[70] Marianne

[71] [75]Die folgenden Mitteilungen rühren von einem Poeten her, welcher seinerzeit einiges von sich reden gemacht, nunmehr aber, wie so mancher andere, verschollen und vergessen ist. Das Wenige, das er geschrieben, mag noch hie und da im Bücherschrank eines Literaturfreundes oder in dem bestäubtesten Fache einer Leihbibliothek zu finden sein, und der Zukunft bleibt es anheimgestellt, ob sein Name noch einmal genannt werden wird oder nicht.


* * *


Am 15. April ...


Ostern ist vorüber, teuerster Fritz, und allmählich schließen sich die Salons der Residenz. Ach, wie oft hab' ich im Laufe dieses Winters Deiner und der stillen Universitätsstadt gedacht, wo Du mit einer kleinen Schar begeisterter Hörer ganz Deiner Wissenschaft lebtest, während ich hier, von Einladungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen aller Art im Kreise herumgejagt, zu keiner Ruhe und Sammlung des Geistes, zu keiner gleichmäßigen Tätigkeit gelangen konnte. Und dabei noch das drückende Gefühl, daß man all den Leuten, die einem ihre schimmernden Prunkgemächer öffnen, doch eigentlich nichts ist – und auch nichts sein kann! Wenn ich so in später Nacht mißmutig und abgespannt aus irgendeiner glänzenden Gesellschaft in meine entlegene Vorstadt zurückkehrte, da fiel mir dieser leidige Müßiggang stets schwer aufs Herz, und mehr als einmal nahm ich mir vor, alle Beziehungen abzubrechen, in [75] welche ich durch meine so plötzlichen literarischen Erfolge wider Willen hineingeraten war. Aber wie hätte ich diesen Entschluß ausführen können, ohne geradezu rücksichtslos zu sein, ohne die Menschen zu verletzen, welche mich in der besten Absicht, zu nützen und zu fördern, mit den hervorragendsten Kreisen bekannt gemacht. Und so blieb mir nichts übrig, als wohl oder übel bis ans Ende auszuharren. – Doch nun will ich mit doppeltem Behagen wieder ganz mir selbst angehören und mich gleich einer Raupe in dem kleinen Hause der guten Frau Heidrich einspinnen, deren Sohn noch immer als Ingenieur an der fernen Bahnstrecke weilt, wohin er sich im vorigen Sommer mit seiner Gattin, der Tochter eines hiesigen Kaufmannes, gleich nach der Hochzeit begeben hatte. Alles um mich her sieht mich wieder so bekannt und vertraut an: die Bilder an den Wänden, die vergilbten Schiller-und Goethe-Büsten, das alte treue Tintenfaß auf dem Schreibtische – und es weht durch meine Stube wie ein Hauch aus jenen Tagen, wo ich noch in seliger Verborgenheit über meinen ersten Arbeiten saß. So hell und freundlich wie damals ist es nun allerdings bei mir nicht mehr. Denn man hat meinen Fenstern gegenüber, an der Stelle des Holzplatzes mit den prächtigen Nußbäumen, ein hohes palastähnliches Gebäude aufgeführt, das mir Luft und Sonne nimmt, wie denn überhaupt die weitläufige Gasse, in der es, wie Du weißt, vor einigen Jahren noch ganz ländlich aussah, mehr und mehr durch großstädtische Wohnkasernen verengt und verdüstert wird. Doch dafür entschädigt mich ja unser Hausgarten, welcher bis jetzt – dem Himmel sei Dank! – der allgemeinen Bauwut entgangen ist. Ich habe dort stets meine glücklichsten Schaffensstunden gehabt, und schon beginnt der Lenz in dem kleinen Stückchen Natur seine ersten Reize zu entfalten. In hellem Grün schimmert der Rasen; das Aprikosenspalier ist mit weißen Blüten – bedeckt selbst der alte Apfelbaum, auf dessen Stamm ich heute einen goldbraunen Schmetterling sitzen sah, treibt bereits Knospen. Den Dir wohlbekannten verwitterten Pavillon mit dem schmalen [76] Rohrsofa und den gebrechlichen Stühlen will ich auch diesmal wieder in Beschlag nehmen, und so hoff' ich bald alles Versäumte nachholen und so manchem mißgünstigen Zweifler und Kopfschüttler erweisen zu können, daß ich mein Tiefstes und Bestes noch lange nicht gebracht!


Anfang Mai.


Nun bin ich wieder so recht in meinem Elemente! Rings um mich her blühen Flieder und Goldregen, und fast kein Laut menschlicher Nähe dringt in den Garten, der frisch und duftig gleich einer weltvergessenen Oase zwischen stauberfüllten Gassen und Gäßchen mitteninne liegt. Einige Baumwipfel sind während der letzten Jahre so mächtig geworden, daß sie den Horizont an vielen Stellen ganz abschließen; nur die allernächsten Dächer kommen hie und da zum Vorschein, und wie meilenweit entfernt ragt die Turmspitze des Stephansdomes in den blauen Himmel hinein. Zuweilen tönt das dumpfe Rollen eines Wagens an mein Ohr, der helle Ruf einer Kinderstimme – dann wieder stundenlang nichts als das Summen wühlender Bienen und das Gezwitscher der Sperlinge, auf welche die Hauskatze, wie ein kleiner Tiger anzusehen, in ihrer versteckten Weise Jagd macht. – Wie wohl tut mir diese Ruhe, diese Abgeschiedenheit! Einem Traume gleich verdämmert in mir die Erinnerung an all die zeitraubenden Zerstreuungen und Festlichkeiten, und schaffensfroh in holder Gleichmäßigkeit, fließen meine Tage dahin. Das unselige Werk, das mir schon so viele fruchtlose Mühe, so viele herbe Qualen und Zweifel bereitet, wächst allmählich seiner Vollendung entgegen; alte, längst aufgegebene Entwürfe treten wieder mit frischem Reiz an mich heran, und neue Ideen leuchten in mir auf. Was brauch' ich mehr, um glücklich zu sein?! Nur Du fehlst mir, Teuerster, und ich möchte, wie einst, die Abendstunden mit Dir in der traulichen Weinlaube verplaudern können. Statt dessen unternehme ich nun hin und [77] wieder nach getaner Arbeit einen einsamen Spaziergang; zumeist vor den nahen Linienwall hinaus, wo die schweigenden Friedhöfe liegen und das Arsenal in ernster, düsterer Pracht aufragt. Dort schreit' ich hinan zu dem alten Wahrzeichen, zur »Spinnerin am Kreuz«, lasse die Blicke über die weithin ausgedehnte Stadt bis zu den grünen Höhen an der Donau schweifen, sehe die Sonne versinken und vom Bahnhof aus lange Züge dem schönen Süden zubrausen. Wenn ich dann in der Dämmerung heimkehre und wieder die menschenvollen Gassen betrete, wenn ich die Kinder gewahre, die vor den Türen spielen oder mit ängstlicher Vorsicht das Abendbrot aus den nächsten Schänken und Kramläden nach Hause tragen, und vorüberkomme an den dicht belagerten Brunnen, wo Bursche und Mägde miteinander schäkern, während die Arbeiter aus den Fabriken strömen, Taglöhner mit Gesang den Bau verlassen und von Zeit zu Zeit eine stolze Karosse mit geputzten Herren und Frauen durch das abendliche Gewühl rollt, da durchschauert es mich wundersam. Ich fühle mich mit allem, was da lebt und atmet, so innig verwachsen und eins – und doch wieder so erdenfremd, so emporgehoben über das Treiben und Trachten, über die Sorgen und Hoffnungen, über die Leiden und Freuden dieser Welt!


Ende Mai.


