II.
Am Morgen stand es bei mir fest: mit diesem Manne konnte ich nicht unter einem Dache bleiben. Die Frage war nur, was beginnen? Aber hatte ich mir denn nicht schon längst vorgenommen, einmal nach Graz zu fahren? Ich mußte mich ja mit manchem Notwendigen, vor allem mit gewissen Büchern, versorgen, die ich in jener Stadt aufzutreiben hoffte. Auch fiel mir jetzt ein, daß dort einer meiner Verwandten lebe, den aus solcher Nähe aufzusuchen, eigentlich meine Pflicht war. Ich konnte mich ja mehrere Tage, konnte mich eine Woche ferne halten – und bis dahin würde Herr Hirsch wohl abgereist oder doch wenigstens nicht lange mehr hier sein. Also nach Graz! Ich beeilte mich, diesen rettenden Gedanken mit Benützung des nächsten Bahnzuges zur Tat zu machen, kleidete mich, während mein Nachbar noch hörbare Schlummertöne von sich gab, rasch an und begab mich zum Frühstück hinunter, wobei ich meinen Entschluß Herrn Matzenauer ankündigte.
»Was?« rief dieser betreten. »Sie wollen fort? Doch nicht etwa wegen des Herrn Hirsch?«
[88] »Allerdings.«
»Das sollten Sie nicht. Lernen Sie ihn nur erst näher kennen. Er hat zwar seine Eigenheiten – ist aber ein ganz gemütlicher alter Mann.«
»Er schnarcht wie ein Bär.«
»Daran würden Sie sich bald gewöhnen. Auch könnten Sie ja ein anderes Zimmer nehmen.«
»Das ist mir zu umständlich«, sagte ich kurz abweisend.
»Nun, ich meinte ja nur. Sie begreifen, wie leid es mir tut, Sie zu verlieren; ich hatte gehofft, daß Sie über Neujahr bleiben würden. Wenn Sie übrigens wirklich wieder kommen – –«
»Gewiß komme ich wieder. Ich lasse ja meine Sachen zurück und nehme nur das Notwendigste mit. Ich hätte mich jedenfalls auf kurze Zeit nach Graz begeben, denn ich habe dort zu tun. Erwähnen Sie daher Herrn Hirsch gegenüber nichts; ich möchte nicht gerne jemanden verletzen.«
Nach einer halben Stunde fuhr ich mit Plaid und Handkoffer ab.
* * *
Als ich wieder eintraf war meine erste Frage:
»Nun, ist er fort?«
»Noch immer nicht«, erwiderte Herr Matzenauer verlegen und überdies sichtlich verstimmt. »Er hat einen Brief von seinem Sohn erhalten, worin dieser mitteilt, daß er sich noch einige Tage in Venedig auf zuhalten gedenke.«
»Das war vorauszusehen!« rief ich ärgerlich. »Aber was haben Sie denn? Sie machen ja ein ganz saueres Gesicht.«
Herr Matzenauer kratzte sich leicht am Hinterhaupte.
»Ich will Ihnen nur gestehen,« sagte er, »daß es mir jetzt auch schon zu viel wird.«
»Wieso?«
»Nun sehen Sie: ich bin Hotelbesitzer, und als solcher muß ich auf Gewinn bedacht sein. Daher war mir auch das Erscheinen [89] eines neuen Gastes sehr angenehm. Herr Hirsch ist ein reicher Mann – oder vielmehr sein Sohn ist es – und der Alte läßt viel aufgehen. Aber er macht auch die unglaublichsten Ansprüche. Alle erdenklichen Möbel will er in seinem Zimmer haben; kein Stuhl ist ihm weich, kein Bett lang und breit genug, fast täglich muß irgend ein Umtausch getroffen werden. Und jederzeit sollen Leckerbissen da sein. Die sind aber auf dem Lande – und nun gar für eine Person – schwer zu beschaffen; in erster Linie kosten sie Geld. Infolgedessen findet Herr Hirsch, der bei allem Wohlleben mit dem Kreuzer knickert, die Rechnung immer zu hoch beziffert. Meine Frau will schon gar nicht mehr für ihn kochen, weil ihm kaum eine Speise recht zubereitet ist; ich muß mich rein aufs Bitten verlegen.«
»Hm –«
»So anspruchsvoll war er doch im Sommer nicht. Freilich hatte er da eine gewisse Diät zu befolgen – auch mußte er sich der anderen Gäste wegen Zwang auferlegen; denn er hatte noch das Kurhaus in frischer Erinnerung.«
»Das Kurhaus?«
Herr Matzenauer errötete leicht.
