[63] [65]Hymen

[65] [69]Die schlanke blonde Frau saß mir bei dem Diner gegenüber, fast verdeckt durch einen hohen Tafelaufsatz, hinter den ihr lichtes Antlitz mit den dunklen Amethystaugen nur selten zum Vorschein kam. Aber gleich im Empfangszimmer war mir dieses Antlitz ganz besonders aufgefallen. Bei der großen Anzahl der Geladenen fanden keine unmittelbaren Vorstellungen statt, und so wandte ich mich an einen Bekannten um Auskunft über die Dame, die eben mit einem jungen Modegelehrten in eifrigem Gespräche begriffen war. Was ich erfuhr, genügte mir, um zu wissen, an wen mich ihr Gesicht erinnert hatte – und daß ich sie selbst schon einmal als Kind gesehen. Während nun die zahlreichen Gänge gereicht wurden, hatte ich Zeit, um über allerlei Vergangenes nachzudenken. Meine beiden Tischnachbarinnen fanden mich daher sehr zerstreut und einsilbig, worüber sich auch die ältere von ihnen, die gern über Kunst sprach, ganz offen beschwerte. Mir aber gestaltete sich schon an jenem Abend die kleine Geschichte, die ich jetzt niederzuschreiben beginne.


* * *

1.

I.

Zu Anfang der siebziger Jahre war es, daß ich, von einem Spaziergang nach Hause zurückgekehrt, eine Visitenkarte vorfand. Der Offizier, hieß es, der sie abgegeben, würde in einer Stunde wieder nachsehen. Ich war darüber nicht sonderlich erfreut, [69] obgleich mir der Hauptmann Sandek – so stand auf der Karte – einst als Leutnant befreundet gewesen. Er war auch damals eine sympathische Persönlichkeit. Achtzehn Jahre alt, war er aus einer Militärbildungsanstalt ins Regiment gekommen, wo er durch die harmonische Frische und Unbefangenheit seines Wesens gleich alles für sich einnahm. Auch geistige Fähigkeiten schien er zu besitzen; wenigstens legte er eine große Lern- und Wißbegierde an den Tag. Ich konnte ihm, als wir einander näher traten, nicht genug Bücher zum Lesen geben oder anempfehlen. Aber es zeigte sich bald, daß er sie nicht verstand, und die unausgesetzten, oft recht abgeschmackten Fragen, die er über Inhalt und Tendenz an mich richtete, wurden mir um so ärgerlicher, als er dabei doch immer seine eigene verschrobene Meinung aufrecht halten wollte. Dennoch blieben unsere Beziehungen gute, da er ja sonst ein vortrefflicher Mensch und liebenswürdiger Kamerad war.

Da fügte es sich, daß er auserkoren wurde, dem Sohne eines hohen Generals Unterricht in einigen militärischen Gegenständen zu erteilen. Der junge Herr war im Lernen stark zurückgeblieben, so daß er auf das akademische Studium, zu dem man ihn anfänglich bestimmt hatte, verzichten mußte. Es galt also jetzt, ihm die nötigen Vorkenntnisse zum Eintritt in die Armee beizubringen. Sein Vater, der General, besah eine Frau, die immer als große Schönheit gegolten hatte und es gewissermaßen auch jetzt noch war. Wie allgemein bekannt, hatte sie es mit der ehelichen Treue niemals sehr ernst genommen, und es hieß, daß der jeweilige Adjutant ihres Gemahls auch immer ihr jeweiliger Liebhaber gewesen sei. Das mochte auf Übertreibung beruhen, gewiß aber war, daß sich Zwischen ihr und dem blutjungen Offizier ein Verhältnis entspann, das für diesen verderbliche Folgen hatte. Denn durch die falsche und verlogene Stellung, die er dem Gatten sowohl wie dem heranwachsenden Sohne gegenüber einnahm, wurde sein lauterer, bis dahin jünglinghaft unschuldiger Charakter im tiefsten geschädigt. [70] Dazu kam noch, daß er sich durch dieses Verhältnis in eine vornehmere gesellschaftliche Sphäre erhoben fühlte, wobei die Eitelkeit, die vielleicht seit jeher in ihm latent gewesen, mehr und mehr entbunden wurde. Er nahm gezierte Allüren an und bildete sich im Laufe einiger Jahre bei verschiedenen Garnisonswechseln zu einem schmachtenden, aber auch gewissenlosen Lovelace aus, der mit dem Ehebruch einen ganz offenkundigen Kultus trieb. Er sagte jedem, der es hören wollte, daß man nur in Beziehungen zu einer verheirateten Frau die Liebe wirklich kennen lerne; wie denn auch erst die reife und erfahrene Frau das eigentliche Weib sei. Mit Mädchen, die er insgesamt Backfische oder noch schlimmer Gänse nannte, wollte er nichts zu tun haben. Da er jetzt immer nur in höheren Kreisen zu verkehren trachtete, entfremdete er sich auch allmählich seinen Kameraden, so daß der Abschied, den wir bei meinem Scheiden aus dem Regiment voneinander nahmen, ein ziemlich kühler war ....

Und nun trat er nach mehr als einem Jahrzehnt bei mir ein. Fast unverändert. Derselbe schlanke und geschmeidige Wuchs, der ihn immer ausgezeichnet. Das blonde, leicht gelockte Haar noch immer dicht; nur die sein geschnittenen Züge des hell schimmernden Gesichtes erschienen schlaffer, und um die Augen, die in ihrem etwas starren Glanze an dunkle Amethyste erinnerten, zeigten sich feine Fältchen. Er verbeugte sich nachlässig graziös und streckte mir dann die Hand entgegen.

»Verzeih, wenn ich dich etwa störe«, sagte er. »Aber da mich der Zufall heute in deine Nähe gebracht hat, so konnte ich dem Antrieb nicht widerstehen, dich aufzusuchen.«

»Freut mich sehr«, erwiderte ich, »Aber wie wußtest du –«

»Daß du hier wohnst? Nun, derlei erfährt man eben. Ich bin ja schon ein halbes Jahr in Wien – als Frequentant des Stabsoffizierskurses.«

»Du bist also schon so weit! Ich gratuliere.«

»Danke«, erwiderte er etwas zerstreut, indem er mit der [71] Hand über die Stirn fuhr. »Die Sache ist nicht leicht durchzuführen. Man stellt jetzt ganz unerhörte Anforderungen, und in gewissen Jahren nimmt die Lernfähigkeit ab. Aber wie geht es dir?« fuhr er ablenkend fort, indem er den Blick musternd über die ziemlich kahlen Wände meines Zimmers schweifen ließ.

»So, so – den Umständen angemessen.«

»Nun ja, es ist nicht leicht, sich in einem neuen Berufe – – Aber eine sehr schöne Aussicht scheinst du hier zu haben«, unterbrach er sich, stand auf und trat an ein Fenster.

Die Fernsicht, die ich damals in meiner hochgelegenen Wohnung hatte, war wirklich sehr schön. Ich konnte über eine weite Flucht von Gärten hinweg auf die ragenden Türme und Kuppeln der Stadt blicken. Es war eben Frühlingsanfang, und ein weißes, hier und dort von zartem Rot durchschimmertes Blütenmeer lag vor uns.

»Herrlich!« rief er aus. »Ich beneide dich. Ich selbst habe in meiner Stadtwohnung nichts anderes vor mir, als eine trostlose Reihe von Fenstern und Dächern.«

Wir setzten uns wieder und begannen von vergangenen Zeiten zu sprechen. Er zeigte sich dabei unruhig und zerstreut. Nach einer Weile trat er wieder ans Fenster und blickte gespannt hinaus. Zurückgekehrt nahm er den Faden des Gespräches wieder auf, spielte aber in nervöser Hast mit der Quaste seines Säbels, den er nicht abgelegt hatte. Sehr bald stand er wieder aus und schien nun etwas Erwartetes zu erblicken, denn ein Zug von Befriedigung trat in sein Antlitz.

