[219] Als ich den Kaiser Josef suchte.
Ich habe mich unversehens in die reiferen Jahre herauferzählt und muß jetzt jenes Erlebnis nachholen, das der junge Waldbauernbub einst gehabt und der alte nachher aus dämmernder Erinnerung wiedergegeben hat.
Heut', mein lieber Waldbauernbub, heut' magst du deine Füße in meine Schuhe stecken, aber dazumal bin ich noch selber barfuß gegangen, hab' dir nicht helfen können, und wir haben allzwei nicht gewußt, daß es eine arge Sach' ist, wenn man mit nackten Füßen den Schafen nach über Stoppelfelder laufen, über Steinhaufen klettern, über Brennesseln springen muß. Hatten denn die Schafe und die Ziegen Stiefel an? Stiefel nicht, aber Schlappschühlein wohl.
Nur nicht erst auf die Kälte warten. Wir liefen und hüpften wie die Lämmlein, bis die Sonne den Reif aufleckte, als ob er Zucker gewesen wäre. Hätten wir dazumal nur von jenen Dichtern schon was gewußt, welche aus Tautropfen Diamanten machen, wir hätten uns leicht ein warmes Gewand kaufen mögen; in mancher Morgenfrüh' hing jeder Grashalm voll von Diamanten. Aber so schön vermochten wir uns das Schäferleben nicht auszumalen, als jene poetischen Leute es können, die noch nie mit nackten Füßen in Reif und Tau gestanden haben.
Ein Höslein hattest du an, von dem ich gesehen, daß es nicht mehr ganz tadellos war, wenn deines Vaters langer Zwilchrock die zweifelhaften Stellen nicht verdeckt hätte.
[220] Deine Mütze, die – wenn die Sonne schien – mehr schadete als nützte, hättest wegtun mögen, denn sie zwängte die dichten buschigen Haare ein, die sonst dem Gesichte Schatten zu geben imstande gewesen wären. Ei, was lag dir am Schatten, du blasser Waldbauernbub, blicktest ja ganz geflissentlich in die Sonne hinein, wolltest ein gebräuntes Gesicht haben, wie der Knierutscherjakob.
Wenn man die Schafe aus dem Stalle läßt und so lange sie noch hungrig sind, laufen sie ganz gottlos über die Weide hinaus – das weißt. Jedes will das vorderste sein und den ausgiebigsten Bissen erhaschen; erst später kommen sie zur Ruhe und ist der Heißhunger gestillt, so grasen sie behaglich. –
Und das letzte, Halterbübel, gab für dich die rechte Zeit. In den Himmel magst schließlich auch nicht immer hineingucken – das macht dumm. Du steigst auf einen Steinhaufen, wärmest dir dort an den besonnten Platten die Hände, die Füße und was sonst noch zu wärmen ist, und dann – ja jetzt hebt ein anderes Kapitel an – du zerrst aus den Weiten des vielsäckigen Rockes ein Buch hervor, legst es auf dein lebendig Lesepult, die Knie, und hebst zu blättern an. –
Ja, das war derselbige Junge. Mit den Leuten ging er nicht allzugern um, sie waren meist recht roh oder bissig – mögen keinen, der nicht in allem so ist, wie sie sind. So unterhielt er sich mit solchen, die oft weit, weit von ihm waren, vielleicht in prächtigen Palästen, vielleicht längst vermodert. Mit solchen ging der barfüßige Waldbauernbub um und mit solchen saß er auf dem Steinhaufen. Sie waren nicht die dümmsten, sie wußten über alles zu sprechen, von allem zu erzählen, bei allem zu raten, waren oft recht spaßhaft noch dabei. Die ganze Welt ist nicht voll Stoppelfelder und Steinhaufen und alle Leute gehen nicht barfuß.
[221] Meere und Schiffe, Urwälder und Städte gibt es, wundervolle Kunstwerke und allerlei Unglaubliches. – Wenn der kleine Bursche des Nachts in seiner Strohkammer schlief, so träumte er davon.
Jetzt auf dem Steinhaufen, da las sich's besonders von der Wienerstadt gut. Vom Stefansturm, von der Türkenbelagerung, vom Volkssänger Augustin, vom Kaiserhaus, vom Kaiser Josef, der unter das Volk gegangen war, um dessen Leiden und Wünsche zu erfahren; der unter die Bauern gegangen war, um zu sehen, wie sich so ein Pflug angreift. – So lieb gewannst du den guten Kaiser Josef, daß du das Buch an die Wange drücktest, weil der Kaiser Josef selber nicht da war. Bilder waren im Buche und es schien die Sonne drauf; aber du wendest dein Auge drüber hinaus. Dort hinter dem blauen Wechsel liegt die Wienerstadt. –
Wenn der Kaiser zu den Bauern gegangen ist, warum sollte der Waldbauernbub nicht zum Kaiser gehen? In einem oder zwei Tagen wäre er dort – wäre in Wien, ginge ins Kaiserhaus, auf den Stefansturm, ginge zum Donaustrom, wo Schiffe fahren, sähe alles. Spräche dann mit den Wienern, fragte, wie es ihnen gehe, wie sie's trieben, gäbe sich als den Waldbauernbuben aus Alpel zu erkennen, welcher ihre Bücher lese – und schlösse etwa Freundschaft mit ihnen.
Und da ist – du armer kleiner Bursche – ein Sehnen und eine Unruhe in dich gekommen, daß du gar nicht mehr zu lesen vermochtest im Buche, gar nicht mehr zu hocken auf dem Steinhaufen. Mit den langen Ärmeln, die weit über die Finger hinausgingen, hubst du an zu fächeln, jagtest die Schafe heimwärts, liesest zu deiner Mutter.
»Mutter, ich möcht' so viel gern nach Wien gehen.«
»Wirst schon hinkommen, wenn du einmal Soldat bist.«
[222] »Nein, heute. Und ich erzähl' dem Kaiser, wie es uns geht, und daß er auch einmal ins Alpel kommen möcht'.«
»Du Närrisch, was fällt dir denn ein?« rief die Mutter, »wer tät' denn die Schaf' halten und wo nähmst du das Gewand und das Geld her? Wirst jetzt auf Wien gehen!«
»Die Schaf' tät' ich schon in die Hald' (eingezäunte Weide) sperren. Den Rock liehe mir der Knierutscherjakob, die Hosen hab' ich selber und das Geld hab' ich auch selber & #x2014 weil ich ja vorgestern mein Lampel verkauft hab'.«
Darauf die Mutter: »Du bist gar so viel trotz (kühn), Bub! Aushalten wollt' ich dich nicht; man weiß ja alleweil nicht, wie man mit dir dran ist. Man versteht's nicht. Meinetweg' kannst schon gehen, gleichwohl ich mich genug werde grimmen (sorgen) müssen um dich. Frag' den Vater.«
Der Vater aber sagte: »Du Halbnarr!«
Hub das Waldbauernbüblein an zu murren & #x2014 es könne nicht allfort schafhalten, es wolle ihm keine Ruh' geben, es müsse Wien sehen; nachher möchte es schon wieder daheim bleiben und brav arbeiten.
»Was tät' denn das nutzen?« rief der Vater unwirsch, »möcht' wissen, was du z' Wien zu tun hättest! Willst zum Kaiser um Geld, so geh'! Glaub' nicht, daß er dir eins gibt, ehvor tragst du eins ins Wien. Und nicht einmal eine Wallfahrt kunntst dabei verrichten.«
»Eine Wallfahrt kunnt er just wohl dabei verrichten,« redete die Mutter drein. »Nicht weit von Wien ist ja Mariaschutz, da soll er ein Gebitt machen, daß doch die Saukrankheit einmal aufhören möcht'. Heut' hat mir die Alte auch schon brennheiße Ohrwaschel.«
»Das ist schon wieder ganz was anders,« sagte der Vater, »wenn er eine Kirchfahrt will verrichten und sein eigen Lampelgeld dabei brauchen – ich geb' keinen Groschen & #x2014 [223] so mag er meinetwegen schon gehen. Aber Bub, daß du mir übermorgen wieder daheim bist, sonst kunnt ich dir für nichts gutstehen.«
Die Bewilligung in aller Form.
