[103] [107]I.
An einem milden, sonnigen Septembermorgen schritt Leo Bruchfeld die weitläufige Gasse hinunter. Er erinnerte sich noch der Zeit, wo hier nur zwei Reihen unansehnlicher Häuser gestanden, durch eingeplankte schattige Gärten voneinander getrennt, was gerade diesem Teil des ehemaligen Wiener Vorortes ein sehr ländliches Aussehen verliehen hatte. Aber das rief in ihm keine elegische Stimmung hervor; er ging vielmehr ohne weitere Erwägungen an den stattlichen Gebäuden vorbei, welche sich, mehrere Stockwerke hoch, im Laufe der Jahre rechts und links erhoben hatten. Die meisten Fenster standen offen; Teppiche und Bettzeug waren zum Lüften ausgelegt, und dahinter kamen ab und zu mit halbem Leibe sorgliche Hausfrauen im weißen Morgenhäubchen oder dralle Mägde zum Vorschein. Unten aber regte und bewegte sich in buntem Durcheinander das beginnende Leben des Tages. Fuhrwerke aller Art: Stellwagen und klingelnde Trams, Fiaker und Equipagen, die ihre Insassen aus den nächstgelegenen Sommerfrischen nach der Stadt brachten, rollten auf dem eben bespritzten Fahrwege dahin, während zahlreiche Fußgänger, männliche und weibliche, mehr oder minder eilig ihren Berufsarbeiten entgegenschritten. Nur Kinder sah man wenige; sie waren bereits in der Schule, die erst in den letzten Tagen wieder begonnen hatte.
In diesem Gewimmel nahm sich Bruchfeld, einen leichten Havelock um die Schultern geworfen, ganz stattlich aus. Obgleich [107] er schon ein Fünfziger war und sich etwas vornübergebeugt hielt, erschien seine ziemlich hohe Gestalt trotz einer gewissen Beleibtheit doch noch stramm und beweglich, und seine blauen Augen leuchteten hell aus dem kräftig gefärbten Antlitz, das ein kurzer, stark ergrauter Vollbart eher jünger als älter erscheinen ließ. Mancher Vorübergehende betrachtete den bekannten Tonmeister, der seit kurzem als Gast einer vornehmen Familie in dieser Gegend wohnte und auch schon in früheren Jahren hier gelebt hatte, mit Aufmerksamkeit oder grüßte ihn sehr zuvorkommend.
So war er auf den kleinen Platz angelangt, zu welchem sich die Gasse erweiterte, als er plötzlich den Schritt anhielt. Er hatte eine Frauengestalt erblickt, welche jenseits, einen blauen Sonnenschirm über sich ausgespannt, langsam vor einem villenartigen Hause auf und nieder ging. Die Dame war nicht mehr jung, aber ihr Wuchs glich dem eines zarten Mädchens, und ihr feines, scharfgeschnittenes Profil zeigte auffallende Schönheit. Nun erblickte sie auch ihn, und eine dunkle Röte schoß in ihr schmales Gesicht. Den Schirm tiefer anziehend, tat sie noch einige Schritte und blieb dann, den Kopf abwendend, stehen.
Bruchfeld empfand das Unziemliche seines Hinstarrens und setzte sich wieder in Bewegung. Aber nicht weiter als bis zur Ecke einer nahen Seitengasse; denn er war fest gewillt, die Erscheinung nicht aus den Augen zu verlieren. Die größere Entfernung ließ diese Absicht weniger auffallend erscheinen, und da er, wie die meisten älteren Männer, sehr gut in die Weite sah, so konnte er wahrnehmen, daß auch die Dame unter dem Schirm hervor scheue Blicke nach ihm warf. Die plötzliche Röte war aus ihrem Antlitz gewichen und hatte einer fahlen Blässe Platz gemacht, jener Blässe, welche Frauen eigen ist, die an Blutarmut leiden. Erst jetzt bemerkte er, daß sie in der Linken ein zierliches Körbchen trug, das ihr offenbar zu schwer wurde. Denn sie stellte es nunmehr auf das Mäuerchen des Gitters, das den schmalen Vorgarten des Hauses umfriedete. [108] Dann blickte sie ungeduldig vor sich hin. Sie wartete gewiß auf einen vorüberfahrenden Stellwagen, der ihr schon zu lange ausblieb. Endlich kam einer von der Stadt aus in Sicht. Schwerfällig rumpelte er beim lahmen Trott der Pferde heran. Wie die Tafel auswies, fuhr er nach Grinzing. Die Dame langte nach dem Körbchen und machte ein Zeichen mit dem Schirm. Der Wagen hielt, und ihr Kleid vorne leicht aufnehmend, stieg sie ein.
