Auf der Schaukel des Krieges
»Der Kommandant läßt Ihnen sagen, daß – bitte, zeigen Sie einmal. – Gut, gut! Der Puls ist zahmer geworden – daß er Sie nicht weiter mit maritimen Fragen belästigen würde. Er ehrt Ihre Verschwiegenheit, aber bittet Sie herzlich, ihm, wenn Sie sich wohler fühlen, ein Stündchen Gesellschaft zu leisten und Ihren Mund wenigstens eben so viel zu öffnen, wie notwendig [129] ist, um einen ausgesuchten, neutralen Spaniolenwein durchzulassen.«
»Danke verbindlichst, aber ich bin abstinent.«
»Oh, Mr. Heinemann«, fuhr der englische Arzt fort, »warum so niedergeschlagen? Sie haben nicht kapituliert, Ihr Schiff bis zuletzt nicht verlassen. Es hat Sie verlassen, ist mit der Kriegsflagge an der Gaffel unter Ihren Füßen weggesackt. Wir zogen Sie als ohnmächtigen Schiffbrüchigen an Bord. Wir wollen Ihnen wohl. Es ist unser aufrichtiges Bestreben, Ihre Lage so angenehm als möglich zu gestalten. Sie haben in diesem Kriege als – verzeihen Sie – zweifellos sehr junger Offizier Hervorragendes geleistet und bleiben Ihrem Vaterlande auf ehrenvollste Weise für spätere Dienste erhalten. Freuen Sie sich also, daß Sie gerettet, und vergessen Sie, daß Sie gefangen sind. Ich ersuche Sie höflich, hinsichtlich Ihrer Bequemlichkeit wie auf Ihrem eigenen Schiffe zu befehlen.«
Der zwanzigjährige Führer und einzige Überlebende des torpedierten deutschen Vorpostenbootes erwies sich, obwohl erkenntlich, doch reichlich ungeschickt in der Konversation. Blasierten, fast kindisch ansprechenden Tones erkundigte er sich, ob seine Uniform schon trocken wäre, und äußerte im übrigen nur den einen Wunsch, sich an Deck aufhalten zu dürfen. Der Arzt wandte ein: das Fieber sei noch nicht völlig behoben, der Leutnant bedürfe vorläufig noch der Bettwärme, es wehe ein kalter Nordwest. Später, auf wiederholtes Bitten und nach reiflichem Bedenken, erlaubte man dem Gefangenen, für eine Stunde lang, in warme Decken eingehüllt, an Deck zu sitzen. Dazu wurde für ihn auf das Achterdeck ein weicher Klubsessel getragen, hinter welchem sich in geringer Entfernung ein Matrose aufpflanzte; zur Verfügung des Herrn Leutnants. Außerdem wurde ein zweiter Stuhl und ein weißgedeckter Tisch herbeigeschafft. Bald fand sich der Kommandant des Zerstörers ein. Liebenswürdig unterdrückte er die militärische Ehrenbezeigung des deutschen Offiziers und begann, diesem die Hand schüttelnd, sofort ein Gespräch über Schwimmwesten aus Guttapercha. Leutnant Heinemann beteiligte sich vorwiegend passiv daran. Meist pflichtete er nur den Ansichten des Engländers wortkarg bei und gab sein Lächeln hinzu, wenn dieser, ein imposant hoher und dicker Herr mit Glatze und rasiertem Kugelgesicht, einen Witz einflechtend, erschütternd lachte. Wenn er selbst redete, geschah es mit selbstbewußter Stimme und häufig [130] wie geistesabwesend, konfus. Er schaute dabei auch unausgesetzt mit seinen hellen Augen in der Richtung der Fahrt über das Meer, das grün-grau sich kräuselte unter einem Regen versprechenden Himmel.
Der Kommandant des Zerstörers vermochte nicht ein spöttisches Lächeln zu unterdrücken, als der Deutsche anfangs einmal seine spähenden Blicke rückwärts wendete. »Wir sind schon weit davon weg«, bemerkte er. »Übrigens: es blieb nichts übrig; nicht einmal Kleinholz. Leider! Wir hätten gern etwas Näheres erfahren.«
Nun lächelte der Leutnant über die offenherzige Bemerkung, die wohl ungewollt entschlüpft war.