»Jetzt muß ich dich verlassen, lieber Freund«, sagte er. »Ich bin nämlich nicht allein in diese Gegend gekommen, sondern mit Bekannten, die hier für den Sommer eine Villa gemietet haben. Ich werde dort ein häufiger Gast sein und mir also erlauben, dich manchmal zu besuchen.« Er langte nach seiner Mütze.

»Wird mir ein Vergnügen sein. Nur bitte ich: nicht vor fünf Uhr nachmittags. Denn bis dahin bin ich immer beschäftigt.«

[72] »Ganz mein Fall«, erwiderte er. »Du glaubst gar nicht, wie sehr ich angestrengt bin. Heute habe ich mir eine Ausnahme gestattet und kann das Versäumte nur hereinbringen, indem ich die Nacht hindurch büffle. Also leb' wohl, auf Wiedersehen!« Er ging, von mir hinausbegleitet.

Einigermaßen getröstet, kehrte ich in mein Zimmer zurück. Er hatte also Bekannte, die im Sommer hier wohnen werden. Wahrscheinlich in meiner Nähe. Darum hatte er auch mit so gespannter Aufmerksamkeit durchs Fenster geblickt. Jedenfalls eine Verabredung. Wohl mit einer Dame. Denn er hatte sich in dieser Hinsicht gewiß ebensowenig verändert wie in seinem Äußeren. Immerhin. Was kümmerte es mich? Wenn er mich nur nicht allzu oft aufsuchte. Aber er hatte selbst gesagt, daß er sehr angestrengt sei – und hin und wieder mochte er ja kommen ...

Er kam auch nicht so bald. Ich aber mußte ihm artigkeitshalber doch einen Gegenbesuch machen. Als ich wieder einmal in der Stadt zu tun hatte, wollte ich mich dieser Pflicht entledigen. Auf seiner Karte stand die Adresse. Er wohnte in Mariahilf, in der Nähe der Stiftskaserne. Nun denn: so gegen Mittag stieg ich dort drei Treppen empor, in der Hoffnung, ihn nicht anzutreffen und mit einem Kartenabwurf davonzukommen. Aber er war zu Hause. Sein Bursche sagte, der Herr sei eben im Umkleiden begriffen; aber ich möchte nur eintreten und ein wenig warten. Ich betrat also das geräumige Zimmer, in das mich der Diener geführt. Es war ein ganz hübsches Garçoninterieur. Nicht viele Möbel, aber eine bequeme Ottomane. Spiegel und ein paar gute Kupferstiche an den Wänden. Neben einem Bücherregal ein zierlicher Schreibtisch. Und aus diesem, neben allerlei Nippes, die Kabinettphotographie einer Dame. Diese Dame mußte ich kennen. Ich entsann mich auch bald, daß ich sie vor Jahren oft gesehen hatte, ohne zu wissen, wer sie war. Auch heute wußte ich es nicht. Aber sie war mir im Laufe einiger Wintermonate fast [73] täglich auf einem Morgengange begegnet, den ich über den damals noch bestehenden Teil des alten Glacis unternahm. Sie machte den Eindruck einer verheirateten Frau, befand dich jedoch immer in Begleitung eines Herrn, der zu den bedeutendsten Schriftstellern jener Tage zählte. Seine geistvollen Essays, seine scharfen Theaterkritiken wurden immer mit Spannung erwartet und mit andächtigem Eifer gelesen. Aber er schrieb im ganzen wenig, und die Zeitungen hatten oft Mühe, etwas von ihm herauszubekommen. Denn er wollte sich nicht binden und war, da er einiges Vermögen besaß, nicht eigentlich auf literarischen Erwerb angewiesen. Im übrigen galt er als weltmännischer Sonderling, der ab und zu in den Wiener Salons auftauchte und wieder verschwand. In letzterer Zeit hieß es, daß er in näheren Beziehungen zu einer jungen, ebenso schönen wie geistvollen Schauspielerin stehe; man sprach sogar von einer Verlobung. Eine stadtbekannte Persönlichkeit, fiel er schon durch seine äußere Erscheinung eigentümlich auf Schlank und hager, hielt er sich im Gehen stark vornüber geneigt, so daß er etwas gebrechlich aussah. Sein Antlitz mahnte an das des Sokrates und erschien beim ersten Anblick häßlich. Sah man aber näher zu, so traten sehr feine und charakteristische Züge hervor, besonders die außerordentliche Klarheit und Leuchtkraft seiner tiefliegenden grauen Augen. Auch seine Begleiterin war nicht schön. Eher klein als groß, hatte ihre Gestalt etwas Gedrungenes, Gestauchtes. Aber ihre Gliederbewegungen waren von anmutiger Energie, wie sich auch in ihrem blassen Antlitz, aus dem große dunkle Augen blitzten, ungemeine Willenskraft ausdrückte. Da die beiden, die sich hier offenbar zu einem gemeinsamen Spaziergang zusammenfanden, immer in sehr lebhaftem Gespräch begriffen waren, so konnte ich auch wahrnehmen, daß die Dame prachtvolle Zähne besaß.

Und nun hatte ich ihr Porträt vor mir. Sie zeigte sich darauf einigermaßen gealtert, und der Ausdruck von Willenskraft trat schärfer hervor. Daß das Bild auf dem Schreibtische [74] Sandeks stand, gab mir zu denken. Jedenfalls wies es auf nähere Bekanntschaft hin.

Aber da trat er schon selbst aus der geschlossen gewesenen Seitentür. Sehr sorgfältig gekleidet, von einem leichten Hauch seinen Parfüms umweht.

»Verzeih',« sagte er, mir die weibisch gepflegte weiße Hand entgegenstreckend, »verzeih', daß ich dich habe warten lassen. Ich mußte mich ankleiden. Leider werde ich mich auch nicht lange deiner angenehmen Gegenwart erfreuen können, denn ich habe etwas sehr Wichtiges vor.«

»Laß dich nicht stören«, warf ich ein. »Ich bin ja fürs erste nur gekommen, deinen Besuch zu erwidern. Wir werden uns wohl noch öfter sehen.«

»Gewiß, gewiß. Aber nimm doch Platz und rauchen wir wenigstens eine Zigarette.« Er langte nach einer Schachtel, die auf dem Rauchtischchen stand.

»Ich danke. Du hast Eile – und ich selbst habe noch einiges zu tun –«

»Nun denn, aufs nächstemal. Wir können gleich zusammen fortgehen.«

Er rief seinen Diener, der ihm Säbel und Mütze reichte. Dann schritten wir die Treppe hinunter. »Gehst du nach der Stadt?« fragte er unten.

»Ja.«

»Mein Weg führt mich nach einer anderen Richtung. Also auf baldiges Wiedersehen.«

Wir drückten einander die Hand und trennten uns.

2.

II.

Meine Vermutungen bestätigten sich bald. Denn schon in nächster Zeit sah ich jene Dame in einem Garten auf- und niederschreiten, den ich von meinem Fenster aus fast ganz überblicken konnte. Ein etwa zehnjähriger Knabe war um sie; wahrscheinlich [75] ihr Sohn. Obgleich ich nun Besseres zu tun hatte als den Fenstergucker zu machen, so blickte ich jetzt doch öfter hinüber und konnte nicht umhin, mich erkundigen zu lassen, wer in der Villa wohne. Ein Hofrat, hieß es; den Namen wußte man nicht genau. Aber den Hofrat selbst, einen beleibten und wie es schien, behäbigen Mann, gewahrte ich bisweilen, wie er nachmittags unter einer Linde saß und die Zeitung las. Öfter, besonders gegen Abend, war der Garten sehr belebt. Gruppen von Herren und Damen; darunter auch Sandek. Bei mir hatte er sich nicht mehr eingefunden, was mir ganz recht sein konnte. So interessierte mich auch die Sache immer weniger, und ich dachte nicht weiter darüber nach.