Und jetzt war's eine Freude! In zwei Stunden war alles fertig. Die Schafe staken in der Halde und der Hirt in des Knierutscherjakobs Gewand. Noch während auf dem Tische Suppe und Sterz stand, auf daß er sich für die Reise satt esse, redete ihm die Mutter zu, die Nacht noch daheimzubleiben und erst am nächsten Morgen zu wandern. Vergeblich Bemühen. Der kleine Bursche packte auf und sagte: »Jetzt geh' ich.«
Und die Mutter sprach: »Hast alles?«
»Ja.«
»Geh' nicht zu geschwind und trink' nicht zu jäh', und sei schön ordentlich, wenn du unter fremde Leut' kommst.«
»Bet' fleißig,« setzte der Vater bei.
Und dann ging er & #x2014 der Hirtenbursche & #x2014 fort von seiner Elternhütte in den Waldbergen & #x2014 ging in eine große Stadt & #x2014 er ahnte nicht wohin.
An einem hellen Maitag war's, als ich von dem Berge niederhüpfte und hinausging die Waldstraße des Alpsteigs gegen das breite Mürztal. Wer nach dem Kleide frägt: ein dunkelgraues Linnenhösel hatte ich an und Kuhlederschuhe, hübsch mit eisernen Nägeln beschlagen, daß die Sohle geschützt war, und trug eine braune, grün ausgeschlagene Lodenjacke. Der Brustfleck war aus rotgefärbter Leinwand, das Hemd aus grauer; dieses hatte am Halse einen breitumgeschlagenen Kragen, der mit einem blauen, etwas wulstigen Tuche zusammengebunden war, so daß der Hals nicht [224] viel dünner aussah, als der Kopf. Auf dem Kopfe saß meines Vaters Hut, der ging mir bis über die Augen herein und tanzte stets ein weniges, so oft ich mich rasch wendete. In der einen Hand trug ich das Bündel mit dem Brote und dem Eierkuchen, den mir die Mutter mitgegeben hatte, trotz meines Sträubens; mir war es nicht recht faßlich, wie man in Wien an das Essen denken könne. In der anderen Hand trug ich den Stock, den ich das einemal fest in den Boden stieß, das anderemal lustig in den Lüften schwang, so wie es die Handwerksburschen machen, wenn sie die Welt durchwandern.
Fröhlich kam ich an Krieglach und Langenwang vorbei. Heute würdigte ich diese Orte, die sonst meine Städte gewesen waren, kaum eines Blickes. Wer nach Wien geht! – Als ich ins obere Tal kam, ging die Sonne unter und ein blauer Dunststreifen lag über den Weidenbüschen der Mürz.
Ich sprach bei einem Bauer zu, bei dem ich nicht ganz unbekannt war, weil er mit meinem Vater öfters im Viehhandel stand. – Ob ich über Nacht im Stalle schlafen dürfe?
»Habt ihr jetzt zur Anbauzeit denn nichts zu tun daheim, daß du so herumgehst?« fragte der Bauer.
»Ich geh' zum Kaiser Josef!« antwortete ich trotzig.
Sah mich an. – »Der Bub – den kenn' ich,« sagte er zu seinen Leuten, »der hat kuriose Flausen im Kopf, der ist alles imstand'. Der red't mit dem Kaiser, wie unsereiner mit dem Viertelrichter. Von dem hören wir was, wenn er nach Wien geht – werdet es schon sehen. – Na ja freilich kannst schlafen im Stall.«
Das war die erste Nacht in der Fremde. Das Heu hatte schon einen anderen Duft, als wie jenes daheim in Alpel. – Ich kannte einen Oberländer, der Soldat war und gar sehr an Heimweh litt. Er hatte aber nichts daheim, weder [225] Vater noch Mutter, noch Geschwister, noch Haus und Hof, noch einen Schatz. Er wußte lange selbst nicht, warum er sich so sehr nach seinen Bergen sehnte; endlich, als er einmal über ein ungarisches Moor ging, wo er gemähtes Gras roch, wurde es arg – wurde ihm klar, er habe das Heim weh nach dem Alpenheu. –
Am anderen Morgen – es stand noch das weiße Mondkipfel am Himmel – war ich schon auf der Straße. – Das Mondkipfel in die Milch der Milchstraße tunken & #x2014 wäre das nicht ein gutes Frühstück? –
Am Gansstein stand ich still und blickte hinan zur Felswand, die über den Tannenwald aufragt. In diesem Felsen soll ein großer Schatz verborgen sein – ein Sonntagskind könnte ihn heben. Wozu auch, hatte ich doch mein Lampelgeld in der Tasche!
In Mürzzuschlag schnalzten schon die Fuhrleute durch den Markt, und beim Fleischhauer und beim Bäcker gingen Weibsbilder mit Handkörben aus und ein. Am Eckhause saß ein Weib, das hatte Semmeln und Äpfel. Äpfel im Mai – das muß eine gute Gegend sein!
Bei Spital gab mir ein Reisender, dem ich mich angeschlossen, den Rat, daß ich fechten solle.
»Mit wem denn?« fragte ich, und als ich wußte, wie er's gemeint, antwortete ich: »Nein, das mag ich nicht. Ich hab' mein Lampelgeld.«
Endlich bin ich zum Semmering gekommen. Dort habe ich an die Eisenbahnfahrt gedacht, die ein paar Jahre früher mit meinem Oheim Jochem so kecklich unternommen worden. Ich hatte Heimweh nach dem Oheim, wäre der bei mir, es würde sicherlich wieder gefahren – so arg wir auch dazumal aufgesessen waren.
[226] Ich schritt die Höhe hinan und freute mich der Lärchenbäume, die an beiden Seiten des Weges standen und mir heimlich waren, weil solche auch in unserem Walde wuchsen. Oben, wo der große Kaiserdenkstein steht, setzte ich mich ein wenig ins Grüne und trocknete mein Angesicht. Ob sie auch dem Kaiser Josef, wenn er einmal gestorben sein wird, so ein Denkmal setzen? Da müßt' wohl auch der Pflug hinauskommen!
Hier ist die Grenze. Wie liegt das Österreicherland so tief unten! Und dort weit draußen hinter den Bergen die graue Ebene mit den kleinen weißen Punkten. Dort steht sicherlich die Wienerstadt.
Als ich jenseits hinabschritt, war die Straße recht einsam und ich hörte nichts, als manchmal einen fernen Pfiff herüber von den wilden Wänden, in denen der Eisenbahndrache seine Höhlen und Löcher gebohrt hat. In solcher Fremdheit wurde mir schier bange.
Bevor man noch in das Tal von Schottwien hinabkommt, steht rechts, abseits von der Straße, eine Kirche mit zwei Türmen – Mariaschutz. Ich ging hin, um die von meinen Eltern ausgedungene Andacht zu verrichten. Ich habe seither für mich selber kaum einmal so stark gebetet, als damals für die Säue daheim, welche uns eine böse Krankheit dahinzuraffen drohte, eine Krankheit, die etliche Tage früher bei einem der Nachbarn das ganze hoffnungsvolle Schweinevölklein unter die Erde gebracht hatte. Ich bedauerte einen solchen Verlust allerdings auch darum, weil er uns für das nächste Jahr den Weihnachts- und Osterbraten kostete, zumeist aber darum, weil ich das Leid meiner Mutter erwog, deren einziges Glück es war, uns zuweilen einen guten Bissen auf den Tisch zu bringen. Als ich der Mutter gedachte, hub ich an zu flennen, schämte [227] mich aber dann vor der lieben Frau auf dem Altare, weil sie leicht vermuten konnte, ich weine um die Säue.
Dann saß ich unter der Linde und das Herz war mir so weich geworden, daß ich sann, wie es wohl wäre, wenn ich nun wieder umkehrte?
Aber das Wien! Das Kaiserhaus und der großmächtige Herr, der es mit uns Bauersleuten so gut meint!
Ich wanderte weiter. Wanderte durch Schottwien, und zwar eiligen Schrittes, bevor von den drohenden Hängen ein Felsblock niederginge; wanderte an Gloggnitz und anderen Orten vorüber, sah merkwürdige Häuser und Schlösser mit kirchturmhohen Rauchfängen. Jetzt zog auch wieder die Eisenbahn neben der Straße hin und sie war so glatt und eben wie früher, und man sah es ihr nicht an, daß sie aus unterirdischen Wildnissen herabkam.
