Wilhelm Raabe
Frau Salome

[291] Erstes Kapitel

Johannes Falk in seinem Buche über Goethe schildert sehr hübsch einen Besuch, den er an einem Sommernachmittage im Jahre 1809 dem Dichter abstattete, Er fand ihn bei milder Witterung vor einem kleinen Tische in seinem Garten sitzend und eine kleine Schlange in einem langgehalsten Zuckerglase mit einem Federkiele fütternd.

»Die herrlich verständigen Augen!« sagte Goethe. »Mit diesen Augen ist freilich manches unterwegs, aber, weil es das unbeholfene Ringeln des Körpers nun einmal nicht zuläßt, wenig genug angekommen. Hände und Füße ist die Natur diesem länglich ineinandergeschobenen Organismus schuldig geblieben, wiewohl dieser Kopf und diese Augen beides wohl verdient hätten; wie sie denn überhaupt manches schuldig bleibt, was sie für den Augenblick fallenläßt, aber späterhin doch wieder unter günstigeren Umständen aufnimmt.«

Nun erscheint auch Frau von Goethe im Garten, ruft schon von weitem, wie herrlich der Feigenbaum in Blüten und Laub stehe, erkundigt sich nach dem Namen der ausländischen Pflanze, »die uns neulich ein Mann aus Jena herüberbrachte« – nämlich nach der großen Nieswurz, und fragt, ob die schönen Schmetterlinge aus den Kokons von eingesponnenen Raupen, die in einer Schachtel neben dem Zuckerglase liegen, noch immer nicht erscheinen wollen. Dann sagt sie mit einem Seitenblicke auf die Schlange:

»Aber wie können Sie nur ein so garstiges Ding wie dieses um sich leiden oder es gar mit eigenen Händen großfüttern? Es ist ein so unangenehmes Tier. Mir graut jedesmal, wenn ich es nur ansehe.«

[291] »Schweig du!« meint der Geheimerat und fügt, gegen den Besucher gewendet, hinzu: »Ja, wenn die Schlange ihr nur den Gefallen erzeigte, sich einzuspinnen und ein schöner Sommervogel zu werden, da würde von dem greulichen Wesen gleich nicht weiter die Rede sein. Aber, liebes Kind, wir können nicht alle Sommervögel und nicht alle mit Blüten und Früchten geschmückte Feigenbäume sein. Arme Schlange! Sie vernachlässigen dich! Sie sollten sich deiner besser annehmen! Wie sie mich ansieht! Wie sie den Kopf emporstreckt! Ist es nicht, als ob sie merkte, daß ich Gutes von ihr mit euch spreche! Armes Ding! Wie das drinnen steckt und nicht heraus kann, so gern es auch wollte! Ich meine zwiefach, einmal im Zuckerglas und sodann in dem Hauptfutteral, das ihr die Natur gab.«

Das ist ein sonderbarer Anfang für eine Geschichte, die mit dem seligen Legationsrat Falk in seinem Buche: »Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt«, sonst nichts zu schaffen hat! Doch hören wir weiter.

An einem der Wege, die zum Brocken hinaufführen, liegt ein Wirtshaus mit seinen Nebengebäuden und einem kleinen Garten, in dem aber, der Höhe wegen, wenig wächst und welchem man seinen Namen und Titel nur aus Höflichkeit oder Bequemlichkeit gibt wie so manchem andern Dinge in dieser Welt.

Das Haus wie die Stallungen sind niedrige, langgestreckte Bauwerke, das Mauerwerk ist von einer in der Ebene unbekannten Dicke, die Schiebefenster sind klein und tief in die Mauer eingelassen; kurz, alles ist auf Sturmwind, Regenstöße, Schneewehen, lange Winter und kurze Sommer so fürsorglich als möglich eingerichtet: der Wirt, die Wirtin und das Dienstvolk desgleichen. Eine moderne Hotelbesitzerfamilie, die auf einer Tour in das Gebirge hier vorspricht, mag wohl ihre Betrachtungen über den Gegensatz zwischen ihr und den Leuten und Zuständen dieses Berghauses anstellen. Nun, es kann nicht jeder seine »bougies« unter den Linden, den Rhein entlang oder am Jungfernstiege in Rechnung stellen.