»Wer sich der Einsamkeit ergibt, ist bald allein«, singt Goethes Harfner. In gewissem Sinne ist es wahr; aber eigentlich hab' ich mein Leben lang gerade das Gegenteil erfahren. Denn so oft ich jeden Verkehr abgebrochen hatte und mich durch die Umstände wohl verschanzt und geborgen glaubte, traten auch bald wieder Ereignisse ein, die mich, entweder rasch und gewaltsam oder leise und unmerklich, zur Geselligkeit zurückführten. So ist auch jetzt mein still vergnügtes Dasein nicht mehr so ganz einsam und abgeschieden, wie ich es mir für diesen Sommer erwarten durfte. Der Sohn des Hauses ist nämlich mit seiner [78] Frau, die eben erst Mutter geworden, und dem sechsjährigen Töchterchen eines verstorbenen Amtskollegen hier eingetroffen. Er hat seine Aufgabe an der Strecke gelöst und wird nun wieder im Bureau verwendet. Da ging es sogleich lebhaft und geräuschvoll in meiner Nähe zu. Kisten und Kasten waren abgeladen worden; man brachte allerlei Möbel und Gerätschaften zum Lüften und Scheuern in den Hof, und in den Garten kam die Kleine gelaufen, wo sie alsbald daranging, den letzten Fliederschmuck zu verwüsten. Ich räumte ihr das Feld und begab mich hinauf in meine Stube. Und je länger ich dort alle mutmaßlichen Folgen dieses Zwischenfalles erwog, desto gewisser schien es mir, daß nun meine ungestörten Tage gezählt seien. Aber meine Phantasie hatte wieder einmal zu schwarz gesehen. Denn sobald alles unter Dach und Fach gebracht war, kehrte auch die frühere Ruhe ins Haus zurück, und man bemerkte jetzt kaum, daß es einen Zuwachs an Bewohnern erhalten. Heidrich, dessen heiteres, offenes Wesen Dir noch in guter Erinnerung sein wird, geht schon des Morgens seinen Berufsgeschäften nach, und Frau Luise, eine hochgewachsene schmächtige Brünette, wird ganz von der Wartung und Pflege ihres Knäbleins in Anspruch genommen, das seit seiner Geburt hoffnungslos dahinkränkelt. Zuweilen bringt sie den armen Wurm auf eine Stunde in den Garten hinab, damit er etwas Luft und Sonnenschein genieße. Dann ist es gar rührend, mit anzusehen, wie die junge Mutter seinen Schlaf überwacht und ihm, wenn er die Augen aufschlägt, ein Zweiglein oder eine Blume entgegenhält, damit er nur ein wenig lächle und mit den abgezehrten Händchen danach lange. Auch die kleine Erni, welche im Hause erzogen wird, stört mich nicht. Sie besucht eine nahe Schule, und da ich die Kinder seit jeher geliebt, so mag ich es gerne leiden, daß das muntere pausbäckige Geschöpfchen in den Erholungsstunden um mich herumspringt und zutraulich in meinen Büchern und Schriften kramt. Des Abends pflegt sich die ganze Familie unter dem Vorsitze der alten Frau, welche früher nur selten [79] das Zimmer verlassen hatte, in der Weinlaube zum Vesperbrote zu versammeln. Manchmal geselle auch ich mich dem kleinen Kreise und erfreue mich am Anblick eines häuslichen Glückes, das ich so oft für mich selbst ersehnt. Unlängst erschien auch eine jüngere Schwester der Frau Luise, ein hübsches, schlankes, kaum den Kinderschuhen entwachsenes Mädchen. Ein stattlicher Jüngling begleitete sie; er soll bereits ihr Verlobter und der Sohn eines wohlhabenden Fabrikherrn aus der Umgegend sein. Eine andere Schwester ist, wie ich höre, in der Provinz verheiratet. – Und so bin ich, siehst Du, wieder schlichten Menschen nahegerückt worden, wie sie mich stets am meisten angezogen und bei denen mir das Herz aufgeht, während ich der literarischen sowohl als auch der vornehmen Welt gegenüber eine gewisse Scheu niemals habe loswerden können.


Am 18. Juni.


Ich wollte, Du könntest jetzt den Garten sehen! Die beiden Rosenbüsche am Eingang, die in den letzten Jahren nicht mehr hatten treiben wollen, scheinen plötzlich wieder jung geworden zu sein, denn sie stehen über und über in Blüten und Knospen und senden, von einem Meer goldgrüner Käfer umschwärmt, ganze Wolken von Wohlgeruch in die heiße, zitternde Luft. In den Beeten blüht es gelb, blau, und rot; Lilien haben ihre weißen Kelche erschlossen, und dabei blitzt und funkelt der goldene Sonnenschein mit den wunderbarsten Lichtern und Reflexen auf dem Rasen und in dem üppigen Grün der Wipfel, daß einem vor seliger Sommerfreude das Herz im Leibe lacht. Was aber dem allem den letzten, abschließenden Zauber verleiht, das ist ein holdes Wesen, das nun, halb Frau, halb Jungfrau, fast täglich im Garten erscheint und sich inmitten des traumhaften Blühens und Leuchtens wie eine Märchengestalt ausnimmt. Du lächelst, Lieber? Ach, lies nur weiter und sieh, [80] welch ein seltsamer Zustand die Seele Deines Freundes überkommen hat. –

Pfingsten, das Weihefest des Sommers, war herangerückt. Tags zuvor hatte ich mich nach Tisch länger als sonst in meiner Stube verweilt; um es nur zu gestehen: ich war über dem Werke eines neu aufgetauchten Poeten ein wenig eingedämmert. Als ich später hinabging und den Hof durchschritt, klang mir aus dem Garten eine fremde weibliche Stimme entgegen. Behutsam näherte ich mich dem Gitter und blickte durch das dichte Laubwerk hinein. Welch ein lieblicher Anblick bot sich mir dar! Auf dem mittleren Rasenplatze, unter dem alten Apfelbaume, stand ein schlankes jugendliches Frauenbild und wiegte das Knäblein der Gattin Heidrichs, welche mit Erni auf einer nahen Bank saß, in den Armen. Der Sonnenstrahl, der durch die Zweige brach, umschimmerte ihr dunkelblondes Haar und ihr rosiges Antlitz, das sie mit schalkhafter Zärtlichkeit zu dem blassen, verfallenen Gesichtchen des Kleinen hinabneigte. Sie gab ihm die wunderlichsten Schmeichelnamen, küßte ihn und fing endlich, indem sie ihn mit reizender Gebärde gegen die Brust drückte, ein leichtes Getänzel an, wobei zwei schmale, längliche Füßchen unter dem Saume ihres hellfarbigen Kleides zum Vorschein kamen. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen, und eine dunkle Röte schoß ihr ins Gesicht. Sie mußte offenbar den Späher bemerkt haben, und schon im nächsten Augenblick war sie auf Frau Luise zugeeilt und hatte ihr das Kind in den Schoß gelegt. Nun überkam mich eine sonderbare Verlegenheit. Ich wußte nicht, ob ich mich zurückziehen, ob ich eintreten sollte. Endlich entschloß ich mich zu letzterem und ging rasch, wie um etwas zu holen, an den Frauen vorüber. Als ich mich gleich darauf mit einem Buche unter dem Arme wieder entfernen wollte, hielt mich Frau Luise mit den Worten an: »Wohin so eilig? Bleiben Sie doch ein wenig bei uns.« Und mit einer Handbewegung fügte sie hinzu: »Herr A. – meine Schwester Marianne.« Diese aber, nachdem sie sich noch immer flammend und [81] verwirrt, ohne mich anzusehen, leicht verneigt hatte, langte ein rundes Hütlein herab, das an einem Baumzweige hing, stülpte es auf den Kopf und zog die Handschuhe an. »Wie, du willst schon wieder fort?« fragte Frau Luise erstaunt. »Ja, mein Mann erwartet mich –« und schon hatte das anmutige Geschöpf den Sonnenschirm ergriffen und die Schwester und die Kinder zum Abschied geküßt. »Also morgen, wie verabredet«, rief noch Frau Luise, während die andere mit einem hastigen Zeichen des Einverständnisses aus dem Garten eilte. Ich sah ihr nach wie im Traum. Frau Luise aber wandte sich lächelnd zu mir und sagte: »Wie Sie meine Schwester erschreckt haben! Seltsam, sie war doch sonst nicht so menschenscheu. Sollte sie es in der Provinz geworden sein?«

»Das ist also die Schwester, von der Sie mir sagten, daß sie in Marburg verheiratet sei?« fragte ich, noch immer ganz verloren.

»Allerdings, dieselbe. Ihr Mann will sich jetzt, einer industriellen Unternehmung wegen, hier ansässig machen. Sie sind gestern eingetroffen und im Gasthof abgestiegen; später werden sie in unserer Nähe eine Wohnung beziehen.«

»Und wie lange ist Ihre Schwester schon verheiratet?«

»Seit fünf Jahren. Aber sie sieht noch immer so jugendlich und mädchenhaft aus wie an dem Tage, wo sie mit Kranz und Schleier an den Altar trat. Wer würde denken, daß sie älter ist als ich? Freilich hat sie keine Kinder«; und dabei sah Frau Luise mit leichtem Erröten auf das Knäblein nieder, das inzwischen in ihrem Schoße eingeschlummert war.

Ich erwiderte nichts und spielte sinnend mit den krausen Locken Ernis, die sich an mich geschmiegt hatte.

»Wir haben uns beide, wie jetzt Emilie, rasch zur Ehe entschlossen«, fuhr Frau Luise fort; »denn wir bekamen eine Stiefmutter ins Haus, die uns Mädchen das Leben recht sauer machte. Namentlich hatte Marianne viel von ihr zu leiden, weil sie durch ihr liebenswürdiges Wesen alle Herzen anzog. Sie glauben gar[82] nicht, wie heiter, wie erlustigend sie sein kann! Ich bin glücklich, sie wieder hier zu haben, und wir beabsichtigen, uns gleich morgen zur Feier ihrer Ankunft einen fröhlichen Pfingstsonntag zu machen. Wir wollen im Garten zu Mittag essen und uns dann vergnügen, wie wir können und mögen. Emilie und ihr Verlobter nehmen auch teil; wenn es Ihnen angenehm ist, unser Gast zu sein, so werden Sie uns alle sehr erfreuen und wie ich hoffe – meine Schwester nicht mehr so verlegen und zurückhaltend finden.«

