[Saltimbanques]

[Paris, Quatorze Juillet 1907]


Vor dem Luxembourg, nach dem Panthéon zu, hat wieder Père Rollin mit den Seinen sich ausgebreitet. Derselbe Teppich liegt da, dieselben abgelegten Mäntel, dicke Wintermäntel, sind über einen Stuhl gehäuft, auf dem gerade noch soviel Platz bleibt, daß der kleine Sohn, der Enkel des Alten, zwischendurch zu einem Viertel Hinsitzen kommt, ab und zu. Er braucht das noch, er ist ein Anfänger, heißt es, und die Füße tun ihm weh bei dem jähen Aufsprung mit dem er, aus den hohen Saltos heraus, auf die Erde kommt. Er hat ein großes Gesicht das eine Menge Tränen fassen kann, aber sie stehen doch manchmal bis an den Rand in den ausgeweiteten Augen. Dann muß er den Kopf ganz vorsichtig tragen, wie eine zu volle Tasse. Er ist nicht traurig dabei, garnicht, er würde gar nicht merken wenn er es wäre, es ist einfach der Schmerz der weint und das muß man ihm lassen. Mit der Zeit wird das leichter und schließlich ist es fort. Der Vater weiß längst nichtmehr wie das war, und der Großvater, nein, der hat es schon vor sechzig Jahren vergessen, sonst wäre er nicht so berühmt geworden. Aber, sieh da, Père Rollin, der so berühmt geworden ist auf allen Jahrmärkten, »arbeitet« nicht mehr. Er schwenkt nicht mehr die ungeheuren Gewichte und (der Beredteste von Allen) sagt kein Wort. Er ist aufs Trommeln gesetzt. Rührend geduldig steht er da mit dem zu weit gewordenen Athleten-Gesicht, in dem die [1137] Züge locker durcheinanderhängen, als wäre aus jedem einzelnen das Gewicht ausgehängt worden, das ihn spannte. Bürgerlich angezogen, eine gestrickte himmelblaue Cravatte um den kolossalen Hals, hat er sich auf der Höhe seines ehrlichen Ruhms zurückgezogen in diesen Rock und in die bescheidene Stellung, auf die, sozusagen, kein Glanz mehr fällt. Aber wer, von diesen jungen Leuten, ihn mal gesehen hat, der weiß ja doch, daß in diesen Ärmeln die berühmten Muskeln stecken, deren leisestes Spiel die Gewichte zum Springen brachte. Der hat eine ganz bestimmte Erinnerung an ein solches Meisterstück und er sagt ein paar Worte zu seinem Nachbar und zeigt herüber und dann fühlt der Alte ihre Blicke auf sich, nachdenklich und unbestimmt und achtungsvoll. Sie ist schon noch da, diese Kraft, junge Leute, denkt er; sie ist nicht mehr so bei der Hand, das ist das Ganze; sie ist in die Wurzeln gegangen; da irgendwo ist sie noch, der ganze Klumpen. Und für das Trommeln überhaupt ist sie noch viel zu groß. Und er schlägelt los. Aber er trommelt viel zu oft. Dann pfeift ihm der Schwiegersohn von drüben und winkt ab; er war gerade mitten in einer Tirade. Und der Alte hört auf, erschrocken, und entschuldigt sich mit den schweren Schultern und tritt umständlich auf das andere Bein. Aber da muß schon wieder abgepfiffen werden. Diable. Père! Père Rollin! Er hat schon wieder getrommelt. Er weiß es kaum. Er könnte immerzu trommeln, sie sollen nur nicht meinen, daß er müde würde. Aber da, jetzt redet seine Tochter; schlagfertig und handfest und ohne Loch das Ganze [1138] und ein Witz über den andern. Sie hält überhaupt jetzt die Sache zusammen, es ist eine Freude zuzuschauen. Der Schwiegersohn arbeitet ja gut, da ist nichts zu sagen, und gerne, wie es sich gehört. Aber sie hat das Zeug im Blut, das merkt man. Damit muß man geboren werden. Sie ist fertig: Musique, schreit sie. Und der Alte trommelt los wie vierzehn Trommeln. Père Rollin, Heh, Père Rollin: ruft jemand aus den Zuschauern, der hinzutritt eben und ihn erkennt. Aber er nickt nur nebenbei; das Trommeln ist eine Ehrensache und er nimmt es ernst.

[1139]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Rilke, Rainer Maria. Dichtungen in Prosa. [Prosagedichte]. [Saltimbanques]. [Saltimbanques]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-94F5-4