Das Berghaus liegt schon in einer Gegend, wo die Tannen und Birken anfangen zu verkrüppeln. Das Wasser sickert moorig [292] zwischen dem Gestein, den Heidelbeeren und der Heide, und der Wind hört selten auf zu singen; aber gewöhnlich heult er. Nur noch ein wenig höher hinauf erscheint das Isländische Moos auf den Felsblöcken, und wer den Wind singen hört und das Plaid fester um Hals und Ohren zieht, begreift die Fürsorge der Vorsehung; recht sorgliche Charaktere denken auch wohl an ihren Hausarzt und senden ihm einen stillen Gruß.

Dessenungeachtet ist der Weg viel betreten, beritten und befahren, vorzüglich im Sommer. Vielgestaltig und vielgeschäftig geht's und kommt's, geht vorbei oder kehrt ein, und Langeweile hat weder der Wirt noch seine robuste Ehehälfte und sein Dienstpersonal – im Winter nur soviel davon als der Hamster, das Murmeltier, und wie sonst die behaglichen Geschöpfe heißen, welche die unangenehme Zeit des Jahres ruhig verschlafen.

Nun war es im Sommer, in den Tagen, wo die Erdbeeren rot und die Heidelbeeren schwarz werden, wo der Fingerhut seine roten Kerzen anzündet und das Harz duftiger und reichlicher den Tannen und Fichten entquillt. Die Sonne lag auf dem Gebirge, die Quellen rauschten zur Tiefe hinab; und aus der Tiefe her, aus der Ebene der Kultur hatte die gewöhnliche Völkerwanderung ihre Züge in die schöne Wildnis aufgenommen. Alle Reitesel und Maultiere in den Ortschaften der Ausgangstäler hatten ihre trüben Erinnerungen vom vorigen Jahre aufgefrischt und bekräftigten sich von neuem in der Meinung, daß der besser gekleidete Teil der Menschheit abermals verrückt geworden sei; und abermals hatten sie ihre Last auf sich zu nehmen und wie die verlorengegangene Königstochter von Antiochien im »Perikles, Prinz von Tyrus« alle möglichen Temperamente kennenzulernen.

Es war am Nachmittage gegen drei Uhr, und augenblicklich hatte ein einziger Gast alles, was das Bergwirtshaus an Genüssen und Bequemlichkeiten zu bieten hatte, zu seiner Verfügung Er sah aber aus, als ob er sich zu bescheiden wisse und wahrscheinlich seinen Grund dafür habe.

Neben der niederen Eingangstür der Wirtschaft ist ein Steinwall zum Schutz gegen den Wind aufgeschichtet, im Halbrund [293] um eine roh auf Pfählen befestigte Tischplatte und eine gleichfalls im Boden befestigte Bank.

»Da setzen wir uns nicht hin«, pflegten gewöhnlich die einkehrenden Touristen zu sagen; aber es war dessenungeachtet oder gerade darum kein übler Platz. Man vernahm von hier aus das leise Geläut der Kuhglocken in den Tälern und hatte einen vollen Blick auf das bergan sich dehnende Felsenmeer. Auch die Straße, wie sie von der Höhe kam, übersah man bis zur nächsten Wendung, und das war zu keiner Zeit des Jahres, und um diese am wenigsten, ohne Interesse.