Hinter Gloggnitz fiel es mir ein, das Lampelgeld wäre auch nicht unvergänglich und der reisende Mensch müsse alles probieren auf der Welt. In einem Bauernhause hielt ich um Mittagsessen an und bekam Sauerkraut. Es schmeckte, ich sagte schön Vergelt's Gott, und dachte bei mir: Jetzt wenn ich nur noch einen Speckknödel hätte! Bei dem nächsten Hause hielt ich wieder um Mittagsessen an und bekam ebenfalls Sauerkraut. Es schmeckte etwas minder, aber ich sagte Vergelt's Gott und ging. Als ich hierauf in schöner Beharrlichkeit beim Nachbar das drittemal um Essen bat, fluchte mich der Hausherr zur Türe hinaus; ein »Bettelgesindel« bekam ich nachgeworfen – an dem hatte ich lange zu würgen, es sättigte mich und ich habe das Fechten nicht wieder versucht.
Ost und oft gingen Landjäger mit glänzenden Spitzhauben an mir vorbei. Weiß noch heute nicht, wie es zuging, daß mich keiner angehalten hatte; ich hätte in meiner Lodenrocktasche [228] nur ein Papier gehabt, und zwar die »Sieben Himmelsriegel, sieben kräftige Gebeter, die den, der sie an der Brust trägt, zu Wasser und zu Land von allen Gefahren behüten«. Weiß nicht, ob sie befriedigt hätten, aber, so meinte nachher, als ich die Sache zu Hause erzählte, die Muhm' Kathel: »Hättest nur die Himmelsriegel nicht bei dir gehabt, wurd'st schon gesehen haben, wie dich die Standarn angehalten und zusammengepackt hätten!«
Die Straße war heiß, die Felder ringsum waren grau vor Staub. Die Kuhlederschuhe wetzten die Fersen wund – aber das wird alles gut sein, sehe ich nur erst den Stefansturm.
Als ich zu den Häusern und Gärten kam, auf deren Ortstafel das Wort »Neunkirchen« stand, waren die Berge weit zurückgetreten und mit ihnen auch die Sonne. Die Pappeln, die an der Straße standen, warfen lange Schatten. – Herberg nehmen? Nein – ein rechter Waldbauernbub kommt vor Mitternacht leicht noch nach Wien.
Auf der schnurgeraden Straße, die über das Steinfeld führt, ging ich hin. Links die Bergkette mit den rötlichgrauen Wänden, die sich immer weiter zurückzogen; rechts die Ebene, auf die das Firmament niedergesunken war. Die Straße war still und verlassen, nur an der Bahn, die zur linken Hand mit ihren Strängen hinzog, brauste bisweilen ein Eisenbahnzug vorbei. Ach, was müssen die Leute für Geld haben, die so lustig eisenbahnfahren können! Da rutscht just einer gegen Wien hinaus. Wenn der Zugfuhrmann wüßte, wie mich der Schuh wetzt, er nähme mich mit; eines solchen Bübels wegen dürft's doch nicht um soviel schwerer gehen.
Dann kam der Föhrenwald. Die Sonne war trüb hinter den blauen Bergen niedergegangen; es hub an zu [229] dunkeln und ich sah es ordentlich, wie hinter der weiten Ebene die blaue Nacht herauskam. Leibhaftig! Daheim im Gebirge war der Tag da, oder es war die Nacht da – aber so von weitem herankommen hatte ich die Finsternis niemals gesehen!
Jetzt wird doch bald wo ein Dorf stehen oder ein Haus auf dem handebenen Boden. Nicht? Föhrenwald und Föhrenwald. Dort wird er aus, dort heben die Felder an. Ja, aber nur schmale Streifen, Heidestreifen, dann wieder Föhrenwald. Die Bäume waren klein, aber langästig, zwischen den rötlichen Stämmen sah man tief in die Dunkelheit hinein. Mein Schuhwerk war schneeweiß vor Staub, aber ich vergaß, daß es mich gedrückt hatte, ich vergaß, daß ich müde gewesen war – ich ging und ging.
Die Sterne waren ausgegangen; es waren Bekannte von daheim darunter, es war die Romstraße da. – Wenn ich in Wien gewesen bin, dann gehe ich auch einmal nach Rom und richte beim heiligen Vater einen schönen Gruß aus vom Kaiser Josef. – Wenn der grünfunkelnde Stern dort noch um eine Klafter höher steigt, so ist die Geisterstunde da. Die Geisterstunde mitten in einem großen, fremden Wald... Daheim werden sie jetzt von mir reden. – Mein, wo wird der Peterl schlafen? wird die Mutter sagen. – Oh, wird der Vater antworten, der hockt schon lang wo in einem warmen Nest. Dem, wenn er schon z' Wien ist, läßt der Kaiser ein Bettstadel aufschlagen im Dachboden...
Dieses Wien ist doch weit weg. Wenn nur noch ein Wirt auf ist, bis ich hinkomm'!
Hie und da sah ich ein Licht flimmern, bald blau, bald weiß und bald rot, aber es war kein Gespenst und es war kein Wirtshaus, es war von der Eisenbahn. – Was den [230] Stock betrifft, so hielt ich's für geraten, ihn nicht zu fest auf die Straße zu stoßen. Möglichst still hinschleichen, daß man nichts Schlimmes aufweckt!
So ging es denn fort durch die Nacht und durch den Wald und immer durch Nacht und Wald und Heide. Es war mir angst und bang.
Endlich tauchten vor mir in der Ferne kleine Lichtlein auf. Es wurden deren immer mehr und zuletzt lag ein langer Streifen von Lichtern, und über demselben ragte dort und da eine dunkle Masse empor. Nun war ich plötzlich frisch – jetzt stand ich vor Wien. Vor Wien, wie einst der Türke; aber ich ziehe ein und belagere es mitten in der Stadt. – Sie sind sicherlich noch alle auf und sitzen in ihren Häusern beisammen um den Tisch oder sie spinnen und erzählen sich Geschichten.
Ich brauchte noch eine Weile, bis ich hinkam, aber endlich schritt ich über lauter steinerne Platten, und um mich ragten die dunkeln, hohen Häuser. Auf freier Straße brannten Laternenlichter aus eisernen Kerzen hervor und sie waren so groß und breit, wie ein großer Schwalbenschwanzfalter, wenn er die Flügel ausstreckt. – Hinter gläsernen Wänden, die noch viel schöner beleuchtet waren, als daheim zu Weihnachten das Krippel in der Kirche, lagen Backwerk, Würste, Tücher und anderlei Dinge. Und da gingen Leute herum, links und rechts, auf und ab, und so oft ich an einem vorbeikam, hob ich die Krempe meines Hutes ein wenig und sagte: »Guten Abend.« Aber es hörte mich keiner; das war ein Geräusch überall, noch spät in der Nacht.
Jetzt stand ich vor einem Wirtshause, das hatte auf seiner Wand mit großen Buchstaben aufgeschrieben: »Zum goldenen Hirschen«. In das ging ich hinein und bat um Herberge.
[231] Der Wirt sah mich an, und als ob ich ihm zu groß gewesen wäre, sagte er: »Kein Platz.«
Ich stand da. Und ich verwett' was drauf, daß ich jetzt zu flennen anhub; wenigstens weiß ich, daß die Wirtin daherkam und mich dem Hausknecht überlieferte, mit dem Bedeuten, daß er mir in irgendeinem Winkel des Hauses eine Liegerstatt anweisen möge. Der Hausknecht übergab mich einer Magd. Diese wollte die Aussicht über den Jungen nicht übernehmen und führte mich zum Stallknecht.
Der Stallknecht fettete seine Peitsche ein und sagte zu mir: »Ich merk', dich schummeln sie im ganzen Haus herum.« Da brach ich in helles Gröhlen aus.
»Du Lapp!« rief er, »hier zwischen den Rössern legst dich nachher aufs Stroh – gibst halt Obacht, daß du im Schlaf dem Braunen nicht unter den Bauch kugelst, sonst bist des Mauses. – Seh', magst ein Stückel Speck?« Er aß Speck und Brot und ich war sein Gast. Dann schlief ich zwischen den stampfenden und schnaubenden Rössern.
Und am anderen Morgen, als anstatt der Stallaterne durch ein trübes Fenster der Tagesschein fiel, sah ich, wie zwischen mir und dem Braunen ein Scheidebrett ausgerichtet worden war, das mich vor Gefahr beschützt hatte.
Ich kleidete mich an und fragte meinen Herbergvater, was ich schuldig wäre fürs Dableiben.
»Geh' nur, geh',« antwortete der Stallknecht, »wirst soviel Geld nicht im Sack haben.«
Aber ich legte einen Kupferbatzen auf die Wandleiste, wo er seine Kleiderbürste, den Tabaksbeutel und das Rasierzeug hatte.
