Vierzeilen

1.
Die Rose stand im Tau,
Es waren Perlen grau.
Als Sonne sie beschienen,
Wurden sie zu Rubinen.
2.
Siehst du, hörst du im Frühlingswind
Der Eiche Winterlaub schwirren zu Grab?
Was ist es? Die jungen Triebe sind
Erwacht und stoßen die alten ab.
3.
Wenn die Wässerlein kämen zu Hauf,
Gäb' es wohl einen Fluß;
Weil jedes nimmt seinen eigenen Lauf,
Eins ohne das andre vertrocknen muß.
4.
Den Kohl, den du dir selber gebaut,
Mußt du nicht nach dem Marktpreis schätzen;
Du hast ihn mit deinem Schweiß betaut,
Die Würze läßt sich durch nichts ersetzen.
5.
Der Zweck der thätigen Menschengilde
Ist die Urbarmachung der Welt,
Ob du pflügest des Geists Gefilde
Oder bestellest das Ackerfeld.
6.
Mal' innen deine Zimmer aus,
Daß sich daran dein Aug' erquicke;
Laß außen ungeschmückt dein Haus,
Daß es nicht reize Feindesblicke.
[48] 7.
Der Verstand ist im Menschen zu Haus,
Wie der Funken im Stein;
Er schlägt nicht von sich selbst heraus,
Er will herausgeschlagen sein.
8.
Nie war mir noch so lieb ein Tag,
Stets war darauf der Abend mir willkommen,
Ob ich denn wohl nun klagen mag,
Wenn meines Lebens Abend auch will kommen?
9.
Hoffnung faßt in sich der Zukunft Ewigkeit,
Ewig hält Erinn'rung die Vergangenheit.
Und so hast du, wie die zwei dir stehn zur Seiten,
Herz, in jedem Augenblick zwei Ewigkeiten.
10.
Mag sein, daß einer
Dies that als ehrlicher Mann.
Ich wäre keiner,
Wenn ich es hätte gethan.
11.
Was du Ird'sches willst beginnen, heb' zuvor
Deine Seele im Gebet zu Gott empor.
Einen Prüfstein wirst du finden im Gebet,
Ob dein Ird'sches vor dem Göttlichen besteht.
12.
Das sind die Weisen,
Die durch Irrtum zur Wahrheit reisen.
Die bei dem Irrtum verharren,
Das sind die Narren.
13.
Vom Guten zum Bösen ist kein Sprung,
Der Übergang ist unmerklich gemacht,
Wie der Tag durch die Dämmerung
Sich verliert in die Nacht.
14.
Manch art'ges Büchlein läßt sich einmal lesen,
Zu dem der Leser nie dann wiederkehrt;
Doch was nicht zweimal lesenswert gewesen,
Das war nicht einmal lesenswert.
15.
Wenn der Prophet thut auf den Mund,
Thut er nicht lauter Weisheit kund,
[49]
Doch glückt's gläubigen Leuten,
Alles als Weisheit zu deuten.
16.
Wer Leidenschaften schildern will,
Muß drinnen sein zugleich und draußen;
In deinem Herzen sei's fein still,
Und hör' um dich den Sturmwind brausen.
17.
Um andre leichter zu ertragen,
Mußt du dir sagen,
Daß du selbst nicht zu jeder Frist
Andern leicht zu ertragen bist.
18.
Schön ist's in gelehrten Gilden
Tiefsinnig über das Schöne sprechen,
Aber schöner ist Schönes bilden
Ohne den Kopf zu zerbrechen.
19.
Wiedersehn ist ein schönes Wort,
Ist es nicht hier, so ist es dort:
Sei es nun dort oder hier,
Auf Wiedersehn scheiden wir.

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TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. Gedichte. Pantheon. Fünftes Bruchstück. Zahme Xenien. Vierzeilen. Vierzeilen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-A0D0-D