II.
»Es war zu Anfang meiner zivilärztlichen Praxis. Ich hatte mich in einem kleinen, aber nicht ganz unansehnlichen Städtchen niedergelassen, das außerdem nicht allzuweit von meiner Vaterstadt Olmütz entfernt lag. Dort lebte ein Mädchen, das ich zu ehelichen gedachte; deshalb hatte ich mich auch vom Militärdienst, zu dem ich als Zögling des ehemaligen Josephinums verpflichtet gewesen, nach dem letzten Kriege loszumachen gewußt. Die Sache zog sich jedoch anderer Umstände halber in die Länge und fand durch den unvermuteten frühen Tod meiner Verlobten ein trauriges Ende. Damals aber lebte ich noch in schönen Hoffnungen, nebenher die Leiden und Freuden eines Landarztes kennenlernend.
Eigentümlich war es mir stets erschienen, daß der Sonntag auch für den Arzt zu einer Art von Ruhetag wird. Es ist, als wollten selbst die Krankheiten feiern, denn ich habe gefunden, daß die wenigsten gerade an einem Sonntag ausbrechen oder tödlichen Ausgang nehmen. Aber ich lasse das dahingestellt sein und sage nur, daß ich an Sonntagen nur selten neue Patienten bekam. Das war mir natürlich sehr angenehm. Nicht bloß der nötigen Erholung wegen, sondern vielmehr deshalb, weil mir diese Pausen wissenschaftliche Lektüre ermöglichten, zu der ich sonst, oft weit in der Umgegend hin und her fahrend, kaum gelangen konnte. Ich verbrachte also meine Sonntagnachmittage [91] immer zu Hause; des Sommers in meinem kleinen schattigen Garten, des Winters in der traulichen, wohlgeheizten Stube.
So erfreute ich mich auch einmal – es war im Dezember, und der Schnee fiel draußen in dichten Flocken – der lieben Ruhe. Ich hatte mir einen guten Jausenkaffee bereiten lassen, die lange Pfeife angebrannt und mich in den Lichtkreis der frühen Lampe gesetzt. Mir war sehr behaglich zumut, und mit wahrer Wonne vertiefte ich mich in eine erst vor kurzem erschienene neue Monographie Hyrtls, die aufgeschlagen vor mir auf dem Tische lag. Die Stunden vergingen, und die Zeit des Abendessens, das ich in einem nahen Gasthause einzunehmen pflegte, rückte heran. Plötzlich vernahm ich, wie ein schwerfälliger Schlitten – ich erkannte das an dem Geläut' – in die Seitengasse einbog, in der ich wohnte. Sollte das mir gelten? dachte ich unwillkürlich. Richtig: der Schlitten hielt unter meinen Fenstern. Und schon kam auch die Frau, die für meine Bedienung sorgte, die Treppe hinan und in das Zimmer geeilt. ›Machen Sie sich nur gleich fertig, Herr Doktor! Sie müssen nach Habrovan fahren.‹
›Nach Habrovan? Zu wem denn?‹
›Zum Brauer. Das Kind ist schwer krank.‹
›Gibt's denn dort eines?‹
›Na freilich. Im August hat's die Frau geboren.‹
›Davon wußt' ich gar nichts.‹
›Wie hätten Sie's auch wissen sollen? Sie waren ja damals noch nicht bei uns. Übrigens hat man auch bloß die Hebamme geholt. Zum Glück ist alles gut gegangen. Denn der Brauer ließe seine Frau lieber sterben, als daß er sie so von einem Arzt –‹
Das stimmte nun freilich zu dem, was ich über den Mann schon gehört. Er stand in dem Ruf eines Sonderlings, der sein schönes Weib gleich einer Gefangenen halte. Früher in einer ansehnlichen Brünner Brauerei bedienstet, hatte er vor zwei oder drei Jahren das kleine zum Teil schon verfallene Habrovaner Bräuhaus samt einigen Grundstücken von der Gutsverwaltung [92] gepachtet. Das Geschäft betrieb er, so hieß es, nur lässig, und zwar mit Hilfe eines bejahrten Küfers und eines verheirateten Knechtes, die er beide mit dem fundus instructus übernommen. Im übrigen behalf er sich mit Tagelöhnern, die er jeweilig dingte.