»Ich Hab' es Ihnen früher verschwiegen – aber jetzt sollen Sie's wissen. Er hatte sich bei der ganzen Badegesellschaft unleidlich gemacht. Jedermann wich ihm aus, besonders die Damen – und schließlich wollte man ihn nicht einmal mehr am Kurhaustische dulden. Da hat er sich zu mir geflüchtet, damit er doch etwas zu essen bekommt.«
»Sehen Sie wohl! Aber was hilft's?« fuhr ich resigniert fort. »Man muß Geduld haben. Er wird doch nicht ewig hier bleiben.«
»Das hoff' ich auch. Wenn er mir nur nicht die paar Stammgäste aus der Schankstube vertreibt. Ich muß sie jetzt im Winter doppelt schätzen. Es sind stille, ernsthafte Leute, und seit die Abende länger geworden, machen sie gern unter sich eine Tarockpartie. Herr Hirsch aber, der sich zu Tod langweilt [90] und überdies aufs Spiel versessen ist, wie der Teufel, möchte immer mithalten. Die anderen wollen jedoch durchaus nicht; man hat hier zu Lande noch immer eine gewisse Antipathie gegen die – Sie verstehen mich. Und überhaupt wollen sie mit keinem Fremden spielen. Das aber können sie ihm doch nicht verwehren, daß er sich zu ihnen setzt und dem Spiel zusieht. Und wenn er sich ruhig verhielte, möcht' es immerhin sein. Aber er macht in einem fort Bemerkungen und Ausstellungen; dabei werden die Leute konfus und ärgern sich. Erst vorgestern sagte der Tischler, der nicht gerade der Feinste ist, zu mir: Sie, Herr Matzenauer, wenn Sie uns den alten Juden nicht vom Tisch halten, so wandern wir in die Sonne aus. – Denken Sie nur, in die elende Kneipe am untersten Ende des Platzes! Hierauf hab' ich dem Hirsch die Sache sehr deutlich zu verstehen gegeben – aber am nächsten Tage saß er schon wieder dort. Am Ende kommt es noch zu einem Skandal.«
Mit diesem Ausruf schloß Herr Matzenauer seine Auseinandersetzungen und entfernte sich eilig, da draußen nach ihm verlangt wurde.
Ich aber blieb bei dem Glase Bier sitzen, das ich mir bei meiner Ankunft in das Speisezimmer hatte bringen lassen. Der Tag neigte sich dem Abend zu. Die letzten Strahlen der Novembersonne fielen schräg durch die Scheiben auf den Fußboden des Gemaches; im Ofen flackerte, der Jahreszeit angemessen, ein leichtes Feuerchen; aus der Schankstube herein tönte das Ticken der Schwarzwälderuhr – und hin und wie der ein Wort, ein Ausruf, welcher samt leisem Kartengeräusch anzeigte, daß die Winterstammgäste bereits mit einer nachdenklichen Tarockpartie begonnen hatten. Dies alles heimelte mich wieder ganz traulich an, und nur das Bewußtsein, daß Herr Hirsch noch immer im Hause sei, ließ kein volles Behagen in mir aufkommen.
Da vernahm ich, wie er draußen eintrat.
»Aha! Die Spielratten schon beisammen! Glück auf, Herr Gamilschegg! Sie haben gestern Pech gehabt. Aber [91] Sie haben auch miserabel gespielt. Warten Sie, heute setz' ich mich zu Ihnen. Da wird es gleich besser gehen!«
Der Ortskaufherr murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Herr Hirsch aber rückte sehr hörbar einen Stuhl heran, während das Spiel seinen Fortgang nahm. Und es dauerte nicht lange, so begann er Kritik zu üben.
»Aber warum denn eine Farbe, Herr Gamilschegg? Tarock hätten Sie bringen sollen. Also jetzt Tarock! Nicht so nieder – höher! höher!«
»Sie machen mich ja ganz irre, Herr von Hirsch – –«
»Nichts da! Nur fort so – Tarock und wieder Tarock!«
»Sie haben leicht raten, Herr Hirsch«, warf eine brummige Stimme ein, die offenbar dem Tischler an gehörte. »Sie sehen ja in alle Karten!«
»Wie heißt sehen?« rief Hirsch, bei dem sich im Eifer spezifische Anklänge geltend machten. »Nichts seh' ich! Gar nichts! – So, Herr Gamilschegg! Und jetzt den Scüs drauf! Gewonnen! Was hab' ich gesagt?«
Die Karten wurden gemischt und von neuem umgegeben. Aber Herr Gamilschegg schien wieder nicht zur Zufriedenheit seines Mentors zu spielen; denn dieser erschöpfte sich in Verweisen und Ratschlägen. Das dauerte noch eine Weile; endlich schien es den anderen zu viel zu werden. Karten wurden auf den Tisch geworfen, und gleich darauf erdröhnte die vorige Stimme: »Entweder Sie halten Ihr Maul – oder wir hören zu spielen auf!«
Einen Augenblick war es still. Auf solche Worte zeigte sich Herr Hirsch zweifelsohne nicht vorbereitet. Endlich stammelte er: »Seien Sie doch nicht so grob, Herr Schreinermeister.«
»Grob oder nicht. Wir brauchen niemand, der uns beständig dreinred't!«
»Dreinreden? Ich rede ja gar nicht darein!«
»Gewiß, Sie stören das Spiel, Herr von Hirsch«, warf der Krämer sehr artig, gleichsam als Entschuldigung ein.