Ich war immer nachdenklicher geworden, und ein dumpfer Schmerz hatte sich um mein Herz gelegt. Aber bei dem Gedanken, die junge Frau morgen wiederzusehen, drängte sich ein stiller Jubel durch die Beklommenheit meines Inneren. Ich nahm die Einladung freudig an und verbrachte den Rest des Tages in angenehmer Unruhe, die mich auch des Nachts in halbwachen Träumen verfolgte, so daß ich erst gegen Morgen fest einschlief. Als ich erwachte und ans Fenster trat, stand die Sonne schon hoch. Es war ein prachtvoller Pfingsttag. Hell und blau spannte sich der Himmel über den funkelnden Dächern aus, und lustig zwitschernd schossen die Schwalben hin und her. In den Gassen herrschte feierliche Stille; hier und dort traten schmuck gekleidete Frauen und Mädchen mit Gebetbüchern in der Hand aus den Häusern, während wohl ein großer Teil der Bevölkerung schon mit dem frühesten das Weichbild der Residenz hinter sich gelassen und die grünen Fluren und Höhen, die rauschenden Wälder der Umgegend aufgesucht hatte. Auch ich nahm Hut und Stock und verließ das Haus. Die Aquarelle und Zeichnungen Genellis waren eben zur öffentlichen Ausstellung gelangt; ihnen wollt' ich den langen Vormittag widmen. Aber die Gestalten und Intentionen des genialen Künstlers, welcher so eigentümlich nach Schönheit gerungen hatte, waren nicht imstande, meinen Geist zu fesseln. Das Bild Mariannens stieg beständig vor mir auf und verknüpfte sich mit einer unsicheren Vorstellung von ihrem Gatten, welchen kennenzulernen ich eine [83] geheime Scheu trug. So verließ ich zerstreut, wie ich gekommen, das Ausstellungsgebäude und schritt, da es noch immer nicht Mittag war, eine Zeitlang in der Ringstraße auf und nieder. Ich hatte die Stadt schon lange nicht mehr betreten, und fremd und kalt muteten mich die stolzen Palastreihen an, fremd und kalt wie die Menschen, die heute stiller und weniger zahlreich als sonst an mir vorüberkamen.

Als ich endlich wieder nach Hause zurückgekehrt war, fand ich die kleine Gesellschaft bereits im Garten versammelt. Erni sprang mir sogleich entgegen, und ich näherte mich grüßend der Mutter Heidrichs, welche unter den blühenden Akazien an der Feuermauer des Nachbarhauses saß, während die beiden jungen Frauen in einiger Entfernung den Tisch deckten. Frau Luise lächelte mir freundlich zu; Marianne aber fuhr, ohne aufzublicken, in ihrer Beschäftigung fort. Nun trat das Liebespaar Hand in Hand aus der Laube, und auch Heidrich kam mit seinem Schwager heran, den er Dorner nannte. Es war ein großer, hagerer Mann in den ersten Dreißigen mit regelmäßigen, aber harten Gesichtszügen, bei deren Anblick ich eine wohltuende Erleichterung empfand. Ich wechselte mit ihm einige Worte, und dann irrte mein Blick unwillkürlich nach seiner Frau, die sich jetzt, halb von uns abgewandt, mit einem großen Blumenstrauße zu schaffen machte, der für die Tafel bestimmt schien. Sie trug diesmal ein weißes, bis an den Hals hinauf geschlossenes Kleid, das die jungfräuliche Zartheit ihrer Formen reizvoll hervortreten ließ. Ein breites, hellgrünes Seidenband umgürtete, nach rückwärts geknüpft, ihren schlanken Leib; ein schmäleres von gleicher Farbe hielt die Fülle des Haares zusammen, das ihr, tief in die kleine Stirn hinein gescheitelt, anmutig Haupt und Nacken umquoll. Als wir zu Tisch gingen, sollte ich neben ihr meinen Platz erhalten; aber Erni verlangte durchaus bei Tante Marianne zu sitzen, und da sich Heidrich bereits dieser zur Linken niedergelassen hatte, so kam ich dem Wunsche des Kindes entgegen, indem ich mich rasch auf die andere Seite [84] neben Frau Luise begab. Nun hatte ich sie mir gegenüber und ihr Antlitz vor Augen, in welchem mir erst jetzt die Ähnlichkeit mit dem ihrer Schwester Emilie auffiel. Aber die Züge dieses jungen Mädchens erschienen in unangenehmer Deutlichkeit neben jenen Mariannes, welche von einem weichen, vermittelnden Schmelz überhaucht waren, wie er die Frauenköpfe Greuzes kennzeichnet, hier jedoch von einer fast kindlichen Frische des Kolorits durchleuchtet wurde. Ihr Blick wich dem meinen aus; schweigend, aber mit inniger Sorgfalt legte sie der Kleinen an ihrer Seite von den Speisen vor und lächelte, während sie selbst zierlich und flüchtig aß, still zu den heiteren Bemerkungen, welche ihr Nachbar zur Linken aufmunternd an sie richtete. Nach und nach wurde sie gesprächiger, wozu wohl der feurige Ungarwein, der in kleinen Gläsern gereicht worden war und von dem sie mehrmals genippt hatte, mochte beigetragen haben. Eine eigentümliche Selbstvergessenheit schien sie allmählich zu überkommen; ihre großen dunklen Augen begannen zu funkeln, und mit heller Stimme und fröhlichem Lachen erwiderte sie die Scherze Heidrichs, dessen Munterkeit ebenfalls mehr und mehr zunahm. Und als der junge Mann nach beendeter Mahlzeit sich plötzlich erhob und ein gemeinsames Spiel vorschlug, da sprang auch sie auf und blickte, indem sie zustimmend in die Hände klatschte, erwartungsvoll vor sich hin. Die andern, selbst die alte Frau, folgten ihrem Beispiele; nur Dorner, der über Tisch ein fast verletzendes Schweigen beobachtet hatte, blieb sitzen. »Ich bin kein Freund von solchen Dingen«, sagte er und blies den Rauch seiner Zigarre in die Luft. »Ich will den Zuschauer machen.« Indessen war schon allerlei in Vorschlag gebracht worden; allein die erregte Gesellschaft fand nichts lebhaft, nichts erlustigend genug. Endlich nannte jemand »blinde Kuh«, und unter allseitigem Beifall entschloß man sich rasch zu diesem tollen Spiele. Ein Tuch wurde gebracht; man verband dem Verlobten Emiliens, als dem ersten, den das Los getroffen, die Augen, und das gegenseitige Fliehen und[85] Haschen begann. Mir war dabei ganz eigentümlich zumute; Erinnerungen aus der Knabenzeit tauchten in mir auf, und während ich mich im ganzen mehr betrachtend als teilnehmend verhielt, erfreute ich mich an den Bewegungen der jugendlichen Gestalten, an dem Jubel des Kindes und der erzwungenen Rührigkeit der Matrone. Überaus lieblich war aber Marianne anzusehen, wie sie in ihrem weißen Gewande mit glühenden Wangen umherflatterte und die Geblendeten mit holder Ausgelassenheit neckte, bis sie endlich selbst gefangen wurde. Nachdem man ihr die Binde um die Augen gelegt hatte, blieb sie noch eine Weile, tief aufatmend, mit ausgebreiteten Armen stehen; dann aber schoß sie pfeilschnell gleich einer Libelle im Zickzack bald hierhin, bald dorthin. Bei diesen anmutigen Haschversuchen war sie endlich auch mir nahe gekommen; schon fühlte ich die Berührung ihrer Hände – als sie plötzlich, unter dem Tuche bis zum dunklen Karmin des Pfirsichs errötend, von mir abließ und mit einer raschen Wendung ihren Schwager zu fassen bekam, der ihr wohl nicht ganz ohne Absicht in die Arme lief. Während ihm die Augen verbunden wurden, sagte er, die Frauenzimmer möchten sich jetzt in acht nehmen; denn er wäre gesonnen, keine von ihnen ohne herzhaften Kuß wieder loszulassen. Marianne schien sogleich verstanden zu haben, auf wen diese Rede eigentlich gemünzt war; denn sie legte bedeutsam den Finger an den Mund und huschte lautlos an das äußerste Ende des Gartens. Der Schalk aber, dem die Binde nicht allzu fest sitzen mochte, bewegte sich zum Schein noch ein wenig zwischen den übrigen hin und her; dann eilte er ihr nach, und da er, wie man bemerken konnte, recht wohl sah, so hatte die junge Frau Mühe, seinen Nachstellungen zu entkommen. Aber es gelang ihr doch, im entscheidenden Momente auszubiegen und, indem sie ein paar Blumenbeete und eine niedere Hecke von Stachelbeerstauden übersprang, in den Kreis zurückzulaufen. Dort angelangt, erblaßte sie plötzlich, griff mit beiden Händen zum Herzen, wankte und fiel wie leblos zu Boden. Alles stürzte erschrocken [86] auf sie zu; man löste ihr den Gürtel und benetzte ihre Schläfen mit Wasser. Sie kam auch alsbald wieder zu sich, fuhr mit der Hand über die Stirn und ließ sich, matt und kraftlos, wie sie war, nach dem Pavillon bringen, der sich hinter den Frauen und Dorner schloß, so daß nur ich, die beiden jungen Männer und das vor Entsetzen noch immer ganz sprachlose Kind draußen zurückblieben. Heidrich, der sich als Urheber dieses peinlichen Vorfalles ansah, zeigte sich sehr ängstlich und aufgeregt; nach einer Weile jedoch trat seine Frau mit beruhigendem Lächeln aus dem Pavillon. »Sie fühlt sich wieder ganz wohl«, sagte sie mit leiser Stimme, »und will jetzt nur ein bißchen schlummern.« Auch die anderen kamen mit heiterer Miene heraus; nur Dorner, dessen erste Bestürzung sich schon früher rasch in Ärger und Verdruß aufgelöst zu haben schien, zog ein finsteres Gesicht und murmelte unverständliche Worte in den Bart. Eine langsame, erwartungsvolle Stunde verstrich. Endlich öffnete sich die Tür des Pavillons, und Marianne erschien auf der Schwelle. Sie sah zwar noch immer etwas blaß aus; aber sie versicherte, daß alles vorüber sei, und schnitt jede besorgte Frage sowie die Entschuldigungen ihres Schwagers mit scherzenden Worten ab. Trotzdem wollte sich die frühere Behaglichkeit nicht mehr in dem kleinen Kreise einstellen, und nachdem man bei herannahender Dämmerung einige Erfrischungen genommen hatte, sah Dorner nach der Uhr und mahnte zum Aufbruch, da es spät sei und Emilie noch nach Hause gebracht werden müsse. Marianne stand auf, umarmte ihre Schwester und nahm den Arm ihres Gatten, worauf auch die Verlobten sich empfahlen und beide Paare den Garten verließen. Wir Hausgenossen verweilten noch kurze Zeit beisammen; dann gingen die Frauen mit Erni hinauf, Heidrich folgte ihnen bald, und ich blieb allein zurück. Eine laue, mondlose Nacht breitete sich allmählich über die Wipfel. Geheimnisvoll schimmerten die Akazienblüten; eine Fledermaus huschte mit leisem Fluge durch den Garten; von draußen herein scholl der Gesang fröhlich heimkehrender Menschen.[87] Ich erhob mich und schritt langsam die verschlungenen Pfade auf und nieder. Die Eindrücke des durchlebten Tages wirkten mit stiller Macht in mir nach, und es war mir, als säh' ich das weiße Kleid Mariannes durch die Büsche leuchten und über den dunklen Rasen hinflattern. Endlich ging ich in den Pavillon, dessen Tür nur wenig offenstand. Ein leichter Duft war in dem Raume verbreitet. Ich trat an das Sofa, wo die junge Frau geschlummert haben mußte; als ich mich darauf niederließ, faßte meine Hand etwas Glattes, Knisterndes: es war das Band, das sie in den Haaren getragen. Eine süße Müdigkeit überkam mich; ich streckte mich aus – und eh' ich mich dessen versehen hatte, war ich, die kühle duftende Seide zwischen Hand und Wange, eingeschlafen. –