Der einsame Gast hatte sich dahingesetzt, und er sah auch wahrlich nicht aus, als ob er sich sehr vor Zugluft in acht zu nehmen habe. Er war ein verwitterter und, wie der größere Teil der Touristenscharen sagen würde, ein verwahrloster alter Gesell, der denn auch sein Gläschen Nordhäuser vor sich hatte und eben im Begriff war, eine abgenutzte, abgesogene, abgekaute kurze Pfeife aus einer Schweinsblase von neuem zu füllen. Er saß in einem graubraunschwarzen abgetragenen Rocke, Gamaschen über den derben, bestaubten Nägelschuhen und eine alte schwarze Mütze mit breitem Schirm auf dem grauen Schädel. Er trug eine Brille, doch durch die Gläser derselben leuchteten Augen von einem so sonderbar klaren bläulichten Glanz, daß es schwer hielt, an eine irgend bedeutende Kurzsichtigkeit des Alten zu glauben. Ein tüchtiger Knittel lehnte neben ihm an der Bank. Auf seinen Visitenkarten (er führte dergleichen und legte sie unter Umständen auf den Tisch oder gab sie an der Tür ab) stand:


Justizrat Scholten.


»Sie wundern sich?« pflegte er zu sagen, wenn sich jemand darüber wunderte.

Es kann auch nicht jedermann aus Quakenbrück im Fürstentum Osnabrück sein; doch des Justizrats Wiege hatte wirklich daselbst gestanden, und seine Eltern waren aus Haselünne an der Hase gewesen, einer Ortschaft, die schon ganz bedenklich der niederländischen Grenze nahe liegt, und zwar im Herzogtum Arenberg-Meppen.

[294] Das sind eigentümliche Erdstriche, die eigentümliche Kreaturen hervorbringen. Der Justizrat Scholten stammte, und sein bester Freund ebenfalls, dorther; aber sein allerbester Freund saß zu Pilsum, einem Dorfe an der Emsmündung, und las Jakob Böhmen mit der Aussicht aufs Pilsumer Watt. Der Justizrat las Voltaire in einem Harzdorfe unter dem Blocksberge.

Zweites Kapitel

Der Alte war mit dem Stopfen seiner Pfeife zustande gekommen und nahm Stahl, Stein und Zunder aus der Tasche. Er behauptete, Schwefelgeruch falle ihm auf die Lungen, und führte deshalb kein modernes Feuerzeug; aber da er gestern abend durch einen argen Gewittersturm gewandert war, so wollte diesmal der Schwamm nicht fangen, und nach längerem vergeblichem Bemühen schob der Justizrat Scholten sein Gerät wieder ein und rief:

»Feuer, Herr Wirt!«

Der Wirt steckte den Kopf aus dem offenen Fenster seiner Gaststube, um sich genauer zu vergewissern, wer da so kurz etwas von ihm wünsche, und als er sich überzeugt hatte, daß es nur der Alte und kein neuer Gast sei, tat er natürlich, als habe er nicht gehört, blickte nach dem schnellen weißen Sommergewölk am Himmel und brummte innerlich:

›Dir werd ich auch einen Oberkellner halten, alter Stänker! Marschier in die Küche und hol dir selber, was du brauchst.‹

Der Justizrat sagte auch weiter nichts; aber er schob die Brille auf die Stirn empor und sah den Herrn Wirt an.

»Hm – na – nu!« murmelte der Wirt, zog vollständig überwunden den Kopf ins Zimmer, um dem Gast auf der Bank vor dem Fenster ein Feuerzeug in Gestalt eines steinernen Turmes mit den dazugehörigen Zündhölzern zu reichen.