[92] »Ich meinte es ja gut! Ich habe Ihnen helfen wollen – –«
»Das ist nicht notwendig!« donnerte der Tischler. »Der Herr Gamilschegg weiß selbst, wie er zu spielen hat. Und kurz und gut: Schauen Sie, daß Sie weiter kommen, sonst zeigen wir Ihnen, wo die Tür ist.«
Auf diese Tathandlung wollte es der so roh Zurechtgewiesene jedenfalls nicht ankommen lassen, denn er erschien sofort im Speisezimmer, bleich, mit schlotternden Knien. Er wankte mühsam bis zu einem Stuhl, der in der Nähe des Fensters stand, sank darauf nieder und bedeckte sein Antlitz mit den beringten Händen.
»Gott, du Gerechter! Nirgends will man mich dulden – überall stößt man mich weg – was soll ich tun, was soll ich beginnen, ich armer, geschlagener Mann!«
Dieser halblaute Ausbruch eines tiefen, verzweiflungsvollen Schmerzes hatte etwas Ergreifendes. Ich war, um es offen zu bekennen, der dramatischen Szene, die sich nebenan abgespielt, nicht ganz ohne Schadenfreude gefolgt; nun aber schlug diese sofort in Mitleid um. Ich machte eine Bewegung.
Jetzt erst gewahrte er mich und sah mich lange mit steigender Aufmerksamkeit an; er wollte offenbar Erinnerungen sammeln, was ihm aber nicht zu gelingen schien. Endlich stand er auf, näherte sich mir und sagte ohne jegliches Zeichen der Beschämung oder Verlegenheit, nur im Tone einer vorwurfsvollen Anklage: »Haben Sie gehört, wie man mich da draußen behandelt hat?«
»Leider hab' ich es hören müssen. Aber nehmen Sie die Sache nicht zu schwer. Sie hätten sich mit diesen Leuten gar nicht einlassen sollen.«
»Da haben Sie recht! Es ist gemeines Volk. Aber ich bin nun einmal ein vorurteilsloser Mann und kenne keine Standesunterschiede – obgleich ich allen Grund hätte, solche zu machen. Denn ich habe im Leben mit den höchsten Persönlichkeiten verkehrt – und erst unlängst bei einer Whistpartie assistiert, an welcher ein General und zwei Hofräte teilgenommen.«
»Desto vorsichtiger hätten Sie sein sollen.«
[93] »Richtig! Ganz richtig! Vorsichtig hätte ich sein sollen! Leider, leider bin ich es nie gewesen! – Aber mit wem habe ich eigentlich die Ehre, zu sprechen?« fuhr er fort, indem er plötzlich eine stolze Haltung annahm.
Ich nannte meinen Namen.
Er sah nachdenklich in die Luft und schüttelte dann den Kopf, um anzudeuten, daß er diesen Namen niemals gehört habe.
»Und sind Sie von hier?«
»Nein.«
»Und von wo, wenn ich fragen darf?«
»Aus Wien.«
»Aus Wien!« rief er laut und breitete die Arme aus, als wollte er mich ans Herz drücken. »Aus Wien! Da kennen Sie gewiß meinen Sohn!«
»Ich habe nicht die Ehre.«
»Was? Sie kennen den Hirsch nicht? Den Ritter von Hirsch? Großhändler – Direktor der *Bank? – Aber Sie sind wohl nicht von der Geschäftswelt?«
»Nein, ich bin nicht von der Geschäftswelt.«
»Und was sonst, wenn ich mir erlauben darf?«
»Ich privatisiere.« Diese Antwort hatte ich schon ganz anderen Leuten, als Herrn Hirsch, erteilt.
