Der Bettler und das stolze Fräulein

Es traf sich, daß wir – der Herr Lehrer und ich – Zeugen wurden folgender kleinen Begebenheit. Bei uns, am Waldrand, steht bisweilen ein alter Bettler.

Auch heute war er wieder da, ärmer, elender als je, durch ein mitleidiges Mimikry fast ununterscheidbar von den Latten des morschen Bretterzauns, an denen er lehnte. Aber da begab es sich, daß ein ganz kleines Mädchen auf ihn zugelaufen kam, um ihm eine kleine Münze zu schenken. Das war weiter nicht verwunderlich, überraschend war nur, wie sie das tat. Sie machte einen schönen braven Knicks, reichte dem Alten rasch, als ob es niemand merken sollte, ihre Gabe, knickste wieder, und war schon davon. Diese beiden Knickse aber waren mindestens eines Kaisers wert. Das ärgerte den Herrn Lehrer ganz besonders. Er wollte rasch auf den Bettler zugehen, wahrscheinlich, um ihn von seiner Zaunlatte zu verjagen; denn wie man weiß, war er im Vorstand des Armenvereins und gegen den Straßenbettel eingenommen. Ich hielt ihn zurück. »Die Leute [379] werden von uns unterstützt, ja man kann wohl sagen, versorgt«, eiferte er. »Wenn sie auf der Straße auch noch betteln, so ist das einfach – Übermut.« »Verehrter Herr Lehrer –«, suchte ich ihn zu beruhigen, aber er zog mich immer noch nach dem Waldrand hin. »Verehrter Herr Lehrer –,« bat ich, »ich muß Ihnen eine Geschichte erzählen.« »So dringend?« fragte er giftig. Ich nahm es ernst: »Ja eben jetzt. Ehe Sie vergessen, was wir da gerade zufällig beobachtet haben.« Der Lehrer mißtraute mir seit meiner letzten Geschichte. Ich las das von seinem Gesichte und begütigte: »Nicht vom lieben Gott, wirklich nicht. Der liebe Gott kommt in meiner Geschichte nicht vor. Es ist etwas Historisches.« Damit hatte ich gewonnen. Man muß nur das Wort »Historie« sagen, und schon gehen jedem Lehrer die Ohren auf; denn die Historie ist etwas durchaus Achtbares, Unverfängliches und oft pädagogisch Verwendbares. Ich sah, daß der Herr Lehrer wieder seine Brille putzte, ein Zeichen, daß seine Sehkraft sich in die Ohren geschlagen hatte, und diesen günstigen Moment wußte ich geschickt zu benutzen. Ich begann:

»Es war in Florenz. Lorenzo de' Medici, jung, noch nicht Herrscher, hatte gerade sein Gedicht ›Trionfo di Bacco ed Arianna‹ ersonnen, und schon wurden alle Gärten davon laut. Damals gab es lebende Lieder. Aus dem Dunkel des Dichters stiegen sie in die Stimmen und trieben auf ihnen, wie auf silbernen Kähnen, furchtlos, ins Unbekannte. Der Dichter begann ein Lied, und alle, die es sangen, vollendeten es. Im ›Trionfo‹ [380] wird, wie in den meisten Liedern jener Zeit, das Leben gefeiert, diese Geige mit den lichten, singenden Saiten und ihrem dunklen Hintergrund: dem Rauschen des Blutes. Die ungleichlangen Strophen steigen in eine taumelnde Lustigkeit hinauf, aber dort, wo diese atemlos wird, setzt jedesmal ein kurzer, einfacher Kehrreim an, der sich von der schwindelnden Höhe niederneigt und, vor dem Abgrund bang, die Augen zu schließen scheint. Er lautet:


Wie schön ist die Jugend, die uns erfreut,
Doch wer will sie halten? Sie flieht und bereut,
Und wenn einer fröhlich sein will, der sei's heut,
Und für morgen ist keine Gewißheit.