Am andern Vormittage saß ich im Schatten der Laube. Ich hatte ein Buch vor mir; aber ich las nicht, sondern blickte hinaus in den goldenen Sonnenschein. Weiße Falter flatterten um die Blumen; ferne Glockenklänge zitterten durch die Luft; in den Zweigen des Apfelbaumes sang ein buntgefiederter Vogel, der sich vom Belvedere herüber verirrt haben mochte. Plötzlich war es mir, als vernähme ich leichte, zögernde Tritte und das Rauschen eines Kleides. Ich erhob mich und stand Mariannen gegenüber, die am Eingange der Laube erschien und ihre reizende Verlegenheit bei meinem Anblick hinter dem aufgespannten Sonnenschirm zu verbergen trachtete. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit unsicherer Stimme, »ich dachte – ich suche meine Schwester –«

»Ihre Schwester ist heute noch nicht herabgekommen. Aber es scheint, Frau Dorner, ich habe Sie wieder erschreckt«, fuhr ich fort, da ich sah, daß sie noch immer nach Fassung rang.

»Wieder?« sagte sie und sah mich an.

Das Wort war mir unwillkürlich entschlüpft. »Ich glaube wenigstens, es schon einmal getan zu haben; vorgestern, als Sie unter jenem Baume standen –«

Ein Lächeln kräuselte flüchtig ihre Lippen. »Ach ja!« [88] sagte sie leichthin. »Wie töricht von mir, so plötzlich davonzulaufen! Luise hatte mir ja schon von Ihnen gesprochen. Doch dafür hab' ich Sie gestern auch erschreckt.«

»Mehr als das. Sie glauben gar nicht, wie uns allen zumute war, als Sie so plötzlich zu Boden stürzten. Aber ich sehe, dieser Unfall hat keine weiteren Folgen gehabt«; und dabei blickte ich ihr ins Antlitz, das wieder ganz frisch und rosig aussah.

»Es war ja nichts von Bedeutung. Ich hatte gegen meine Gewohnheit Wein getrunken. Auch war ich recht ausgelassen«, setzte sie etwas kleinlaut hinzu.

»Vielleicht; aber nur wie es Kinder zu sein pflegen. Wahrlich, Frau Dorner, wenn man nicht wüßte, daß Sie verheiratet sind –«

»So würde man mich nicht dafür halten«, vollendete sie, da ich mitten in der Rede abbrach. »Mir ist oft selbst so zumute!« Und es klang wie ein leiser Seufzer durch diese Worte, die eigentlich ganz unbefangen gesprochen waren. »Aber«, fuhr sie mit plötzlichem Ernste fort, »ich muß jetzt meine Schwester aufsuchen.« Und mit einer Verneigung wollte sie sich entfernen.

»Noch einen Augenblick!« bat ich. »Sie haben gestern im Pavillon etwas vergessen.« Und ich reichte ihr das grüne Band, das ich bei mir trug. Sie warf errötend einen Blick darauf, nahm es mit einem dankenden Kopfnicken an sich und verließ, rasch und anmutig schreitend, den Garten.

Und nun kommt sie, wie gesagt, fast täglich; zumeist in den frühen Nachmittagsstunden. Dann sitzt sie arbeitend in der Laube oder spielt mit Erni, welche mit der Leidenschaftlichkeit der Kinder an ihr hängt. Auch hilft sie ihrer Schwester das Knäblein betreuen, wobei sie fast noch mehr Zärtlichkeit und Sorgfalt an den Tag legt als die Mutter selbst. Eine wahre Freude aber ist es, wenn sie auch beim Abendessen bleibt; denn sie weiß dann durch allerlei Scherz und eine köstliche Plaudergabe stets die heiterste Stimmung hervorzurufen. Nur in [89] Gegenwart ihres Gatten, der meistens, um sie abzuholen, ziemlich spät erscheint, ist sie stiller und schweigsamer. Denn man kann deutlich merken, daß er nach Art trockener und halbgebildeter Menschen ihr munteres und offenes Wesen als etwas Unziemliches empfindet und es, sowie die holde, echt weibliche Beschränktheit, welche Marianne in gewissen Dingen verrät, für Torheit und Mangel an Verstand ansieht. So hatte er unlängst ein Kartenspiel (die einzige Unterhaltung nach seinem Geschmack) in Vorschlag gebracht, bei welchem jeder die Augen seiner Karten zu zählen hatte. Marianne konnte damit nie rasch genug zustande kommen und mußte oft die Spitze ihres Zeigefingers zu Hilfe nehmen, bis ihr endlich Dorner mit der Bemerkung, sie solle doch wenigstens zählen lernen, die bemalten Blätter ziemlich unsanft aus der Hand nahm und auf den Tisch warf. Ich zuckte zusammen; Marianne schwieg; nach und nach aber kam eine glühende Schamröte in ihrem Antlitz zum Vorschein. Auch die anderen waren betroffen, und eine peinliche, unerquickliche Stimmung blieb zurück. Überhaupt wirkt die Anwesenheit Dorners stets lähmend und niederdrückend auf alle: es wagt sich niemand mit einem freien, fröhlichen Worte hervor. Selbst die Hauskatze, welche jeden Abend, um ein paar Bissen zu erhaschen, schnurrend den Tisch umkreist, ergreift bei seinem Erscheinen die Flucht, weil er gleich das erstemal mit dem Stock nach ihr geschlagen hatte. Wenn die lebensfrohe junge Frau beim Abschied den Arm des harten, finsteren Mannes nimmt und dabei manchmal wie es mir scheinen will – mit ihren wunderbaren Augen nach mir zurückblickt: da, Teuerster, zieht sich mein Herz immer schmerzlich zusammen, und es ist mir oft, als sollt' ich aufspringen und ihm das süße Geschöpf von der Seite reißen, für dessen Zauber seine schwunglose Seele so wenig Verständnis hat!


[90] Ende Juni.


Du meinst, ich sei im besten Zuge, eine Torheit zu begehen und mich ernstlich in die junge Frau zu verlieben. Und wenn dies der Fall wäre? Wenn ich wieder einmal meinen Empfindungen freien Lauf ließe? Aber fürchte nichts, Guter! Ich bin an Entsagung gewöhnt; ja noch mehr: ich habe – so seltsam dies auch klingen mag – bereits gelernt, entsagend zu genießen. Und es ist gut, daß es so ist; denn sonst – – Höre nur, was sich zwischen uns beiden ereignet hat.