Eines Vormittags jedoch, als ich ganz zufällig aus Fenster trat, sah ich die Dame an der Seite eines Herrn langsam im Garten hin und her gehen. Täuschte mich mein Auge? Das war ihr Begleiter von damals, der sich, wie den Journalen zu entnehmen gewesen, vor einigen Monaten zur Erholung nach Nizza begeben hatte. Ich nahm rasch mein Opernglas zur Hand. Ja, er war es. Und wieder waren die beiden in lebhaftem Gespräch begriffen. Aber es schien welliger ein Gespräch als ein Streit zu sein. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen. Die Dame schien heftige Vorwürfe zu machen, die ebenso heftig erwidert wurden. Endlich verschwanden sie in einer Partie des Gartens, die ich nicht mehr überblicken konnte. Jetzt aber begann ich mich meiner Späherrolle zu schämen und schloß den Gucker in die Lade. Meine Gedanken jedoch verweilten unwillkürlich bei dieser erneuten Begegnung aus der Ferne, und ich stand noch einige Tage unter ihrem Eindruck. Schließlich verflüchtigte sich auch dieser und machte sich erst wieder geltend, als eines Tages Sandek ganz unvermutet bei mir eintrat. Er entschuldigte sich, daß er mich so lange nicht aufgesucht hatte.

»Warst du vielleicht unwohl?« fragte ich, da ich bemerkte, daß er blaß und angegriffen aussah.

»Ach nein«, erwiderte er, während wir uns setzten. »Aber [76] die Zeit der Prüfungen naht heran, und da heißt es die Nächte zu Hilfe nehmen. Ich schlafe sehr wenig.« Eine Pause trat ein, während welcher er verlegen hin und her rückte. Endlich fuhr er zögernd fort: »Ich bin eigentlich gekommen, lieber Freund, um eine Frage an dich zu richten.«

Ich sah ihn erwartend an.

Er schwieg eine Weile; offenbar formulierte er die Frage im Geist. Dann sagte er, die Worte in sichtlicher Erregung nur mühsam hervorbringend: »Hältst du es für möglich, daß sich eine Frau – das heißt eine Dame, die über den Verdacht eigennütziger Absichten vollständig erhaben ist – ohne Liebe hingibt?«

Obgleich ich sah, wie schmerzlich sich diese Frage aus seinem Innersten loslöste, konnte ich doch kaum ein leichtes Lächeln unterdrücken. Denn sie erinnerte mich in ihrer abstrakten Fassung an die ästhetisierenden Fragen seiner Jugend. Zum Beispiel: ob Hamlet, der fünf Akte lang nicht wisse, was er tun soll, wirklich der Held – dieses Wort betonte er sehr nachdrücklich – einer Tragödie sein könne? Oder: warum Medea statt ihrer Kinder nicht lieber den Jason oder die Kreusa umgebracht habe? Und ähnliches. Dann aber auf den vollen Ernst eingehend, den die Frage für ihn haben mochte, erwiderte ich: »Gewiß halte ich es für möglich.«

Er zuckte zusammen und wurde ganz bleich. »Du hältst es also für möglich?« stammelte er. »Aber es müßte doch irgendein Grund vorhanden sein – –«

Es kam mich an, zu sagen, daß die Gründe so zahlreich wären wie die Brombeeren. Aber ich hielt an mich und versetzte: »Es kann verschiedene Motive geben. Sie hängen von dem Wesen, den Verhältnissen der Betreffenden ab. Du hast doch so viele französische Romane gelesen, die sich mit solchen Problemen beschäftigen. Es gibt Frauen, die einer bloßen Laune folgen; diese Fälle sind nicht allzu selten. Oder von einer momentanen sinnlichen Erregung hingerissen werden. Das [77] ist dann eine Schwäche, die meist bittere Reue und Haß gegen den Verführer zur Folge hat. Sehr oft – und gerade bei starken weiblichen Naturen – kann es par dépit geschehen.«

»Par dépit,« widerholte er mit bebender Stimme. »Du meinst also, daß sich eine Frau gewissermaßen aus Ärger oder aus Verzweiflung –«

»Ganz recht. Wenn sie sich von einem geliebten Manne verlassen weiß. Um ihren Schmerz zu übertäuben – oder auch nur zu erproben, ob und wie ihre Reize auf einen andern wirken. Auch das wird meistens tief bereut. Aber warum fragst du denn eigentlich?« fuhr ich fort, obgleich ich es sehr wohl wußte.

»O,« sagte er unsicher, »ich kenne jemanden, der über diesen Punkt – –«

»Lieber Freund,« unterbrach ich ihn, »lassen wir das gegenseitige Versteckenspielen. Ich erlaube mir nicht, in deine Verhältnisse einzudringen. Da du aber gekommen bist, meine Ansicht zu hören, so sage ich dir: du selbst bist derjenige, der über diesen Punkt Klarheit haben will.«

»Woher vermutest du –?« erwiderte er betreten.

»Nun, die Vermutung liegt doch nahe genug. Es handelt sich jetzt nur darum, ob du mit mir noch weiter über die Sache sprechen willst.«

»Gewiß, gewiß«, sagte er im Kampfe mit sich selbst. »Es ist mir ja darum zu tun –«

»Nun, dann will ich dir kurz und bündig Aufklärung geben. Du liebst eine Frau – und diese Frau liebt einen anderen.«

Er sah mich mit halb offenem Munde an. »Woher weißt du – –?«

»Infolge durchaus unwillkürlicher Beobachtungen. Denn beide Persönlichkeiten sind mir bekannt, wenn ich auch niemals mit ihnen verkehrt habe.«

Er war noch immer sprachlos vor Erstaunen.

»Die eine dieser Persönlichkeiten,« fuhr ich fort, »wohnt [78] hier in der Nähe. Also ich wiederhole: du liebst eine Frau, die einen anderen liebt. Und dieser andere – die alte Geschichte – hat sie früher geliebt und liebt jetzt eine andere. Und darum hat sich jene Frau dir in die Arme geworfen.«

Er fuhr wieder zusammen, machte aber eine abwehrende Handbewegung. »Nein, nein, so ist es nicht. In die Arme geworfen hat sie sich mir nicht. Aus deinem Ausspruch erseh' ich, daß du die Frau wirklich nicht kennst, wenn du vielleicht auch weißt, wer sie ist. Um sich jemandem in die Arme zu werfen, dazu ist sie viel zu stolz. Ich fühle mich daher verpflichtet, dir jetzt nähere Aufklärungen zu geben, damit du die Sachlage, die du ja im allgemeinen erraten hast, deutlich überblicken kannst. Dann wird dir auch die Situation klar werden, in der ich mich befinde.«

