16. Klagen der Maria

Da zu Grabe Jesus lage,
Jesus, du geliebtes Kind,
Hört man seiner Mutter Klage,
Es verstummten Luft und Wind.
Erd' und Himmel schwarz umnachtet,
Standen im ganz finstern Kleid;
Mitleidsvoll die Sonn' verschmachtet,
Mond und Sterne trugen Leid.
Ach ihr schönen Mond und Sterne!
Goldne Flämmlein, goldner Schein,
Goldne Äpfel, goldne Kerne,
Himmelsperlen, Edelstein'!
Ach ihr goldnen Himmelslichter,
Die betrübte Mutter sprach:
Ach ihr goldnen Angesichter
Trauert meinem Jesu nach!
Immer weinet, nimmer scheinet,
Klaget mein so schönes Kind,
Ach nicht scheinet, ach nur weinet
Leidvoll, kummervoll gesinnt.
Jesus, hoch gelobter Knabe,
Ward im wilden Wald ermord't,
Da mit seinem Hirtenstabe
Er gewallt an fremden Ort.
Jesus saß auf grüner Heiden,
Als er eins der Schäflein sein
Sah von seiner Herde scheiden,
In die Wüste laufen ein.
Jesus da nicht lang verweilet,
Auch zur wilden Wüste rannt';
[462]
Nach dem Schäflein liebend eilet,
War in Liebe ganz entbrannt.
Kaum, daß Jesus nun gefunden
Sein verlornes Schäflein zart,
Als von Bären, Wölf' und Hunden
Er im Wald umringet ward.
Rissen seine Fuß' und Hände,
Weißer als ein Elfenbein,
Rissen auf die Seit' elende,
Schlugen Zähn' und Klauen ein.
Zogen ihn durch Dorn' und Hecken,
Scharf und stechend, abgelaubt,
Da die Dornen blieben stecken
Und verwund'ten Stirn und Haupt.
Ach ihr wilden Wölf' und Bären,
Ach ihr grimmen Tigertier'!
Er in Blut, und ich in Zähren,
Sohn und Mutter baden wir.
Welche Angst, ach welche Schmerzen
Ihr da brachtet meinem Kind!
O der Stahl- und Eisenherzen! –
Stahl und Eisen weicher sind.
Schonet seiner zarten Jahre,
Schonet seine goldnen Haar',
Nur so grausam nicht verfahren!
Ach nicht also wütet gar!
Ach wie konntet ihr behalten
Euer schnödes Wesen wild,
Da so freundlich von Gestalten
Ihr gesehn das schöne Bild.
Eure Sinnen waren blöde,
Eure Augen waren blind,
Daß ihr morden konntet schnöde
Mein o wunderliebes Kind.
Hättet auf den schönen Knaben
Ihr die Augen nur gelenkt,
Würdet ihn verschonet haben,
Nicht ein Haar an ihm gekränkt.
[463]
Seiner süßen Augen Blicken,
O sein strahlend Angesicht,
Eure Wildheit mußt' bestricken,
Eure Wut bestand dann nicht.
Süßer Jesu, du mein eigen,
Du mein Blut, mein Eingeweid';
Weh mir, Erd' und Himmel schweigen,
Horchend auf mein Herzenleid.
Dich zu Nachten, dich am Tage
Klag' ich weinend überall,
Und mir nach zu Nacht und Tage
Klagt der öde Widerhall.
Meine tiefen bittren Schmerzen,
Jesu, wären nicht so groß,
Drückt' ich dich an meinem Herzen,
Faßt' ich dich in meinem Schoß.
Dürften meine Lippen saugen
Deinen letzten Atem ein;
Meine Seel' in deine hauchen,
Deine ziehen in mich ein.
Ach du bleicher Mond und Sterne,
Trauerflämmlein, kaltes Feu'r,
Schauet her aus eurer Ferne
Meine Schmerzen ungeheu'r!
Ich in Feldern, ich in Wäldern
Rufe meinem zarten Kind,
Noch in Feldern, noch in Wäldern
Nirgend meinen Knaben find'.
Ach der Mond, die kleinen Sterne
Mitleidsvoll mich hören an,
Weder Monde, noch die Sterne
Niemand mich je trösten kann.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schlegel, Friedrich. Gedichte. Trutznachtigall. 16. Klagen der Maria. 16. Klagen der Maria. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D675-0