Ich hatte mich schon darangemacht, meine Handapotheke instand zu setzen. Nun zog ich Schneestiefel an und warf den Fahrpelz um die Schultern; den Fußsack ließ ich mir von der Frau nachtragen. So ausgerüstet, bestieg ich das höchst primitive Gefährt, dessen Kutscher, die Kapuze seiner schadhaften Halina über den Kopf gezogen, den vorgespannten Gaul antrieb, indem er ihm mit dem Leitseil auf den Rücken schlug. Die Fahrt durch das weitläufige Städtchen ging ziemlich glatt. Als wir aber ins freie Feld gelangt waren, wo uns ein scharfer Nordwest anfiel, befürchtete ich Schlimmes. Denn die Gegend ist dort flach und nach allen Seiten hin offen, daher auch die Landstraße starken Verwehungen ausgesetzt. Wirklich gab es bald genug Schwierigkeiten; das bereits von der Herfahrt ermüdete Pferd hatte an mancher Straßeneinsenkung alle Mühe, den wuchtigen und nicht einmal beschlagenen Schlitten durch die angehäuften Schneemassen zu bringen.
Endlich ging es nicht mehr vorwärts. Wir mußten an einer besonders getieften Stelle abspringen und nachschieben. Als sich das, nicht allzuweit mehr vom Ziele, wiederholen wollte, verlor ich die Geduld. Ich ließ den Pelz im Schlitten zurück und machte mich auf die Stiefel. Bei jedem Schritt fast bis an die Knie einsinkend, erreichte ich schließlich, trotz der Bärenkälte in Schweiß gebadet, den bereits nachtschlafenden Ort und schlug den Weg nach dem Brauhause ein, das sich, ganz einsam gelegen, dunkelschwarz von der weißen Fläche abhob. Kein Licht war zu erblicken; nur ein Teil des Daches zeigte sich vorn Hof aus, wo ein etwas höheres Wohnhaus aufragte, leicht beschimmert. Ich pochte an das verschlossene Tor. Ein wütendes Hundegebell erhob sich, aber es kam niemand. Endlich nahten schlurfende Tritte, der Schlüssel wurde gedreht und eine dünne, [93] meckernde Stimme fragte durch die Torspalte, wer draußen sei. Ich hatte Mühe, mich in meiner Eigenschaft erkennbar zu machen. Dann wurde ich eingelassen und befand mich einem hageren, greisenhaften Menschen gegenüber, der, soviel ich bei zweifelhaftem Licht wahrnehmen konnte, in einer schmutzigen Flanelljacke steckte und den Kopf mit einer Pudelmütze verwahrt hatte. Er führte mich durch den Hof, wo allerlei Braugerät wüst durcheinanderlag, nach dem Wohnhause. Eine kurze Treppe hinan – und ich stand in der Schlafstube des Brauers. Als mir dieser, den ich niemals vor Augen gehabt, jetzt entgegentrat, blickte ich ihn erstaunt an. Eine Kolossalgestalt, die fast bis zur Decke reichte. Der Bauch weit vorspringend, der feiste Rücken gewölbt. Einen so dicht an den Rumpf gewachsenen Kopf hatte ich noch nicht gesehen; dem Manne schien der Hals vollständig zu fehlen. Dazu eine niedere, unter wirrem Kraushaar nahezu verschwindende Stirn, eine unförmliche Nase, wulstige Lippen – und doch war dieses Gesicht nicht eigentlich häßlich oder brutal zu nennen. Es lag vielmehr ein Zug von Weichheit und Seelengüte darin. Auch klang die Stimme des Brauers, der jetzt einige begrüßende Worte sprach, um so sanfter, als ich eigentlich das Gebrüll eines Stieres zu vernehmen erwartet hatte. Erst nachdem er beiseite getreten war, konnte ich den Stubenraum überblicken. Und da gewahrte ich bei den ehelichen Betten die Wiege mit dem Kind; davor, in ein Knie gesunken, die Mutter. Ich will sie Ihnen nicht beschreiben und sage bloß: ein wahres Madonnengesicht, das, von einem Kopftuch umrahmt, mit großen Augen angstvoll nach mir hinsah. Ich trat rasch heran und warf einen forschenden Blick auf das kleine Geschöpf, das mit geschlossenen Lidern und zyanotisch gefärbt in den Wiegekissen lag. ›Mein Gott!‹ rief ich erschrocken aus, ›das Kind muß ja schon längere Zeit krank sein!‹
Die Frau schwieg. Der Mann aber zuckte trotz sichtlicher Verstörtheit die Achseln und sagte: ›Nun ja, es hat ein paar Tage gehustet.‹
[94] Ich hatte mich schon an die nähere Untersuchung gemacht und erkannte eine hochgradige Bronchitis.