»Ah so! Ah so! Und was machen Sie denn hier?«
»Ein Landaufenthalt – –«
»Ein Landaufenthalt? Um diese Zeit? Bei beginnendem Winter? Seltsamer Geschmack! Wenn ich mit meinem Sohn, der gegenwärtig in Venedig ist, nicht hier ein Rendezvous hätte, würde mich dieses Nest nicht mehr zu Gesichte bekommen haben.« Und dann ganz plötzlich: »Spielen Sie Karten?«
»Niemals!«
»Was? Ein Wiener – und nicht Karten spielen? Schämen Sie sich! Aber doch Billard? Wie?«
»Nun ja, hin und wieder – wenn sich's gerade trifft – –«
[94] »Schön! Da können wir uns gleich unterhalten!« Und er rannte auf das Billard los.
Ich wollte Einwendungen erheben.
»Nein! Nein! Sie dürfen es mir nicht abschlagen! Sie müssen mit mir spielen!« Und da ich immer noch keine rechte Bereitwilligkeit zeigte, fuhr er in flehendem Tone fort: »Ich bitte, spielen Sie mit mir!«
»In Gottes Namen! Fünf Partien.«
»Bravo! Fünf Partien! Aber wir müssen Licht haben – es wird schon ganz dunkel. Herr Matzenoër! Herr Matzennoër!« Und als dieser in dienstfertiger Eile erschien: »Zünden Sie die Lampe an! Ich werde mit diesem Herrn Billard spielen!« Er war offenbar in gehobenster Stimmung und hatte den unangenehmen Vorfall bereits vollständig vergessen.
Herr Matzenauer sah mich erstaunt an, machte Licht und begab sich in die Schankstube zurück, aus der sich die Gäste inzwischen entfernt zu haben schienen.
»So, nun können wir beginnen«, rief Herr Hirsch, einen Kugelstab aus der Lade ziehend. »Wählen Sie nur eine gute Queue – das ist die Hauptsache. Ich gebe Acquit. Und nun zeigen Sie, was Sie können.«
»Da werden Sie nicht viel sehen. Ich bin ganz aus der Übung.«
»Bescheidenheit! Pure Bescheidenheit! Ich bin überzeugt, daß Sie vortrefflich spielen. Aber an mir sollen Sie Ihren Meister finden.«
»Daran zweifle ich nicht«, erwiderte ich, den ersten Stoß vollführend.
»Ausgezeichnet! Sehen Sie, wie Sie es treffen! Aber geben Sie acht, nun komme ich!«
Damit legte sich Herr Hirsch mit der ganzen Wucht auf das Billard und zielte lange. Da er aber zu tief ansetzte und übermäßig stark zustieß, so sprang der Ball in die Höhe und über den Rand hinaus.
»Oho! Nicht geschmiert! Wo ist die Kreide? Wer schlecht [95] schmiert, fährt schlecht!« Er lachte laut über den abgedroschenen Witz.
Die Partie nahm ihren Fortgang. Herr Hirsch lobte mein Spiel überschwenglich, suchte mich aber stets durch prahlerisch angekündigte »Kunststöße« zu überbieten. Da jedoch diese fast durchgehends mißlangen, so kam es, daß ich zuletzt Sieger blieb. Als ich jetzt die Queue aus der Hande legen wollte, gab dies mein Gegner nicht zu. Er könne sich nicht überwunden geben, sagte er, und es müßten noch fünf Partien gespielt werden. Ich machte gute Miene, da ich mich aber bereits entsetzlich langweilte und infolgedessen sehr unaufmerksam spielte, so gewann diesmal Herr Hirsch.
»Und jetzt die Meisterpartie!« rief er.
»Was?«
»Gewiß! Nunmehr stehen wir gleich; eine letzte Partie muß den Ausschlag geben.«
Es kam mir nicht mehr darauf an, und um wirklich ein Ende zu machen, ließ ich ihn gewinnen.
»Sehen Sie,« rief er strahlend vor Triumph, »ich hab' es Ihnen vorausgesagt! – Aber nun wollen wir soupieren! Sie werden wohl auch zu Abend essen und mir erlauben, daß ich mich an Ihren Tisch setze.«
Ich konnte nichts dagegen haben und ließ es geschehen, daß er den Wirt herbeirief.
»Herr Matzenoër, ich werde mit diesem Herrn soupieren! Was Sie mir zu bringen haben, wissen Sie. Auch eine kleine Flasche Bordeaux!«
Da ich in Graz sehr früh zu Mittag gegessen hatte, bestellte auch ich etwas.
Als wir an dem frischgedeckten Tisch saßen, füllte Herr Hirsch sein Spitzglas und hob es, mir zutrinkend, empor.
