II.
Meine Vermutungen bestätigten sich bald. Denn schon in nächster Zeit sah ich jene Dame in einem Garten auf- und niederschreiten, den ich von meinem Fenster aus fast ganz überblicken konnte. Ein etwa zehnjähriger Knabe war um sie; wahrscheinlich [75] ihr Sohn. Obgleich ich nun Besseres zu tun hatte als den Fenstergucker zu machen, so blickte ich jetzt doch öfter hinüber und konnte nicht umhin, mich erkundigen zu lassen, wer in der Villa wohne. Ein Hofrat, hieß es; den Namen wußte man nicht genau. Aber den Hofrat selbst, einen beleibten und wie es schien, behäbigen Mann, gewahrte ich bisweilen, wie er nachmittags unter einer Linde saß und die Zeitung las. Öfter, besonders gegen Abend, war der Garten sehr belebt. Gruppen von Herren und Damen; darunter auch Sandek. Bei mir hatte er sich nicht mehr eingefunden, was mir ganz recht sein konnte. So interessierte mich auch die Sache immer weniger, und ich dachte nicht weiter darüber nach.
Eines Vormittags jedoch, als ich ganz zufällig ans Fenster trat, sah ich die Dame an der Seite eines Herrn langsam im Garten hin und her gehen. Täuschte mich mein Auge? Das war ihr Begleiter von damals, der sich, wie den Journalen zu entnehmen gewesen, vor einigen Monaten zur Erholung nach Nizza begeben hatte. Ich nahm rasch mein Opernglas zur Hand. Ja, er war es. Und wieder waren die beiden in lebhaftem Gespräch begriffen. Aber es schien weniger ein Gespräch als ein Streit zu sein. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen. Die Dame schien heftige Vorwürfe zu machen, die ebenso heftig erwidert wurden. Endlich verschwanden sie in einer Partie des Gartens, die ich nicht mehr überblicken konnte. Jetzt aber begann ich mich meiner Späherrolle zu schämen und schloß den Gucker in die Lade. Meine Gedanken jedoch verweilten unwillkürlich bei dieser erneuten Begegnung aus der Ferne, und ich stand noch einige Tage unter ihrem Eindruck. Schließlich verflüchtigte sich auch dieser und machte sich erst wieder geltend, als eines Tages Sandek ganz unvermutet bei mir eintrat. Er entschuldigte sich, daß er mich so lange nicht aufgesucht hatte.
»Warst du vielleicht unwohl?« fragte ich, da ich bemerkte, daß er blaß und angegriffen aussah.
»Ach nein«, erwiderte er, während wir uns setzten. »Aber [76] die Zeit der Prüfungen naht heran, und da heißt es die Nächte zu Hilfe nehmen. Ich schlafe sehr wenig.« Eine Pause trat ein, während welcher er verlegen hin und her rückte. Endlich fuhr er zögernd fort: »Ich bin eigentlich gekommen, lieber Freund, um eine Frage an dich zu richten.«
Ich sah ihn erwartend an.