»Hier, Herr Rat! Sie waren es mit Erlaubnis, der rief?«

»Ich war es mit Erlaubnis«, sagte der Alte, erhob sich von seinem Sitze und ging in die Küche an den Herd, wo ein helles [295] Feuer einen Wasserkessel im Sieden erhielt und zwei junge derbe Gebirgsmägde mit Kaffeerösten und Mahlen beschäftigt waren. Höflich nahm der Justizrat Scholten die Mütze ab:

»Guten Tag, Jungfern. Welche von euch will einmal in meine Pfeife gucken, um mir den Griff mit der Zange in die Kohlen zu ersparen? Ist das eine Hexenküche! Hört einmal, Mädchen, wenn ihr euch nicht in acht nehmt, holt man euch doch noch vom Berg herunter, und wenn nicht vors Kriminalgericht, so doch zuerst vor den Herrn Pastor und dann vor seinen Altar in der Kirche. Ich rate euch, hütet euch, ich bin mehr als einmal dabeigewesen – es werden da verdammt verfängliche Fragen vorgelegt, und ohne Tränen geht es nicht ab – alle Kameradinnen schnucken und heulen mit, und der Müller unten vor dem Dorfe hat auch im trockensten Sommer mit einem Male Wasser im Überfluß.«

»Uh Herrje!« riefen die zwei Dirnen aus einem Munde und kicherten hinter ihren Schürzen, obgleich sie den grauen Witzbold keineswegs ganz verstanden. Sie verstanden ihn aber gut genug, und als er sich gemütlich auf die Wasserbank setzte, kam die jüngste und hübscheste eilig und höflich mit einem brennenden Span und hielt ihm den auf die Pfeife.

»Guten Tag, Herr Justizrat; sind Sie auch einmal wieder da? Man hat Sie lange nicht zu Gesichte gekriegt.«

»Den ganzen Winter nicht. Und hat man mich wirklich hier vermißt in der Küche?«

»Ei freilich, Herr Rat. Solch einen –«

»Nun, was solch einen –?«

»Ja, Riekchen, sag du's lieber!« kicherte die Rednerin hinter ihrer Schürze; aber Riekchen versteckte sich auch nur verlegen lachend hinter einem Handtuche, und es blieb dem alten Scholten nichts weiter übrig, als den Satz zu Ende zu bringen.

»Solch einen schnurriosen – niederträchtigen – und in der Weltgeschichte drunten in den Dörfern wohlbesschlagenen Kalendermacher und Wetterkündiger sähe man wohl in allen Nöten des Tages und der Nacht gern den Schnabel in die Tür schieben – he?! Jaja, ich will's wohl glauben, es gibt allmählich mehr als einen Kochherd, mehr als einen Kuh-, Pferde- und Eselstall, [296] mehr als eine Spinnstube, wo man nach mir fragt, wenn ich lange nicht nachgefragt habe.«

»Und was bringen Sie uns denn diesmal Neues mit, Herr Justizrat?«

»Auf die Frage war ich auch schon gefaßt, mein Kind; Neues? – Nun, es ist mir dunkel so, als sei mancherlei Kurioses vorgefallen; ich habe aber leider Gottes alles wieder vergessen.«

»Ach, Herr Rat!« riefen beide Mägde.

»Aber wartet einmal! Ja, in Elbingerode hat's einen argen Lärm in Mayers Hause gegeben –«

»Liebstes Leben – wieder einmal!« rief das eine Kind, ließ den Griff der Kaffeemühle fahren und sah kläglich auf den wunderlichen Botschafter.

»Sie hatten ihn nach Goslar auf den Schützenhof eingeladen, und beide Alten setzten natürlich ihren Kopf auf, und der Alte schlug auf den Tisch und verlangte, daß nun endlich die Sache mit der Karoline von den Farbensümpfen in Richtigkeit gebracht werde; das Jahr solle nicht hingehen, ohne daß Hochzeit gehalten werde –«

»O du lieber Gott!« schluchzte die Kaffeemüllerin.