Hierauf fragte ich ihn, was er mir raten könne, daß ich in Wien zuerst anfangen solle.
»Willst nach Wien?« sagte er.
[232] Da mag ich ihn angeglotzt haben.
»Bin doch schon da!«
Es ist schrecklich, wenn so ein Stallknecht auflacht aus seiner ganzen Brust. Mir ging's durch Mark und Bein, als er lachte und mir sagte, daß ich nicht in Wien, sondern in Wiener-Neustadt wäre und daß ich noch eine starke Tagereise bis zur Kaiserstadt hätte.
Umkehren? Nein. Ich machte mich in Gottes Namen wieder auf die Wanderung. Als ich ins Freie trat, war das Straßenpflaster so glänzend, daß die Leute, die mit Regenschirmen hin und her eilten, sich fast darin spiegelten. In den Dachröhren rauschte es und von dem grauen Himmel rieselte es nieder. – Macht alles nichts; regnet es, so ist's kühl zu wandern.
Noch einen Blick auf die zwei Türme, die hoch oben durch eine Brücke verbunden waren – des weiteren hatte diese Stadt, die nicht Wien war, für mich keinen Wert.
Hinaus ging's auf schlammiger Straße in den trüben Tag.
Ich kam zu einem Laubwald, in welchem ein zerstreutes Dorf lag – Theresienfeld. – Kommt der Name von Maria Theresia, der Mutter des Kaisers? – Wie immer, ich nahm hier mein Frühstück, eine Schale Rindssuppe. Die gab neuen Mut. Dann ging's wieder fort und fort.
Was doch des Vaters Hut wert ist – und schon gar in der Fremde! Wie auch der Regen rieselte, der kleine Knirps unter den breiten Krempen blieb trocken weit hinab, und hätten die Füßlein nicht immer nach vor- und rückwärts schlagen müssen, sie wären auch noch geborgen gewesen. Aber schwer wurde dieser Hut und noch tiefer sank er über die Augen herab.
Ein Kälberwagen knarrte daher; den Fuhrmann bat[233] ich um Unterstand, da hob er mich unter das Gedache zu den armen, gebundenen Tieren hinaus. – Kälber, kommt ihr etwa auch aus Steiermark? und fahrt nach Wien? Ihr wäret besser daheim geblieben auf den Weiden, für euch ist die Kaiserstadt kein guter Platz. Der Gedanke wurde mir so unheimlich, daß ich wieder auf die Straße sprang und in Regen und Schlamm weiter watete.
Wie waren in dieser Gegend die Wolken träge und schwer, sie lagen ganz auf dem Erdboden! Ich zählte die Straßen- und Meilensteine, las die Tafeln und Wegweiser und immer öfter und öfter zeigte sich der Name »Wien«. Darum wurde ich an diesem Tage weder hungrig noch durstig noch müde. An Dörfern, Märkten und Städten muß ich vorbeigezogen sein, ohne sie vor Regen und Nebel gesehen zu haben. Endlich zur Nachmittagszeit erhob sich ein Luftzug, der zerstreute die regnenden Nebel; sie schoben sich in dichten Ballen an den fernen Bergen zusammen, sie lagen in langen Streifen auf der weiten Ebene und der Himmel wurde blau.
Aber die Gegend war öde. Dort in der Weite gab es noch manchen Turm, manchen Schlot, manches Schloß, manche Ruine. Aber in der Nähe nichts, als gelblich-rote Erde und Ziegelbrennereien. Kaum ein Baum, ein Strauch; nur die traurige Heide. Ich hätte nicht geglaubt, daß das ebene Land, welches mir stets als eine schöne, fruchtbare Gegend vorgeschwebt hatte, so ödweilig sein könne. Und die große Stadt, sollte sie denn nicht zu finden sein? Hier war ja fast die Spur verloren. – Nur rüstig weiter. Die sehr breite und mit vielen schweren Fuhrwerken belebte Straße ging etwas bergwärts, einer sanften Höhung zu, auf der eine Säule stand. Als ich näher kam, wuchs die Säule und zeigte allerlei Zacken und Statuen. Und hinter derselben aus der Talung huben seltsame Dinge an aufzutauchen. [234] Zuerst ein Turm, dann ein zweiter, dann Dächer, dunkle Gründe, dann eine Kuppel um die andere, dann Türme und Türme, Zacken und Spitzen, so weit das Auge reichte, ein dunkelgraues Meer, inmitten aufragend hoch eine schwarze, schlanke Nadel.
Nun – das war Wien, das war's! – – War zwar anders zu sehen, als ich mir gedacht hatte. – Weiße Häuser, frische Gärten vor denselben, schöne Schlösser mit goldenen und silbernen Zinnen, Kirchtürme, einer nach dem anderen mit zinnoberroten Zwiebel köpfen – das war mein Wien gewesen. Hier aber die verworrene, unabsehbare Masse von schwarzen Flächen, Giebeln, Würfeln, Schiefecken, tausendfältig ineinander verklemmt, verschoben und dazwischen finster ragende Massen, dort und da ein Knopf, eine Scheibe funkelnd. Und über all dem ein mattblauer Rauchschleier, der alles noch mehr verwischte und verwirrte. So habe ich's gefunden.
Ich hatte mich auf eine der steinernen Stufen gesetzt, welche die Säule umgaben und hatte hinausgeschaut. Ein seltsames, dumpfes Geräusch war in der Luft und da unten sott und kochte es, summte und brauste es, daß es gar nicht zu sagen ist.
Jetzt trat die Abendsonne hervor und da hub es auf dem weiten, dunkeln, vielgestaltigen Grunde herrlich an zu glitzern, zu funkeln. Und das war die Kaiserstadt. Da stand der Türke, da ist die wilde Revolution gewesen und die Pest, und da hat der liebe Augustin gesungen. Ich hatte wohl davon gelesen! Das ist die Stadt des guten Kaisers Josef. – Welches nur das Kaiserhaus sein mochte und wie ich es morgen würde finden können aus all den anderen heraus? Und dann & #x2014 was ich sagen würde, wenn ich vor ihm stünde?...
[235] Arges Peitschenknallen der blaukitteligen Fuhrleute schreckte mich aus meinem Sinnen. Ich stand auf, ordnete meinen Anzug in den nötigsten Stücken, bog den im Trocknen steif gewordenen Filzhut hübsch zurecht, reinigte im Gras die Schuhe und stieg dann hinab in das wilde Meer der Weltstadt.
Wie es jetzt kam, ist freilich nicht zu beschreiben, denn die es lesen, werden kaum jemals in der Lage gewesen sein, den Eindruck und die Stimmung kennen zu lernen, welche in dem Waldbauernbüblein wirkten, als es einzog in die Wienerstadt. Der Knabe hatte wohl Märchen gehört von Glanz, Zauber und Wunder – aber das war ein Stilleben gewesen in seiner kleinen Seele. Hier die Pracht, die Wunder, die fieberhafte Bewegung und der Lärm. – Diese Paläste, von denen man in der Nacht nur die strahlenden Spiegelwände herunten sah, nicht aber das obere Ende und wie hoch sie in den nächtigen Himmel hinaufragten. Und der Schwarm von Menschen zu Fuß, zu Wagen, zu Pferde, dieses Rasseln, Schrillen, Klirren und Klingen, dieses Hasten, Rennen, Johlen, Schreien durcheinander. –
So gelangte ich durch eine breite Straße (wahrscheinlich die Wiedener Hauptstraße) hinein. Die Gassen wurden immer enger und immer lebendiger – endlich aber war's mit einemmal weit. Ein Platz mit Bäumen, ein Wald mit vielen tausend Lichtern – es war, als ob diese Wiener Bäume lauter Flammenblüten hätten. Ich glitt mit der Menge dahin. Es ging über eine hohe Brücke, es ging durch ein dunkles Tor, wo des Hallens und Schallens kein Ende war. Und als nun vollends die Nacht eingetreten war und nur die hundert Lichter über den gläsernen Wänden blendeten, wußte ich nicht mehr, ob ich im Freien war, oder in den langen Gängen [236] eines Palastes. Die Kärntnerstraße war's. Und das Gedränge fand ich hier derart, daß ich mich in einen Wandwinkel drückte und dort ein wenig abzuwarten beschloß, bis der ärgste Haufen vorüber sei. – Waldbauernbub, das geht nicht vorüber, oder du hättest bis in die späte Nacht warten müssen. So hast auch du dich bald wieder vorangemacht, und als du sahest, daß deine höflichen Grüße von niemandem erwidert wurden, daß die Leute – sonst alle so vornehm gekleidet und weiß im Gesichte – wie toll aneinander vorüberschossen, sich sogar anrannten, drängten und schoben und stießen, da hast du gedacht, du könntest es auch so machen – und damit bist du weitergekommen. Freilich wärest du, trotz deiner schwerbeschlagenen Schuhe, auf den glatten Steinen ein paarmal schier ausgeglitscht und hättest der nächsten Glaswand was angetan. Freilich warst du plötzlich drin unter Roß und Wagen und hast dir schon gedacht, mitten in der Wienerstadt bist hin, aber die Stadtrösser sind gescheit, die treten kein Bauernbübel nieder; wärest du nur erst zwischen den Stadtleuten glücklich durch.