Er schwieg eine Weile; offenbar formulierte er die Frage im Geist. Dann sagte er, die Worte in sichtlicher Erregung nur mühsam hervorbringend: »Hältst du es für möglich, daß sich eine Frau – das heißt eine Dame, die über den Verdacht eigennütziger Absichten vollständig erhaben ist – ohne Liebe hingibt?«
Obgleich ich sah, wie schmerzlich sich diese Frage aus seinem Innersten loslöste, konnte ich doch kaum ein leichtes Lächeln unterdrücken. Denn sie erinnerte mich in ihrer abstrakten Fassung an die ästhetisierenden Fragen seiner Jugend. Zum Beispiel: ob Hamlet, der fünf Akte lang nicht wisse, was er tun soll, wirklich der Held – dieses Wort betonte er sehr nachdrücklich – einer Tragödie sein könne? Oder: warum Medea statt ihrer Kinder nicht lieber den Jason oder die Kreusa umgebracht habe? Und ähnliches. Dann aber auf den vollen Ernst eingehend, den die Frage für ihn haben mochte, erwiderte ich: »Gewiß halte ich es für möglich.«
Er zuckte zusammen und wurde ganz bleich. »Du hältst es also für möglich?« stammelte er. »Aber es müßte doch irgendein Grund vorhanden sein – –«
Es kam mich an, zu sagen, daß die Gründe so zahlreich wären wie die Brombeeren. Aber ich hielt an mich und versetzte: »Es kann verschiedene Motive geben. Sie hängen von dem Wesen, den Verhältnissen der Betreffenden ab. Du hast doch so viele französische Romane gelesen, die sich mit solchen Problemen beschäftigen. Es gibt Frauen, die einer bloßen Laune folgen; diese Fälle sind nicht allzu selten. Oder von einer momentanen sinnlichen Erregung hingerissen werden. Das [77] ist dann eine Schwäche, die meist bittere Reue und Haß gegen den Verführer zur Folge hat. Sehr oft – und gerade bei starken weiblichen Naturen – kann es par dépit geschehen.«
»Par dépit,« widerholte er mit bebender Stimme. »Du meinst also, daß sich eine Frau gewissermaßen aus Ärger oder aus Verzweiflung –«
»Ganz recht. Wenn sie sich von einem geliebten Manne verlassen weiß. Um ihren Schmerz zu übertäuben – oder auch nur zu erproben, ob und wie ihre Reize auf einen andern wirken. Auch das wird meistens tief bereut. Aber warum fragst du denn eigentlich?« fuhr ich fort, obgleich ich es sehr wohl wußte.
»O,« sagte er unsicher, »ich kenne jemanden, der über diesen Punkt – –«
»Lieber Freund,« unterbrach ich ihn, »lassen wir das gegenseitige Versteckenspielen. Ich erlaube mir nicht, in deine Verhältnisse einzudringen. Da du aber gekommen bist, meine Ansicht zu hören, so sage ich dir: du selbst bist derjenige, der über diesen Punkt Klarheit haben will.«
»Woher vermutest du –?« erwiderte er betreten.
»Nun, die Vermutung liegt doch nahe genug. Es handelt sich jetzt nur darum, ob du mit mir noch weiter über die Sache sprechen willst.«
»Gewiß, gewiß«, sagte er im Kampfe mit sich selbst. »Es ist mir ja darum zu tun –«
»Nun, dann will ich dir kurz und bündig Aufklärung geben. Du liebst eine Frau – und diese Frau liebt einen anderen.«
Er sah mich mit halb offenem Munde an. »Woher weißt du – –?«
»Infolge durchaus unwillkürlicher Beobachtungen. Denn beide Persönlichkeiten sind mir bekannt, wenn ich auch niemals mit ihnen verkehrt habe.«
Er war noch immer sprachlos vor Erstaunen.