»Na, nur stille«, sagte Scholten. »Sie hätten eher den Rammelsberg als ihn zum Wackeln gebracht. Ihm eile es nicht so wie der Goslarschen Base, meinte er. Der Teufel solle ihn holen, wenn er sich da so mir nichts dir nichts in den Sumpf reiten lasse. Er sei ein Bergmann und wolle mit der Oker-Schlemme nichts zu tun haben; gelb sei nicht seine Leibfarbe, und wenn er gegen das Heiraten an und für sich wenig einzuwenden habe, so komme es doch immer darauf an, mit wem man sich vom Pastor von der Kanzel werfen lasse. Prügel mit der zärtlichen Verwandtschaft in Goslar wie im vergangenen Jahre könne es wohl setzen –«

»O der gute Junge!«

»Jawohl, so weit ging seine Güte. In der Hinsicht ist die Menschheit ein Herz und eine Seele, ich kann das hundertfach aus meinen Akten nachweisen, ihr dummen Dinger; aber cherchez la femme – wenn ihr Französisch verständet, so wüßtet ihr, was ich sagen will.«

[297] »Ach, sagen Sie es uns nur auf deutsch«, meinte Riekchen, die bis jetzt stumm, aber mit aufgespanntesten Herzens- und Verstandeskräften zugehört hatte.

»So?« brummte Scholten. »Gönnst du ihn ihr denn? Dir wär's wohl ein gefunden Fressen gewesen, wenn ich ihr gleich den Absagebrief in der Tasche mitgebracht hätte? Nun, sei nur ruhig; in Rübeland bin ich auch gewesen, und deinen habe ich gleichfalls gesprochen. Das ist ein höflicher Mensch, sonst hätte man ihn auch nicht zum Fremdenführer in der Baumannshöhle gemacht. Der weiß ein Wort mit den Damen zu sprechen! Und in Goslar ist er auch gewesen und hat sich recht ›amesiert' ‹ –«

»Und ich schlage ihm alle Knochen entzwei, wenn er sich hier wieder am Brocken blicken läßt!« rief Riekchen, die duftenden Bohnen in ihrer Pfanne schüttelnd und zu gleicher Zeit zwischen die flackernden, krachenden, knackenden Tannenscheiter fahrend, als habe sie eine Million Sünder am weiblichen Herzen im ewigen Höllenfeuer zu rösten. »Sonst weiß ich aber auch gar nicht, weshalb Sie mir das erzählen, Herr Rat. Was geht es denn mich an, ob er nach Goslar oder ob er nach Amerika gegangen ist?«

»Puh«, sagte Scholten, »meinetwegen wollen wir uns nächsten Sommer wiedersprechen. Jetzo aber brennt meine Pfeife, und – Lieschen, ich habe eine Ahnung, daß er's nächste Woche möglich macht und sich heraufschleicht, und wenn es auch nur wäre, um dem Linchen aus den Goslarschen Farbensümpfen zu zeigen, daß hinter den Bergen auch noch Leute wohnen. Ich empfehle mich Ihnen, meine Damen.«

Er war aufgestanden von seiner Wasserbank, und zwar ganz zur richtigen Minute; denn im Vorderhause, in der Gaststube, hatte sich ein Tumult erhoben, ein recht lebhaftes Aufeinanderdrängen menschlicher Leidenschaften; in Mayers Hause zu Elbingerode konnte es kaum munterer hergegangen sein.

»Dazu steigt man denn aus dem Qualm der Städte herauf«, murmelte der Justizrat, doch eine weitere Bemerkung zu machen, fand er augenblicklich nicht die gehörige Zeit. Aus der offenen Tür der Gaststube stürzte ihm die Wirtin auf den Hals, faßte [298] ihn am Oberarm und schleppte ihn in die Haustür, auf die Landstraße deutend:

»Da steht er, der Kujon! Und jetzt laß ihn nur vor Gericht gehen und einen falschen Eid schwören wegen Mißhandlung! Sie sind unser Zeuge, daß wir ihn so heil und ganz gelassen haben, als es nur möglich war; aber wo ihn mein Mann angriff, da riß es, und das war nicht unsere Schuld. Brauche ich mir in meinem eigenen Hause von solch einer Vogelscheuche Impertinenzien sagen zu lassen? Aber wir haben es ihm auch gesagt, und kein Mensch soll es meinem Mann verdenken, daß er ihn erst über den Tisch zog und dann vor die Tür warf.«

