8. Die Ziege.

Ein Schustergeselle kam auf der Wanderung in einen großen Wald. Er verirrte sich darin und es blieb ihm nichts weiter übrig, als auf gut Glück gerade aus zu gehen. Da erblickte er in der Ferne ein Licht, er ging darauf zu und kam endlich zu einem schönen Schlosse. Er ging hinein; kein Mensch und überhaupt kein lebendiges Wesen ließ sich darin blicken, übrigens war alles auf das schönste eingerichtet. In einem der Zimmer ließ er sich auf einem schönen Sopha nieder. Es dauerte nicht lange, so erschien eine niedliche Ziege und setzte sich zu ihm. Dann wurden von unsichtbaren Händen zwei Tassen auf den Tisch gesetzt und in schönem Geschirr Caffee aufgetragen. Er schenkte beide Tassen voll, aus der einen trank er selbst, aus der anderen die Ziege. Als es Mittag geworden war, ward wieder, ohne daß er jemand sah, der Tisch gedeckt, Teller, Messer und Gabeln aufgelegt, und ein köstliches Mal aufgetragen. Auch jetzt setzte sich die Ziege wieder zu ihm und aß mit ihm. Am Abend geschah dasselbe. Als er schlafen gehn wollte, folgte ihm die Ziege in die Kammer; legte das Ziegenfell ab, ward darauf eine Jungfrau von wunderbarer Schönheit und ging mit ihm zu Bette. So lebte er vierzehn Tage im Schlosse, ohne ein anderes Wesen als die Ziege zu sehen. Da dachte er lebhaft an seine Eltern und wünschte bei diesen zu sein; alsbald stand eine schöne Kutsche mit zwei schwarzen Pferden bespannt vor der Thür. Er setzte sich in den Wagen, aber die Ziege sprang auch hinein und fuhr gerades Weges mit ihm zu dem Hause seiner Eltern. Diese wunderten sich nicht wenig und waren gar nicht damit zufrieden, als sie sahen, daß ihr Sohn eine Ziege mitgebracht hatte, die mit ihm aß und Abends sogar mit ihm zu Bette ging. Sie waren neugierig zu erfahren, was es damit für eine Bewandtnis habe, und so sah denn der Vater eines Abends durch das Schlüsselloch. Da bemerkte er, daß die Ziege das Fell ablegte, ein schönes [271] Mädchen ward und dann mit seinem Sohne zu Bette ging. Als er das gesehen hatte, nahm er einen Nebenschlüssel, öffnete behutsam die Thür und zerhackte das Ziegenfell. Dadurch war die Jungfrau erlöst und blieb nun ein Mensch. Sie heirathete nun den Gesellen; nach der Trauung setzte sie sich mit ihrem Manne und ihre Schwiegereltern in den Wagen, und fuhr nach ihrem Schlosse zurück. Als sie daselbst ankamen, war auch dort der Zauber gelöst und alles wieder lebendig geworden, Menschen und Thiere. Knechte und Mägde kamen ihnen entgegen und bewillkommneten sie. Auf dem Hofe tummelte sich das Federvieh lustig herum, in den Ställen aber standen viele Kühe und sieben Gespann Pferde.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. Märchen und Sagen. Niedersächsische Sagen und Märchen. B. Märchen. 8. Die Ziege. 8. Die Ziege. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B957-D