Ist es wunderlich, daß über die Menschen, welche dieses Gedicht sangen, eine Hast hereinbrach, ein Bestreben alle Festlichkeit auf dieses Heute zu türmen, auf den einzigen Fels, auf dem zu bauen sich verlohnt? Und so kann man sich das Gedränge der Gestalten auf den Bildern der Florentiner Maler erklären, die sich bemühten, alle ihre Fürsten und Frauen und Freunde in einem Gemälde zu vereinen, denn man malte langsam, und wer konnte wissen, ob zur Zeit des nächsten Bildes alle noch so jung und bunt und einig sein würden. Am deutlichsten sprach dieser Geist der Ungeduld sich begreiflichermaßen bei den Jünglingen aus. Die glänzendsten von ihnen saßen nach einem Gastmahle auf der Terrasse des Palazzo Strozzi beisammen und plauderten von den Spielen, die demnächst vor der Kirche Santa Croce stattfinden sollten. Etwas abseits in einer Loggia stand Palla degli Albizzi mit seinem [381] Freunde Tomaso, dem Maler. Sie schienen etwas in wachsender Erregung zu verhandeln, bis Tomaso plötzlich rief: ›Das tust du nicht, ich wette, das tust du nicht!‹ Nun wurden die anderen aufmerksam. ›Was habt ihr?‹ erkundigte sich Gaetano Strozzi und kam mit einigen Freunden näher. Tomaso erklärte: ›Palla will auf dem Feste vor Beatrice Altichieri, dieser Hochmütigen, niederknien und sie bitten, sie möchte ihm gestatten, den staubigen Saum ihres Kleides zu küssen.‹ Alle lachten, und Lionardo, aus dem Hause Ricardi, bemerkte: ›Palla wird sich das überlegen; er weiß wohl, daß die schönsten Frauen ein Lächeln für ihn haben, das man sonst niemals bei ihnen sieht.‹ Und ein anderer fügte hinzu: ›Und Beatrice ist noch so jung. Ihre Lippen sind noch zu kinderhaft hart, um zu lächeln. Darum scheint sie so stolz.‹ ›Nein –,‹ erwiderte Palla degli Albizzi mit übermäßiger Heftigkeit, ›sie ist stolz, daran ist nicht ihre Jugend schuld. Sie ist stolz wie ein Stein in den Händen Michelangelos, stolz wie eine Blume an einem Madonnenbild, stolz wie ein Sonnenstrahl der über Diamanten geht –‹ Gaetano Strozzi unterbrach ihn etwas streng: ›Und du, Palla, bist nicht auch du stolz? Was du da sagst, das kommt mir vor, als wolltest du dich unter die Bettler stellen, die um die Vesper im Hofe der Sma Annunziata warten, bis Beatrice Altichieri ihnen mit abgewendetem Gesicht einen Soldo schenkt.‹ ›Ich will auch dieses tun!‹ rief Palla mit glänzenden Augen, drängte sich durch die Freunde nach der Treppe durch und verschwand. Tomaso wollte ihm nach. ›Laß,‹ hielt Strozzi [382] ihn ab, ›er muß jetzt allein sein, da wird er am ehesten vernünftig werden.‹ Dann zerstreuten sich die jungen Leute in die Gärten.