»Da wundert's mich denn doch, daß der Kujon nicht noch da liegt«, sagte Scholten, seinen Arm von dem Griff der robusten Frau befreiend. Er rückte auch die Brille wieder zurecht, nahm seinen Wanderknittel unter den Arm und ging über die Straße dicht an das so energisch in die freie Natur beförderte Individuum heran, besah es von oben bis unten und sagte:

»Mensch, wenn du wirklich ein Mensch und keine Vogelscheuche bist, wie siehst du aus, Mensch?!«

»Herrje, Herrje, Herr, heren Se, wenn ich es Sie nur selber wüßte!«

»Also wirklich, wenigstens der Sprache nach, ein deutscher Bruder!«

»Ei ja«, sagte der Zerzauste, immer noch verstört und wie in einem schlimmen Traume um sich stierend, »aus Leipzig bin ich Sie und meines Zeichens ein Schneider, und die Poesie und die Lektüre, wissen Sie, von Schiller und von Goethes ›Faust‹ hat mich da auf den Blocksberg geführt. Als ein anständiger Mensch bin ich nach oben gegangen und – so komme ich wieder herunter. O je, Herrje, komme ich Sie da in die Wirtschaft –«

»In dem Hause da einzig und allein hat man Sie so zugerichtet?«

»Nun, wissen Sie, ich bin schon seit dem März auf der Wanderschaft, und da oben haben wir unserer zwölf auf dem Stroh kampiert und waren vergnügt, und ein Setzer aus Hildburghausen wußte ihn halb auswendig, und die andere Hälfte pfiff [299] ein Berliner aus der Oper her. Wissen Sie, auf dem Blocksberg muß doch jeder von uns gewesen sein, wenn er in die hiesige Gegend kommt, und so wimmelten wir unserer zwölf in die Höhe und standen oben auf dem Hexenaltar und sahen alle zwölf zwischen den Beinen durch von wegen Verschönerung von der Landschaft. Das war Sie groß! Und da schlug Sie's in der deutschen Mannesbrust, und, weeß Gott, wenn mir da einer gesagt hätte, daß mir heute das da drinnen mit dem Schuft, dem Lump passieren sollte, ich sage Sie, wir hätten ihm alle zwölf unsern Standpunkt klargemacht. Er hätte schnell genug den Berg wieder herunterkommen sollen!«

»Sie kamen also heute den Blocksberg allein herunter?«

»Einsam und alleine. Die anderen hatten sich nach einer anderen Richtung davongemacht; ich aber will Sie nach Ballenstedt, und das war mein Verderben. Da komm ich hier an, so'n bißchen lahm ums Kreuz, aber mit aller Dichterpoesie im Gemüte, und komme höflich in die Stube und denke, wenn hier ein Hotelier am ewigberühmten Brocken keine Bildung hat, wo soll er sie denn haben? Jawohl, da deklamiere ich dem Hildburghäuser nach:


Da rief er seinen Schneider,
Der Schneider kam heran:
Da, miß dem Junker Kleider,
Und miß ihm Hosen an!

Bitt ich Sie, sagt Sie der Wirt: verbitt ich mich den Unsinn und Lärmen in meine vier Wände, keine Schneidergesellenherberge haben wir hier nicht! – Herr, sag ich ganz höflich, von mir ist das gar nicht;ich bin Sie ein Damenkleidermacher. Das ist Sie ja von Gounod und Goethe – was wollen Sie denn? Sie sind wohl noch niemals in Berlin, Dresden und Leipzig in der Oper gewesen? Herrjeses, kennen Sie denn Goethes ›Faust‹ von Gounod nicht? Hier mitten am Blocksberg? Ist das Kultur? Ist das Bildung? Ist das Literatur? – Bratsch, haut mir der Halunk, der Barbare aus heller blauer Luft eine hin, als schmisse man Sie ein glührotes Bügeleisen an den Kopf, und da – waren wir denn schöne drin. Ich langte ihm denn natürlich einen mit meinem [300] Weißdorn hinüber, und ohne seine Frau hätt ich's auch wohl durchgefochten; aber, liebster Herr, wenn sich die Weiber einmischen, dann ist's für einen Damenkleidermacher aus und zu Ende.«