›Gewiß hat es gehustet‹, sagte ich. ›jetzt aber hustet es nicht mehr – und schwebt zwischen Leben und Tod!‹
Die Frau schluchzte auf. Er aber erwiderte, meinem vorwurfsvollen Blick ausweichend: ›Das haben wir nicht vorausgesehen, sonst hätten wir ja schon früher –‹
›Das hätten Sie unter allen Umständen müssen!‹ fiel ich ein und war im Begriff, eine heftige Standrede zu halten. Aber ich verschluckte meinen Unwillen; ich wußte ja aus Erfahrung, daß man sich auf dem Lande meistens erst in zwölfter Stunde entschließt, nach dem Arzt zu schicken. Auch galt es vor allem, Hilfe zu leisten, denn die Atmung war schon aufs äußerste gehemmt, der Puls kaum mehr zu fühlen. Ich entnahm also meiner Handapotheke etwas Belebendes, das auch Wirkung tat. Das Kind schlug die Augen auf und begann leise zu wimmern. Hierauf flößte ich mit Hilfe der Mutter das kräftigste Expektorans ein, das ich in diesem Falle zu reichen vermochte.
›So‹, sagte ich. ›Das muß in einer halben Stunde wiederholt werden. Die Wirkung der ersten Dosis will ich hier noch abwarten.‹ Dabei sah ich mich unwillkürlich nach einem Sitz um, denn ich fühlte mich nach der zwar nicht langen, aber höchst anstrengenden Fußwanderung ganz erschöpft.
Der Brauer bemerkte es. ›Möchten Sie sich's nicht im andern Zimmer bequem machen, Herr Doktor?‹ fragte er. ›Und wenn Ihnen vielleicht ein Nachtessen gefällig wäre –‹
›Nun, das verschmäh' ich nicht. Ich bin in der Tat hungrig – und auch durstig. Aber keine Umstände, wenn ich bitten darf. Ein Trunk Bier, ein Stück Brot mit Butter oder Käse genügen mir vollständig.‹
›Ach, es ist ja Selchfleisch im Hause‹, nahm jetzt die Frau das Wort. ›Auch Eier können Sie haben –‹
›Geht hinunter, Okac‹, wandte sich der Brauer an den Alten, der mir das Tor geöffnet hatte und, wie ich erst jetzt bemerkte, [95] mit abgelegter Pudelmütze in einer Ecke des Zimmers stand. ›Franzka soll hergeben, was da ist. Und holt einen Krug Bier aus dem Keller – vom guten Lager. Ich will den Herrn Doktor einstweilen hinüberführen.‹
›Wo ist denn das Zimmer?‹ fragte ich, da ich keine Seitentür bemerkte.
›Gleich da drüben – keine zwei Schritte weit. Sie können jeden Augenblick wieder hier sein.‹
Ich beugte mich noch einmal über das Kind, das eine bessere Färbung zu zeigen schien; auch hatte sich der Puls ein wenig gehoben. ›Nun also‹, sagte ich zur Frau, ›verzweifeln Sie nicht. Ich werde bald wieder nachsehen. Sollten Sie sich inzwischen ängstigen, so rufen Sie mich.‹ Hierauf folgte ich ihrem Manne über das schmale Vorhaus in ein geräumiges Gemach, das durch eine Hängelampe erhellt war. ›Dort können Sie Platz nehmen‹, sagte der Brauer, auf einen mit Leder bezogenen Diwan weisend. ›Mein Küfer wird gleich alles heraufbringen. Und später werde ich mir erlauben, Ihnen Gesellschaft zu leisten.‹ Damit ging er und ließ mich allein.