»Die eine dieser Persönlichkeiten,« fuhr ich fort, »wohnt [78] hier in der Nähe. Also ich wiederhole: du liebst eine Frau, die einen anderen liebt. Und dieser andere – die alte Geschichte – hat sie früher geliebt und liebt jetzt eine andere. Und darum hat sich jene Frau dir in die Arme geworfen.«
Er fuhr wieder zusammen, machte aber eine abwehrende Handbewegung. »Nein, nein, so ist es nicht. In die Arme geworfen hat sie sich mir nicht. Aus deinem Ausspruch erseh' ich, daß du die Frau wirklich nicht kennst, wenn du vielleicht auch weißt, wer sie ist. Um sich jemandem in die Arme zu werfen, dazu ist sie viel zu stolz. Ich fühle mich daher verpflichtet, dir jetzt nähere Aufklärungen zu geben, damit du die Sachlage, die du ja im allgemeinen erraten hast, deutlich überblicken kannst. Dann wird dir auch die Situation klar werden, in der ich mich befinde.«
Er schloß die Augen, wie um seine Gedanken zu sammeln. Dann strich er sich über die Stirn und begann: »Ich wurde in jenes Haus durch einen Empfehlungsbrief eingeführt, der mir in Prag mitgegeben wurde. Bei meinem Antrittsbesuche an festgesetztem Tage wurde ich sehr höflich, aber keineswegs zuvorkommend empfangen. Man schien dem Militär nicht besonders gewogen zu sein. Auch ich fühlte mich nicht besonders angemutet. Der Hausherr machte mir den Eindruck eines heimtückischen Bureaukraten. Die Frau gefiel mir gar nicht. Ich fand sie eher häßlich als schön; ihre ganzen Allüren waren mir zu wenig weiblich. Der resolute Ton, den sie im Gespräch anschlug, verletzte mich. Ich dachte also, weitere Beziehungen nicht aufzunehmen. Da ich aber schon in nächster Zeit zu einer Abendgesellschaft gebeten wurde, ging ich doch hin. Es waren nicht viele Leute da, meist alte und ältere Herren mit ihren Frauen. Eine Whistpartie an mehreren Spieltischen kam in Gang. Es traf sich, daß ich der Partner des Hofrates wurde. Daß ich sehr gut spielte, schien ihm zu imponieren – und von da ab wurde ich sehr oft zu ganz kleinen Whistabenden gebeten. Die Frau nahm an dem Spiele nicht teil, nur wenn [79] es durchaus an einem Partner fehlte, ließ sie sich dazu herbei. Nun war es merkwürdig, daß sie mir, je öfter ich sie sah, je mehr gefiel. Ich fand sie nach wie vor keineswegs schön, aber alles, was mich früher an ihr unangenehm berührt hatte, empfand ich jetzt als eigentümlich charakteristischen Reiz; besonders ihre tiefe, ungemein klangvolle Stimme übte auf mich eine bezwingende Macht aus. Ich fing an, ihr zu hofieren. Es wurde anfänglich nicht beachtet; nach und nach aber schienen meine Bemühungen Eindruck zu machen. Und als ich mich einmal, da wir uns gerade allein gegenüber befanden, mit einer leidenschaftlichen Erklärung hervorwagte, sah sie mich lang an und sagte: ›Sie lieben mich also?‹ Und als ich, ihre Hand ergreifend, dies beteuerte, erwiderte sie: ›Nun, dann will ich Sie auch lieben.‹ Sie schlang ihren Arm um meinen Nacken, näherte ihre Lippen den meinen und drückte einen sanften Kuß darauf. Mein Entzücken war grenzenlos. Noch nie hatte mich die Eroberung einer Frau so unsäglich beglückt. Ich befand mich in einem wahren Taumel – und eine Reihe seliger Tage begann. Denn wir waren nun vollständig eines Sinnes. Ich mußte kommen, so oft ich nur konnte, – vormittags, nachmittags, abends. Mein so häufiges Erscheinen mußte im Hause auffallen, besonders dem Gatten. Sie bekümmerte das gar nicht, denn sie pflegte auf ihn niemals Rücksicht zu nehmen; ich aber fühlte mich beengt, obschon ich gleich anfangs erkannt hatte, daß die Ehe jedes inneren Zusammenhanges entbehrte und nur formell aufrecht erhalten wurde. Daß aber der Mann über unsere Beziehungen mit einer Art sarkastischer Befriedigung hinwegsah, fing an mich zu verdrießen. Ebenso das Benehmen des Knaben, des einzigen Kindes seiner Eltern. Er bezeigte sich nicht gerade unfreundlich, aber zurückhaltend und lauernd, obgleich er, wenn er bei meinem Kommen um seine Mutter war, sofort das Zimmer verließ. Wie gesagt, das alles war mir peinlich, aber es ging unter in dem Gefühl des Glückes, das ich in der Nähe der Geliebten empfand.
