[61] [65]I.
Eines Nachmittags hatte ich von Döbling aus, wo ich mich damals eben eingemietet hatte, einen Spaziergang über Grinzing nach der Wildgrube unternommen. Diese Gastwirtschaft war mir noch in guter Erinnerung, denn ich hatte sie früher bei geselligen Ausflügen nach dieser Gegend wiederholt besucht. Inzwischen schien sie einigermaßen in Verruf geraten zu sein. Trotz des prachtvollen, fast sommerlichen Septemberwetters waren nur wenige Gäste anwesend, so daß ich ziemlich einsam bei meiner Tasse Kaffee sah. Ich war es aber ganz zufrieden; konnte ich doch desto ungestörter die Aussicht über die Donau und ihre bereits bunt gefärbten Auen genießen. Auch hatte ich ein Buch bei mir, in dem ich lesen wollte. Es war Gracians Handorakel der Weltklugheit, übersetzt von Schopenhauer. Ich kannte es schon; da ich es aber Jahre hindurch in meiner Bücherei neben den Werken des Frankfurter Philosophen vermißte, so hatte ich das schlanke Bändchen, das ich erst kürzlich von einem Freunde zum Geschenk erhalten, heute zu mir gesteckt und wurde jetzt von dem Inhalt wieder mehr und mehr angezogen.
Inzwischen war die Sonne immer tiefer gesunken. Ich dachte also an den Rückweg. Und zwar über den »Kobenzl« und den »Himmel« nach Sievering hinunter. Auf der Avenue des Schlosses, in dem einst der geniale Freiherr von Reichenbach seinen odisch-magnetischen Studien obgelegen, fesselte mich noch ein prachtvoller Sonnenuntergang; dann schlug ich einen[65] Seitenpfad ein, der mich, wie ich annahm, rascher die Höhe hinableiten sollte. Aber er führte tiefer in den Wald hinein. Bei meinem mangelhaft ausgebildeten Ortssinn verirrte ich mich, und als ich endlich nach mancherlei Kreuz- und Quergängen die ersten Häuser von Sievering erreicht hatte, war die Dunkelheit längst hereingebrochen.
Die schmale, langgedehnte Ortschaft lag bereits in nächtlicher Ruhe vor mir. Die Haustore waren geschlossen, die Lichter verlöscht; nur durch die Fenster einzelner größerer und stattlicherer Häuser schimmerte es noch. Auch die Buschenschenken, die hier zur Herbstzeit offen stehen, und von der Stadt aus so zahlreich besucht werden, zeigten sich still und verödet. Nur in einer, der ich mich jetzt näherte, ertönte noch lustige Musik. Vor dem Eingang stand ein verwaister Einspänner, dessen Kutscher sich gewiß da drinnen beim Heurigen gütlich tat, während sein hagerer Gaul mit hängendem Kopf stumpfsinnig vor sich hindämmerte. Ein plötzliches Verlangen überkam mich. Ich wollte wieder einmal ein Stück Volksleben auf mich wirken lassen; auch hatte ich schon lange keinen jungen Wein mehr verkostet und konnte da gleich mein Abendbrot einnehmen. Ich trat also durch das halb offen stehende Tor. Aber schon im Hofe fühlte ich mich enttäuscht. Denn der angrenzende kleine Garten, offenbar zum Versammlungsort fröhlicher Zecher bestimmt, erschien fast leer und wurde nur sehr matt von einem einzigen, mit Glas geschützten Leuchter erhellt, in dem eine schlechte Talgkerze schwelte. In diesem Halbdunkel saßen ein paar Männer vereinzelt an verschiedenen Tischen und lauschten den Klängen einer Geige, einer Klarinette und einer Harmonika, die von drei Musikanten aus Leibeskräften gehandhabt wurden. Ich wollte schon umkehren. Da mich aber der bäuerliche Wirt, der in Hemdärmeln und blauem Fürtuch auch die Dienste eines Kellners versah, bemerkt hatte, so trat ich doch in den Garten und ließ mich an einem Seitentische nieder, der mit zwei anderen unter einer schützenden[66] Holzdachung stand. Der Wirt indes schien über mein Kommen nicht besonders erfreut zu sein. Denn er stellte mit sehr verdrossenem Gesicht ein zweites Licht vor mich hin und fragte dann ziemlich barsch nach meinem Begehren. Während er ging, das Verlangte herbeizuschaffen, wurde meine Aufmerksamkeit einem der Gäste zugelenkt, der an dem Tische mit dem Leuchter saß. Ich mußte ihn schon irgendwo gesehen haben. Es war ein junger Mann in den Dreißigern, nachlässig und mit sehr schadhafter Eleganz gekleidet. Der trübe Kerzenschein beleuchtete ein vornehmes, markantes Gesicht, das aber durch ein ungewöhnlich stark zurückweichendes Kinn entstellt wurde und einen hektischen Zug aufwies. Die langen hageren Beine weithin unter den Tisch gestreckt, die Hände in den Hosentaschen, blickte er mit eingesunkener Brust nach den Musikanten, die eigens für ihn aufzuspielen schienen, denn sie standen in nächster Nähe vor ihm.