Ich blickte umher. Es war offenbar die Prunkstube, in der ich mich befand. Wohl auch das Arbeitszimmer des Brauers. Denn in der Nähe des Fensters stand ein Pult mit Regal, auf dem Rechnungsbücher lagen. An den Wänden hingen einige Ölfarbendrucke in dürftigen Goldrahmen. Auch ein verblaßtes Daguerreotyp, den Brauer und seine Frau als Brautpaar vorstellend, war zu erblicken. Dem Diwan gegenüber gleißte ein Glasschrank mit allerlei Schaugeschirr und buntem Krimskrams, wie man ihn bei festlichen Anlässen geschenkt erhält. In einem großen Kachelofen glosteten noch Überreste der letzten Feuerung.
Ich hatte mich noch nicht lange gesetzt, als auch schon der Küfer auf Filzsohlen hereinschlurfte und den Tisch zu decken begann. Erst jetzt konnte ich ihn näher betrachten. Ein widerlicher alter Gesell mit einem Bocksgesicht, das durch einen ergrauten Spitzbart noch mehr in die Länge gezogen ward und [96] ganz zu der meckernden Stimme paßte, die ich am Tor vernommen. Nachdem er Speise und Trank vor mich hingestellt, fragte er, ohne mich anzusehen: ›Soll ich Holz nachlegen?‹
›Nun, wenn Sie wollen. Es ist nicht gerade übermäßig warm.‹
Er näherte sich dem Ofen und schob einige von den bereitliegenden trockenen Scheiten hinein, die alsbald laut aufprasselten. Dann blieb er noch eine Weile stehen und rieb die Handflächen lauernd aneinander. ›Und wie ist's mit dem Kinde, Herr Doktor‹, fragte er plötzlich. ›Wird es aufkommen?‹
›Ich hoffe‹, antwortete ich kurz.
Seine Stirnhaut schnellte empor, so daß ein Büschel weißgesprenkelter Haare, das darüber stand, in Bewegung geriet. Und mit einem sonderbaren Aufhüpfen verschwand er aus dem Zimmer.
Ich nahm mir nicht Zeit, über den Kerl nachzudenken; das Rauchfleisch, das er gebracht, duftete gar zu einladend. Es mundete auch vortrefflich, weit besser als der dünne Gerstensaft, von dem ich, um meinen brennenden Durst zu löschen, fürs erste ein Glas hinuntergestürzt.
Ich war eben daran, mein rasches Mahl zu beenden, als der Brauer eintrat. ›Wohl bekomm's, Herr Doktor! Lassen Sie sich nicht stören.‹
›Ich bin fertig‹, entgegnete ich, den Teller von mir schiebend.
›Dann ist Ihnen wohl eine Zigarre gefällig. Ich selbst bin zwar kein Raucher, aber da ist ein kleiner Vorrat –‹
›Ich danke‹, sagte ich und nahm einen von den trockenen Glimmstengeln. ›Aber ich will doch noch früher drüben nachsehen –‹
›Wie Sie wollen. Notwendig, glaub' ich, ist es nicht. Die Frau hat ihm grade die Medizin gegeben. Sie können schon noch eine Weile mit mir sitzen bleiben. Und ich bitte Sie darum, denn ich möchte Ihnen ein Bekenntnis ablegen.‹
›Ein Bekenntnis?‹
›Ja, eine Beichte.‹
›Was werde ich da vernehmen?‹ fragte ich, befremdet durch den ernsten, zitternden Ton seiner Stimme.
[97] ›Nichts Gutes. Vor allem sollen Sie wissen, daß meine Frau schon vor zwei Tagen nach Ihnen schicken wollte. Aber ich hab' es verhindert.‹
Ich legte die Zigarre, die ich mir eben anzünden wollte, beiseite. ›Und warum haben Sie das getan?‹
›Weil ich wollte, daß das Kind stirbt.‹
Ich fuhr mit halbem Leibe empor.
›Bleiben Sie ruhig, Herr Doktor. Ich habe gesagt, daß ich eine Beichte ablegen will. Sie brauchen mich ja nicht zu absolvieren. Sie können die Anzeige machen. Dann soll mit mir geschehen, was da will. So kann ich ohnehin nicht mehr leben.‹
Er saß jetzt wie gebrochen mir gegenüber; sein groteskes Gesicht hatte einen unsagbar schmerzlichen Ausdruck angenommen. Ich wurde unwillkürlich ergriffen.