»Auf unsere Bekanntschaft!« sagte er mit Emphase. Plötzlich aber hielt er inne und blickte mich starr an. »Seltsam! Ich muß Sie doch schon irgendwo gesehen haben.«
[96] »Gewiß«, erwiderte ich lächelnd. »Vor acht Tagen auf demselben Platze.«
Im Antlitz des Herrn Hirsch vollzog sich eine unbeschreibliche Veränderung; es ging sozusagen aus den Fugen. »Das waren Sie?« stammelte er. Dann verstummte er, und seine Unterlippe sank herab. Mit einemmal aber lachte er laut auf, stemmte die Hände in die Seiten und rief: »Was haben Sie damals von mir gedacht?«
Ich zuckte ausweichend die Achseln.
»Nein, nein! Nur heraus damit! Sie haben sich gedacht: dieser Mann hat keine Lebensart.«
»Nun – wenn Sie selbst – –«
»Nicht wahr, ich hab' es getroffen? O, ich weiß, ich weiß! Man glaubt das allgemein von mir. Aber ich sage Ihnen, ich habe Lebensart – ich muß Lebensart haben, denn ich bewege mich in Wien in der feinsten Gesellschaft. Auf dem Lande freilich, in der Fremde, laß ich mich gehen.« Wie um diese Behauptung zu erhärten, fuhr er mit dem Messer in einen kleinen Berg von Kaviar, den man ihm auf einem Schüsselchen vorgesetzt hatte, und führte die Spitze zum Munde. »Ausgezeichnet! Echter Astrachan! Davon müssen Sie kosten! Ich habe ihn eigens für mich kommen lassen. Aber so versuchen Sie doch!«
Ich wollte ihn nicht verletzen und nahm ein bißchen von dem großkörnigen Roggen, der in der Tat vortrefflich war.
»Sie sind ein Feinschmecker«, sagte ich.
»Ja, das ist meine Schwäche – meine einzige Schwäche. Wenn Sie so lange leben, wie ich, werden Sie gleichfalls dahinter kommen, daß ein guter Bissen der reellste Genuß ist. Und ich kann's vertragen. Meine Verdauung läßt nichts zu wünschen übrig. Für wie alt halten Sie mich?«
»Etwa sechzig –«
»Fehlgeschossen! Weit fehlgeschossen! Siebzig, sage ich Ihnen, siebzig! Zweiundsiebzig! Ja, man sieht es mir nicht [97] an. Ein wenig Gicht in den Beinen – im übrigen bin ich vollkommen gesund und nehme es noch mit manchem Jungen auf. – Aber nun raten Sie, was ich mir nach dem Kaviar bestellt habe?«
»Nun, was denn?«
»Wildschwein! Köstliches Wildschwein, das ein benachbarter Förster in die Küche geliefert hat. Es ist jetzt gerade die Zeit. Sie sehen mich an? Sie lachen? Sie wundern sich, daß ich als Jude derlei esse.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Sie haben! Sie haben! Aber Sie sehen keinen Orthodoxen vor sich – obgleich ich in Galizien unter solchen aufgewachsen bin. Ich war seit jeher ein Freidenker, ein Aufgeklärter, und habe deswegen in früherer Zeit – jetzt ist es freilich ganz anders – manches Ärgernis erregt. Und nun gar bei meiner Frau! Die war – Gott lasse sie ruhen – in solchen Dingen von einer Strenge – eine wahre Chassidim! Etwas zu genießen, was gegen die Speisegesetze verstieß, erschien ihr als das größte Verbrechen. Seligmann, sagte sie oft zu mir, wenn ich in dieser Hinsicht gesündigt hatte, Seligmann – so heiße ich nämlich – du bist ein Abtrünniger! Und erst am Sabbat! Da hatt' ich meine Not. Keine Pfeife durfte ich mir anzünden – damals rauchte man noch aus Pfeifen –, keinen Brief durfte ich schreiben – nicht einmal lesen. Aber dabei war sie eine prächtige Frau, wie man heutzutage keine mehr findet. Und von einer Schönheit! Geweint hab' ich, geweint wie ein Kind, als man ihr am Hochzeitstag die tiefschwarzen Haare abschnitt. Welch ein Unsinn! Aber damals ging es nicht anders. Ja, das war eine Frau, meine Gittel!« Er versank in sich und seine Augen wurden feucht.
