19. Kio.

Einem reichen Könige hatte seine Gemahlin das zwölfte Kind geboren, einen bildschönen Knaben. Da nun der König schon [291] so viele Kinder hatte, so bestimmte er, daß gar keine Gevattern gebeten werden sollten, sondern der erste Arme (biddeman), welcher vor die Thür käme, der sollte Gevatter sein. Bald kam auch ein Bettler vor das Schloß und bat um eine Gabe; sogleich wurde er zurück gehalten und ihm gesagt, daß er bei dem neugeborenen Prinzen Gevatter werden müsse. Er war auch dazu bereit, ging mit dem Kinde in die Kirche und hielt es über die Taufe. Indessen war, ohne daß es jemand bemerkt hatte, auch der Hofnarr des Königs, Namens Kio, mit in die Kirche gegangen und hatte sich hinter einem Stuhle versteckt, von wo aus er alles hören und sehen konnte, was bei der Taufe vorging. Als nun das Kind getauft war, sprach der Bettler zu demselben, er könne ihm zwar nichts einbinden, weil er selbst nichts habe, aber eines wolle er ihm doch mitgeben: wenn es heranwüchse und groß würde, so solle es immer das haben, was es sich wünsche. Kio, der das allein gehört hatte, merkte es sich wohl und schlich sich wieder unbemerkt aus der Kirche. Als nun der Knabe zwei Jahre alt geworden war und schon sprechen konnte, dachte Kio bei sich, er wolle doch einmal versuchen, ob das wirklich geschähe, was das Kind sich wünschte. Er sagte also eines Tages zu dem Knaben, er möge sich doch einmal einen Pfennig wünschen. Der Knabe that das, und sogleich war der Pfennig da. Dann machte er noch einen zweiten Versuch und sprach: »sage einmal, ich wollte, daß ich einen Stock hätte.« Der Knabe sprach diese Worte, und gleich hatte er einen Stock. Im dritten Jahre raubte nun Kio das Kind und ging mit ihm weit weg in ein fremdes Land. Eines Tages kam er an einem großen und schönen Garten vorbei, worin wunderschöne Lilien standen. Er ging hinein, pflückte eine Lilie ab und sprach darauf zu dem Knaben: »sage, ich wollte, daß die Lilie ein Lilienstock wäre, und ich könnte ihn bei mir in der Tasche tragen.« Der Knabe that, wie ihm gesagt war, und in demselben Augenblicke war die Lilie auch schon ein Lilienstock, den er in die Tasche steckte. Von da zog Kio weiter in ein anderes Land, und hier muste ihm der Knabe nach einander Knechte, Mägde, einen großen Hof mit einem schönen Hause und vielem Lande wünschen, was er alles für sich hinnahm; den Lilienstock aber muste das Kind zu einer Frau wünschen, die nun seine Mutter war. Auf dem Hofe war es sehr einsam, weil in der ganzen Gegend keine andere Menschen waren, als die zum Hofe [292] gehörten. Als der Knabe schon mehr herangewachsen und nun mit seiner Mutter einmal allein war, fragte er sie, ob er denn keinen Bruder, keine Schwester, keinen Großvater und keine Großmutter habe? Jene antwortete: »mein Sohn, ich weiß selbst nicht, woher ich gekommen bin, ich habe keinen Vater und keine Mutter.« Darauf sagte der Knabe zu ihr: »wenn du dich heute Abend schlafen legst, so frage doch den Vater einmal, woher du stammst, und ob ich keinen Großvater und keine Großmutter habe; ich aber will mich unter das Bett legen und horchen.« Am Abend kam Kio nach Hause und ging mit seiner Frau schlafen, der Knabe aber hatte sich unter das Bett gelegt. Wie sie nun so im Bette lagen, fing die Frau an: »höre, lieber Mann, woher bin ich denn eigentlich? hier ist doch kein Mensch, als ich und du und unsere Knechte und Mägde und das Kind.