Als ich gestern nach Tisch wie gewöhnlich in den Garten kam, fand ich Marianne mit den Kindern allein. Sie hatte sich, da über der Laube noch die volle Junisonne brannte, auf der Bank bei dem dichten Holundergebüsch niedergelassen, welches mit dem nahen Pavillon im Schatten lag. Ihr zu Füßen saß Erni, in eifrige Betrachtung einer zierlichen Stickerei der Tante versunken; auf der andern Seite schlummerte das Knäblein im Wiegenkorbe, mit einem Fliegenschleier bedeckt. Marianne las in einem Buche, das sie, kaum meiner ansichtig geworden, beiseite brachte und unter ein Tuch schob, in welchem ich aber mit dem Scharfblicke des Autors sogleich eine jener Erzählungen erkannte, die ich schon vor Jahren geschrieben. Als ich grüßend an die junge Frau herantrat, sagte sie, daß die andern eines dringenden Besuches wegen das Haus verlassen und sie gebeten hätten, einstweilen über den Kindern zu wachen. »Ich tu es gern«, fuhr sie fort, indem sie die Hand schmeichelnd auf das Haupt Ernis legte. »Erni ist mein gutes, braves Mädchen, und den armen Kleinen dort lieb' ich, als wär' er mein eigenes Kind.« Sie errötete bei diesen Worten und hob vorsichtig ein Ende des grünen Schleiers empor. »Sehen Sie nur, wie sanft, wie ruhig er heute schläft, wie lieblich er trotz seiner Blässe aussieht! Aber ich fürchte, Luise wird ihn nicht aufbringen.« Und dabei ließ sie traurig wieder den Flor sinken.

Ich hatte mich neben sie auf die Bank gesetzt, und wir sahen eine Zeitlang schweigend in das sonnige Grün hinein.

[91] »Ich habe bis jetzt gelesen«, sagte sie endlich und zog langsam und verschämt das schlichte Bändchen hervor.

Was blieb mir übrig, als mich überrascht zu stellen. »Wie, Sie lesen mein Buch?« fragte ich also.

»Ja, und nicht zum ersten Male. Es zieht mich immer von neuem an, – Sie verwundern sich? Sie hätten mir nicht zugetraut –«

»O nicht doch – nicht so, Frau Dorner! Ich meinte nur – es ist eine gar zu stille, traurige Geschichte.«

»Ebendeshalb gefällt sie mir. Ich bin nicht immer so fröhlich, wie Sie mich zu sehen pflegen. Ich habe auch meine trüben Stunden, und mir ist eigentlich stets am wohlsten, wenn ich für mich allein sein und meinen Gedanken nachhängen kann. Nur unter Menschen überkommt es mich –«

»Dann ist es doch nur die Heiterkeit Ihrer innersten Natur, was sich da Bahn bricht.«

»Meinen Sie?« sagte sie nachdenklich.

»Gewiß. Und die Menschen sollten sich glücklich schätzen, daß sie so sprühende Lebensfunken in Ihnen zu wecken vermögen.«

Sie schüttelte leicht das Haupt. »Nun, ich habe meistens nur Tadel und Verweise zu hören bekommen. Von meinen Eltern und Lehrern, von –« sie unterbrach sich. »Ich glaube, man hat mich seit jeher für leichtsinnig und einfältig gehalten«, setzte sie mit gedämpfter Stimme hinzu.

»O wer könnte, wer dürfte so urteilen«, sagte ich warm.

Sie schien diesen Einwurf nicht zu beachten und fuhr, an ihre letzten Worte anknüpfend, mit gesenktem Haupte fort: »Vielleicht bin ich's auch. Kinder-und Mädchenjahre sind mir wie im Traume vergangen; selbst der Tod unserer Mutter, die uns freilich schon sehr früh entrissen wurde, hat mich nicht besonders schmerzlich ergriffen; es war mehr ein geheimes Grauen, was ich dabei empfand. Jedes Spielzeug, das ich erhielt, jedes neue Kleid, jeder Ausflug aufs Land, ein jedes Fest, bei welchem ich getanzt hatte, ließ mich noch lange nachher alles andere [92] vergessen, so daß ich gar nicht darauf achtete, was um mich her in der Welt vorging. Und auch jetzt ist es noch so. Wenn ich oft andere Frauen von Dingen reden höre, die mir ganz fremd sind, da fühle ich immer, wie weit ich zurückgeblieben bin, und schäme mich meiner Unwissenheit.«

»Mit Unrecht«, rief ich aus, überwältigt von der schlichten Erhabenheit dieses Geständnisses, »mit Unrecht, Frau Dorner! Denn es ist Ihnen dafür jene Ursprünglichkeit bewahrt geblieben, die an Ihrem Geschlechte mehr entzückt als alle Kenntnisse der Erde.«

Sie sah mich zweifelnd an. »Wie? das sagen Sie, ein Gelehrter – ein Dichter?«

»Warum nicht? Gerade wir, deren Dasein ganz in geistiger Tätigkeit aufgeht, werden von den Kundgebungen einer unbewußten Natur im Tiefsten erquickt. Glauben Sie mir, alles Wissen ist wertlos, wenn es nicht von einer mächtigen, eigentümlichen Empfindungsweise getragen und durchdrungen wird, während ein tiefes Gemüt, ein warmes Herz jeder Formel entraten kann, denn es überzeugt und gewinnt, indem es sich einfach im Tun und Lassen ausspricht. – Und Sie besitzen ein solches Gemüt, ein solches Herz, Frau Marianne!«

Sie erwiderte nichts und brachte nur langsam die Hand vor die Brust.

»Und auch Gefühl und Verständnis für so manches, das unbeachtet und ungekannt an Ihnen vorüberzieht, liegt in Ihrem Wesen«, fuhr ich fort. »Aber es hat noch niemand das lösende Wort zu sprechen gewußt, und so blieb Ihrem Sinne bis jetzt die Bedeutung des Lebens verschlossen und all Ihr innerer Reichtum Ihnen selbst ein Geheimnis.«

»Es ist wahr«, sagte sie, kaum vernehmlich, »ich fühle mich oft so beengt und ringe nach etwas, das ich nicht nennen kann – –.« Ach, Freund, es war wunderbar, wie sie dasaß, die schmale Hand am Herzen, den Blick zu Boden gerichtet. Sie war ganz bleich geworden, und ihr zarter Busen hob und senkte sich leise. Und [93] mich überkam's, ihr zu sagen, daß es die Liebe sei, nach der sie ringe und die allein dem Weibe die Welt in ihrer Unendlichkeit erschließt – aber ein Blick auf das lauschende Kind zu ihren Füßen dämmte meine wogende Seele zurück, und ich schwieg. So entstand eine tiefe Stille; Erni sah mit klugen braunen Augen forschend zu uns empor, und man konnte das Summen einer Wespe vernehmen, die uns in immer engeren Kreisen umflog. Plötzlich stieß Marianne einen leichten Schrei aus und fuhr mit der Hand nach der Wange. Das geflügelte Tierchen war ihr nahe gekommen und hatte sie unterhalb des rechten Auges gestochen; ein kleines, rotumrändertes Bläschen zeigte sich. Ich eilte an das nächste Blumenbeet und grub etwas Erde auf. Marianne wollte damit die schmerzende Stelle bedecken; aber die feuchte Masse zerbröckelte unter ihren bebenden Fingern und fiel zu Boden.

»Lassen Sie es mich versuchen«, sagte ich und holte frische Erde herbei. Sie zog den schlanken Leib schamhaft zurück, und ich drückte ihr, während sie in holder Verwirrung die Augen schloß, das kühlende Element sanft gegen die Wange. Sie atmete tief auf und schien eine wohltuende Linderung zu empfinden. So weilten wir: Beide, das fühlt' ich, leise durchschauert. Da regte sich das Knäblein unter dem Schleier und fing nach Art erwachender Kinder laut zu weinen an. Marianne wurde immer unruhiger; endlich machte sie sich von mir los, sprang auf und nahm den Kleinen in die Arme, wo er auch alsbald still ward und zu lächeln begann. Nun schickte sie, von mir abgewendet, Erni um Wasser. Das Kind, welches allem besorgt zugesehen hatte, eilte fort; wir aber sprachen nichts mehr; unsere Blicke mieden sich, und als Erni mit dem gefüllten Becken erschien, zog ich mich in den Pavillon zurück. Ich hörte, wie sich Marianne draußen wusch, dann einige Male durch den Garten ging und sich endlich wieder bei den Holunderbüschen niederließ, wo sie von Zeit zu Zeit sanfte Worte an die Kinder richtete. So wurde es Abend, und die anderen kamen nach Hause. Erni [94] lief ihnen entgegen und erzählte sogleich mit lauter Stimme den ganzen Vorfall. Ich vernahm, wie man darüber scherzte und lachte; als ich jedoch später hinaustrat, fand ich Marianne nicht mehr unter den Anwesenden. Es hieß, sie sei nach Hause gegangen, weil sie noch immer heftige Schmerzen empfunden habe.


20. Juli.


Erspare Dir doch Deine langen Episteln, Teuerster, voll von Zweifeln an meiner gerühmten Entsagungskraft und sonstigen Besorgnissen! Die Gefahr, von der Du mich und die junge Frau bedroht siehst, ist im Vorüberziehen. Und zwar hat das Schicksal selbst Deine Rolle übernommen und, immer mächtiger als wir armen Menschenkinder, sich nicht bloß auf Ermahnungen und weise Ratschläge beschränkt, sondern gleich nicht etwa mit rauher, nein, mit liebender Hand eingegriffen.