Endlich gingen die Häuser etwas auseinander, um einem noch größeren – schon dem größten Gedränge Platz zu machen. Und da standen ganze Reihen von Fuhrwerken, die warteten gewiß, bis einer aufsaß. Und die Wagen glänzten, wie am Fronleichnamstag die gewichsten Stiefel des Schulmeisters in Krieglach; und jeder Wagen hatte voran zwei Laternlichter, als ob die Rösser ihre Augen hinten hätten.
Über all dem tausendfältigen Gewühle ragte eine ungeheure finstere Masse auf. Das war kein Haus, dazu war es zu riesig und schwarz, kein Berg, dazu war es zu schmal & #x2014 es ging unabsehbar und einsam hinauf in die Nacht.
»Jetzt muß ich schon fragen, was ist denn das?« redete ich einen an.
[237] Zweimal fragte ich, bis er mir Antwort gab.
Weit tat ich die Augen auf und wahrscheinlich auch den Mund. Diese schwarze Wucht war die Stefanskirche! Es war unerhört. Ich suchte den Eingang und fand ihn. Da drinnen war es kühl und dunkel und fast still. Dort und da ging ein Menschlein herum zwischen den schwarzen Pfeilern; dort und da glimmte eine Ampel vor einem Bildnis. Ich hatte gar keinen Maßstab für die Schönheit und Größe dieses Baues, mir war er nur fremd und unheimlich. Trotzdem fühlte ich, daß es eine Kirche war und als solche ein heiliger Ort. Müde und erschöpft setzte ich mich in eine Bank und ruhte und träumte. Ich dachte an das ferne, liebe Daheim zwischen den Wäldern, und wie ich nun versetzt war mitten in das Wirbeln und Wogen der großen Stadt – ganz allein, ganz allein! Fast eine Trauer war es. – Wäre nur erst die Nacht vorbei und ich könnte mich umsehen und doch zum Kaiser kommen! – Einstweilen bat ich meinen Schutzengel um seinen Beistand, und dann ging ich wieder hinaus in das Gewühle und in das Schimmern der Lichter.
Ich ging durch Gassen und Gassen, durch breite, belebte, durch entlegene, finstere; ging durch Tore und über Brücken, gleichviel wohin. Wollte vor allem wissen, wo denn diese Stadt ihr Ende habe. Überall Häuser und Lichter und Menschen. Menschen, fremd in Kleidung, Sprache und Gebärde. Alle sind so gescheit – und von Krieglach-Alpel weiß gewiß kein einziger was.
Da kam ich an einem Bau vorbei, aus demselben strahlten Lichter, hallten Gesänge. Das war Gottesdienst in einer Kirche. Ich zog den Hut ab und trat durch das Tor hinein. Ja freilich war das feierlich und viele brennende Luster hingen nieder – viel schöner, wie daheim in der [238] Christnacht, aber der Priester am Altare & #x2014 ich erschrak fürchterlich, erschrak vor mir selber, daß ich denn ein Narr geworden. – Der Priester hatte einen hohen schwarzen Hut auf, und alle, die da waren, beteten und sangen, hatten ihre hohen, schwarzen Hüte auf dem Haupte. Du wunderliche Sach'! – Als der Schreck vorüber war, kam mir das Lachen; eine Weile vermochte ich es zurückzuhalten, allein als der Priester so ernsthaft seine Hände ausbreitete und ein so spaßhaftes Geschrei anhub und als die anderen dieses Geschrei nachmachten, brach mein Gelächter aus. Da nahm mich ein schwarzbärtiger Mann am Arm, führte mich hinaus und sagte: In der Synagoge müsse man sich anständig betragen.
Als es denn herauskam, daß ich in einem Judentempel gewesen war, erschrak ich noch einmal und machte meinem Schutzengel Vorwürfe, daß er nicht besser auf mich acht gegeben hatte.
Aus einem anderen Bau hörte ich lustige Musik und Gesang. Das war ein Schauspielhaus, ich merkte es bald. Mit dem Manne, der das Geld nahm, verhandelte ich um den Preis. Wie beliebig, ich konnte fünf Gulden zahlen, oder auch nur dreißig Kreuzer. Die Wahl fiel mir nicht schwer, doch erkundigte ich mich, wie lange ich um dreißig Kreuzer drinnen bleiben dürfe. Als ich erfuhr, daß ich bis zu Ende bleiben und alles sehen und hören könne, ging ich, den Hut schon in den Händen tragend, wohlgemut die vielen Treppen, die man mir wies, hinauf und plötzlich sah ich vor mich in einen Abgrund hinab, in dem nachgerade alles von Gold und Silber war. Aus den Wänden wuchsen goldene Äste heraus, darauf brannten Lichter und aus den hundert Wandfenstern sahen schöngeputzte Leute hervor, lächelnd und gar lebendig. Die Männer waren kohlschwarz bis auf die weißen Gesichter. An diese Gesichter setzten sie Dinge, in der Art, [239] wie ich mir Doppelpistolen dachte, und zielten damit nach allen Richtungen herum. Die Weiber hatten an den Händen breite Flügel, mit denen sie in einemfort flatterten, wie unsere Hühner daheim, wenn sie Eier legen wollten. Von der merkwürdig prächtigen Decke hingen goldene Kronen mit leuchtenden Kugeln nieder, die machten hell, wie der Tag. Und unten statt des Fußbodens waren lauter Menschenköpfe und viele weiße Scheiblein darunter, die bei näherer Betrachtung auch Menschenhäupter waren, nur keine Haare aufhatten.
Jetzt hub plötzlich eine Musik an und so laut, daß ich schier erschrak. Darauf begann die einzige Wand, in der keine Leute hockten, sich zu bewegen und ging in die Höhe. – Jetzt waren euch auf einmal die Berge da. Weiße Jungfrauen kamen daher, sie waren fromm und schön, wie daheim die Mägdlein am Kranzeltag; sie haben ein Lied gesungen und ich meine schier, es ist ein heiliges gewesen. Aber die Bravheit hat nicht lange gedauert – jählings sind die langen Kleider weg und zu hüpfen und zu springen heben die Dirndeln an, gar wie besessen. Meiner Tag hatte ich noch nicht gesehen, wie so nackte Jungfrauenfüßlein ausschauen. Und sündhaft lang waren sie, und ich fand's schier wieder zum Verwundern, daß mich mein Schutzengel ins Haus gelassen hatte. Verhext war die ganze Sach', denn plötzlich waren die Tänzerinnen blutrot über und über, und gleich darauf schien eine so helle Sonne auf sie, daß alle anderen Lichter matt waren, und wie ich just zu jubeln anheben will über diese Pracht, da rauscht die Wand nieder und die Leute erheben sich. – Ich bin noch eine Weile stehengeblieben, in der Meinung, es würde noch was zu sehen geben, aber die Leute drängten bei allen Löchern hinaus und die Kronen verloschen.
[240] Bald hernach stand ich auf der Gasse und überlegte, was nun zu machen. Hungrig war ich, müde war ich. Die Uhr des nächsten Turmes schlug zehnmal. – Für heute laß es genug sein; wo wirst du schlafen die Nacht? – Es fügt sich doch wieder gut, dort an der Ecke steht ein großes Wirtshaus. Durch die Fenster sah man's, wie die Leute an weißgedeckten Tischen aßen und tranken, Zeitungen lasen und Tabak rauchten.
Das Vorhaus allein schon war viel lichter und schöner als in Krieglach beim Kirchenbäcken das Extrazimmer. Ein schwarzgekleideter, sehr fein herausgeputzter Herr kam, der hatte sein weißes Sacktuch über der Achsel hängen. – Was ich wolle?