»Nehmen Sie es nicht übel, Herr Leutnant, aber es war doch eine kuriose Torheit, mit einem Fischdampfer drei Torpedobooten und einem Zerstörer gegenüber Widerstand zu leisten.«
»Solche Torheiten haben Englands Flotte schon empfindlich dezimiert«, näselte der Leutnant. Sein ungeprägtes, einfarbiges Gesicht leuchtete einen Moment auf, aber dann nahm es rasch einen Ausdruck von bekümmerter Unruhe an. »Warum halten Sie immer noch nördlich? Warum bringen Sie mich nicht nach Westen ein?«
Der Engländer blinzelte schlau. »Sie wollen ja mir auch nicht sagen, was Sie veranlaßte, sich so weit ab von Ihrer Flotte in diese Gewässer zu wagen.«
»Aufklärung! Aufklärung! Wir riskieren etwas.«
Ein Steward baute eine Flasche Rotwein mit zwei Gläsern nebst Rauchutensilien auf den Tisch, und trotzdem Heinemann seinerseits entschieden ablehnte, ließ es sich doch der Kommandant nicht nehmen, beide Gläser eigenhändig zu füllen. »Nein«, sprach er, als der Steward sich entfernt hatte, »keine Aufklärung. Ich will es Ihnen auf den Kopf zu besser sagen: Sie hatten Minen an Bord. Nur bin ich mir nicht klar darüber, wo Sie dieselben warfen oder werfen wollten.«
»Sollte denn eine so kleine Mine, wie die meinige, Minen an Bord nehmen?« fragte der Leutnant zerstreut.
Der andere warf einen verdutzten Seitenblick auf das junge, bleiche Gesicht. Aber dem Deutschen entging das. Er stierte konstant an dem Engländer vorbei in eine wild verwirrte Flucht gewundener Qualmschwaden, die sich jetzt von den Schornsteinmündungen aus nach Backbord über das Meer wälzten.
[131] Sekundenlang, immer wieder, trat hinter diesem Rauchvorhang die See mit einigen farbigen, verstreuten Bojen und einem fernen Streifen Land hervor.
»Ihre Minenverankerung taugt nichts«, begann der redselige Kommandant von neuem.
»Ich muß es, wie erwähnt, prinzipiell ablehnen, mich über Militärisches oder Politisches zu äußern.«
»Ganz recht! Ich vergaß. Sagen Sie –: spielen Sie Schach?«
Statt zu antworten, griff der Deutsche auf einmal hastig nach dem vollen Rotweinglas, rief laut: »Mein Kaiser Hurra! Hurra! Hurra!« und leerte es in einem Zuge, um es dann über Bord zu schleudern. Der Engländer war aufgesprungen. Sein Gesicht rötete sich zornig. Aber er schien sich zu besinnen und zu beherrschen und nahm wieder Platz. »Ihr angeborenes deutsches Taktgefühl«, bemerkte er sarkastisch, »wird Sie begreifen lassen, daß ich in diesen Toast nicht einstimme. Aber – hallo, was fehlt Ihnen? Mich deucht, Sie vertragen die Deckluft schlecht.« Der Leutnant war, wie man so sagt, kreideweiß geworden. Sein Mund bewegte sich, als ob er sprechen wollte und es nicht vermöchte. »Jetzt! Gleich!« stieß er endlich hervor.
Der Kommandant pfiff.
»Haben Sie Familie? eine Mutter?« frug ihn Heinemann erregt.
»Ja, ja. Beruhigen Sie sich doch, mein Lieber; es geht vorüber. – Führt den Herrn Leutnant in seine Kabine. Er hat einen Anfall bekommen.«
Aber der Deutsche wies mit einer Armbewegung den Posten und den Steward zurück, die beide ihn wegführen sollten, und rief dem Kommandanten drängend zu: »Beten Sie! Beten Sie! Dort! Die Boje! Wir sind mitten im Minenfeld.«
»Minen?« fragte der Engländer unsicher lächelnd.
»Ja. Ich selbst habe sie geworfen. Beten Sie!« zischte der Deutsche.
»Achtung!« rief er dann plötzlich scharf und klar. Er stand kerzengerade aufgerichtet, die Linke aufs Herz gepreßt. Da hatte sein Gesicht in höchster Schwellung edler Gedanken und energischer Entschlossenheit einen schönen, verklärten Ausdruck. Seine Augen glänzten begeistert und sahen kühn einem roten Seezeichen entgegen, dem sich der Zerstörer näherte.
»Volldampf zurück! Exakt Kielwasser!« schrie der Kommandant [132] aufspringend. Auch er starrte mannhaft fest, aber finster und kalt in die Boje.
Ein schneidender Schrei ertönte. Niemand hatte mehr Entsetzen dafür übrig, daß der Steward über Bord sprang.
Der Matrose hielt sich die Ohren zu, und er wie die beiden Offiziere blieben so für Sekunden ... Sekunden ... Sekunden regungslos, mit weit aufgerissenen Augen, während dicht an der Bordwand ganz langsam die rote Boje vorüberglitt.
Dann taumelte der Deutsche. »Vorbei!« hauchte er tonlos.
Der Kommandant hatte pantomimisch einen Befehl nach der Brücke gegeben. »Verdammter Hund!« brüllte er jetzt und riß einen Revolver hervor ...
Das gab dem Leutnant die Kraft zurück. Er straffte sich wieder und sah dem Feinde blitzend ins Gesicht. Ein einziges Wort: »Deutsch!« sprach er stolz aus. »Verrechnet, Verräter«, knirschte der Engländer, seinen Revolver wieder bergend, und dann mit einem höhnischen, schadenfrohen Grinsen: »Warte! Warte! Ich werde – –«
Da schmetterte die Explosion.