›Und warum wollten Sie, daß das Kind stirbt?‹ fragte ich nach einer Pause.
›Weil ich glaube, daß es nicht meines ist.‹
›Haben Sie Grund zu dieser Annahme?‹
›Wir sind nun an die acht Jahre verheiratet – und meine Frau hatte früher nie –‹
›Das beweist gar nichts. Der Kindersegen kann sich auch spät einstellen. Ich kenne ein Ehepaar, das sich sehr jung vermählt hatte – und erst nach achtzehn Jahren – –‹
›Das ist wohl möglich. Aber das Kind konnte doch von einem andern Vater – –‹
›Allerdings. Schon dem alten Spruche nach, daß der Vater immer ungewiß ist. Zum Glück ist nicht jeder Ehemann so mißtrauisch wie Sie. Aber trotzdem! Auf das allein hin können Sie einen so schwerwiegenden Zweifel nicht hegen. Sie müssen doch noch andere Anhaltspunkte – –‹
›Die hab' ich auch. Im vorigen Spätherbst hatte ich wieder einmal gebraut. Und da trafen wie gewöhnlich zwei Aufseher von der Finanzwache hier ein. Bisher waren es [98] immer ältere, gesetzte Männer gewesen; diesmal war ein junger dabei, der es offenbar auf meine Frau abgesehen hatte.‹
›Hat er näher mit ihr verkehrt?‹
›Das konnte er nicht. Die Leute waren in der Brauerei untergebracht. Das Essen ließ ich ihnen im Wirtshaus reichen. Und meine Frau hab' ich nicht aus den Augen gelassen.‹
›Und dennoch glauben Sie –?‹
›Aber ich mußte mich in einer wichtigen Angelegenheit von hier wegbegeben. Ich konnte es nicht gut aufschieben, denn es handelte sich um eine gerichtliche Vorladung. Zudem sollten die Aufseher, da der Sud vollbracht war, schon am nächsten Morgen von hier abgehen. So entschloß ich mich dazu, wenn auch mit schwerem Herzen.‹
›Wie lange waren Sie fort?‹
›Kaum vierundzwanzig Stunden. Und dem Küfer hatte ich den Auftrag gegeben, meine Frau zu überwachen.‹
›Dem Küfer? Diesem Alten da?‹
›Er ist ein verläßlicher Mann und mir sehr ergeben.‹
›Und trotzdem!? Aber wie konnten Sie nur Ihrer Frau zutrauen, daß sie während Ihrer kurzen Abwesenheit – –? Hatte sie Ihnen denn schon Anlaß gegeben zu einer so schmählichen Voraussetzung?‹
›Nein – eigentlichen Anlaß nicht‹, erwiderte er tonlos.
›Also bloße Vermutungen? Fühlen Sie denn nicht, wie sehr Sie dadurch Ihre Frau – und sich selbst entwürdigen?‹
Er blickte vor sich hin. ›Ja, das sag' ich mir oft selbst und mache mir schwere Vorwürfe. Doch es ist stärker als ich. Ich kann den Gedanken nicht losbringen –‹
›Das grenzt an Wahnsinn.‹
›Mag sein. Aber ich habe seit jeher die Empfindung gehabt, daß, wenn es auf sie ankäme – –. O, Sie wissen nicht, was ich gelitten. Deshalb konnt' ich auch in Brünn nicht länger bleiben, wo es so viele Leute gibt – Fabrikanten, Offiziere, Beamte, die schönen Weibern nachstellen. Ich hätte dort noch [99] einen Mord begangen!‹ Er ballte die Fäuste, die Adern an seinen Schläfen schwollen an; er keuchte.
Ich betrachtete ihn schweigend. ›Sie sind eben von krankhafter Eifersucht besessen‹, sagte ich endlich.