Er schloß die Augen, wie um seine Gedanken zu sammeln. Dann strich er sich über die Stirn und begann: »Ich wurde in jenes Haus durch einen Empfehlungsbrief eingeführt, der mir in Prag mitgegeben wurde. Bei meinem Antrittsbesuche an festgesetztem Tage wurde ich sehr höflich, aber keineswegs zuvorkommend empfangen. Man schien dem Militär nicht besonders gewogen zu sein. Auch ich fühlte mich nicht besonders angemutet. Der Hausherr machte mir den Eindruck eines heimtückischen Bureaukraten. Die Frau gefiel mir gar nicht. Ich fand sie eher häßlich als schön; ihre ganzen Allüren waren mir zu wenig weiblich. Der resolute Ton, den sie im Gespräch anschlug, verletzte mich. Ich dachte also, weitere Beziehungen nicht aufzunehmen. Da ich aber schon in nächster Zeit zu einer Abendgesellschaft gebeten wurde, ging ich doch hin. Es waren nicht viele Leute da, meist alte und ältere Herren mit ihren Frauen. Eine Whistpartie an mehreren Spieltischen kam in Gang. Es traf sich, daß ich der Partner des Hofrates wurde. Daß ich sehr gut spielte, schien ihm zu imponieren – und von da ab wurde ich sehr oft zu ganz kleinen Whistabenden gebeten. Die Frau nahm an dem Spiele nicht teil, nur wenn [79] es durchaus an einem Partner fehlte, ließ sie sich dazu herbei. Nun war es merkwürdig, daß sie mir, je öfter ich sie sah, je mehr gefiel. Ich fand sie nach wie vor keineswegs schön, aber alles, was mich früher an ihr unangenehm berührt hatte, empfand ich jetzt als eigentümlich charakteristischen Reiz; besonders ihre tiefe, ungemein klangvolle Stimme übte auf mich eine bezwingende Macht aus. Ich fing an, ihr zu hofieren. Es wurde anfänglich nicht beachtet; nach und nach aber schienen meine Bemühungen Eindruck zu machen. Und als ich mich einmal, da wir uns gerade allein gegenüber befanden, mit einer leidenschaftlichen Erklärung hervorwagte, sah sie mich lang an und sagte: ›Sie lieben mich also?‹ Und als ich, ihre Hand ergreifend, dies beteuerte, erwiderte sie: ›Nun, dann will ich Sie auch lieben.‹ Sie schlang ihren Arm um meinen Nacken, näherte ihre Lippen den meinen und drückte einen sanften Kuß darauf. Mein Entzücken war grenzenlos. Noch nie hatte mich die Eroberung einer Frau so unsäglich beglückt. Ich befand mich in einem wahren Taumel – und eine Reihe seliger Tage begann. Denn wir waren nun vollständig eines Sinnes. Ich mußte kommen, so oft ich nur konnte, – vormittags, nachmittags, abends. Mein so häufiges Erscheinen mußte im Hause auffallen, besonders dem Gatten. Sie bekümmerte das gar nicht, denn sie pflegte auf ihn niemals Rücksicht zu nehmen; ich aber fühlte mich beengt, obschon ich gleich anfangs erkannt hatte, daß die Ehe jedes inneren Zusammenhanges entbehrte und nur formell aufrecht erhalten wurde. Daß aber der Mann über unsere Beziehungen mit einer Art sarkastischer Befriedigung hinwegsah, fing an mich zu verdrießen. Ebenso das Benehmen des Knaben, des einzigen Kindes seiner Eltern. Er bezeigte sich nicht gerade unfreundlich, aber zurückhaltend und lauernd, obgleich er, wenn er bei meinem Kommen um seine Mutter war, sofort das Zimmer verließ. Wie gesagt, das alles war mir peinlich, aber es ging unter in dem Gefühl des Glückes, das ich in der Nähe der Geliebten empfand.

[80] Eines Abends, als wir nach dem Whist bei dem üblichen kleinen Souper saßen, sagte der Mann plötzlich: ›Nun, der‹ – du wirst ja wissen, wen ich meine –, ›muß ja jetzt dieser Tage von Nizza zurückkehren. Da wird es endlich mit der Heirat ernst werden.‹

Sie erblaßte flüchtig. Dann warf sie ihrem Mann einen kalten Blick zu und sagte: ›Ich wünsche ihm alles Glück dazu.‹

Von da ab kam der Hofrat, so oft es anging, mit sichtlichem Behagen auf diesen Gegenstand Zurück. Und als ich endlich fragte, wer denn der Herr eigentlich sei, sagte er: ›Ein alter Freund meiner Frau. Er ist Ihnen wohl als Schriftsteller bekannt.‹ Ich konnte das halb und halb zugeben; sie aber schwieg beharrlich, doch kam auf ihren Wangen eine fleckige Röte zum Vorschein, was bei ihr immer ein Zeichen innerer Erregung war. Die Sache fing an, mich zu beklemmen, und ich fühlte, wie eine unbestimmte, aber qualvolle Eifersucht in mir aufstieg, die ich nur mit aller Gewalt zu unterdrücken vermochte.

Eines Tages hatten wir aus irgendeinem Grunde keine Vorlesungen und ich benutzte diese zufällige Freiheit, um bei Maja – ein Kosename, den ich ihr beigelegt – zu ungewohnter Stunde mich einzufinden. Ich dachte sie damit freudig zu überraschen, wenn ich sie zu Hause antraf, dessen ich ja nicht ganz sicher sein konnte. Bei meinem Eintritt ins Vorzimmer stieß ich fast mit einem Herrn zusammen, der eben im Fortgehen begriffen war. Wir maßen uns gegenseitig mit befremdeten Blicken und schritten ohne Gruß aneinander vorüber. Mich aber hatte es sofort durchzuckt: das war er – der alte Freund. Das Stubenmädchen, das ihm beim Anziehen des Oberrockes behilflich gewesen, beeilte sich, mich bei der Gnädigen zu melden, was sonst nicht der Fall zu sein pflegte. Ich begab mich inzwischen in den Salon, der an das Boudoir Majas stieß. Von dort herüber vernahm ich ihre zornige Stimme: ›Was? Jetzt?‹ Und irgend ein Gegenstand wurde heftig zu Boden oder sonst wohin geworfen. Bald darauf trat sie selbst ein, die Wangen [81] fleckig gerötet. ›Sie sind hier?‹ fragte sie. ›Ich habe Sie nicht erwartet.‹

›Das wußte ich‹, antwortete ich, über diesen Empfang betreten und gereizt. ›Aber ich habe zufällig diesen Vormittag frei und dachte –‹

›Nun ja‹, erwiderte sie einlenkend, wenn auch noch unfreundlich. ›Aber ich liebe derlei Überraschungen nicht.‹

›Es war doch schon hie und da der Fall‹, sagte ich, ›und Sie Zeigten sich immer erfreut –‹

›Das schien Ihnen vielleicht so. Aber immerhin. Von jetzt ab jedoch muß ich Sie bitten –‹

›O gewiß‹, versetzte ich, dem in mir aufgestiegenen Unmut freien Lauf lassend. ›Ich werde nicht mehr kommen. Da Sie jetzt andere Besuche empfangen, bin ich überflüssig.‹

Sie warf das Haupt empor. ›Was für Besuche?‹

›Nun, von Ihrem alten Freunde.‹

›Was wollen Sie damit sagen?‹

›Daß mir im Vorzimmer ein Herr begegnet ist, der eben von Ihnen wegging.‹

›Darf ich vielleicht keine Besuche empfangen?‹

›Ohne Zweifel. Ich aber habe nicht Lust, mich in Nebenbuhlerschaften einzulassen.‹ Damit machte ich eine förmliche Verbeugung und schickte mich an, den Salon zu verlassen.

In ihrer Brust arbeitete es heftig. Sie ließ mich bis zur Tür gehen, dann rief sie: ›Robert!‹

Ich blieb stehen.

Sie war offenbar durch mein Benehmen überrascht. Bei den zärtlichen Empfindungen, die ich für sie hegte, hatte sie mich für demütig und unterwürfig gehalten; mein kurz angebundener Stolz imponierte ihr. ›Kommen Sie zu mir, Robert‹, sagte sie mit sanfter Stimme und streckte mir die Hand entgegen.

Ich war schwach genug, umzukehren und die Hand zu ergreifen.