Jetzt erschien der Eberbraten. Herr Hirsch blickte empor. »Nun? Sieht das nicht appetitlich aus? Nehmen Sie doch auch ein Stückchen!« Und trotz meiner Einwendungen legte er mir eine Schnitte auf den Teller und fuhr, während er behaglich [98] zu schmausen anfing, fort: »Es ist seltsam, wie sich manchmal die Dinge fügen. Ich habe eine eingefleischte Jüdin zur Frau gehabt, obgleich ich selbst, wie schon gesagt, niemals ein besonders guter Jude gewesen bin. Mein Sohn ist es viel mehr als ich – und sehen Sie, der hat wieder eine Frau, die sich ihres Judentums schämt. Sie stammt aus sehr feinem, vornehmem Hause – und gebildet ist sie – gebildet! Alle Sprachen spricht sie – und Bücher liest sie, von denen wir beide keine Ahnung haben. Aber sie ist auch eitel, sehr eitel! Alles, was in Wien irgendwie hervorragt, soll sich in ihrem Hause versammeln: Staatsmänner, Gelehrte, Künstler und Schriftsteller. Und die meisten kommen auch – obgleich man noch immer sehr gegen uns eingenommen ist – und diejenigen, die es nicht merken lassen wollen, sind es am meisten. Alle diese Leute erscheinen wohl im Salon, setzen sich auch nicht ungern an die Tafel – sobald sie aber wieder draußen sind, schütten sie sich schon auf der Treppe gegen die Juden aus. Ich weiß das. Und auch meine Schwiegertochter weiß es, obwohl sie es sich nicht eingestehen will. Daher fühlt sie sich im geheimen verstimmt, gedemütigt. Und mein Sohn liebt sie. Fabelhaft ist es, wie er sie liebt. Zehn Jahre sind sie schon verheiratet – und noch immer ist er so feurig, so voll Anbetung, wie am ersten Tage. Und sie ist nichts weniger als schön. Geist hat sie freilich – Geist und Energie. Sie wird es dahin bringen, daß sich mein Sohn taufen läßt – oder wenigstens die Kinder, damit sie nicht mehr als Hebräer in der Welt herumlaufen.«
»Und wäre Ihnen dies sehr unerwünscht?«
»Unerwünscht? Mir? Mein Gott, Sie wissen ja, daß ich kein Fanatiker bin, und schon vor Jahren hab' ich es zum Entsetzen der Gemeinde ausgesprochen, daß uns allen schließlich nichts anderes übrig bleiben wird. – Und selbst wenn es mir nicht recht wäre, was könnt' ich dagegen tun? Man muß seine Kinder gewähren lassen.« Er seufzte und schob nachdenklich den Teller beiseite.
[99] »Haben Sie mehrere Kinder?« fragte ich nach einer Pause.
»Gehabt! Gehabt! Im ganzen waren es vier; zwei davon sind schon in früher Jugend gestorben. Nur dieser Sohn ist mir geblieben – und eine Tochter.« Er schwieg eine Zeitlang, dann fragte er plötzlich: »Kennen Sie den König Lear von Shakespeare?« (Er sprach Liar und Schikispir aus.)
»Ja – ich kenne das Stück.«
»Nun also, ich bin auch so ein König Liar! Doch nein,« fuhr er mit hastiger Einschränkung fort, »Sie dürfen nicht glauben, daß meine Tochter eine Recha oder Gonowril ist – aber sie ist auch keine Ophelia. Ich will Ihnen die Sache erklären.« Er lehnte sich weit zurück und fuhr nach einer Pause fort: »Wie Sie mich da vor sich sehen, bin ich ein armer Mann. Das heißt, wie man's nimmt – ich habe, was ich brauche. Aber ich bin einst ein reicher, sehr reicher Mann gewesen. Und das zweimal. Das erstemal in Polen. Ich stand dort mit dem ganzen Adel in Verbindung, der meine Hilfe in Anspruch nahm, wenn er sich in Verlegenheit befand. Und da war ich zu gutmütig; ich konnte nichts abschlagen – und so verlor ich fast mein ganzes Vermögen. Mit dem Rest ging ich samt den Kindern – meine Frau war inzwischen gestorben – nach Wien. Sie können sich keinen Begriff machen, wie schwer es damals für unsereinen war, dort Fuß zu fassen. Aber es gelang mir. Ich knüpfte nach und nach Geschäftsverbindungen an – und wurde wieder der reiche Hirsch. Mit der Zeit war meine Sarah – das ist die Tochter – mannbar geworden. Eine Schönheit, sag' ich Ihnen! Freilich ganz anders als die Mutter – aber eine Schönheit. Die heutigen Maler, die immer nur Weiber mit roten Haaren malen, würden