[320] [345]Demnächst und Gestern

So ist es immer der gleiche Weg. Von dem geheimnisvollen, großsprecherischen »Demnächst« zu dem zaghaften Heute, vor welchem sich der Vorhang enthüllend hebt. Fast wie bei einer Gerichtsverhandlung geht es da zu bei den Premièren. Und fast immer führt sich der Autor nach jedem Akt als mildernden Umstand vor, indem er sich devot verneigt, lächelt und sein Lächeln [345] reden läßt: »Bitte, seien Sie nur gerecht; richten Sie relativ; wenn ich Ihnen auch nicht viel gebe, seh ich aus, als ob ich mehr geben könnte! Urteilen Sie selbst!« Pause.

Ecce homo.

Und das Publikum denkt: Ja, in Anbetracht... und es klatscht seinen Freispruch. Es will ihn nicht ans Kreuz. Es ist manierlicher und auch vorsichtiger als seine Ahnen aus des Pilatus Tagen.

Und am anderen Morgen beginnt der Theaterbericht: »Gestern war...« Und wenn er hier aufhörte, ist das nicht auch ein Urteil?


*


Es liegt nahe, von den verschiedenen kleinen Demnächst abzusehen und zu fragen, ob hinter dem ernsten Demnächst des Dramas als solchem auch ein trauriges »Gestern war« wartet.

Unsere Zeit hat uns eine Fülle neuer Aufschlüsse über die Kunst vermittelt, und wenn das große Geheimnis, dem wir entgegenlauschen, auch nicht redselig wurde, vielleicht sind wir schweigsamer geworden, da wir beginnen, es zu verstehen, da wir nicht mehr nach großen Stoffen suchen, überhaupt nicht mehr »suchen« und unsere Freude haben, wenn wir dennoch finden. Und gerade die unscheinbarsten Funde sind uns die allerliebsten. Das ist eines der mächtigsten Erkenntnisse: Alles ist Inhalt und kann etwas bedeuten. Seine Bedeutung gewinnt es durch die Form, das heißt durch die Art, wie es sich abgrenzt gegen das Viele und Fremde. [346] Und dem geringsten Stoff seine Seele zu geben, zu erraten, in welchen Grenzen das Unbedeutende ein Ganzes und somit ein Ereignis wird, dem tiefsten, niemals geoffenbarten Willen des Stoffes Erfüllung zu schenken, das scheint mir im Augenblicke die erlösende Aufgabe des Künstlers zu sein. Ist dem so, dann gewinnt aber auch die Form eine seltsame Wichtigkeit. Sie ist dann das eigentlich Intime, das Aufrichtige an dem Kunstwerke. Und ein Werk muß bedeutend an Wert einbüßen, welches dem Zufall und der Willkür irgendwann Anteil an der Bestimmung seiner äußeren Gestalt gewährt, jenem Werke gegenüber, bei dem jede Biegung und jede Bucht der Grenzlinie eine Offenbarung der Liebe und der Sehnsucht des Künstlers ist. Das Drama gehört nicht zu dieser letzten Art. Noch unerstarrt, wie ein weiches Tonbild, gleitet es dem Dichter aus den Händen und wird von der nachratenden Willkür und dem willkürlichen Verständnis der Vielen zu Ende geknetet. Unter besonders günstigen Umständen ist es ja möglich, daß der Dichter die Gruppe von Menschen und die Menge der Geräte, welche der Materialisation seines Spieles dienstbar sind, so souverän beherrscht, daß seine Absicht endlich ziemlich klar zum Ausdruck kommt; aber dazu gehört eine andere Begabung als die des Poeten; diesem fehlt meistens das Überschauen der Dinge, das zum Werkzeug Herabzwingen der Menschen, das rücksichtslose Knechten fremder Willen, welches großen Feldherren siegen hilft. Und wenn einer alles das besäße und seiner Persönlichkeit Ausdruck gäbe in Menschen wie in großen [347] Lettern, die individuelle Form des Werkes wäre doch nur für einen Abend bestimmt; und die Nachbarbühne könnte vierundzwanzig Stunden später, selbst unter der Leitung guter Regisseure, kaum eine leise Familienähnlichkeit in die Züge desselben Dramas legen. Dieses Flüchtige, Vorübergehende giebt dem Werke das Aussehen einer Improvisation und den Rang einer solchen.