»Dableiben möcht' ich halt.«
»Ein Zimmer?«
»Ist mir schon recht, wenn Ihr eines entraten könnt.«
Er führte mich über zwei breite Treppen und in ein Zimmer, in dem es eine Herrlichkeit war. Lauter gepolsterte Sessel und auch eine solche Bank. Und ein Spiegel, der war größer wie ich selber, ich hatte ihn zuerst für eine Tür gehalten, durch welche ein Bauernbub auf mich zukam.
Der Herr zündete zwei schneeweiße Kerzen an, da fiel mir glücklicherweise die Frage ein, wieviel ich denn für all das zahlen müsse.
»Per Tag drei Gulden achtundvierzig.«
»Na,« erklärte ich, »nur für die Nacht allein hätt' ich's mögen, aber es ist mir auch um die Halbscheid noch zu teuer. Dreißig Kreuzer will ich hergehen.«
Da wurde der Herr rot im Gesichte – ich hatte in Wien noch keinen mit so guter Farbe gesehen – und schob mich zur Tür hinaus. Sollte er mich für einen reichen Viehhändlerhuben aus Oberösterreich gehalten haben, so hätte [241] er sich freilich geirrt. Jetzt stand ich auf der Gasse; sie war still und dunkel; ein Wald auf den Bergen tut sich nicht so ödweilig, und wenn auch kein einziger Mensch darin ist.
Bisweilen ein vornehmer Wagen rollte vorbei.
Eine Frau, die aber einen Flor über dem Gesichte hängen hatte, kam auf mich zu; als sie den Flor hob, sah ich, daß sie sehr jung und schön war. Ich hatte sie gebeten, mir eine Liegerstatt zu verschaffen.
»Gern,« flüsterte sie.
Als wir eine Strecke mitsammen gegangen waren, fragte sie, ob ich Geld habe.
»Ja,« antwortete ich, »ich hab' ein Lampel gehabt und das hab' ich verkauft, und davon hab' ich noch mehr als wie die Halbscheid.«
»Das ist nicht viel,« sagte sie, »das mußt du fleißig aufsparen.«
Und sie huschte davon.
Jetzt stand ich wieder verlassen. Ein Mann trillerte und taumelte vorüber; den wollte ich ansprechen, aber als ich sah, daß er selbst eines Beistandes bedurfte, und wie er sich hinter einen Brückenpfeiler auf den Erdboden legte und darauf liegen blieb, ließ ich mir das einen Fingerzeig sein und dachte, so machst es auch und da legst dich gleich nieder.
Ein altes Frauchen, das schon früher an mir vorübergehumpelt war, kam wieder des Weges und fragte, was ich denn hier mache? Hub ich zu weinen an: »Keine Nachtherberg kann ich finden.«
Auf der Stelle nahm sie mich mit.
Sie führte mich in eine Gegend, wo die schönen Pflastersteine aufhörten und wo viel kleinere Häuser standen als die anderen waren. Sie führte mich in einen Hof und über eine finstere Stiege hinaus. Bald waren wir in ihrer Stube; [242] die alte Frau zündete eine Lampe an – das war freilich nicht so hell als im Schauspielhaus. In der Stube war ein eiserner Ofen, auf dem stand ein Topf. Die Frau nahm ihn und goß Suppe auf zwei Teller und legte von den Semmeln, die sie geholt hatte, eine vor mich hin, auch einen Löffel dazu; nun sollte ich essen.
Bei den Bauern ist der Brauch, daß, wenn sie zu Gaste sind, sie von allem, was sie essen, den Rest in der Schüssel lassen. Da war ich nun in Verlegenheit, denn der Teller war gar flach, und wollte ich etwas übrig lassen, so blieb nichts für meinen Löffel. Der Hunger half mir endlich über alle Bedenken hinaus.
Als wir gegessen hatten, fragte mich meine Gastfrau nach Stand und Heimat. Ich erzählte ihr alles, von meiner Mutter weg bis zu ihr.
Da sagte sie folgende Worte: »Bei meiner Seel', du bist mir ein recht leichtsinniger Bursch'. Von deinen Eltern so fortlaufen! Was willst denn in Wien, wenn du kein Geld hast und keinen Bekannten? Zugrunde kannst gehen, das kannst davon haben. Eine solche Stadt ist nicht wie ein steirisches Dorf; da gibt's schlechte Leut', und wenn du liegen bleibst auf der Straßen, kein Mensch kehrt sich darnach; und wenn du verhungerst, so schleppen sie dich in die Totenkammer und schneiden dir den Leib auf, zu sehen, woran du gestorben bist. Und kein Mensch weiß, wo du hingehörst und deine Vater und Mutter daheim können sich die Lungen herausschnaufen und suchen und fragen nach dir, und das Herz herausweinen. – Kind, daß du ihnen den Kummer hast angetan! – Den Kaiser aufsuchen, das sind Albernheiten. Jetzt legst dich da aufs Sofa und schlafst dich aus. Und morgen früh gehst mir schnurgerade heimwärts. – So, und nun mach', daß du zur Ruh' kommst!«
[243] Ich schluchzte noch lange in mein Kopfkissen hinein, doch endlich kam der ruhsame Schlaf.
Am nächsten Morgen aber, als ich wieder frisch und munter durch die reichen, rauschenden Gassen und über die Brücken und hohen Mauergänge zog und die helle Sonne hineinschien auf die Türme und Paläste und der Stefansturm frei in die Himmelsbläue aufragte – da war vergessen, was die alte Frau gesagt hatte. – Ich bleibe in Wien und gehe zu meinem Kaiser.
Rasch wandelte ich an allem vorüber und fragte nach dem Kaiserhaus. Nach manchem Hinundhersuchen stand ich auf jenem Platz neben dem eisernen Reiter, der damals noch allein stand, und sah vor mir das gelblich-graue Gebäude mit den unzähligen Fenstern. Da drinnen wohnt er? Wenn er nur daheim ist und nicht wieder in allen Ländern herumzieht wie ein Handwerksbursche. Und wenn er daheim ist, was reden? Frisch fragen, wie es ihm geht, was die Frau macht, und daß er doch so gut sein und keinen Krieg anheben sollt', und der Schmiedhofer Hansjörgel wär' jetzt auch bei den Soldaten, und wenn sie den niederschießen, so hätten sie im ganzen Alpel keinen, der das Metzgern verstünd'! – Für übel halten kunnt er's nicht.
Ich ging durch das dreifache Tor. Da war ein großer Platz mitten im Kaiserhaus, und da standen erschrecklich viele Soldaten mit aufgepflanzten Gewehren. Dort, wo ich durchgehen zu müssen glaubte, standen zwei baumstarke Männer mit weißen Riemen über der Brust und ungeheuren schwarzen Pelzhauben auf den Köpfen. Zwei bärtige Kerle mit finsterem Gesicht, mit Säbel und Gewehr, just zum Dreinfahren. Ich wollte schier nicht zwischen ihnen durch, [244] doch als ich sah, daß auch andere unbehelligt aus und ein gingen, wagte ich's und die beiden Torsteher blieben starr wie Holz.
Ich ging über breite Steintreppen empor, ging in schneeweißen Gängen entlang, so daß meine Schritte in den Mauern widerhallten. Da waren hohe, braune und vergoldete Flügeltüren der Reihe nach. – Ja, wenn man nur wüßte, welches des Kaisers Zimmer ist!
»Was machst du da, Junge?« fragte ein heranschreitender Herr mit Glasaugen und einer Stirne, die fast bis zu dem Scheitel hinausging.
»Wenn ich bitten darf, den Herrn Kaiser tät' ich gern ein wenig heimsuchen.«
»Den Kaiser? Seine Majestät? Ja, mein Lieber, das wird wohl etwas schwer gehen.«
»Oh,« sagte ich, »das geht leicht, mit dem Kaiser Josef darf jeder reden, auch der Bauersmann – hab's wohl gelesen.«
»Kaiser Josef?« fragte der Herr. Da habe ich ihm erzählt, wie ich von Steiermark hergekommen wäre, um den Kaiser Josef zu sehen.
Er sah mich lange an, war ernsthaft, lächelte und wurde wieder ernsthaft. Ich bin ganz zutraulich geworden und habe vieles erzählt, was mir des guten Kaiser Josefs wegen auf dem Herzen lag.