Du erinnerst Dich, daß ich vor zwei Jahren den Sommer im südlichen Böhmen bei unserem gemeinsamen Jugendfreunde Robert zugebracht habe. Wenn Du Dir die Mühe nehmen und meine Briefe aus jener Zeit hervorsuchen willst, so wird Dir daraus das grüne, freundliche Moldautal, die herrliche Birken-und Tannenpracht des Böhmerwaldes entgegentreten und das alte Stammschloß der Rosenberge, auf stolzer Höhe gelegen, mit weit ausblickenden Zinnen vor Dir aufsteigen. Auch eines Mannes wirst Du erwähnt finden, der in diesem einsamen, jetzt dem Fürsten S ... gehörenden Prachtbau der Vergangenheit als Archivar lebt. Ich hatte ihn eines Tages mit der Bitte aufgesucht, mich in dem historisch merkwürdigen Archiv und in der reichhaltigen Bibliothek ein wenig umsehen zu dürfen, und entsinne mich deutlich, daß ich Dir damals geschrieben habe, wie sehr ich ihn um sein stilles, abgeschiedenes Dasein beneide. Als ich aber näher mit ihm bekannt wurde, da merkte ich bald, daß ihm, was mir wünschenswert erschien, Unmut [95] und Unzufriedenheit bereite. Er hatte früher ein öffentliches Lehramt bekleidet; war aber, mißliebiger Anschauungen wegen, von der Regierung entfernt und durch die Not gezwungen worden, diese Stelle anzunehmen, welche seinem lebhaften, auf erfolgreiches Wirken gerichteten Geist ebensowenig zusagen konnte, als sie ihm in ihrer geringen Ansehnlichkeit seiner Kenntnisse und Fähigkeiten würdig erschien. Er gestand mir offen, daß er alles aufbiete, wieder loszukommen; und da ich ihm hingegen meine Neigung zu einem solchen Posten mitteilte, so versprach er mir, mich dem Fürsten vorzuschlagen, sobald er eine passende Lebensstellung würde gefunden haben. Nun bekam ich dieser Tage (ich hatte seiner Zusage längst nicht mehr gedacht) von ihm einen Brief, worin er mir schreibt, daß er endlich einen ehrenvollen Ruf ins Ausland erhalten, und mich fragt, ob ich noch gesonnen wäre, sein Nachfolger zu werden. Er habe mit dem Fürsten bereits gesprochen; dieser sei ganz einverstanden, und so hinge jetzt alles nur von meinem raschen Entschlusse ab. Daß ich mit beiden Händen zugriff, kannst Du Dir denken! Wollte sich doch jetzt erfüllen, wonach ich mich so lange gesehnt: unbekümmert um literarischen Erwerb in gänzlicher Zurückgezogenheit meiner Kunst leben zu können. Gewisse Leute werden freilich die Köpfe schütteln. »Wie man nur daran denken könne, fern von aller Welt in einem alten Schlosse zu versauern«, hör' ich sie sagen; »daß der Dichter Anregung brauche –« und was sonst noch an ähnlichen Gemeinplätzen vorzubringen sein wird. Als ob ich bis jetzt nicht gelebt hätte! An meinen Schläfen schimmern schon die ersten grauen Haare, und ich müßte wirklich unsterblich sein, um auch nur die Hälfte meiner Erfahrungen künstlerisch zu verwerten. Und so will ich nur noch meine Angelegenheiten ordnen, mich von einigen guten und edlen Menschen, denen ich so manches zu danken habe, verabschieden und dann der Residenz Lebewohl sagen. Jetzt aber kann ich Dir auch gestehen: es ist hohe Zeit, daß ich fortkomme. Aus folgendem magst Du es entnehmen. –

[96] Seit jenem denkwürdigen Nachmittage war Marianne nicht mehr so oft, wie sonst, und zumeist nur auf kürzere Zeit in den Garten gekommen. Dabei hatte es mir geschienen, als wiche sie einer Begegnung mit mir aus, so daß ich selbst vermied, mit ihr zusammenzutreffen, und wieder häufiger meine Spaziergänge vor dem Linienwall aufnahm. Eines Tages war ich aber doch in dem unbestimmten Drange, die junge Frau wiederzusehen, daheim geblieben. Es wurde Abend, sie erschien nicht. Endlich gesellte ich mich zu meinen Hausgenossen, die ich ziemlich einsilbig in der Laube versammelt fand. Nach einer Weile sagte Heidrich: »Warum doch Marianne gar nicht mehr kommt! Es ist heute schon der vierte Tag, daß wir sie nicht gesehen haben.«

»Du weißt doch«, erwiderte seine Frau mit einer gewissen Hast, »daß das Unternehmen Dorners bereits in vollem Gang ist; das macht auch ihr im Hauswesen viel zu schaffen.«

»Allerdings; das weiß ich. Aber sie ist auch sonst seltsam verändert.«

»Findest du?« warf sie nachlässig hin, während mich ihr Blick unsicher streifte.

»Ja; und ich glaube, sie ist nicht glücklich.«

»Und warum sollte sie nicht glücklich sein?« fragte Luise scharf und bedeutungsvoll.

»Ach, laß das!« entgegnete er, offen und unbefangen wie immer. »Vor unserem Freunde kenn' ich keine Geheimnisse. Er wird sich schon selber seine Gedanken gemacht haben. Ich sage: Dorner ist kein Mann für Marianne.«

»Und weshalb nicht?« fuhr sie gereizt fort. »Er ist ein Ehrenmann, wenn auch ein wenig trocken und barsch im Umgange. Aber gerade sein strenger Ernst paßt für sie; denn er hält ihrem doch oft allzu kindischen Wesen das Gleichgewicht.«

»Aber ich bin überzeugt, daß sie ihn nicht liebt!« stieß Heidrich hervor.

»Ei was!« rief die alte Frau in ihrer resoluten Weise dazwischen. [97] »Ihr Männer habt es beständig nur mit der Liebe! Die entsteht und vergeht. Was den beiden fehlt, ist ein Kind; eine kinderlose Ehe ist keine Ehe!«

Ich schwieg; aber was in meinem Innern vorging, kannst Du Dir denken. –

Um diese Zeit starb das Knäblein. Heftige, sich rasch wiederholende Krämpfe hatten seinem kurzen Dasein ein Ende gemacht. Man nahm dieses traurige Ereignis im Hause mit stiller Ergebung auf. War es doch längst vorauszusehen, ja bei dem hoffnungslosen Zustande des Kindes herbeizuwünschen gewesen; auch trägt Frau Luise schon ein neues Leben unter dem Herzen. So standen die jungen Eltern zwar bleich, aber ohne Klage an dem Särglein, in welchem der Kleine lag, von seinen Leiden befreit, wie lächelnd im Tode. Desto fassungsloser klang das Schluchzen Mariannens, die sich mit noch anderen Verwandten eingefunden hatte. Ich sah zum ersten Male den Vater der Schwestern, einen bejahrten Mann mit einem scheuen, kummervollen Zug im Antlitz; dann die Stiefmutter, eine stattliche, geputzte Frau im besten Alter. Auch die beiden Liebenden, deren Vermählung nahe bevorstand, waren zugegen. Man merkte, wie sie ihrem Glücke Gewalt antun mußten, um die Trauer der andern mitempfinden zu können. Dorner war nicht erschienen. Als man die Leiche forttrug, folgte ich auch zur Kirche. Nach der Einsegnung stiegen die Eltern mit dem Manne, der den Sarg trug, in einen bereitstehenden Wagen; Marianne, leise in ihr Tuch weinend, setzte sich zu ihnen; die übrigen entfernten sich. Ich aber kehrte wieder nach Hause zurück und schritt einsam im Garten auf und nieder. Ein leichter Strichregen war gefallen, und an den Blättern funkelten helle Tropfen im Strahl der späten Nachmittagssonne. Ein Nelkenbeet duftete scharf; am Himmel standen dunkle, feurig umsäumte Wolken; von Zeit zu Zeit ging ein leises Rauschen durch die Wipfel. Über eine Stunde mochte ich so in wehmütige Empfindungen versunken gewesen sein und hatte mich [98] endlich im Pavillon niedergelassen, als der Wagen am Tore hielt, der die Leidtragenden vom Friedhof brachte. Ich vermutete, sie würden in den Garten kommen; aber sie gingen alle miteinander hinauf. Nach einer Weile jedoch wurde das Gitter geöffnet; Marianne trat ein, Erni an der Hand führend, und bewegte sich mit dem Kinde, das während des Begräbnisses oben bei der alten Frau geblieben war, langsam auf dem mittleren Pfade fort. Sie blickte nicht nach dem Pavillon; aber Erni tat es und hatte mich auch gleich bemerkt. »Tante Marianne, Herr A. ist hier!« rief sie und wiederholte diese Worte, da die junge Frau nicht darauf zu achten schien, sondern mit gesenktem Haupte vorwärtsschritt, mehrere Male nacheinander, so daß mir nichts erübrigte, als hinauszutreten und mich ihnen zu nähern. Das Kind wollte, um mich zu erwarten, stehenbleiben; aber Marianne ließ seine Hand los und ging immer weiter; erst als ich dicht hinter ihr war, hielt sie an und wandte mir ihr Antlitz zu. »Ich habe sie oben allein gelassen«, begann sie langsam; »ich glaube, sie fühlen jetzt das Bedürfnis, sich ungestört auszuweinen.« Sie sah nach einer kleinen Uhr, die sie im Gürtel trug. »Es ist schon spät; mein Mann soll noch kommen. Er war heute Nachmittag sehr beschäftigt.«

»Wie ich höre, werden auch Sie jetzt von häuslichen Geschäften sehr in Anspruch genommen, Frau Dorner«, sagte ich, um etwas zu sagen.