›Seien Sie vernünftig, Robert. Ich bin eine nervöse Frau [82] und kann meinen Stimmungen nicht immer gebieten. Und was jenen Herrn betrifft, so ist er wirklich nichts anderes als ein alter Bekannter, dem ich doch mein Haus nicht verschließen kann. Er gedenkt jetzt zu heiraten. Also bilden Sie sich nichts ein. Sie wissen, daß ich Sie liebe.‹ Damit schlang sie den Arm um mich und ließ ihre Lippen lang auf den meinen ruhen. – Und nun kamen Tage, lieber Freund,« fuhr er mit verzweifelter Gebärde fort, »die ich zwischen Himmel und Hölle verlebte, bald in den einen erhoben, bald in die andere hinabgestoßen. Denn das Benehmen Majas wechselte beständig. Heute zärtlich und hingebend, war sie morgen kalt, rauh und von rücksichtsloser Härte. Ich stand vor einem Rätselabgrund und hatte keinen ruhigen Augenblick mehr. Denn wenn sie wirklich – was mir eine innere Stimme zurief – den anderen liebt: warum leugnete sie es hartnäckig, wenn ich es ihr vorwarf? Sie ist ja eine starke, entschlossene Natur, die keine Furcht kennt. Und warum sucht sie mich immer wieder zu fesseln, so oft ich diesem unerträglichen Zustand ein Ende machen und mich losreißen will?« Er brach ab und blickte wie verloren vor sich hin.

Ich schwieg. Dann sagte ich: »Nun die Lösung des Rätsels ist doch ganz einfach. Sie will eben den anderen, da die Heirat noch nicht erfolgt ist, wieder zu sich hinüberziehen – und dich dabei nicht ganz aufgeben.«

»Aber das ist ja schändlich!« rief er aus.

»So scheint es uns. Aber die Frauen sind nun einmal so geartet, und man sieht, wie wenig du sie eigentlich trotz deiner vielen Erfahrungen kennst. Glaubst du denn, daß auch nur eine in ihrer Lage den Mann, von dem sie weiß, daß er sie wirklich liebt, willig ziehen läßt? Und du liebst sie doch wirklich?«

»Wie ich noch nie ein Weib geliebt!« stieß er hervor.

»Weil du zum erstenmal an eines geraten bist, das dir überlegen ist.«

»Überlegen?« fragte er betroffen und hochmütig zugleich.

[83] »Ja, ich muß es dir offen sagen. Sie ist dir überlegen – vielleicht in jeder Hinsicht. Du müßtest dich ihr oben unterordnen.«

»Unterordnen?! Wie meinst du das?« fuhr er aus.

»Du müßtest dulden lernen, müßtest dich in ihren Seelenzustand zu finden wissen und mit verständnisvoller Nachsicht alles anwenden, um den anderen, da du ihr doch jedenfalls nicht gleichgiltig bist, vergessen zu machen und sie allmählich ganz zu dir hinüberzuziehen.«

Er sprang auf »Du meinst also,« schrie er, »daß ich mich in einen Wettkampf einlassen soll? Mit diesem Skribler!« Er fühlte gar nicht, wie er mich selbst durch diese Bezeichnung verletzen mußte.

»Unterschätze niemanden«, erwiderte ich ruhig. »Der Mann, von dem wir sprechen, steht geistig sehr hoch.«

»Das mag sein«, knirschte er. »Aber er ist häßlich wie ein Affe!«

»Darüber ließe sich streiten. Und sicher ist es, daß die Frauen in dieser Hinsicht ganz andere Anschauungen haben als wir. Bei ihnen geben Eigenschaften den Ausschlag, die nur für sie im Äußeren eines Mannes erkennbar sind. Aber ich sehe, daß du die Frau doch nicht eigentlich liebst, sondern daß dich deine schwer verletzte Eitelkeit in eine unheilvolle Leidenschaft hineingetrieben hat.«

Er schien die Wahrheit meiner Worte zu empfinden, denn er zuckte zusammen. Aber er wies sie auch sofort von sich, indem er aufsprang und heftig im Zimmer hin und her schritt: »Sei es wie immer, ich ertrage diesen Zustand nicht länger! Ich gehe dabei zugrunde!«

»Das begreife ich«, sagte ich.

»Höre!« fuhr er fort. »Vier Wochen sind es her, daß ich nach einer heftigen Szene erklärte, sie würde mich nicht wiedersehen. Sie machte auch diesmal keinen Versuch, mich zurückzuhalten und ließ mich, sich kalt umwendend, gehen. Ein [84] paar Tage lang atmete ich befreit auf und vertiefte mich mit vollem Eifer in meine Studien, die ich inzwischen ganz vernachlässigt hatte – oder besser gesagt, ich war nicht fähig, ein Buch zur Hand zu nehmen. Bald aber stellte sich Erwartung ein – Erwartung, daß sie mir ein Zeichen geben, mich wieder zu sich rufen würde. Da es nicht geschah, steigerte sich die Erwartung zur Marter, obgleich ich mir beständig sagte, daß ich ja den vollständigen Bruch gewünscht hatte und unbedingt wünschen müsse. Aber es nützte nichts, und ich war nahe daran, ihr zu schreiben. Da kam ein Brief voll zärtlicher Vorwürfe, voll inniger Beteuerungen. Ich wollte sofort zu ihr eilen. Aber kaum aus dem Hause getreten, kehrte ich wieder um. Das Bild des anderen war vor mir aufgestiegen und trieb mich zurück. Bleibe fest! rief ich mir zu. Ich blieb es und beantwortete auch den Brief nicht. Aber ich konnte zu keiner inneren Ruhe gelangen. Ich zwang mich, zu arbeiten, zu lernen – meine Gedanken versagten. So verging mehr als eine Woche. Eines Abends, schon sehr spät – ich hatte mich doch ein wenig zurechtgefunden – saß ich bei Lampenschein an meinem Arbeitstische, als es draußen klingelte. Ich hatte meinem Burschen gestattet, ins Wirtshaus zu gehen, und mußte nun selbst nachsehen. Als ich die Tür öffnete, stand Maja vor mir, in einen Theatermantel gehüllt, die Kapuze tief ins blasse Gesicht hineingezogen. Was soll ich dir weiter sagen: an jenem Abend geschah, was früher nicht geschehen war.« Er setzte sich wieder und starrte vor sich hin.

Ich schwieg gleichfalls. »Da wären wir ja wieder bei deiner ursprünglichen Frage angelangt«, sagte ich endlich.

»Ja, ja«, rief er aus und sprang wieder auf. »Und ich hätte sie mir doch selbst beantworten können! Denn Maja war in meinen Armen kalt wie Eis. Und als ich ihr das vorwarf, brauste sie auf in heftigem Zorn. Ich sei ein Undankbarer, schrie sie. Was ich denn wolle? Sie habe mir den höchsten Beweis ihrer Liebe gegeben – und noch immer [85] hege ich Zweifel. Ich war im Augenblicke ganz zerknirscht und tat Abbitte.«

»Und was geschah weiter?«

»Was weiter geschah?!« Er warf sich in den nächsten Stuhl. »Es folgten noch einige Zusammenkünfte, die mir erneute Qualen brachten. Denn deutliche Anzeichen der Kälte wechselten bei ihr mit Ausbrüchen leidenschaftlicher Hingebung. Und siehst du, bei solchen Ekstasen habe ich das Gefühl, daß sie in meinen Armen an jenen anderen denkt. O, es ist ein Zustand, um wahnsinnig zu werden! Und dabei«, fuhr er stotternd fort, »soll ich mich für die Prüfungen vorbereiten. Ich bin in allem zurückgeblieben – ich kann meine Aufgaben nicht mehr bewältigen. Falle ich durch, so bin ich verloren. Denn meine Karriere ist dann abgeschnitten – und mir bleibt nichts als das höhnische Bedauern meiner Kameraden!« Er schlug die Hände vor das Gesicht und brach in ein Schluchzen aus.

War meine Teilnahme bis jetzt auch eine geringe, nun, da ich Tränen zwischen seinen Fingern hervorquellen sah, wurde ich ergriffen. Ich stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Fasse dich. Deine Lage, ich seh' es ein, ist eine verzweifelte. Nurein Mittel gibt es, dich aus ihr zu befreien. Die volle und rückhaltslose Erkenntnis, daß du sie selbst herbeigeführt.«

Er ließ die Hand von den Augen sinken und sah mich verständnislos an.