[80] Eines Abends, als wir nach dem Whist bei dem üblichen kleinen Souper saßen, sagte der Mann plötzlich: ›Nun, der‹ – du wirst ja wissen, wen ich meine –, ›muß ja jetzt dieser Tage von Nizza zurückkehren. Da wird es endlich mit der Heirat ernst werden.‹
Sie erblaßte flüchtig. Dann warf sie ihrem Mann einen kalten Blick zu und sagte: ›Ich wünsche ihm alles Glück dazu.‹
Von da ab kam der Hofrat, so oft es anging, mit sichtlichem Behagen auf diesen Gegenstand zurück. Und als ich endlich fragte, wer denn der Herr eigentlich sei, sagte er: ›Ein alter Freund meiner Frau. Er ist Ihnen wohl als Schriftsteller bekannt.‹ Ich konnte das halb und halb zugeben; sie aber schwieg beharrlich, doch kam auf ihren Wangen eine fleckige Röte zum Vorschein, was bei ihr immer ein Zeichen innerer Erregung war. Die Sache fing an, mich zu beklemmen, und ich fühlte, wie eine unbestimmte, aber qualvolle Eifersucht in mir aufstieg, die ich nur mit aller Gewalt zu unterdrücken vermochte.
Eines Tages hatten wir aus irgendeinem Grunde keine Vorlesungen und ich benützte diese zufällige Freiheit, um bei Maja – ein Kosename, den ich ihr beigelegt – zu ungewohnter Stunde mich einzufinden. Ich dachte sie damit freudig zu überraschen, wenn ich sie zu Hause antraf, dessen ich ja nicht ganz sicher sein konnte. Bei meinem Eintritt ins Vorzimmer stieß ich fast mit einem Herrn zusammen, der eben im Fortgehen begriffen war. Wir maßen uns gegenseitig mit befremdeten Blicken und schritten ohne Gruß aneinander vorüber. Mich aber hatte es sofort durchzuckt: das war er – der alte Freund. Das Stubenmädchen, das ihm beim Anziehen des Oberrockes behilflich gewesen, beeilte sich, mich bei der Gnädigen zu melden, was sonst nicht der Fall zu sein pflegte. Ich begab mich inzwischen in den Salon, der an das Boudoir Majas stieß. Von dort herüber vernahm ich ihre zornige Stimme: ›Was? Jetzt?‹ Und irgend ein Gegenstand wurde heftig zu Boden oder sonst wohin geworfen. Bald darauf trat sie selbst ein, die Wangen [81] fleckig gerötet. ›Sie sind hier?‹ fragte sie. ›Ich habe Sie nicht erwartet.‹
›Das wußte ich‹, antwortete ich, über diesen Empfang betreten und gereizt. ›Aber ich habe zufällig diesen Vormittag frei und dachte –‹
›Nun ja‹, erwiderte sie einlenkend, wenn auch noch unfreundlich. ›Aber ich liebe derlei Überraschungen nicht‹
›Es war doch schon hie und da der Fall‹, sagte ich, ›und Sie zeigten sich immer erfreut –‹
›Das schien Ihnen vielleicht so. Aber immerhin. Von jetzt ab jedoch muß ich Sie bitten –‹
›O gewiß‹, versetzte ich, dem in mir aufgestiegenen Unmut freien Lauf lassend. ›Ich werde nicht mehr kommen. Da Sie jetzt andere Besuche empfangen, bin ich überflüssig.‹
Sie warf das Haupt empor. ›Was für Besuche?‹
›Nun, von Ihrem alten Freunde.‹
›Was wollen Sie damit sagen?‹
›Daß mir im Vorzimmer ein Herr begegnet ist, der eben von Ihnen wegging.‹
›Darf ich vielleicht keine Besuche empfangen?‹
›Ohne Zweifel. Ich aber habe nicht Lust, mich in Nebenbuhlerschaften einzulassen.‹ Damit machte ich eine förmliche Verbeugung und schickte mich an, den Salon zu verlassen.