Sie errötete flüchtig. »Allerdings; und ich kann mich noch nicht ganz zurechtfinden. Aber es ist gut; man vergißt so manches darüber.«

Ich schwieg, und so gingen wir eine Zeitlang, ohne zu sprechen, nebeneinander hin. Es war schon dunkel geworden, und durch die Bäume wehte es feucht und kühl.

»Welch eine rauhe Abendluft«, sagte sie endlich und zog ihr Tuch fröstelnd um die Schultern. »Man merkt, daß der Herbst im Anzug ist. – Das arme Kind; heute liegt es in der kalten Erde.«

[99] »Gönnen Sie dem Kinde die selige Ruhe, Frau Dorner«, sagte ich bewegt. »Sein Tod war seine Erlösung.«

Sie schauderte leicht. »Es ist wahr«, sagte sie tonlos, »das Leben ist für die Glücklichen.«

Erni war indessen still hinter uns hergegangen; jetzt rief sie: »Tante, du hättest Herrn A. heiraten sollen; dann wärest du auch glücklich geworden.«

Ich sah, wie sie erbleichend zusammenzuckte. Aber sie zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Was doch das törichte Mädchen spricht.«

Ich konnte nichts erwidern; es lag mir wie Blei auf der Zunge, auf dem Herzen. So gingen wir wieder schweigend nebeneinander. Als wir uns dem Eingange näherten, erblickten wir Dorner, der über das Gitter sah und ein befremdetes Gesicht machte, als er uns gewahr wurde. Er trat ein, und nachdem wir einige Worte getauscht, begab er sich mit seiner Frau und dem Kinde hinauf. Ich aber blieb zurück in der sinkenden Nacht, allein mit meinen Gefühlen, in welchen sich Schmerz und Seligkeit wunderbar verwoben.


Schloß K ... in Böhmen, Mitte September.


Warum ich so lange schweige, fragst Du? Und ob ich mich schon an den Ufern der Moldau befände? Ja, Teuerster, seit vier Wochen bin ich hier – doch in welchem Zustande! Ach, Freund, was sind die Entschlüsse der Menschen! Vorübergehen wollt' ich an dem geliebten Weibe, das mir bestimmt schien, zugefallen durch einen holden Ausgleich der Natur – und nun! – Aber ich will mich fassen, will Dir alles niederschreiben und diese Blätter wie ein letztes Vermächtnis in Deine Hände legen. –

Der Tag, den ich mir zur Abreise festgesetzt, war immer näher gekommen. Ich hatte es, ohne zu wissen warum, stets hinausgeschoben, meinen Hausgenossen unsere bevorstehende [100] Trennung mitzuteilen, und nun zeigte sich die alte Frau, die mir im Laufe der Jahre eine fast mütterliche Teilnahme und Fürsorge erwiesen, sehr ergriffen. Sie wischte sich die Augen und sagte, sie wolle meine Stube gar nicht weiter vermieten; denn sie würde keinen Fremden darin sehen können. Ihr Sohn bekräftigte dies, indem er mir wiederholt die Hände schüttelte und hinzufügte, sie hätten gehofft, mich nicht früher zu verlieren, als bis ich einmal des Hagestolzenlebens müde und willens geworden sei, einen eigenen Herd zu gründen. Und das sollt' ich auch, denn ich sei ganz der Mann, ein Weib glücklich zu machen. Nur Frau Luise, die gegen mich in letzter Zeit etwas zurückhaltend gewesen, schien wie erleichtert aufzuatmen. Sie ward mit einem Male wieder herzlich und freundlich und ermunterte mich sogar, die Hochzeit Emiliens abzuwarten, zu deren Feier, wie ich nun hörte, der fünfzehnte August bestimmt war. Ich ließ mich bereitfinden, von dem Gedanken verlockt, bei dieser festlichen Gelegenheit mit Mariannen zusammenzutreffen, welche ich seit diesem traurigen Abend nicht wieder gesehen hatte. Denn es war inzwischen trübes, regnerisches Wetter eingefallen, das den Garten verödete; auch hatte ich im Drange meiner Geschäfte und Abschiedsbesuche die meiste Zeit außer Hause zugebracht. Dadurch war sie mir etwas ferner gerückt worden, und wenn ich an sie dachte, geschah es mit einer Art von schmerzlicher Genugtuung und mit dem Gefühl, daß die Erinnerung an sie mein ganzes künftiges Dasein begleiten und verschönen würde. Ihre Zukunft – so eigensüchtig ist das menschliche Herz – erwog ich nicht; vielleicht war es eine geheime Angst, was mich davon abhielt. – Nun aber wollte ich noch einmal den Zauber ihres Wesens ganz und voll in mich aufnehmen und dann scheiden für immer. –

Der fünfzehnte August war da, und mit ihm hatte sich der Himmel wieder aufgehellt. In den ersten Stunden des Nachmittags erschien ein Wagen, um mich zur Trauung zu fahren; die andern hatten sich schon früher nach dem Hause der Braut [101] begeben. Als ich vor der Kirche hielt, war diese bereits von vielen Neugierigen belagert, und gleich darauf kam eine lange Reihe offener Wagen in Sicht, die auf raschen Rädern Brautleute und Hochzeitsgäste heranbrachten. Alles strahlte in Freude und Heiterkeit; beim Aussteigen gab es ein helles Gewirr von schimmernden Gewändern, wehenden Schleiern und duftenden Blumen; selbst die eintönige schwarze Tracht der Männer war durch farbige Sträußchen belebt. Das Ganze hatte einen kräftigen, altbürgerlichen Anstrich und mahnte an jene Zeit, wo man noch keine stillen, verschwiegenen Hochzeiten kannte, sondern sein Glück in seligem Übermute offen zur Schau trug. Mein Blick suchte Marianne, die eigentümlich bleich aussah und zu frösteln schien, trotz des kurzen, mit Schwan besetzten Mäntelchens, das sie um die entblößten Schultern geworfen hatte. Sie trug ein Kleid von perlgrauer Seide; ihr Haar war mit weißen Rosen geschmückt; in der Hand hielt sie einen Strauß von denselben Blumen. So schritt sie, meinen Gruß stumm erwidernd, an mir vorüber in die Kirche. Während der Trauung, als der Priester über die Bedeutung und vom Glück der Ehe sprach, arbeitete es heftig in ihrer Brust, und ich sah zwei große Tränen unter ihren Wimpern hervortreten und langsam über die Wangen hinabrollen. Nach beendeter Feierlichkeit stieg alles wieder in die Gefährte, und im Fluge ging es, von den Blicken der Vorübergehenden gefolgt, durch die belebten Straßen nach dem nahen, am Fuße des Kahlenberges gelegenen Grinzing zu. Ich fuhr mit Heidrich und Dorner; im Wagen vor uns saßen die beiden jungen Frauen. Marianne wandte kein einziges Mal den Kopf, nur ihr goldig angehauchtes Haar und die weißen Rosen leuchteten vor meinen Augen. Endlich hatten wir das stattliche Fabrikgebäude erreicht, in welchem, wie es der Vater des Bräutigams gewünscht, das eigentliche Hochzeitsfest stattfinden sollte. Eine fröhliche Arbeiterschar empfing uns, dann traten wir in den großen, mit Laub- und Blumengewinden reich ausgeschmückten Saal, wo uns ein wohlbesetztes Orchester [102] mit einem lebhaften Tusch bewillkommte. Hierauf gingen wir zur Tafel, welche für die zahlreichen Gäste in einem weitläufigen Nebenraume gedeckt war. Ich hatte meinen Platz zwischen zwei jungen Frauenzimmern erhalten, welchen ich mich nun artig erweisen mußte; aber ich sah doch beständig zu Mariannen hinüber, die in sich versunken an der Seite Dorners neben der Braut saß. Sie berührte fast nichts und nippte nur manchmal von dem perlenden Schaumweine, den man kredenzt hatte. Als auf das Wohl der Vermählten ein Toast ausgebracht wurde, fiel sie Emilien konvulsivisch weinend an die Brust, und sie hörte es nicht, daß man nun auch das Ehepaar Dorner leben ließ. Darauf aufmerksam gemacht, schrak sie empor, und es war, als durchbebe sie ein leiser Schauder, als sie ihr Glas mit dem ihres Gatten zusammenklingen ließ. Inzwischen war es bereits ziemlich dunkel geworden. Im Saale wurden die Lichter angezündet, und plötzlich erließ das Orchester mit einigen raschen Takten die Aufforderung zum Tanze. Diese Klänge wirkten elektrisch; Stühle wurden gerückt, Gewänder rauschten – und im Nu tanzte ein Paar nach dem andern in den Saal hinaus, wo schon ein beschwingender Walzer ertönte. Auch Dorner hatte zu meinem Erstaunen den schlanken Leib seiner Frau umfaßt und die halb Widerstrebende mit sich fortgezogen. Ich folgte langsam nach und setzte mich in eine Fensternische. Und wie ich so dasaß, vor mir das bunte, schimmernde Gewühl der Tanzenden, hinter mir die schweigende, dunkelnde Landschaft: da wurde mir eigentümlich traumhaft zumute. Ein Heer von Erinnerungen stieg vor mir auf; die schönen leuchteten immer reiner und verklärter; die bösen vergingen und zerrannen, und die ganze Wehmut des Scheidens zog in mein Herz. Und es war mir, als könnt' ich nun nicht mehr die Stadt verlassen, in der ich gelebt, gestrebt, gerungen mit allen Leiden und Freuden einer Menschenseele; als könnt' ich mich nicht trennen von dem traulichen Garten – und von der jungen Frau, welche dort, schon mit andern Tänzern, zwischen den hin und her wogenden [103] Paaren auftauchte und wieder verschwand. Aber der Würfel war gefallen, und ich mußte fort.