»Ja,« fuhr ich fort, »du selbst hast sie herbeigeführt. Und die Qualen, die sie dir verursacht, mußt du als Sühne früherer Verschuldungen betrachten.«

»Welcher Verschuldungen?« lallte er.

»Denk' an all die Verhältnisse, die du mit Frauen unterhalten hast. Es fällt mir nicht ein, dir Moral predigen zu wollen. Aber wie du auch jetzt darüber denken magst, nach reiflicher Erwägung wirst du zugeben müssen, daß du wiederholt unrecht gehandelt hast. Und jedes Unrecht muß früher oder später [86] im Leben abgebüßt werden. Diese Erkenntnis, so peinlich sie auch für dich sein mag, wird dir die Kraft verleihen, dich – und auch jene Frau in irgend einer Weise aus der verworrenen und unwürdigen Lage zu befreien, in der ihr euch beide befindet.«

Er wand sich auf dem Sessel hin und her, und ich erkannte, daß meine Worte nur halb in ihn eingedrungen waren. Oder vielmehr: er fühlte ihre Wahrheit, aber nach Art schwacher Geister und untiefer Naturen vermochte er nicht eine Sache zu Ende zu denken und dabei sich selbst zu Leibe zu gehen. Er ertrug die Wendung, die unser Gespräch genommen, nicht länger und stand auf. »Ja, ja,« sagte er, sich wiederholt über die Stirn fahrend, »du hast recht, du hast recht .... Aber« – er sah nach der Uhr – »es ist Zeit, daß ich gehe. Ich danke dir, daß du mich so teilnehmend angehört hast. Wir werden ja sehen, wie sich alles gestaltet.« Damit reichte er mir die Hand und ging.

Es wird sich nicht gut gestalten, dachte ich, als ich jetzt allein war. Die innere Zerrüttung dieses Mannes war schon zu weit vorgeschritten. Auch körperlich schien er mir gebrochen. Sein Gang war unsicher, seine Hände fühlten sich kraftlos und zitterig an. Ich fürchtete für das Ende. Ob er sich jetzt zu ihr hinüberbegeben hatte? Ich konnte mich nicht enthalten, aus Fenster zu treten und den Garten ins Auge zu fassen. Es dauerte nicht lange, so sah ich die beiden nebeneinander auf und nieder gehen ....

Einige Tage nachher brachten mehrere Blätter die Notiz, daß die Vermählung des andern wahrscheinlich während der Theaterferien stattfinden dürfte.

3.

III.

Der Sommer hatte seine Höhe erreicht. Die Rosen in den Gärten waren verblüht; duftlose, aber farbenprächtige Feuerlilien und Gladiolen standen in den Beeten, während das Grün [87] der Wipfel allmählich seinen Schimmer verlor. Von Sandek hatte ich kein Lebenszeichen mehr erhalten. Auch drüben hatte ich ihn nicht mehr wahrgenommen. Dort war es jetzt überhaupt leer und still geworden; man schien sich bereits in einer Sommerfrische zu befinden. Was aber war mit Sandek geschehen? Die theoretischen Prüfungen mußten doch schon vorüber sein; vielleicht hatte er sich zu den praktischen in irgendein Übungslager begeben. Oder er war schon zu seinem Regiment eingerückt. Daß er sich von mir nicht verabschiedet hatte, befremdete mich nicht. Denn es war bei seinem Wesen nur natürlich, daß er mich nach unserer letzten Unterredung vermied. Und doch war ich über sein Schicksal beunruhigt und mußte öfter an ihn denken. Endlich entschloß ich mich, dort nachzusehen, wo er gewohnt hatte; irgend jemand würde mir wohl Auskunft geben können. Beim Hausbesorger, wo ich nachfragen wollte, fand ich, wie das in Wien nicht selten der Fall ist, die Tür verschlossen; ich stieg also die drei Treppen empor und drückte an der betreffen den Klingel. Nachdem ich es wiederholt getan, wurde die gegenüber befindliche Tür zur Hälfte geöffnet, und ein alter Herr mit weißem Schnurrbart und freundlichen blauen Augen blickte heraus.

»Wen suchen Sie?« fragte er.

»Den Hauptmann Sandek.«

»Sie sind wohl ein Bekannter von ihm – und haben ihn längere Zeit nicht gesehen?«

»So ist es.«

Der stattliche Alte trat heraus. »Mein Name ist Wernhart, Oberst in Pension.«

Ich verbeugte mich und stellte mich gleichfalls vor.

»Nun dann –« er unterbrach sich. »Wollen Sie sich vielleicht einen Augenblick zu mir herein bemühen.« Er führte mich durch ein schmales Vorzimmer in ein behaglich eingerichtetes Gemach, dessen Fenster durch herabgelassene Jalousien gegen das Eindringen der Sonnenstrahlen geschützt waren. Er bat mich Platz zu nehmen und setzte sich mir vertraulich nahe.

[88] »Ich bin Witwer«, begann er, »und habe meine beiden Töchter – einen Sohn besitze ich leider nicht – ausgeheiratet. Da ich aber doch die mir lieb gewordene Wohnung nicht aufgeben mochte, vermiete ich seit Jahren die Hälfte an Offiziere der Kriegsschule. So hat auch der Hauptmann Sandek diesen Winter bei mir gewohnt, jetzt aber« – er dämpfte die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern – »befindet er sich im Lainzer Irrenhause.«

»Im Irrenhause –?«

»Leider. Das ist die Folge, wenn sich die Herren im Studieren allzuviel zumuten. Es hat nicht jeder die notwendige geistige Spannkraft. Und wenn man sie erzwingen will, so reibt man sich dabei auf. Ich hatte an dem Hauptmann schon zu Beginn des Frühlings bedenkliche Anzeichen wahrgenommen und ihm den freundschaftlichen Rat erteilt, sich nicht so sehr anzustrengen. Schließlich hängt ja nicht das Leben an dem goldenen Kragen. Aber der Ehrgeiz! Der Ehrgeiz! Man will doch den Anforderungen entsprechen, die heutzutage gestellt werden – und nicht etwa als Hauptmann in Pension gehen. Da war es zu meiner Zeit ganz anders. Man avancierte in der Tour, wenn auch natürlich die entsprechende Befähigung vorhanden sein mußte.«

»Ja – und seit wann –?«

»Ungefähr fünf Wochen ist es her, daß er plötzlich einen Anfall von Tobsucht bekam. Es war eine schreckliche Geschichte. Ich und sein Diener – sowie die Leute im Hause, wir wußten uns gar nicht zu helfen, bis man ihn endlich nach Lainz gebracht hatte. Bemühen Sie sich nicht etwa hinaus. Sie können ihn nicht sehen. Sein Zustand ist ein ganz hoffnungsloser. Die Ärzte sprechen von einer rasch fortschreitenden Paralyse.«

»Das ist höchst traurig –«

»Gewiß. Er war ein so prächtiger Mensch! Wenn ich nicht ganz irre,« fuhr der alte Herr flüsternd fort, indem er sich [89] die Hand vor den Mund hielt, »wenn ich nicht ganz irre, war auch eine Liebesgeschichte mit im Spiele.«

»So«, sagte ich, und erhob mich. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Oberst, für Ihre gütigen Mitteilungen. Vielleicht darf ich Sie bitten, mir über den weiteren Verlauf ein paar Zeilen zukommen zu lassen.«

»O sehr gern«, erwiderte er, meine Karte in Empfang nehmend.

Wie unerbittlich sich menschliche Schicksale vollziehen! So sprach es in mir, während ich mich aus den Heimweg machte ...

