tätigen Gewühl einer großen Seestadt erblickt er ein Bild der friedlichen Vereinigung des Menschengeschlechtes zu gemeinsamen Zwecken des frohen, tätigen Lebensgenusses (Ans. II, 373). Die Wiedervereinigung endlich aller wesentlich zusammenhangenden (Kl. Schr. V, 23), wenngleich jetzt getrennten und zerstückelten Wissenschaften (Kl. Schr. III, 311 – 314. IV, 378) zu einem einzigen unteilbaren Ganzen, erscheint ihm als das erhabenste Ziel des Forschers.

Fußnoten

1 Wie der Rezensent der Ansichten in der Jenaischen A. L. Z. 93. nro. 202, 203; und der Erinnerungen eben daselbst, 94. nro. 62.

2 In der Anzeige der Friedenspräliminarien in der Jen. A. L. Z. 94. nro. 371, 372.

3 Auch solcher, die sich ausdrücklicher zu Altertumslehrern aufwarfen. Moritz zum Beispiel würde vortrefflich über die Alten geschrieben haben, wenn er sie gekannt hätte: aber es fehlt nur wenig, daß er sie gar nicht kannte.

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TextGrid Repository (2012). Schlegel, Friedrich. Ästhetische und politische Schriften. Georg Forster. Georg Forster. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D8CA-4