sich um sie gerissen haben. Gefärbtes Haar kommt jetzt sehr häufig vor; aber das ihre war von Natur rotes Gold, und aufgelöst, fiel es wie eine Schleppe zu Boden. Nun besaß ich einen Geschäftsfreund, der hieß Mandel – ein sehr wohlhabender Mann, wohlhabender als ich. Der hatte einen Sohn, und dieser [100] verliebte sich natürlich sofort in die Sarah. Eines Tages kommt der alte Mandel zu mir und sagt: ›Hören Sie, Hirsch, geben Sie Ihre Tochter meinem Sohn. Ich werde ihm kaufen ein Gut in Ungarn – das war schon nach dem Jahre Achtundvierzig – und Ihre Sarah kann werden eine Schloßfrau.‹ Ich sagte nicht ja, ich sagte nicht nein. Die Partie war gut, sehr gut – aber der junge Mandel gefiel mir nicht. Er war mir zu unansehnlich, zu häßlich – mit Respekt zu melden, eine wahre Vogelscheuche. Ich rief mir also die Sarah und sagte: ›Sarah, sagt' ich, der junge Mandel hat um dich geworben. Ich rede dir nicht zu. Nimmst du ihn, so nimmst du ihn, wenn nicht, nicht.‹ Nun hatte ich erwartet, daß sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und aus dem Zimmer laufen würde. Aber nichts da! Sie erwiderte ganz ruhig: ›Warum soll ich den jungen Mandel nicht nehmen, Vater? Ich nehm' ihn.‹ Bald darauf war Hochzeit, eine glänzende Hochzeit. Ich aber drückte mich dabei in ein Nebenzimmer, denn ich schämte mich, daß meine Tochter einen solchen Untham zum Mann genommen, während die andern glaubten, ich hätte mich zurückgezogen, um im stillen Freudentränen zu vergießen wegen der reichen Heirat. Und so haben mich die Menschen niemals verstanden – niemals!« Er riß bei diesen Worten mit heftiger Armbewegung eine Zigarrendose aus der Brusttasche und schickte sich zu rauchen an.
Nachdem er einige mächtige Wolken von sich geblasen, fuhr er fort: »Mit dieser Hochzeit begann wieder mein Unglück. Denn bald darauf erlitt ich Verluste – ungeheure Verluste. Die Börse! Die Börse! Was sollte ich beginnen? Ich war ein Bettler und schämte mich, auf die Straße zu gehen. Mein Sohn, der nun für sich selbst sorgen mußte, trat, obgleich er eben die Jura absolviert hatte, in ein Wollgeschäft – und ich, – nun, ich begab mich zu meiner Tochter nach Ungarn. Empfangen haben sie mich dort sehr anständig – sehr, das muß ich sagen. Aber es dauerte nicht lange, so nahm die Sache eine schiefe Wendung. Ich bin seit jeher ein tätiger Mann gewesen und [101] kann nirgends so ganz müßig zusehen. Ich wollte daher meinem Schwiegersohne bei Verwaltung des Gutes an die Hand gehen; denn ich hatte in Polen allerlei Einblicke in die Landwirtschaft bekommen. Meine Tochter aber legte sich sofort ins Mittel. ›Reden Sie doch‹ – damals sagten die Kinder noch Sie zu mir – ›reden Sie doch dem Aladar‹ – eigentlich heißt er Aron – ›nicht darein, lieber Vater; Sie sind ein Schlemihl.‹ Das tat mir weh – von meinem eigenen Fleisch und Blut. Aber recht hatte sie! Ich war ein Schlemihl. Also schwieg ich und kümmerte mich um nichts mehr. Doch was sollte ich den ganzen geschlagenen Tag in dem öden Schlosse auf der ungarischen Pußta? Ich suchte zuweilen ein nahe gelegenes Städtchen auf, wo sich die Landedelleute aus der Umgebung in einem Kaffeehause zusammenzufinden pflegten. Dort wurde, besonders an Markttagen, stark gespielt. Ich war nicht ganz ohne Mittel, denn mein Sohn verdiente bereits und schickte mir von Zeit zu Zeit, was er entbehren konnte – und so hielt ich mit. Aber das Unglück verfolgte mich nun einmal – ich verlor – bis ich endlich eine Spielschuld auf mir sitzen hatte. Nicht allzu hoch, aber zahlen könnt' ich sie nicht und mußte mich, wenn auch ungern, in meiner Verlegenheit an Sarah wenden. Sie hatte zwar von mir eine ansehnliche Mitgift erhalten; aber ich wußte, daß sie seit jeher geizig war, sehr geizig. ›Wozu brauchen Sie zu spielen, Vater? Diesmal will ich Ihnen das Geld geben, aber spielen dürfen Sie nicht mehr; Sie sind jetzt ein armer Mann.