Jetzt brachen sie ihr Stück mit einem überstürzten Finale ab und nahmen die Instrumente unter den Arm.
»Spielt's weiter!« sagte der junge Mann in befehlendem Tone. Seine Stimme klang heiser und gebrochen.
»Verzeign S', gnä' Herr,« versetzte der Geigenmann als Leiter des Trios, »verzeign S', mir mürssen no' nach Salmansdorf umi. Mir san dort b'stöllt, wal tanzt wird. Es is eh' scho' d' hechste Zeit. Mir bitten also um unser Dussär.« Damit nahm er die Mütze ab und hielt sie, um den erhofften Lohn zu empfangen, dem Gast entgegen.
Dieser sah ihn ausdruckslos an. Dann wendete er den Kopf nach dem Wirt, der mir eben Wein und Imbiß gebracht hatte, und sagte nachlässig: »Geben Sie den Leuten fünf Gulden.«
Der Wirt sah ihn über die Achsel an. »Was? I soll ihna fünf Gulden geb'n? I? Dös mürssen Sö tuan, i nöt!«
»Ich habe nicht gewechselt.«
»Nöt g'wexelt hab'n S'? I wir Ihna scho' wexeln. Sö wer'n do nöt glei' an Tausender bei Eahna hab'n! Auf an [67] Zehner kann i scho' aussa geb'n. Wird eh' g'rad glenga mit der Zech. Und es is Zeit, daß S' dö zahl'n. Es is scho' spät und i mecht' zurspirn.«
»Ich habe kein Geld bei mir«, erwiderte der andere kurz.
»Was? Ka Geld? Und da sitzen S' scho' zwa Stund' da und lassen Ihna geb'n, was guat und teier is? Und extra no' d' Musikanten aufhalten und vorspüln lassen! Ah, da legst di nieder!«
»Und i kriag no' mei' Fuhr!« schrie der Kutscher des Einspänners, aus dem Dunkel hervortretend, in dem er bis jetzt verweilt hatte. »Aus der Stadt hab' i 'hn aussag'fihrt – und jetzt so lang warten –«
»Dös a no'!« rief der Wirt drohend. »O Sö Fallott!«
Der junge Mann war bei dem allen gleichmütig sitzen geblieben. Nunmehr aber hob er stolz den Kopf und sagte: »Ich bin der Graf ....« Er nannte einen Namen von hocharistokratischem Klang, der mir sofort auf die Spur half. Ich wußte jetzt, wann und wo ich den Gast schon gesehen hatte.
»Was? A Graf? Dös kunnt' a jeder sag'n!«
»Du, Floder,« warf jetzt ein alter, verkommen aussehender Mann in halb bäuerlicher Tracht ein, der sich inzwischen gleichfalls genähert hatte, »mir scheint, er is a Graf. Er wohnt, glaub' i, in Unterdebling –«
»Plausch nöt, du B'suf!« erwiderte der Wirt, etwas betroffen. »Wer waß, wen du manst! Und wann er wirkli a Graf is, muaß er do' was bei eahm hab'n! A Uhr, an Ring – oder so was. Hab'n S' was?« wandte er sich an den Gast. Dieser zuckte die Achseln. »Nix? No, da ziagn ma Ihna halt in Rock aus!« Er machte Miene, gleich zur Tat überzugehen. Der Angegriffene erhob sich aber mit halbem Leibe und stieß ihn kräftig zurück.
»Was? Stessen tuan S'!« brüllte der Taumelnde. »Na wart'n S', Sö Lump! Schorschl!!« Dieser Ruf galt einem halbwüchsigen Jungen, der eben im Hofe am Brunnen Wasser [68] schöpfte. »Lauf umi, Schorschl, auf d' Sicherheitswachstub'n, daß aner herkummt! Den saubern Grafen wer'n mer glei' hab'n! Pack' mer'n derwal!« setzte er, die Umstehenden anfeuernd, hinzu.