Nach einiger Zeit – von dem Oberst hatte ich noch keine Nachricht erhalten – trat ich eine schon früher beabsichtigte kleine Rundreise durch Italien an. Als ich zurückkehrte, war es schon tief im Herbst. Unter den Briefen und Drucksachen, die ich auf meinem Schreibtische gehäuft vorfand, fiel mir auch ein schwarz gerändertes Parte ins Auge. Es zeigte an, daß der Hauptmann Robert Sandek nach schwerem Leiden an einer Gehirnlähmung verstorben war.

Das Ende ...

Ich trat aus Fenster. Öde, kahl und fahl lagen die Gärten vor mir. Ein rauher Nord, der düstere Wolken am Himmel trieb, fegte die letzten Blätter von den Bäumen.

4.

IV.

Jahre waren verflossen. Ich befand mich in Steiermark und hatte mich bestimmen lassen, dort eine Kuranstalt aufzusuchen, die auf halber Alpenhöhe lag und sich eines weitverbreiteten Rufes erfreute. Ein berühmter Arzt, einer der ersten, die das Naturheilverfahren in Schwung, gebracht, leitete sie. Als ich eintraf, neigte die Saison bereits dem Ende zu. Es hatte den Tag über in Strömen geregnet; tiefhängende graue Nebelschleier verhüllten die ganze Gegend. Ich war im Kurhause abgestiegen, und die ungewohnten, mit Petroleumlampen [90] – elektrisches Licht gab es damals noch nicht – düster beleuchteten Räumlichkeiten hatten für mich etwas Unheimliches, Niederdrückendes. Auch die nicht sehr zahlreichen Kurgäste, die eben an der aus Milch und Schrotbrot bestehenden Abendtafel saßen, waren nicht sonderlich anziehend. Einen wahren Schrecken aber empfand ich, als ich unter ihnen einen Mann gewahr wurde, den ich lieber zu allen Teufeln gewünscht hätte. Es war dies ein wohlhabender Müßiggänger, der sich auf den Dichter hinausspielte und an jeden Schriftsteller herandrängte, wobei er allerdings die Maske großer Bescheidenheit vornahm. In Wahrheit aber strotzte er von Eigendünkel und glaubte mit seinen Novelletten und Gedichten, die er ab und zu in prächtiger Ausstattung erscheinen ließ, die Literatur zu bereichern. Im übrigen beschäftigte er sich mit gesellschaftlichem Tratsch, und da er in allen Kreisen verkehrte, so zeigte er sich auch mit der Wiener Skandalchronik aufs innigste vertraut. Hin und wieder konnte er ganz unterhaltend sein; aber den geschwätzigen und aufdringlichen Menschen einige Wochen hindurch beständig an der Seite zu haben, war eine trostlose Aussicht.

Er erhob sich auch sofort und eilte mir entgegen. »Sie hier, Hochverehrter!« – das Wort »Meister« war damals noch nicht gebräuchlich. »Welch freudige Überraschung! Allerdings muß ich gleichzeitig mein Bedauern aussprechen, da Sie doch nur ein körperliches Leiden hieherführen kann. Aber Ihr Aussehen ist vortrefflich – und so wird es nicht so arg sein. Im übrigen werden hier wahre Wunderkuren vollführt. Auch leben läßt es sich ganz angenehm, wenn man auch gewissermaßen auf Wasser und Brot gesetzt ist. Erlauben Sie, daß ich Sie gleich der Gesellschaft vorstelle!«

Er tat es mit großer Emphase, wobei ich wieder einmal die Genugtuung erlebte, daß die Leute von meinem Dasein keine Ahnung gehabt hatten und mich mit offenem Munde anglotzten. Ich verbiß meinen Ärger in ein paar Schinkenschnitte, die mir, da ich ja noch die Kur nicht angetreten hatte, ausnahmsweise[91] vorgesetzt wurden. Um das Maß voll zu machen, Zeigte sich, daß mein Kollege im Kurhause auch mein Ziemlich naher Zimmernachbar war. »Also auf Wiedersehen morgen früh in der Wandelhalle«, sagte er, als wir uns zurückzogen. »Das schlechte Wetter scheint anhalten zu wollen, und da ist all einen Gang ins Freie kaum zu denken. Sobald es wieder schön ist, werde ich Sie die herrlichsten Waldwege führen.«

In drei Tagen war es wirtlich schön geworden, und ich konnte seiner Begleitung nicht entgehen. Ich ließ sie mir auch insofern gefallen, als ich der Gegend unkundig war. Wir schritten anfänglich einen wohlerhaltenen Parkweg hinan, der die Anstalt mit den umliegenden, gleichfalls von Kurgästen bewohnten kleinen Villen vollständig überblicken ließ und eine immer weitere Rundsicht eröffnete, bis er endlich in ein felsiges Waldgebiet hineinführte. Wir hatten dieses kaum betreten, als uns zwei Gestalten entgegenkamen, die einen höchst malerischen Anblick darboten. Eine Frau und ein etwa sechsjähriges Mädchen. Beide trugen, wie dies hier nach der Morgenkur üblich war, die Haare aufgelöst. Die der Frau fielen in langen Strähnen hinab und umflossen sie wie ein dunkler Mantel; die des Kindes, von hellem Blond, umwallten das zarte, lichte Gesichtchen wie ein goldenes Vlies und waren kranzartig mit einem blühenden Genzianenzweig geschmückt, so daß die Kleine wie ein Elfchen aus dem Sommernachtstraum aussah, während die Mutter mit herben, finsteren Zügen an Lady Macbeth erinnerte.

Mein Begleiter lüftete den Hut zu ehrerbietig lächelndem Gruß, der von der Frau mit kurzem Kopfnicken erwidert wurde. Nachdem die beiden weit genug hinter uns waren, fragte er mit bedeutungsvollem Augenzwinkern: »Wissen Sie, wer die Dame ist?«

Ich verneinte, obgleich ich sie sofort erkannt hatte und mir die große Ähnlichkeit des Kindergesichtes mit dem Sandeks überraschend in die Augen gesprungen war. Er aber fuhr in seiner Weise frivol geheimnisvoll fort: »Die Hofrätin –« er [92] nannte den Namen. »Eine sehr bedeutende, geistvolle Frau, die ihrem Mann in jeder Hinsicht überlegen ist. Sie hat jahrelang mit« – er nannte wieder den Namen – »ein sehr intimes Verhältnis gehabt, das sich erst löste, als der schwarzgallige Lessing die blauäugige Undine vom Theater wegheiraten wollte. Diese aber hat sich ihm, das wissen Sie ja, wie schon vorher manchem anderen, mit ihrem glatten Fischleib im letzten Augenblick entwunden. Und da hat auch der Herr wieder das Sprichwort bewahrheitet: on revient toujours ... Allerdings schon in etwas schadhaftem Zustande. Er hat ja immer an der Leber gelitten und scheint jetzt ganz und gar einzutrocknen. Erst kürzlich hat er die Dame, die schon sehr bald die Anstalt verläßt, hier besucht. Was aber die Kleine betrifft, die Sie jetzt gesehen haben, so kommt mir ihre Existenz etwas fragwürdig vor. Während des Interregnums soll ihrer Mama ein Offizier näher getreten sein. Ich will nichts behaupten – aber das Töchterchen sieht weder dem Hofrat noch seiner Gemahlin ähnlich« ...


* * *


Und nun saß dieses Töchterchen mit voll entwickeltem Frauenreiz mir gegenüber – an der Seite des jungen Modegelehrten aus der Schule Brandes' und Nietzsches. Es war ein gefährlicher Tischnachbar, der ihr da den feingeschnittenen orientalischen Kopf und die geistsprühenden Augen beständig zuwandte und sie mit dem Zauber seines Wortes zu umstricken schien. Schon manche der jungen und jüngsten Damen, die sich zu seinen Vorlesungen drängten, war, wie es hieß, diesem Zauber erlegen. Er aber wußte bis jetzt nur Hoffnungen zu erwecken – keine zu erfüllen.