Bruchfeld hatte einen Augenblick gezögert, denn er wurde in der Stadt erwartet. Aber schon eilte er mit raschem Entschlusse herbei und schwang sich in das Rauchkupee. Es war dort nur mehr ein Platz frei gewesen, und so saß er jetzt neben einem dicken, vierschrötigen Manne, seines Zeichens offenbar Wirt oder Fleischer. Diesem gegenüber hielt ein vollbusiges Weib vom »Hof« zwei leere Marktkörbe auf dem Schoß, während er selbst mit den langen Beinen eines hageren Jünglings zu kämpfen hatte, der unter seinem großen Schlapphute in ein zerlesenes Heftchen »Reclam« vertieft war.
In der vorderen Abteilung saßen nur drei Personen. Als die Dame eingestiegen war, hatte sich ein alter Herr mit mißmutiger Galanterie vom Rücksitz erhoben, um ihr neben einer bürgerlich aussehenden Frau bequemeren Platz zu schaffen. Bruchfeld sah also nur die zarten Schultern, das schmächtige, in den modisch hohen Kragen gezwängte Hälschen, den dichten Ansatz der dunklen Haare und den aufgestülpten Rand eines flachen Strohhutes mit stahlblauem Aufputz. Sie selbst saß regungslos da, die schmalen Hände in schwedischen Handschuhen über ihrem Körbchen gekreuzt. Nur einmal wandte sie den Kopf zur Seite, wobei sie, gewissermaßen aus dem Augenwinkel heraus, nach rückwärts zu blicken versuchte. Und da kam auch die geschwungene Nase, das leicht vorgeschobene Kinn, die langen, kohlschwarzen Wimpern samt dem ungewöhnlich stark entwickelten Brauenwuchs zum Vorschein, der diesem Antlitz stets einen so auffallenden Reiz verliehen hatte. Freilich, [109] der leuchtende Schmelz der Jugend war daraus entschwunden. Die Züge hatten eine scharfe Deutlichkeit angenommen, die Wangen zeigten sich eingesunken, und mißfarbige Ringe lagen um die großen, lang und weit geschlitzten Augen. Und doch – wie schön, wie unsäglich schön war dieses Antlitz noch immer! Ja, in seiner Verfallenheit, seiner krankhaften Blässe noch interessanter, noch ergreifender als damals ......
Der Wagen war inzwischen bei den Häusern in der Nähe des alten Friedhofes angelangt, und der dicke Mann Zog an dem Ring der Klingel, um auszusteigen. Nun hatte Bruchfeld den Raum frei – und sofort rückte er in die Ecke, so daß, wäre die trennende Glaswand nicht gewesen, seine Schulter die ihre berührt haben würde. Dennoch war es ihm, als spüre er ihre Körperlichkeit warm an der seinen – und auch sie schien leicht durchschauert zu werden. Zaghaft wandte sie den Kopf nach ihm zurück – und beider Blicke tauchten zum ersten Male voll ineinander.