Der Herr setzte sich auf eine Bank, nahm mich an der Hand und fragte:
»Knabe, du bist ein sonderbarer Kauz. Da du aber schon nach Wien gekommen bist, um Kaiser Josef den Zweiten zu sehen, so muß man dich auch zu ihm führen. Warte, jetzt haben wir neun Uhr. Um zehn Uhr stellst du dich vor [245] den Eingang der Kapuzinerkirche, verstehst? Ich werde mich dort einfinden, dann wollen wir zusammen gehen.«
»Da bin ich wohl recht froh,« antwortete ich, »ein bissel scheuen tu' ich mich aber auch, wenn's Ernst wird.«
»Kaiser Josef tut dir nichts zuleide. – – Übrigens, Junge, komm' jetzt einmal mit mir.«
Er führte mich treppauf, treppab, führte mich über Fußböden, belegt mit blumigen Tüchern, durch Gänge und Säle, schloß endlich eine Flügeltür auf, und jetzt waren wir in einem Tempel. Aber alle Wände waren voll von Büchern; auf den Tischen lagen offene Bücher, Bilder, in Glastruhen bemalte Schriften und sonst allerlei Papier.
»Das ist die Josefinische Bibliothek,« sagte mein Begleiter. Ich blickte ihn an, war seinem Worte gegenüber hilflos.
An einer Ecke des Saales stand die Weltkugel mit den Gewässern und Ländern der Erde, wie mein Führer mich unterwies.
»Wenn das die ganze Welt ist,« sagte ich, »so wird wohl auch Krieglach-Alpel darauf sein.«
»Freilich, aber das kann man mit freiem Auge nicht mehr sehen, da müssen wir etwas anderes nehmen.«
Und er schlug eine große Landkarte auf. – »Steiermark, Mürzzuschlag, Krieglach – Alpel, siehst du?«
Ich guckte und ich sah, und da war noch ein schwarzes Pünktchen, und bei dem stand's geschrieben. »Waldbauer!« Da jubelte ich auf. – Mein Heimathaus im Kaiserhaus! Und da ist der Wald, und da sind die Felder, und da ist die Weide, wo ich die Schafe hüte! Alles ist da – o du merkwürdiges Wien!
»Gut,« sagte der Herr, »es ist, wie du mir erzählt hast, und nun spaziere noch ein bißchen in der Stadt herum und [246] um zehn Uhr warte bei der Kapuzinerkirche. Du wirst sie leicht erfragen.«
So verließ ich das Haus, kam glücklich wieder an den zwei ungeheuren Pelzmützen vorüber, kam in einen Garten hinaus, wo ich mich auf den Besuch beim Kaiser vorzubereiten suchte. Mir war unstet zumute. Es ist doch ein hoher Herr und kann mit seinen Untertanen machen, was er will. Aber ich rief alle Geschichten, die ich von ihm in den Volksbüchern gelesen hatte, in meine Erinnerung zurück – es ist ein edler, ein gescheiter, ein gütiger Mann. Mit neuem Mute suchte ich die Kapuzinerkirche auf.
Ich stand nicht lange dort, so kam jener Herr aus dem Kaiserhause heran und mit ihm ein geistlicher Bruder. Dieser schloß das Tor eines Gewölbes auf; dort zündete er ein Kerzenlicht an und führte uns hinab über eine finstere Treppe. – Wäre denn der Kaiser Josef heut' im Klosterkeller? Das tät' mich doch wundern.
Ich hielt mich stets nahe an meinen bekannten Herrn. Nun schritten wir langsam zwischen großen, steinernen und erzenen Blöcken und Kästen hin. Vor einem solchen – er sah aus wie eine riesige Totentruhe – blieben wir stehen. Der Herr nahm mir still den Hut vom Kopf, dann legte er seine Hand auf das Erz und sagte: »Hier, mein Junge, in diesem Sarge ruht unser Kaiser Josef.«
Gestorben schon vor vielen Jahren.
So habe ich ihn gesucht, den großen Kaiser, den wir nimmer vergessen können, den das Volk so lieb hat noch heute. – So war ich in der Einfalt des Kindes, in der Beharrlichkeit einer heiligen Verehrung aus Ziel gelangt, war hinabgestiegen in sein Grab.
Kein Wort konnte ich aussprechen, so hat's mich gepackt. [247] Ich habe kaum einen Blick mehr getan auf den Sarkophag, der von dem Flämmlein des geistlichen Bruders matt beleuchtet war, keinen Blick auf die anderen Särge – davon taumelte ich, die Stiege hinauf und in einem Winkel der Kirche bin ich gelegen in Trauer, daß er gestorben.
Später hat mich jener Herr gefragt, ob ich nicht wünsche, Seiner Majestät dem jetzigen Kaiser vorgestellt zu werden?
»Ist das ein Sohn vom Kaiser Josef?« fragte ich.
»Das nicht, aber das hindert unseren erhabenen Landesfürsten nicht, ebenfalls ein edler Herrscher zu sein.«
»Und geht er auch unter den Leuten herum und fragt, was für Gesetze sie haben wollen?«
Mein Begleiter schwieg. Erst nach einer Weile antwortete er: »Unser Kaiser Franz Josef läßt seine Völker selbst die Gesetzgeber aussuchen und wählen, die sie haben wollen.«
Das wäre wohl auch recht brav, meinte ich, aber mich ihm vorstellen zu lassen, das tät' ich mich nicht getrauen; mit dem neuen Kaiser wäre ich halt doch zu wenig bekannt.
»So lebe wohl, du kleiner Steirer,« sagte mein Begleiter, »und wenn du groß bist, so komm' wieder als braver Mann, da wirst du dem Kaiser schon Freude machen.« & #x2014
Nun war ich fertig.
Ich hatte die Absicht gehabt, auf den Stefansturm zu steigen, um die Stadt anzuschauen, um zu erfahren, ob es denn wahr sei, daß man weit und breit kein Ende von ihr sehe; in den Prater hinabzugehen, um die große Donau und ihre Schiffe zu erblicken; in Schönbrunn den Tiergarten zu besuchen, um zu sehen, ob unter den Elefanten, Löwen und Drachen auch weiße Lämmer wären – aber all das ließ ich nunmehr fahren, meine Freude an Wien war gebrochen & #x2014 Kaiser Josef ist gestorben...
[248] Dienstwillige Leute hatten mir ihre Führerschaft angeboten; einer derselben, als er hörte, daß ich aus Steiermark sei, rief: »Das trifft sich, ich bin auch ein Steirer, bin aus Stuhlweißenburg.«
»Das ist ja in Ungarn,« sagte ich.
»Ei, aus Hartberg wollte ich sagen. Na, das freut mich, kommen Sie doch mit auf ein Glas Wein.«
Er führte mich in eine Vorstadt; führte mich in eine Schenke, die halb unterirdisch lag und mehr von Nachtlichtern als von den hochgelegenen Fenstern beleuchtet wurde. Da ging's nicht gar viel vornehmer zu, als in den Wirtshäusern daheim und die Leute setzten sich gleich zu unserem Tisch und waren freundlich mit mir. Einer meinte, wir sollten uns doch die Zeit vertreiben und zog Spielkarten hervor. – Spielkarten habe ich nie leiden mögen, ich zahlte meinen Wein und ging langsam davon.
Ich trachtete wieder jenem Teile der Wienerstadt zu, in welchem der Stefansturm steht. Da kam ich auf eine Sandheide, auf welcher Soldaten Kriegsübungen hielten. Ich sah ihnen eine Weile zu, dann setzte ich mich auf einen Stein und untersuchte einmal den Inhalt meiner Geldtasche. Ich erschrak sehr. Vom ganzen Lampel war kaum der Schweif noch da.
Traurig war ich und stützte den Kopf in die Hand und sagte zu mir: »Bub, wärst du jetzt daheim. Das Lesen von der Wienerstadt ist lustiger als in ihr so mit leerem Säckel herumzugehen.« –
»He, Bursche, was machst du da?« rief mich plötzlich ein vorübergehender Herr mit einem langen Barte an.
»Warten tu' ich,« gab ich mißmutig zur Antwort.
»Auf wen denn?«
»Auf einen Fünfguldenbeutel.«
[249] »Den kann ich dir nicht geben,« sagte er, »aber fünf Gulden magst haben, wenn du mit mir kommst.«
Das ist ein Spitzbub', dachte ich mir, aber jetzt möchte ich nur sehen, wie weit er's treibt. Neben dem bin ich der Stärkere. Geld kann er mir keins nehmen, und mein Gewand ist ihm zu klein.