Am anderen Ende der Tafel saß auch der Gemahl der blonden Frau, ein etwas aufgeschwemmt aussehender Baron mit eingeklemmtem Monokel. Er war zwischen zwei steife Standesdamen hineingeraten, mit denen er sich furchtbar zu langweilen schien. Er hielt sich jedoch am Menü schadlos und [93] trank sehr viel Champagner, der gleich von der Suppe an gereicht wurde.

Endlich tauchte man die Finger in die flachen Wasserschalen und begab sich in das anstoßende sehr geräumige Rauchzimmer, um den Kaffee zu nehmen. Auch dort wich der Beredte nicht von der Seite der jungen Frau, so daß ich mein Vorhaben, mich ihr zu nähern, aufgab. Ich zog mich in eine Ecke zurück und dachte wieder über die Verkettungen des Lebens nach. Was wohl mit der Mutter geschehen sein mochte? Und ob nicht vielleicht der Tochter ein ähnliches Los bevorstand? Die Männer, denen beiden sie gewissermaßen ihr Dasein verdankte, waren gestorben. Und die schöne, geistvolle Schauspielerin, die unbewußt mit in diese Wirrnisse verflochten gewesen, hatte bald darauf dennoch geheiratet. Einen damals sehr berühmten Bühnendichter. Aber die Ehe war keine glückliche und wurde bald getrennt. Ich warf den Rest der Havanna in den Aschenbecher und entfernte mich unbemerkt, während sich der Baron eben ein Gläschen Mandarin eingoß.

5.

V.

Das Diner hatte knapp vor Ostern stattgefunden. Die Saison ging somit zu Ende, und die gesellschaftlichen Beziehungen lockerten sich, bis sie schließlich der Sommer gänzlich auflöste. Erst der November führte das mehr oder minder weit getrennt Gewesene allmählich wieder zusammen und die »jours« traten in ihr Recht.

So konnte auch ich nicht umhin, mich bei dem der Dame des Hauses einzufinden, wo ich an jenem Abend geladen war. Eintretend, fand ich das Empfangsboudoir fast leer, nur eine Dame saß neben der Hausfrau auf dem Sofa. Zu meiner Überraschung war es die, welche mir damals so viel zu denken gegeben. Es war kaum die gegenseitige Vorstellung erfolgt, als in einer etwas auffallenden Besuchstoilette die schöne Schauspielerin hereintrat. [94] Ja, sie war noch immer schön, obgleich ein Vierteljahrhundert über ihre Blütezeit dahingegangen und sie selbst einigermaßen korpulent geworden war. In das ältere Fach übergetreten, zeigte sie ihr Talent von einer ganz neuen Seite und entzückte wieder das Publikum, das sich ihr schon ein wenig entfremdet hatte. Wir begrüßten einander als alte Bekannte, die sich schon lange nicht mehr gesehen hatten, und bei ihrer lebhaften, humoristischen Art brachte sie sogleich ein allgemein anregendes Gespräch in Fluß. Nur die junge blonde Frau verhielt sich dabei ziemlich teilnahmslos. Nach einer Weile erhob und verabschiedete sie sich.

Sobald sie draußen war, sagte die Schauspielerin: »Mein Gott, was hat denn das liebe Frauchen? Sie ist ja kaum mehr zu erkennen. Vor einem halben Jahr traf ich sie noch blühend und strahlend in einer Soiree bei Weikers. Ist sie vielleicht leidend?«

Auch mir war es aufgefallen. Die Hausfrau aber rückte etwas verlegen auf ihrem Sitze hin und her. »Sie wissen also nichts?« erwiderte sie nach einer Pause.

»Nicht das geringste. Wir Komödianten leben ja eigentlich doch nur in unserer Kulissenwelt.«

»Auch Ihnen ist nichts bekannt?« wandte sich die Hausfrau an mich.

Ich verneinte.

»Merkwürdig. Es wird doch überall davon gesprochen, und so ist es wohl keine Indiskretion, wenn ich Ihnen die Sache mitteile. Die junge Frau hat sich nämlich scheiden lassen, um den genialen Ästheten zu heiraten, der seit ein paar Jahren eine so große Rolle in der Gesellschaft gespielt. Sie kennen ihn ja beide?«

Wir stimmten zu.

»Nun aber hat es der Herr für gut befunden, zurückzutreten und nach London abzureisen. Welch ein Schlag das für die Ärmste war, können Sie sich denken. Mir selbst ist die Affäre [95] auch deshalb peinlich, weil sie sich in meinem Hause angesponnen hat.«

»Ach Gott!« sagte die Schauspielerin. »Man darf derlei nicht zu tragisch nehmen. Die Frau ist ja noch so jung – sie wird sich schon wieder zurecht finden.«

»Das hoff' ich auch«, erwiderte die Dame des Hauses. »Übrigens hatte die Absicht, sich scheiden zu lassen, schon lange vorher bei ihr bestanden. Denn der Baron ist ein ganz unwürdiger Mensch. Ein Spieler, der das kleine Gut, das er besitzt, schon dreifach überschuldet hat. So reizend sie als Mädchen war, hat er sie doch nur ihres Geldes wegen geheiratet. Denn ihr Vater, der verstorbene Hofrat, hat ein sehr bedeutendes Vermögen hinterlassen.«

»Ja, die jungen Mädchen!« sagte die Schauspielerin. »Die springen nur so in die Ehe hinein. Und nun gar mit der Aussicht auf eine siebenzackige Krone im Trousseau.«

»Da irren Sie sich. So oberflächlich war sie nicht, daß sie sich durch Titel ködern ließ. Es wirkten ganz andere Umstände mit. Sie hatte sich im elterlichen Hause sehr unglücklich gefühlt. Denn ihre Mutter hegte seit jeher eine ganz unbegreifliche Abneigung gegen sie, unter der sie sehr litt. Der Baron war ein Bekannter ihres um zwölf Jahre älteren Bruders – und da hatte sie sich entschlossen.«

»Lebt ihre Mutter noch?« fragte ich.

»Kennen Sie sie?«

»Vor vielen Jahren bin ich flüchtig mit ihr zusammengetroffen.«

»Sie kennen Sie also nicht näher. Eine ganz merkwürdige Frau. Sie war nie schön, aber höchst interessant. Dabei eine stolze, herrische Natur. Sie soll einst sehr leidenschaftlich gewesen sein – mir aber hat sie stets den Eindruck großer, fast eisiger Kälte gemacht. Jetzt ist sie – schon seit zwei Jahren schwer krank. Eine Gesellschafterin und zwei Pflegerinnen sind [96] um sie. Ihre beiden Kinder – auch der Sohn ist verheiratet – läßt sie nur selten vor sich.«

»Wer weiß, wie das alles zusammenhängt«, bemerkte die Schauspielerin obenhin.

»Das ist eben ein Rätsel. Was aber die Tochter betrifft, so kann ich nur sagen, daß sie ein ganz wundervoller Charakter ist. Sie hat mir soeben anvertraut, daß sie dem Baron ihren fünfjährigen Knaben ein für allemal abgekauft hat. Das heißt: gegen so und soviel verzichtet er auf seine Vaterrechte. Sie mußte dabei schwere Geldopfer bringen, aber das Kind bleibt ihr bis zur Großjährigkeit erhalten. Sich ganz seiner Erziehung zu widmen, betrachtet sie jetzt als Lebensaufgabe. Sie heiratet gewiß nicht wieder. Und im übrigen wird sie auf dem Gebiete der Frauenfrage und der öffentlichen Wohltätigkeit einen angemessenen Wirkungskreis zu finden trachten.«

Zwei neue Besuche traten ein, das Gespräch unterbrechend ....

[97][99]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 6. Teil. Hymen. Hymen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AEB1-9