Was dann als dauernd aufbewahrt wird, ist meistens – ein Buch zu viel, welches ganz hilflos bleibt, so lange nicht einmal wieder Menschen und Farben und Lichter sich seiner annehmen. Und wenn man zwei solche Bücher vergleicht, eines von vor fünfzig Jahren und eines von heute, da fallt zunächst auf: die Bemerkungen im Texte sind ganz bedeutend angewachsen und stellen tausend oft kaum vom Mimen erfüllbare Anforderungen; dagegen ist der Text selbst klein und kurz geworden, die Dialoge sind von der Lebendigkeit der Stichomythie, die Monologe fehlen und die Ensembleszenen haben nicht mehr die monotone Geschwätzigkeit des Operettenchors. Das Erstere begründet sich in dem oft unbewußten Streben des Dichters, dem unvollendeten Werke recht viel eigenes Zeug mit auf den Weg zu geben, damit die fremden Hände es verständig anfügen könnten. Die Kürze des Textes aber rührt daher: die modernen Dichter haben den Glauben an das Wort verloren. Das Publikum hat noch immer die Überzeugung, daß im Wort die Steigerung, der Fortschritt, die Katastrophe läge, oder doch, daß dieses das äußere Zeichen dafür wäre. Der Dichter erkannte längst so: das [348] Schweigen ist das Geschehen, das Wort die Verzögerung. Und er denkt dabei an das Wort, wie es als gebräuchliche Währung gilt im Tauschverkehr des Lebens. Sein Wort zum Beispiel in der Lyrik, welches sich selbst Hintergrund und Glanz und Tiefe geben muß, hat ja nichts mit die ser Scheidemünze gemein, aber sein Wort im Drama, welchem die vielen dienstbereiten Dinge alle Pflichten abnehmen, ist schließlich ganz dasselbe Tauschmittel des Alltags. Und an dieses* Wort glaubt er ja nicht mehr. Er weiß, es kann keine Katastrophen bedeuten, es kann zwischen zwei Menschen weder Glück, noch Feindschaft stiften, weil es sich zwischen ihnen aufbaut wie eine Wand. Es ist die Holzklapper des Aussätzigen, welche warnt: Platz! ich nahe! Platz! ich nahe! Und jeder flieht tief in sich selbst und klappert auch.

Und so sind wir Ganzeinsame. Jeder für sich. Und sobald wir dieses einsehen, erkennen wir, wie undramatisch wir sind. Wie es nur vor dem großen und leichtgläubigen Publikum möglich ist, zu behaupten, zwischen den Menschen auf der Bühne bestände ein Zusammenhang, ähnlich dem im Leben.

Wir leben ja so leise, und unsere größten Katastrophen sind in uns so tief, daß nur ihre letzten Wellen an unsere Oberfläche rühren. Und wollte einer dennoch ein Drama schreiben aus unserem echten Erleben heraus, die Schauspieler würden gerade seine erschütterndsten Enthüllungen offenbaren, wenn das Publikum glaubt; aber sie rühren sich ja gar nicht.

Schon jetzt beginnen die Dichter, sich zu verraten. Es [349] giebt Schweigsamkeiten in ihren Stücken, welche das Publikum gerne durch sein Lachen belebt. Und da das den Autoren unbequem ist, begnügen sie sich mit alten Formen und schreiben wieder Marchen und realistische Stücke und beides durcheinander. Das Publikum glaubt daran. Es wird noch lange daran glauben, und so lange wird es Dramen geben.

Aber wenn es möglich ist, daß die leisen und heimlichen Erkenntnisse, welche in den Einsamen sich vorbereiten, einmal das unbewußte Wissen der Menge werden, wird auch in ihr kein Bedürfnis mehr wach sein nach einer Kunst, die ihre Vollendung nicht von den Händen des Schöpfers, sondern von hundert rohen Zufälligkeiten empfängt. Sie wird empfinden, daß ein Kunstwerk immer nur einem Einzelnen gehören kann, nicht zugleich einer bunten Menge, drin »jeder« andere Augen hat, andere Ohren und eine nach anderem hungernde Seele. Ist das bald?

Es werden noch viele Dramen geschrieben werden bis dahin. Auch viele gute; denn auch ein unreifes Bedürfnis kann schön befriedigt werden. Und wenn die Dichter aufrichtig sind, kann vielleicht gerade auf diesem leicht zugänglichen Wege die Lehre von dem leisen Leben unter die Menge kommen. Dann hat das Drama noch eine große und reiche Pflicht zu erfüllen, ehe hinter seinem letzten »Demnächst« das abschließende »Gestern war –« steht.

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TextGrid Repository (2012). Rilke, Rainer Maria. Theoretische Schriften. [Aufsätze und Rezensionen]. Demnächst und Gestern. Demnächst und Gestern. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9355-5