In ihrer Brust arbeitete es heftig. Sie ließ mich bis zur Tür gehen, dann rief sie: ›Robert!‹
Ich blieb stehen.
Sie war offenbar durch mein Benehmen überrascht. Bei den zärtlichen Empfindungen, die ich für sie hegte, hatte sie mich für demütig und unterwürfig gehalten; mein kurz angebundener Stolz imponierte ihr. ›Kommen Sie zu mir, Robert‹, sagte sie mit sanfter Stimme und streckte mir die Hand entgegen.
Ich war schwach genug, umzukehren und die Hand zu ergreifen.
›Seien Sie vernünftig, Robert. Ich bin eine nervöse Frau [82] und kann meinen Stimmungen nicht immer gebieten. Und was jenen Herrn betrifft, so ist er wirklich nichts anderes als ein alter Bekannter, dem ich doch mein Haus nicht verschließen kann. Er gedenkt jetzt zu heiraten. Also bilden Sie sich nichts ein. Sie wissen, daß ich Sie liebe.‹ Damit schlang sie den Arm um mich und ließ ihre Lippen lang auf den meinen ruhen. – Und nun kamen Tage, lieber Freund,« fuhr er mit verzweifelter Gebärde fort, »die ich zwischen Himmel und Hölle verlebte, bald in die einen erhoben, bald in die andere hinabgestoßen. Denn das Benehmen Majas wechselte beständig. Heute zärtlich und hingebend, war sie morgen kalt, rauh und von rücksichtsloser Härte. Ich stand vor einem Rätselabgrund und hatte keinen ruhigen Augenblick mehr. Denn wenn sie wirklich – was mir eine innere Stimme zurief – den anderen liebt: warum leugnete sie es hartnäckig, wenn ich es ihr vorwarf? Sie ist ja eine starke, entschlossene Natur, die keine Furcht kennt. Und warum sucht sie mich immer wieder zu fesseln, so oft ich diesem unerträglichen Zustand ein Ende machen und mich losreißen will?« Er brach ab und blickte wie verloren vor sich hin.
Ich schwieg. Dann sagte ich: »Nun die Lösung des Rätsels ist doch ganz einfach. Sie will eben den anderen, da die Heirat noch nicht erfolgt ist, wieder zu sich hinüberziehen – und dich dabei nicht ganz aufgeben.«
»Aber das ist ja schändlich!« rief er aus.
»So scheint es uns. Aber die Frauen sind nun einmal so geartet, und man sieht, wie wenig du sie eigentlich trotz deiner vielen Erfahrungen kennst. Glaubst du denn, daß auch nur eine in ihrer Lage den Mann, von dem sie weiß, daß er sie wirklich liebt, willig ziehen läßt? Und du liebst sie doch wirklich?«
»Wie ich noch nie ein Weib geliebt!« stieß er hervor.
»Weil du zum erstenmal an eines geraten bist, das dir überlegen ist.«
»Überlegen?« fragte er betroffen und hochmütig zugleich.
[83] »Ja, ich muß es dir offen sagen. Sie ist dir überlegen – vielleicht in jeder Hinsicht. Du müßtest dich ihr eben unterordnen.«
»Unterordnen?! Wie meinst du das?« fuhr er auf.
»Du müßtest dulden lernen, müßtest dich in ihren Seelenzustand zu finden wissen und mit verständnisvoller Nachsicht alles anwenden, um den anderen, da du ihr doch jedenfalls nicht gleichgiltig bist, vergessen zu machen und sie allmählich ganz zu dir hinüberzuziehen.«
Er sprang auf. »Du meinst also,« schrie er, »daß ich mich in einen Wettkampf einlassen soll? Mit diesem Skribler!« Er fühlte gar nicht, wie er mich selbst durch diese Bezeichnung verletzen mußte.