Er aber, mit klopfendem Herzen und in selige Empfindungen aufgelöst, wünschte nichts anderes, als daß diese Fahrt kein Ende nehmen – daß sie ewig dauern möchte! Doch schon war rechts die weitläufige Restauration mit ihren Gartenanlagen sichtbar geworden, schon senkte sich die Straße, und die ersten Häuser Grinzings kamen zum Vorschein. Am Eingange des Ortes ließ die Dame halten und stieg aus. Bruchfeld tat dasselbe und folgte ihr in angemessener Entfernung. Sie bog bald ab und bewegte sich mit anmutig ruhigem Gange einer entlegenen Seitengasse zu, die eigentlich nur aus vereinzelten Gehöften bestand, deren Eigentümer zu mäßigen Preisen Sommerwohnungen zu vermieten pflegten. Eines dieser niederen Gebäude sah vornehmer aus und machte den Eindruck eines kleinen Landhauses. Darauf schritt sie jetzt zu, erstieg zwei Stufen, die zum Eingang emporführten, öffnete, an der Klinke drückend, das Tor und verschwand, nachdem sie noch einen schüchternen Blick zurückgeworfen hatte.
[110] Bruchfeld ging bis an das Ende der Gasse, die ins freie Feld leitete und sich als offener Weg gegen Heiligenstadt schlängelte. Nun bemerkte er auch, daß hinter den Häusern eine Reihe von Gärten hinlief und ein schmaler Fußpfad daran vorüberführte. In diesen Pfad bog er ein und suchte den Garten des Hauses ausfindig zu machen, in welches die Dame getreten war. Das gelang ihm auch; aber eine ziemlich hohe Umplankung und dichtes Heckengebüsch verwehrten den vollen Einblick. Seine Hoffnung, sie hier zu erspähen, erfüllte sich nicht.
Er schritt also den Pfad zurück, um neuerdings in die Gasse einzulenken; vielleicht konnte er sie an einem Fenster erblicken. Und in der Tat, als er an dem Hause vorüber kam, sah er sie, wie in Gedanken versunken, hinter einem zurückgeschlagenen Vorhange sitzen, der die Scheiben des letzten Fensters halb verhüllte. Jetzt hob sie den Kopf, und als sie Bruchfeld gewahrte, kehrte sie rasch die Augen von ihm ab.
Er aber war eigentümlich ergriffen. Die verödete ländliche Gasse, der stille, gleichsam in sich verschlossene Wohnsitz, das schöne, blasse, verfallene Gesicht, in dem er Trauer und Müdigkeit wahrgenommen zu haben glaubte: das alles erfüllte ihn mit tiefer Wehmut. Was führt sie in dieses Haus? Wohnte sie darin – oder in jenem, vor welchem er ihr heute begegnet war? Aber wozu diese Fragen? Genug, daß er sie wieder gesehen – wieder gefunden hatte! Und in diesem Bewußtsein jubelte er jetzt plötzlich so laut auf, daß ihn zwei barfüßige Kinder, die am Wegrain spielten, erschreckt und verwundert ansahen.
Nun befand er sich wieder auf der Straße und trat, seinen Empfindungen nachhängend, den Rückweg an. Bald gewahrte er die Restauration. Er hatte heute noch nichts genossen, da er erst in der Stadt frühstücken wollte. Nun lud es ihn hier dazu ein. Er fand die Gartenräume ganz leer; nicht einer der zahlreichen Tische war besetzt. Er pochte nach dem Kellner, der endlich in Hemdärmeln erschien. Bruchfeld bestellte Tee und einen leichten Imbiß, den er mit gutem Appetit verzehrte. Dann [111] zündete er eine Zigarre an und blickte mit leuchtenden Augen in den sonnigen Tag hinaus – auf die Rebenhügel hinter den bereits brachliegenden Feldern – auf die grünen Höhenzüge des Kahlengebirges. So selig, wie heute, hatte er sich noch nie im Leben gefühlt. In den Tagen vielleicht, an welchen er als Komponist seine ersten Erfolge errungen. Doch nein! Ein so unsäglich wonniges, fast körperlich schmerzendes Gefühl des Glückes hatte er auch damals nicht gekannt. Und wieder jubelte es in ihm: Gefunden! Gefunden – nach mehr als zwanzig Jahren!