Die Situation war nun wirklich eine sehr kritische geworden; ich begann mich für den Bedrohten zu schämen. »Lassen Sie den Herrn!« rief ich eindringlich von meinem Tisch hinüber. »Ich werde für ihn bezahlen.«
Der Wirt drehte sich um und sah mich verdutzt an. Aber auch ärgerlich. Es schien ihm gar nicht er wünscht zu sein, daß der Handel gütlich geschlichtet werde. »Sö woll'n zahl'n?« fragte er geringschätzig. »Wer san denn Sö?«
»Das braucht Sie nicht zu kümmern. Genug, daß Sie Ihr Geld bekommen. Machen Sie die Rechnung.«
»Dö wird glei' g'macht sein«, erwiderte er unwillig. »Drei Viertel Heurigen und zwa Flaschen alten Nußberger. Und a kalt's Hendl. Und was der Konfertabl g'habt hat –«
»An Liter!« schrie dieser.
»Und d' Musikanten – dö warten scho',« betonte der Wirt.
»Da haben Sie zehn Gulden«, sagte ich. »Geben Sie den Leuten, was ihnen zukommt.«
»Es g'lengt nöt, wann d' Musikanten –«
»Mir san mit zwa Flörln z'frieden«, riefen die Spielmänner im Chorus. »Her damit!« Dann gingen sie, vom Wirt entlohnt, im Eilschritt davon. Auch der Kutscher entfernte sich, nachdem er das Seine erhalten. Allerdings nicht sehr befriedigt. Man hörte ihn noch im Hof ein Scheltwort ausstoßen und draußen mit der Peitsche auf den armen Gaul einhauen, bis das Gefährt von dannen gerumpelt war.
Der Urheber aller dieser Szenen war inzwischen ohne aufzublicken auf seinem Platze geblieben. Jetzt schien er in Verlegenheit, was er tun sollte. Endlich stand er auf und ging vornüber geneigt mit schwanken Tritten auf mich zu. »Ich weiß [69] nicht,« sagte er, gleichsam herablassend, »mit wem ich – wie so Sie – ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen –«
»Aber ich kenne Sie, Herr Graf. Sie waren vor ungefähr acht Jahren Leutnant bei den Dragonern – nicht wahr?«
»Allerdings.«
»Und lagen damals in Schwechat?«
»Ganz richtig. Waren Sie vielleicht auch –«
»Ich befand mich bei einem Infanteriebataillon in Kaiser-Ebersdorf. Und da sind wir einige Male zusammengetroffen – freilich nur ganz flüchtig.«
»Ihr Name?«
Ich nannte mich.
»Kann mich nicht entsinnen. Aber gleichviel. Wir waren früher Kameraden. Es kann mir also nur angenehm sein, einstweilen Ihr Schuldner zu bleiben. Und wir wollen jetzt gleich eine Flasche miteinander trinken. He!!«
»Lassen wir das lieber. Nach dem, was vorgefallen –«
»Ach was! Ich will noch trinken. Das wäre nicht übel, wenn man sich genieren müßte. – He!!«
Sein klanglos kreischender Ruf verhallte. Es kam niemand. Endlich zeigte sich der Wirt.
»Noch eine Flasche Nußberger!«
Der Wirt sah ihn grimmig an, ging aber doch um den Wein.
»Das is d' letzte«, sagte er grob, als er die Flasche auf den Tisch stellte. »A End' muaß sein. Dös is ka Wirtshaus. I hab' bloß ausg'steckt.«
»Beruhigen Sie sich«, entgegnete ich. »Wir werden bald aufbrechen. Nehmen Sie gleich die Bezahlung.«
»Ich begreife Sie nicht«, sagte der Graf, als wir wieder allein waren. »Wie können Sie sich nur mit solchen Leuten in Unterhandlungen einlassen?«
»Immer besser, als sich Roheiten aussetzen, denen gegenüber man machtlos ist. Es ist übrigens wirklich schon spät.«
[70] »Spät? Wie viel ist es denn?« Er griff an die Westentasche, in der sich keine Uhr befand.
Ich sah nach der meinen. »Über Zehn.«
»Das ist ja gar keine Stunde«, rief er, die Gläser füllend, und leerte das seine mit einem Zuge. »Aber was haben Sie da für ein Buch?« Ich hatte es auf dem Tische liegen; er griff danach und blätterte es an. »Wie kommen Sie dazu, derlei zu lesen?« fragte er hochfahrend.
»Nun, ich lese es eben.«
»So. Sie scheinen also wissenschaftliche Bildung zu besitzen. Auch ich habe studiert. Könnte Doktor Juris sein. Ich glaube, Sie zweifeln?« Er sah mich mit einem drohenden Blick an.
»Keineswegs.«
»Mein Latein und Griechisch habe ich noch nicht verschwitzt. Und den Gracian da vermöchte ich im Original zu lesen. Auch kann ich, wenn Sie befehlen, mit einigen orientalischen Sprachen aufwarten.«
»Da wüßt' ich allerdings nicht Bescheid.«
»Wie meinen Sie das?« fragte er und lehnte sich herausfordernd zurück. Er hatte inzwischen ein zweites Glas hinuntergestürzt und mit dem dritten begonnen; in seinem schmalen Antlitz wiesen sich bereits Anzeichen der Trunkenheit.