»Unterschätze niemanden«, erwiderte ich ruhig. »Der Mann, von dem wir sprechen, steht geistig sehr hoch.«
»Das mag sein«, knirschte er. »Aber er ist häßlich wie ein Affe!«
»Darüber ließe sich streiten. Und sicher ist es, daß die Frauen in dieser Hinsicht ganz andere Anschauungen haben als wir. Bei ihnen geben Eigenschaften den Ausschlag, die nur für sie im Äußeren eines Mannes erkennbar sind. Aber ich sehe, daß du die Frau doch nicht eigentlich liebst, sondern daß dich deine schwer verletzte Eitelkeit in eine unheilvolle Leidenschaft hineingetrieben hat.«
Er schien die Wahrheit meiner Worte zu empfinden, denn er zuckte zusammen. Aber er wies sie auch sofort von sich, indem er aufsprang und heftig im Zimmer hin und her schritt: »Sei es wie immer, ich ertrage diesen Zustand nicht länger! Ich gehe dabei zugrunde!«
»Das begreife ich«, sagte ich.
»Höre!« fuhr er fort. »Vier Wochen sind es her, daß ich nach einer heftigen Szene erklärte, sie würde mich nicht wiedersehen. Sie machte auch diesmal keinen Versuch, mich zurückzuhalten und ließ mich, sich kalt umwendend, gehen. Ein [84] paar Tage lang atmete ich befreit auf und vertiefte mich mit vollem Eifer in meine Studien, die ich inzwischen ganz vernachlässigt hatte – oder besser gesagt, ich war nicht fähig, ein Buch zur Hand zu nehmen. Bald aber stellte sich Erwartung ein – Erwartung, daß sie mir ein Zeichen geben, mich wieder zu sich rufen würde. Da es nicht geschah, steigerte sich die Erwartung zur Marter, obgleich ich mir beständig sagte, daß ich ja den vollständigen Bruch gewünscht hatte und unbedingt wünschen müsse. Aber es nützte nichts, und ich war nahe daran, ihr zu schreiben. Da kam ein Brief voll zärtlicher Vorwürfe, voll inniger Beteuerungen. Ich wollte sofort zu ihr eilen. Aber kaum aus dem Hause getreten, kehrte ich wieder um. Das Bild des anderen war vor mir aufgestiegen und trieb mich zurück. Bleibe fest! rief ich mir zu. Ich blieb es und beantwortete auch den Brief nicht. Aber ich konnte zu keiner inneren Ruhe gelangen. Ich zwang mich, zu arbeiten, zu lernen – meine Gedanken versagten. So verging mehr als eine Woche. Eines Abends, schon sehr spät – ich hatte mich doch ein wenig zurechtgefunden – saß ich bei Lampenschein an meinem Arbeitstische, als es draußen klingelte. Ich hatte meinem Burschen gestattet, ins Wirtshaus zu gehen, und mußte nun selbst nachsehen. Als ich die Tür öffnete, stand Maja vor mir, in einen Theatermantel gehüllt, die Kapuze tief ins blasse Gesicht hineingezogen. Was soll ich dir weiter sagen: an jenem Abend geschah, was früher nicht geschehen war.« Er setzte sich wieder und starrte vor sich hin.
Ich schwieg gleichfalls. »Da wären wir ja wieder bei deiner ursprünglichen Frage angelangt«, sagte ich endlich.