Im Vorhofe der Santissima Annunziata warteten auch an diesem Abend etwa zwanzig Bettler und Bettlerinnen auf die Vesper. Beatrice, welche sie alle dem Namen nach kannte, und bisweilen auch in ihre armen Häuser an der Porta San Niccolò zu den Kindern und zu den Kranken kam, pflegte jeden von ihnen im Vorübergehen mit einem kleinen Silberstück zu beschenken. Heute schien sie sich etwas zu verspäten; die Glocken hatten schon gerufen, und nur Fäden ihres Klanges hingen noch an den Türmen über der Dämmerung. Es entstand eine Unruhe unter den Armen, auch weil ein neuer unbekannter Bettler sich in das Dunkel des Kirchentors geschlichen hatte, und eben wollten sie sich seiner erwehren in ihrem Neid, als ein junges Mädchen in schwarzem, fast nonnenhaftem Kleide im Vorhofe erschien und, durch ihre Güte gehemmt, von einem zum anderen ging, wahrend eine der begleitenden Frauen den Beutel offen hielt, aus welchem sie ihre kleinen Gaben holte. Die Bettler stürzten in die Knie, schluchzten und suchten ihre welken Finger eine Sekunde lang an die Schleppe des schlichten Kleides ihrer Wohltäterin zu legen, oder sie küßten auch den letzten Saum mit ihren nassen, stammelnden Lippen. Die Reihe war zu Ende; es hatte auch keiner von den Beatrice wohlbekannten Armen gefehlt. Aber da gewahrte sie unter dem Schatten des Tores noch eine fremde Gestalt in Lumpen und erschrak. [383] Sie geriet in Verwirrung. Alle ihre Armen hatte sie schon als Kind gekannt, und sie zu beschenken, war ihr etwas Selbstverständliches geworden, eine Handlung wie etwa die, daß man die Finger in die Marmorschalen voll heiligen Wassers hält, die an den Türen jeder Kirche stehen. Aber es war ihr nie eingefallen, daß es auch fremde Bettler geben könnte; wie sollte man das Recht haben, auch diese zu beschenken, da man sich das Vertrauen ihrer Armut nicht verdient hatte durch irgend ein Wissen darum? Wäre es nicht eine unerhörte Überhebung gewesen, einem Unbekannten ein Almosen zu reichen? Und im Widerstreit dieser dunkeln Gefühle ging das Mädchen, als ob es ihn nicht bemerkt hätte, an dem neuen Bettler vorbei und trat rasch in die kühle, hohe Kirche ein. Aber als drinnen die Andacht begann, konnte sie sich keines Gebetes erinnern. Eine Angst überkam sie, daß der arme Mann nach der Vesper nicht mehr am Tore zu finden sein würde und daß sie nichts getan hatte, seine Not zu lindern, während die Nacht so nahe war, darin alle Armut hilfloser und trauriger ist als am Tag. Sie machte derjenigen von ihren Frauen, die den Beutel trug, ein Zeichen und zog sich mit ihr nach dem Eingang zurück. Dort war es indessen leer geworden; aber der Fremde stand immer noch, an eine Säule gelehnt, da und schien dem Gesang zu lauschen, der seltsam fern, wie aus Himmeln, aus der Kirche kam. Sein Gesicht war fast ganz verhüllt, wie es manchmal bei Aussätzigen der Fall ist, die ihre häßlichen Wunden erst entblößen, wenn man nahe vor ihnen steht und sie [384] sicher sind, daß Mitleid und Ekel in gleichem Maße zu ihren Gunsten reden. Beatrice zögerte. Sie hatte den kleinen Beutel selbst in Händen und fühlte nur wenige geringe Münzen darin. Aber mit einem raschen Entschluß trat sie auf den Bettler zu und sagte mit unsicherer, etwas singender Stimme und ohne die flüchtenden Blicke von den eigenen Händen zu heben: ›Nicht um Euch zu kränken, Herr... mir ist, erkenn ich Euch recht, ich bin in Eurer Schuld. Euer Vater, ich glaube, hat in unserem Haus das reiche Geländer gemacht, aus getriebenem Eisen, wißt Ihr, welches die Treppe uns ziert. Später einmal – fand sich in der Kammer, – darin er manchmal bei uns zu arbeiten pflegte, – ein Beutel – – ich denke – er hat ihn verloren – gewiß –.‹ Aber die hilflose Lüge ihrer Lippen drückte das Mädchen vor dem Fremden in die Kniee. Sie zwang den Beutel aus Brokat in seine vom Mantel verhüllten Hände und stammelte: ›Verzeiht –.‹

Sie fühlte noch, daß der Bettler zitterte. Dann flüchtete Beatrice mit der erschrockenen Begleiterin zurück in die Kirche. Aus dem eine Weile geöffneten Tor brach ein kurzer Jubel von Stimmen. – Die Geschichte ist zu Ende. Messer Palla degli Albizzi blieb in seinen Lumpen. Er verschenkte seine ganze Habe und ging barfuß und arm ins Land. Später soll er in der Nähe von Subiaco gewohnt haben.«

»Zeiten, Zeiten«, sagte der Herr Lehrer. »Was hilft das alles; er war auf dem Wege ein Wüstling zu werden und wurde durch diese Begebenheit ein Landstreicher, ein Sonderling. Heute weiß gewiß kein [385] Mensch mehr von ihm.« »Doch,« – erwiderte ich bescheiden, – »sein Name wird bisweilen bei den großen Litaneien in den katholischen Kirchen unter den Fürbittern genannt; denn er ist ein Heiliger geworden.«

Die Kinder haben auch diese Geschichte vernommen, und sie behaupten, zum Ärger des Herrn Lehrer, auch in ihr käme der liebe Gott vor. Ich bin auch ein wenig erstaunt darüber; denn ich habe dem Herrn Lehrer doch versprochen, ihm eine Geschichte ohne den lieben Gott zu erzählen. Aber, freilich: die Kinder müssen es wissen!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Rilke, Rainer Maria. Erzählungen und Skizzen. Geschichten vom lieben Gott. Der Bettler und das stolze Fräulein. Der Bettler und das stolze Fräulein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-92D7-9