Dem Walzer folgten rasch nacheinander neue Tänze. Der süße Taumel des Vergessens, welcher im Tanze liegt und diesen für ihr Geschlecht so verlockend macht, schien dabei Marianne mehr und mehr zu überkommen. Ihre Wangen glühten, ihr Haar hatte sich gelöst, ihre dunkel leuchtenden Augen schienen mich aus der Ferne zu suchen. Endlich trat eine Pause ein, und die Paare machten Arm in Arm plaudernd und scherzend die Runde durch den Saal. Marianne jedoch hatte sich mit allen Zeichen der Ermüdung auf einen Stuhl niedergelassen; vor ihr, sichtlich bemüht, sie für sich einzunehmen, stand ein junger Mann mit lebhaften Blicken und Gebärden, welchen ich mehrmals mit ihr hatte durch den Saal fliegen gesehen. Sie aber achtete nicht auf das, was er sprach, sondern blickte zerstreut vor sich hin und, nein, ich täuschte mich nicht – auch nach der Fensternische, in der ich noch immer saß. Endlich zog sich der eifrige Verehrer zurück. Ich stand auf und trat an sie heran. ›Ich muß noch von Ihnen Abschied nehmen, Frau Dorner‹, sprach ich mit zitternder Stimme. ›Ich verlasse Wien – und reise schon morgen.‹

Sie atmete schwer und brachte, wie um sich zu erquicken, ihren Strauß vors Antlitz: ›Ich weiß es; meine Schwester hat es mir mitgeteilt. – Und Sie kehren nicht wieder?‹ fragte sie nach einer Pause kaum hörbar.

›Nein, Frau Dorner.‹

Sie erwiderte nichts. ›Leben Sie wohl‹, sagte sie endlich und reichte mir langsam die Hand.

Im selben Augenblick begann die Musik wieder, aufs neue einen Walzer intonierend. Du weißt, daß ich niemals ein Tänzer war – aber diese Klänge durchzuckten mich seltsam, und ich fühlte mich von einem plötzlichen Verlangen unwiderstehlich ergriffen. ›Frau Marianne‹, sagte ich, ihre bebende Hand festhaltend, ›Frau Marianne, lassen Sie uns, bevor ich [104] scheide, noch miteinander tanzen – zum ersten – und letzten Mal!‹ Sie sah mich wie erschreckt an, dann aber stand sie auf und sank mir in die Arme. – Ach, welche Wonne war es, mit ihr in dem beginnenden Wirbel hinzutreiben, der uns immer rascher, immer stürmischer mit sich fortriß! Wie ein Kind lag sie an meiner Brust: weich, hingebend, die Lippen leicht geöffnet, die Augen halb durch die gesenkten Wimpern verschleiert. Ihr Herz pochte neben meinem; die Rosen in ihrem Haar umdufteten mein Antlitz. Und es war mir, als müsse es ewig so dauern – ewig! Aber die Musik verstummte. Ich reichte der Schweratmenden den Arm. Sie nahm ihn und lehnte sich innig an mich. ›Marianne!‹ rief ich leise und bebend. Sie verstand mich; denn sie schwieg und blickte zu Boden. Inzwischen hatten mehrere Ungenügsame mit lautem Rufen und Händeklatschen eine Wiederholung verlangt, und das Orchester fiel von neuem ein, indem es die Takte des Walzers zu einem Galopp beschleunigte. ›Noch einmal!‹ flüsterte ich und umfaßte sie. Und als wir uns jetzt bei den rasenden Klängen zum zweitenmal in den Armen lagen, da brach in mir die lang niedergehaltene Leidenschaft gleich einer entfesselten Naturgewalt hervor. Ich zog Marianne an mich; ich beugte mein Haupt zu ihr nieder; mein Mund streifte ihr Haar, ihre Stirn. Sie ließ es geschehen und sah mich lächelnd an. Und fester und fester umschlangen wir uns; unsere Wangen, unsere Lippen berührten sich; unser Odem floß in einen Hauch zusammen. So flogen wir hin, in seliger Trunkenheit, weltentrückt, zwischen Himmel und Erde! – Plötzlich war es mir, als strauchelte sie; mein Arm wollte sie halten; aber ich schwankte selbst und schon sank sie mit nach rückwärts überhangendem Haupte und stierem Blick schwer an mir nieder. Ein jähes Entsetzen riß an meinem Herzen; ich hörte noch, wie man rings aufschrie, wie die Musik mit einem grellen Mißklang abbrach; sah, wie man von allen Seiten auf uns zustürzte – dann drehte sich alles um mich, und meine Sinne vergingen. – –

[105] Als ich wieder zu mir selber kam, lag ich auf einem Sofa in dem matt erhellten Nebenzimmer. Ein alter Herr, die Uhr in der Hand, saß vor mir. ›Sie waren ziemlich lange bewußtlos‹, sagte er.

Ich starrte ihn an.

›Ich bin der Arzt des Ortes‹, setzte er leise hinzu.

Ich sah um mich wie im Traum. Draußen strahlte der Saal in vollem Lichterglanz; aber es war alles still, ganz still.

Er merkte, daß ich mich nicht zurechtfand, und nahm meine Frage vorweg. ›Die Gesellschaft hat sich bereits nach der Stadt begeben. Der Dame, mit der Sie getanzt haben, ist ein schwerer Unfall zugestoßen.‹

Ich wollte aufspringen; aber meine Glieder waren erstarrt, und das Herz lag mir wie Eis in der Brust.

Er faßte meinen Arm. ›Sie kommen zu spät. Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen soll – – Die Dame ist –‹

›Tot‹, sagte ich; denn ich wußte es längst.

›Eine plötzliche Herzlähmung –‹

›Eine plötzliche Herzlähmung‹, wiederholte ich dumpf und erhob mich.

Er trat mir in den Weg. ›Fassen Sie sich, mein Herr. Sie können sich ja keine Schuld beimessen; es war ein beklagenswerter Zufall. Wie ich höre, haben Sie vor, abzureisen; tun Sie es, ohne zu zögern. Ersparen Sie sich und andern –‹

Ich verstand ihn. ›Ich werde reisen‹, sagte ich und wandte mich, um zu gehen.

Er zuckte wie ratlos die Achseln und hielt mich nicht länger zurück. Draußen im Saal lag eine weiße Rose auf dem Estrich; ich nahm sie auf, ohne etwas dabei zu denken, aber ich wußte, daß sie von Marianne war. Dann schritt ich hinaus in die Nacht. Der Mond war aufgegangen; über Busch und Wiesen schimmerten feine Nebel; die Gebäude auf dem Kahlen- und Leopoldsberge waren wie taghell beleuchtet. Ich schritt immer weiter, ohne zu wissen wohin, die Rose in der Hand. Der Pfad führte mich [106] an Gärten und dichten Weinpflanzungen vorüber; nach und nach wurde er steiler, und endlich hatte ich ein freies Plateau erreicht, das eine weite Fernsicht über einen Teil des Marchfeldes, über die Auen der Donau und das Häusermeer der Stadt eröffnete. Dort hielt ich an, setzte mich unter einen Baum und blickte, die Brust noch immer leer und stumm, hinaus in die schweigende Unendlichkeit. Unten zog der glitzernde Strom mit leisem Rauschen durch die Nacht; von der Stadt her glänzten und flimmerten unzählige Lichter. Eine Grille zirpte in meiner Nähe; von Zeit zu Zeit schoß am Himmel eine Sternschnuppe vorüber. Die Stunden verrannen; ich merkte es nicht. Der Mond ging unter; die Lichter erloschen allmählich, und eine fahle, trübe Dämmerung hüllte alles ein. Plötzlich ward ich durch einen Schrei aufgeschreckt, den ich selbst ausgestoßen; das volle Bewußtsein des Geschehenen hatte mich angefallen. In wildem Schmerz eilte ich den Abhang hinunter und der Stadt zu. Eine Stunde später fuhr ich hinter der brausenden Lokomotive durch graue Morgennebel ins Land hinein. –

Ich bin zu Ende. Du siehst, das Verhängnis hat uns erreicht. Wie ich das meine tragen werde, weiß ich nicht. Leb' wohl! Leb' wohl!

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 1. Teil. Marianne. Marianne. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AD66-A