»Du trauest mir am Ende gar nicht,« lachte der Bärtige, »aber es geschieht dir nichts und nach einer halben Stunde hast du deine fünf Gulden. Denke einmal, was du dir da alles kaufen kannst.«
Meine Herabgekommenheit machte mich unternehmungslustig. Ich stand auf und ging mit dem Manne.
Dieser führte mich hin über den Sand, dann durch einige Gassen, dann in einen Hof und über etliche Treppen hinauf und in ein Zimmer. An den Wänden hingen allerlei Bilder, die ohne Rahmen waren.
»Nun setze dich auf diesen Stuhl. So!« sagte der Bärtige, »den Stock lehne in den Ellbogen hinein und den Hut setze so!« Den Hut schob er mir in den Nacken zurück, die Haare strich er mir über die Stirn herab bis zu den Augen, als ob er absichtlich einen recht dummen Bauernbuben aus mir machen wollte. Ich strich die Locken nach rückwärts, schob den Hut nach vorwärts.
»Laß doch!« rief der Mann scharf. Da getraute ich mir keine Bewegung mehr zu machen. – Was wird jetzt mit mir geschehen?
»So, mein Lieber,« sagte er, »jetzt bleib' mir ein bißchen sitzen und sieh dir einmal dort die schöne Frau an!« – Er hatte nämlich eine sehr schöne Frau an der Wand hängen.
»Gefällt sie dir?« fragte er, indem er mit dem Bleistift rasch auf dem Papier herumfuhr.
[250] »Ja, die tät' mir wohl gefallen; ist das die heilige Maria Magdalena?«
»Vielleicht die griechische,« lachte er.
Nicht gar lange nachher konnte ich aufstehen und nachsehen, was er auf dem Papier gezeichnet hatte. Da saß ein Bauernjunge auf dem Stein, der hatte den großen Hut auf dem Köpfel und machte verwunderte Augen.
»So, mein Kleiner, nun danke ich dir, und hier hast hu deine fünf Gulden.«
Wie kann denn das sein? Der ist so gut und zeichnet mich auf und läßt mich noch die schöne Frau anschauen und zahlt dafür obendrein das viele Geld!
Ich hielt meine Hände hinter den Rücken.
»Nu, beiß' an!«
»Ja, wenn ich das annehme, so ist es wohl eine Grobheit,« entgegnete ich und habe meinen Augen immer noch nicht trauen wollen.
Auf der Gasse sah ich nach, ob die Fünfguldennote nicht etwa auch mit dem Bleistift gezeichnet wäre, so wie das Waldbauernbübel. Aber es war ein echtes Geld mit Wasserdruck.
So reich, mein kleiner Bursche, bist du noch dein Lebtag nicht gewesen. Jetzt kannst es nobel geben, kannst auf der Eisenbahn bis nach Krieglach fahren. Flott geht's!
Als ob ich keine Füße hätte! So dumm bin ich nicht, daß ich meine zwei Füße nur dann strapaziere, wenn ich mir damit nichts verdienen kann. Jetzt sollen sie mich nach Steiermark tragen, ich zahl' ihnen dafür fünf Gulden. Die fünf Gulden werden sie dem Waldbauernbuben schenken und der wird sich dafür Bücher kaufen.
Ich suchte eine Buchhandlung auf, kaufte mir die Geschichte von Kaiser Josef dem Zweiten und ein Buch über [251] die Stadt Wien. Von den fünf Gulden sind dreiundzwanzig Kreuzer übriggeblieben.
Nun voran! Den Kaiser Josef unter dem rechten Arm, die Stadt Wien unter dem linken – so ging ich davon.
Bei der Spinnerin am Kreuz blickte ich noch einmal zurück auf die Kaiserstadt. Dann wanderte ich fort über die Ebene.
Aber – der Tag war heiß, die Bücher waren auf die Länge nicht leicht und die Schuhe begannen wieder die Ferse zu wetzen. Was der Magen an diesem Tage an Nahrung entbehrte, das gewann die Lunge an Staub, die Füße huben mir an zu zittern...
An demselben Abende fand mich eine Bürgerin von Baden gar erschöpft auf der Bank vor ihrem Hause kauern. Sie führte mich ins Haus und atzte mich mit Speise und Trank. Dann, als sie meine Geschichte erfahren, als sie mir auch einen derben Verweis gegeben hatte, weil ich so sehr auf meine Gesundheit gesündigt, geleitete sie mich auf den Bahnhof und kaufte mir eine Fahrkarte von Baden bis Krieglach. Knabe, hast du auch fleißig gedankt?
Im Mondschein glitt der Zug über das weite Steinfeld, in finsterer Nacht durch die Zwänge des Semmerings, im Morgenrot durch das grüne Mürztal.
Wie kühl und frisch, wie still und rein war die Luft, als ich die Waldstraße hinanwandelte gegen Alpel!
Als ich zu unserem Hause kam, eilte mir die Mutter entgegen und sagte, ich solle nicht zu sehr erschrecken, wenn mein Vater mit dem Stecken auf mich zukäme; es wäre nicht zu vermeiden, er sei arg aufgebracht, daß ich anstatt zwei Tage vier Tage ausgeblieben.
[252] »Ich habe nicht früher zurückkommen können,« versicherte ich, »hab' in Mariaschutz die Kirchfahrt verrichtet.«
»Ja, und dieweilen sind daheim die Säue verreckt!«
»Bin in Wiener-Neustadt gewesen und in Wien, in der Stefanskirche und im Kaiserhaus, aber der Kaiser Josef ist schon gestorben.«
»Geh!« rief die Mutter, »ja, was ist ihm denn widerfahren?«
»Das steht alles in dem Buch; und in dem anderen ist die ganze Beschreibung von der Wienerstadt, da wird der Vater schon losen, wenn ich ihm vorlese.«
»Du, trau' ihm nicht!«
»Nachher hat mich ein Herr abgezeichnet und nachher hat mir eine Frau das Fahrgeld gezahlt, weil ich bin krank geworden.«
»Jesus Maria!« rief die Mutter, »was denn? was denn? daß du mir doch nicht liegen bist blieben auf der Straßen, daß du mir nur wieder heim bist kommen! – Du Lenzel!« schrie sie nach dem Vater, »krank ist er worden unterwegs!«
Der Vater stand an der Haustür und lehnte jetzt den Gertenstab an die Wand.
»Ausschaust mir armselig genug,« brummte er, »geh', iß jetzt eine warme Suppe, nachher leg' dich ins Bett. Wir machen unsere Sach' später miteinander aus.«
»Jetzt ist alles gut,« flüsterte die Mutter.
– – – – – – – – – – – – –
Nach wie vor hütete ich wieder die Schafe, saß auf dem Steinhaufen und las aus Büchern. Erst später, nachdem
Nach wie vor hütete ich wieder die Schafe, saß auf dem Steinhaufen und las aus Büchern. Erst später, nachdem ich aus dem alten Schafhirten ein junger Schneiderlehrling, und aus dem alten Schneiderbuben ein junger Student geworden war, habe ich in den Vakanzen Wien mieder gesehen.
[253] Da habe ich wohl mit Fleiß jene heiligen Stätten besucht, wo einst der einfältige Waldbauernbub' gestaunt und gelitten hatte. Ich fand in der Leopoldstadt die Synagoge und das Theater wieder, fand weit draußen in Erdberg meine gute alte Nachtfrau, fand in Baden die wohltätige Glasermeisterin, Frau Gießl, fand die Hofburg, die Kapuzinergruft wieder. Aber jenen Herrn, der mich in die Josefinische Bibliothek und zum Kaiser Josef geführt, und jenen Bildelmacher, der mich in sein Zimmer (meines Erinnerns in der Gegend der Alservorstadt) mitgenommen hatte, konnte ich trotz meiner Nachforschungen nicht mehr ausfindig machen. Ersterem möchte ich danken, letzteren fragen, ob das Bild des Waldbauernbübleins die Auslagen gedeckt hat.
Jener Herr von der Josefinischen Bibliothek dürfte & #x2014 manches weist darauf hin – der Dichter Friedrich Halm gewesen sein. Der Bildelmacher ist viel später auch entdeckt worden. Es war der Maler Alois Schönn. Und das Bild des Waldbauernbuben ist durch die Hand eines lieben Freundes mein Eigentum geworden. Mein Herr Verleger hat es vervielfältigen lassen und verehrt es den Lesern der »Waldheimat«.