»Ich meine es nicht anders, als daß ich diese Sprachen nicht verstehe.«
»Aber ich! Denn ich habe die orientalische Akademie besucht. Man hatte mich für die diplomatische Karriere bestimmt. Doch sie taugte mir nicht – ebensowenig wie später der Militärdienst. Ich kann mich nicht binden. Ich liebe die Freiheit. Aber dazu braucht es ein großes Vermögen – ausgedehnte Besitzungen. Die fehlen mir. Und so habe ich mich auch mit der Misère des Lebens herumzuschlagen.« Er ließ den Kopf sinken und stierte, die Augen verglast, mit hängender Unterlippe vor sich hin.
[71] So trat eine Pause ein, während der ich ihn betrachtete. Er sah jetzt mit seinem wie weggeschnittenen Kinn geradezu häßlich aus. Das lebhafte Sprechen schien ihn angestrengt zu haben; seine eingefallene Brust bewegte sich keuchend auf und nieder. »Noch eine!« rief er plötzlich, indem er sich gewaltsam aus offenbar sehr trüben Gedanken emporraffte und den Rest der Flasche in sein rasch geleertes Glas goß.
»Nein, durchaus nicht«, sagte ich. »Ich kann Sie natürlich nicht hindern. Aber was mich betrifft –«
»Sie sind Temperenzler«, bemerkte er verächtlich.
»Nicht doch. Aber es ist wirklich Zeit, daß wir uns von hier entfernen.«
»Nun, wenn Sie durchaus wollen – meinetwegen! So versäume ich wenigstens morgen nicht wieder die Messe.«
Ich sah ihn unwillkürlich erstaunt an.
»Ich pflege nämlich jeden Tag die Frühmesse zu besuchen,« fuhr er nachdrücklich fort. »Haben Sie vielleicht etwas dagegen?«
»Was könnte ich dagegen haben –«
»Aber Sie finden es lächerlich.«
»Keineswegs.«
»Sie finden es lächerlich! Ich seh' es Ihnen an.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Offenbar gehörte er zu denen, in welchen geistige Getränke Streitlust erregen.
»Sie irren«, sagte ich.
»Ich irre mich nicht. Aber ich werde mich in keinen Meinungsaustausch einlassen. Sie verstehen das einfach nicht. Ich höre die Messe, weil ich es von. Kindheit an gewohnt bin. Es liegt uns im Blute.«
Er hatte die letzten Worte mit stolzem Emporwerfen des Kopfes ausgesprochen. Ohne Zweifel sollten sie mir den Unterschied klar machen, der zwischen uns beiden bestand. Gleich darauf aber langte er nach dem Buche, das ich, zum Aufbruch bereit, eben an mich nehmen wollte. »Das leihen Sie mir«, [72] sagte er gebieterisch und steckte es, ohne meine Einwilligung abzuwarten, in die Hintertasche seines fadenscheinigen Jacketts. »Ich werde es Ihnen nächster Tage mit dem, was Sie mir vorgestreckt, zurückstellen. Wo wohnen Sie?«
»In Döbling.«
»Also auch in Döbling. Gasse?«
»Alleegasse.«
»Nummer?«
»13.«
»Also Alleegasse 13. Das merk' ich mir schon. Und nun gehen wir!«
Er hatte noch den letzten Tropfen aus dem Glase geschlürft, erhob sich mühsam und suchte wankend nach Hut und Stock. Dann verließen wir den Garten und das Haus, dessen Tor der Wirt hinter uns abschloß.
Auf der menschenleeren Straße fing mein Begleiter zu taumeln an; es fehlte nicht viel, so wäre er über einen Schotterhaufen zu Boden gestürzt. Ich wollte ihn schon unter dem Arm fassen. Aber ich unterließ es; er sollte nicht wissen, daß ich seinen Zustand bemerkte. So setzten wir in der mondlosen Nacht unseren Weg fort, mit dem der Graf beständig zu kämpfen hatte.
Nun waren wir an dem alten Friedhof vorübergekommen und erreichten die ersten Häuser von Unterdöbling. Bei einer der nächsten Gassen angelangt, blieb er stehen. »Da wohne ich«, sagte er. »Gute Nacht!« Und ohne den Hut zu lüften, bog er in die Gasse ein.
Ich sah ihm nach, wie er sich in Schlangenlinien fortbewegte, bis er endlich vor einem ziemlich großen, weiß getünchten Gebäude hielt, das in sonderbaren Umrissen zwischen dunkleren, hüttenähnlichen Nachbarhäusern aufschimmerte.