« Er erzählte ihr nun, daß er bei einem reichen Könige Hofnarr gewesen sei und Kio heiße; wie dem Könige ein zwölftes Kind, eben dieser Knabe, geboren sei, den ein Bettler bei der Taufe so begabt habe, daß alles, was er nur wünsche, alsbald sich erfülle, und wie er dann den Knaben geraubt habe und mit ihm hierher gegangen sei. »Horch, Lietchen, horch! horch, Lietchen, horch!« rief jetzt die Frau leise. Lietchen war aber der Name des Knaben, der unter dem Bette lag und alles mit anhörte. Jener erzählte weiter, wie der Knabe Haus und Hof, Knechte und Mägde, überhaupt alles gewünscht habe, was da sei. »Horch, Lietchen, horch!« rief wieder die Frau. Kio sagte dann auch, daß sie eine Lilie gewesen sei, die von dem Kinde erst zu einem Lilienstocke und darauf zu einer Frau gewünscht sei, und daß sie wieder zu einer Lilie werden würde, wenn sie wieder in den Garten gebracht würde und der Knabe zu ihr spräche: ich wollte, daß du wieder eine Lilie wärest. »Horch, Lietchen, horch!« ließ sich die Frau wieder vernehmen. In demselben Augenblicke sprach aber auch schon der Knabe unter dem Bette: »ich wollte, daß du ein Pudelhund wärest und fressen müstest, was ich dir zu fressen gäbe.« »Wau, Wau« bellte es im Bette, und ein großer Pudel sprang daraus hervor. Der Knabe gab jetzt dem Pudel Steine, die dieser fressen muste. Dann wünschte er, daß seine Mutter wieder ein Lilienstock würde und er sie in der Tasche tragen könne. Mit diesem ging er zu dem Garten, worin die Lilie gepflückt war, und wünschte, daß sie wieder da stände. Von da reiste er hin zu seinem Vater; der[293] Pudel aber, welcher mit einem Beine hinkte, sowie Kio mit dem einen Fuße gehinkt hatte, muste immer neben ihm her laufen. Im Schlosse seines Vaters gab er sich für einen Küchenjungen aus und bat, daß man ihn in Dienst nehmen möchte, ward aber abgewiesen. Er sagte indes, er wisse nirgend hin, und bat so lange, bis er endlich als Küchenjunge angenommen wurde. Weil er nun den Hund bei sich behielt, so sagten die anderen in der Küche zu ihm, was sie mit einem solchen Küchenjungen sollten, der sich einen Hund hielte; sie hätten Hunde genug im Schlosse. Er antwortete ihnen, das ginge sie nichts an, sein Hund fräße nichts als Steine. Der alte König hatte davon gehört und kam selbst in die Küche, um den Hund zu sehen, der nur Steine fräße. Der Küchenjunge rief also: »Kio, Kio, zuch!« und sogleich kam der Hund herbei. Bei dem Namen Kio war der König aufmerksam geworden und fragte darauf den Jungen, wie der Hund zu dem Namen käme; er habe einmal einen Hofnarren gehabt, der habe so geheißen und, ebenso wie der Hund, mit dem einen Beine gehinkt. Da fragte der Küchenjunge, ob er nicht einen Sohn Namens Lietchen gehabt habe, der sein jüngstes Kind gewesen sei? Der König bejahte das und fügte hinzu: »der ist wahrscheinlich ertrunken, denn ich habe keine Spur von ihm auffinden können.« Nun wünschte der Junge den Pudel wieder zu einem Manne, sagte dem Könige, daß er sein Sohn sei, und erzählte alles, was er erlebt hatte. Da hatte die Freude über den wiedergefundenen Sohn gar kein Ende; Kio aber ward zur Strafe für sein Verbrechen lebendig verbrannt.

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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. Märchen und Sagen. Niedersächsische Sagen und Märchen. B. Märchen. 19. Kio. 19. Kio. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B9B0-1