›Das waren auch immer ihre Worte, wenn ich ihr vorwarf, daß sie nach diesem oder jenem hingeblickt. Und sie hatte nichts dagegen, als ich den Entschluß faßte, aufs Land zu ziehen. Ich würde dort weniger Anlaß finden, sie zu quälen, meinte sie. Und so war es auch. In der Abgeschiedenheit begann ich aufzuatmen. Ich wurde ruhiger und bat ihr oft auf den Knien ab, was ich ihr früher in meiner beständigen Aufregung angetan. Auch sie schien sehr zufrieden zu sein. Der Obst- und Gemüsegarten, die Wiesen und Felder beschäftigten sie und machten ihr Freude. Ich fühlte mich schon so glücklich! Da kam das Kind.‹
›Nun wieder das Kind! Dieser fixen Idee müssen Sie um jeden Preis Herr werden. Denn nach allem, was ich da vernommen, sage ich Ihnen: Sie tun Ihrer Frau schweres Unrecht. Das Kind ist das Ihre.‹
Der Ton innerster Überzeugung, mit dem ich das gesprochen, schien ihn mächtig ergriffen, schien den qualvollen Verdacht in seiner Seele überwältigt zu haben. Sein Antlitz hellte sich auf, seine Brust dehnte sich wie befreit. Doch das dauerte nur einen Augenblick. Gleich darauf fiel er wieder in sich selbst zurück. ›Aber es hat keinen Zug von mir!‹ rief er aus.
›Das ist wahr. Es sieht jetzt seiner Mutter ähnlich. Aber das verschlägt nichts. Die körperlichen Entwicklungsstadien eines Kindes sind immer mit Veränderungen verbunden. Die Kleine kann noch ganz nach Ihnen geraten. jedenfalls aber dürften im Laufe der Zeit ganz untrügliche Wahrzeichen zutage treten, die Ihnen dann jeden Zweifel benehmen werden.‹
›Und wie lange kann das dauern?‹ fragte er angstvoll.
›Je nach Umständen. Es kann sehr bald geschehen – in Wochen, in Monaten, allerdings auch erst in einigen Jahren.‹
[100] ›In einigen Jahren!‹ rief er verzweifelt. ›So lange soll ich die Ungewißheit ertragen? Das ist mir nicht möglich!‹
›Aber was wollen Sie denn tun?‹
Er ließ das Haupt sinken. ›Das weiß ich nicht‹, versetzte er dumpf.
In diesem Augenblick steckte der Küfer den Kopf zur Tür herein, um mich zu rufen. Das Kind habe einen plötzlichen Hustenanfall bekommen. Ich eilte, von dem Brauer gefolgt, hinüber.
Der Anfall war ein konvulsivisch heftiger, aber er zeigte sich auch von der erhofften Wirkung des Medikaments begleitet; es erfolgte eine Lösung, die reichlich vor sich ging.
Ich konnte daher die Hauptgefahr als gehoben betrachten und an den Heimweg denken; denn es war schon spät, und am Morgen harrten meiner die Kranken im Städtchen. Ich fragte nach dem Schlitten. Der sei vor einer Stunde heimgekehrt, hieß es. Der Brauer befahl, ein frisches Pferd vorzuspannen. Bis dies geschehen war, beschäftigte ich mich noch mit dem Kinde. Beim Fortgehen sagte ich zur Mutter: ›Haben Sie keine Sorge mehr, es wird gesund werden. Von der Medizin geben Sie ihm jetzt jede Stunde einen kleinen Löffel voll. Morgen vormittag komme ich mit eigener Gelegenheit wieder, um nachzusehen. Auch bei Ihnen‹, wandte ich mich an den Brauer, ›denn Sie brauchen gleichfalls einen Arzt.‹ Ich betonte die letzten Worte sehr nachdrücklich, der Frau wegen, die als schweigende Dulderin, die sie zu sein schien, mein Mitleid erregte.
Der Schlitten war bereit, und der Brauer begleitete mich vors Tor. ›Also auf morgen! Da sprechen wir weiter‹, sagte ich bedeutungsvoll.
Er erwiderte nichts und grüßte nur mit dankender Gebärde zum Abschied.
Zu schneien hatte es aufgehört. Der Mond war aus den Wolken getreten und warf blendenden Schimmer auf die weiße Fläche. Das Pferd zog kräftig an, und so ging die Rückfahrt [101] besser vonstatten. Gleichwohl schlug die Turmuhr des Städtchens bei meiner Ankunft die zweite Stunde nach Mitternacht.
Als ich am nächsten Vormittag in Habrovan erschien, fand ich das Kind in entsprechend besserem Zustande, den Brauer aber als Leiche. Er hatte sich im Gebälk des Malzbodens erhängt.«