»Ja, ja«, rief er aus und sprang wieder auf. »Und ich hätte sie mir doch selbst beantworten können! Denn Maja war in meinen Armen kalt wie Eis. Und als ich ihr das vorwarf, brauste sie auf in heftigem Zorn. Ich sei ein Undankbarer, schrie sie. Was ich denn wolle? Sie habe mir den höchsten Beweis ihrer Liebe gegeben – und noch immer [85] hege ich Zweifel. Ich war im Augenblicke ganz zerknirscht und tat Abbitte.«
»Und was geschah weiter?«
»Was weiter geschah?!« Er warf sich in den nächsten Stuhl. »Es folgten noch einige Zusammenkünfte, die mir erneute Qualen brachten. Denn deutliche Anzeichen der Kälte wechselten bei ihr mit Ausbrüchen leidenschaftlicher Hingebung. Und siehst du, bei solchen Ekstasen habe ich das Gefühl, daß sie in meinen Armen an jenen anderen denkt. O, es ist ein Zustand, um wahnsinnig zu werden! Und dabei«, fuhr er stotternd fort, »soll ich mich für die Prüfungen vorbereiten. Ich bin in allem zurückgeblieben – ich kann meine Aufgaben nicht mehr bewältigen. Falle ich durch, so bin ich verloren. Denn meine Karriere ist dann abgeschnitten – und mir bleibt nichts als das höhnische Bedauern meiner Kameraden!« Er schlug die Hände vor das Gesicht und brach in ein Schluchzen aus.
War meine Teilnahme bis jetzt auch eine geringe, nun, da ich Tränen zwischen seinen Fingern hervorquellen sah, wurde ich ergriffen. Ich stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Fasse dich. Deine Lage, ich seh' es ein, ist eine verzweifelte. Nur ein Mittel gibt es, dich aus ihr zu befreien. Die volle und rückhaltslose Erkenntnis, daß du sie selbst herbeigeführt.«
Er ließ die Hand von den Augen sinken und sah mich verständnislos an.
»Ja,« fuhr ich fort, »du selbst hast sie herbeigeführt. Und die Qualen, die sie dir verursacht, mußt du als Sühne früherer Verschuldungen betrachten.«
»Welcher Verschuldungen?« lallte er.
»Denk' an all die Verhältnisse, die du mit Frauen unterhalten hast. Es fällt mir nicht ein, dir Moral predigen zu wollen. Aber wie du auch jetzt darüber denken magst, nach reiflicher Erwägung wirst du zugeben müssen, daß du wiederholt unrecht gehandelt hast. Und jedes Unrecht muß früher oder später [86] im Leben abgebüßt werden. Diese Erkenntnis, so peinlich sie auch für dich sein mag, wird dir die Kraft verleihen, dich – und auch jene Frau in irgend einer Weise aus der verworrenen und unwürdigen Lage zu befreien, in der ihr euch beide befindet.«
Er wand sich auf dem Sessel hin und her, und ich erkannte, daß meine Worte nur halb in ihn eingedrungen waren. Oder vielmehr: er fühlte ihre Wahrheit, aber nach Art schwacher Geister und untiefer Naturen vermochte er nicht eine Sache zu Ende zu denken und dabei sich selbst zu Leibe zu gehen. Er ertrug die Wendung, die unser Gespräch genommen, nicht länger und stand auf. »Ja, ja,« sagte er, sich wiederholt über die Stirn fahrend, »du hast recht, du hast recht .... Aber« – er sah nach der Uhr – »es ist Zeit, daß ich gehe. Ich danke dir, daß du mich so teilnehmend angehört hast. Wir werden ja sehen, wie sich alles gestaltet.« Damit reichte er mir die Hand und ging.
Es wird sich nicht gut gestalten, dachte ich, als ich jetzt allein war. Die innere Zerrüttung dieses Mannes war schon zu weit vorgeschritten. Auch körperlich schien er mir gebrochen. Sein Gang war unsicher, seine Hände fühlten sich kraftlos und zitterig an. Ich fürchtete für das Ende. Ob er sich jetzt zu ihr hinüberbegeben hatte? Ich konnte mich nicht enthalten, ans Fenster zu treten und den Garten ins Auge zu fassen. Es dauerte nicht lange, so sah ich die beiden nebeneinander auf und nieder gehen ....
Einige Tage nachher brachten mehrere Blätter die Notiz, daß die Vermählung des andern wahrscheinlich während der Theaterferien stattfinden dürfte.