‹ Das war das Zweite. Aber recht hatte sie: ich war ein armer Mann. Rührte also keine Karte mehr an. Doch dabei blieb's nicht. Es kam zum Vorschein, daß ich zu wählerisch im Essen und Trinken sei, und als ich eines Tages zufällig ein wenig hustete, hieß es: ›Sie rauchen zu viel, Vater. Warum rauchen Sie so viel? Es wird Ihnen schaden.‹ Ich verstand den Wink – und der riß den Faden entzwei. Denn wer mir meine Zigarre nimmt, der nimmt mir mein Leben. Ich erwiderte nichts, obgleich mir das Herz zerspringen wollte; am nächsten Tage aber reiste ich [102] ab und ließ Sarah mit ihrem Aladar allein. Denn Kinder haben sie nicht.«
Er war bei dieser Erzählung in Aufregung geraten und als er jetzt schwieg, atmete er heftig. Die geliebte Zigarre war ihm ausgegangen, aber er machte keinen Versuch, sie wieder anzuzünden, und blickte starr vor sich hin. »Fast könnte man sagen,« fuhr er nach einer Weile mit tonloser Stimme fort, »auf diese Weise straft sie Gott. Denn auch meine Tochter ist eine echte Jüdin: sie kränkt sich, daß sie unfruchtbar geblieben.«
Ich wollte ihn ermuntern und sagte: »Dafür erleben Sie ja, wie es scheint, an ihrem Sohne um so größere Freude.«
Er sah betroffen empor. »An meinem Sohne? O ja! Gewiß! Mein Sohn ist ein edler Mensch – von dem kann ich haben, was ich will. Aber« – er warf sich dabei in die Brust – »er ist mir auch Dank schuldig. Ich habe an seiner Erziehung nichts gespart und ihm sogar einen Hofmeister gehalten. Wie schon gesagt, er ist Jurist und hätte, wie mancher andere, in Staatsdienste treten – hätte Karriere machen können. Im vorigen Jahre wollte man ihn um jeden Preis in den Reichsrat wählen. Aber er hat es vorgezogen, ganz und gar Kaufmann zu bleiben. Und als solcher ist er einzig. Seine Kombinationen, seine Unternehmungen gehen ins Großartige. Er ist bereits Millionär.«
»Ich gratuliere. Und Sie leben bei ihm in Wien?«
»Natürlich! Natürlich! Das heißt, ich habe bei ihm gelebt. Aber da war wieder die Schwiegertochter der Stein des Anstoßes. Sie begreifen: die doppelte Eifersucht der Gattin und Mutter. Die Frau weiß, welche Stücke mein Sohn auf mich hält – und dann die Enkel! Ach, wenn Sie meine Enkel kennen würden!« fuhr er mit aufleuchtenden Augen fort. »Ein Knabe und ein Mädchen. Wahre Engel! Besonders die Kleine, die Jenny – sieben Jahre ist sie alt. Reizend, sage ich Ihnen, reizend! Und ihren alten Großvater lieben sie abgöttisch! Da gab es denn immer Neid und Zwistigkeiten im Hause – so [103] daß ich es endlich vorzog, für mich allein zu wohnen. Aber ganz in der Nähe, ganz in der Nähe; ich kann jeden Augenblick –« Er brach plötzlich ab, als fehle es ihm an Atem, und rückte, in Gedanken versinkend, unruhig auf seinem Sitze hin und her.
Ich erwiderte nichts, und so trat längeres Schweigen ein. Er schien ganz und gar um seine mitteilsame Stimmung gebracht und beachtete mich kaum mehr. Sein Blick hatte etwas Erloschenes, Verglastes bekommen, seine Wangen waren eingesunken, seine Züge schlaff geworden – er sah mit einem Male wirklich sehr alt aus.
Jetzt stand er ganz unvermittelt auf und sagte: »Ich gehe zu Bett. Wohnen Sie auch hier?« Und ohne meine Antwort abzuwarten oder gute Nacht zu sagen, hatte er sich entfernt.
Ich blieb nachdenklich sitzen. Ich hatte den Alten ohne Zweifel an einer sehr empfindlichen Stelle berührt, und bei einigem Nachsinnen konnte ich leicht herausbringen, wie das zusammenhing. Trotz seiner Unformen und Schwächen flößte er mir jetzt Teilnahme ein; denn ich empfand, daß er ein unglücklicher Mann war. Als nunmehr Herr Matzenauer erschien und mich, während er den Tisch abräumte, mit einiger Ironie fragte, wie ich mich mit Herrn Hirsch unterhalten habe, gab ich gar keine Antwort. Bald darauf in meinem Zimmer angelangt, hörte ich meinen Nachbar bereits schnarchen. Aber nicht so entsetzlich wie damals. Oder schien es mir nur so?