»Nicht nur für einen Damenkleidermacher«, sprach Justizrat Scholten, wider seinen Willen dem keuchenden Ästhetiker in den atemlosen, sprudelnden Bericht fallend.

»Hören Sie, da mögen Sie wohl recht haben, lieber Herr. Mein Vater war Sie ein Zimmermann aus Penig an der Mulde, und seine Meinung war dieses auch. Also sehen Sie, auf einmal hängt mich diese Kreatur am Rockkragen und reißt mich nach hinten; und als mir der Wirt stößt von vorn, da half denn kein Ausschlagen und Widerstehen nach hinten und vorn, und ehe ich weiß, wie's zugeht, bin ich draußen, und keine Gerechtigkeit und Justiz ringsum zu sehen und abzureichen. Himmeltausendhöllenhunde, wenn mir das einer gestern abend gesagt hätte, als wir da oben auf dem alten Teufelsberge im Chore sangen: ›Du Schwert an meiner Linken‹, und ›Denkst du daran, mein tapfrer Lagienka?‹ – Herrje, an diese Fahrt auf den Brocken werd ich wohl mein Lebtage denken.«

»Keine Gerechtigkeit und Justiz, so weit das Auge blickt, zu sehen?« sagte der alte Scholten freundlich und dem mutigen Schneider fast zärtlich auf die Schulter klopfend. »Lieber Mann, ich bin ›Sie‹ vom Berg der Hirtenknab –«

»Das haben wir auch gesungen; aber da kam der Brockenwirt und gebot Feierabend.«

»Unterbrechen Sie mich nicht, Angeklagter! Ich bin von der Justiz, wollte ich Ihnen bemerken, und Gerechtigkeit soll Ihnen zuteil werden, und zwar auf der Stelle. Marschieren Sie nur ruhig weiter nach Ballenstedt, lieber Leipziger; ich werde sofort mit dem Herrn Wirt und seiner Gattin ein Wort reden.«

»Ei je, Sie sind von der Justiz?« rief der Leipziger. »Dann gibt es freilich noch einen gerechten Gott! – Soll ich mit Ihnen wieder 'nein gehen? Wollen Sie mich schwören lassen, geehrter Herr Tribunalspräsident? Ich beschwöre Ihnen alles. Warten Sie, ich will Sie meine Papiere –«

[301] »Wollen Sie sich wohl gefälligst nach Ballenstedt scheren!« schrie der Justizrat, mit seinem Stocke aufstoßend.

»Entschuldigen Sie, mein verehrter Herr«, stotterte der Schneider verschüchtert, und der Justizrat klopfte ihm zum andern Mal vertraulich-ermunternd auf die Schulter und sagte:

»Ich meine, gehen Sie nur ruhig Ihres Weges und überlassen Sie die Sache hier mir. Ich bin bekannt in der Gegend, und Sie können sich auf mich verlassen. Und hören Sie, guter Freund, wie ich Sie kennengelernt, werden Sie mir für einen Rat dankbar sein: machen Sie doch den kleinen Umweg durchs Selketal und grüßen Sie unter dem Falkenstein des Pfarrers Tochter zu Taubenhain recht freundlich vom – Justizrat Scholten; das ist mein Name nämlich.«

»Herrjeses Sie – die lebt noch? Die haben Sie auch vor Gericht vertreten? O Herr Justizrat, hundertmal ließ' ich mich aus der Tür schmeißen, um Ihnen zu begegnen; jetzt verlaß ich mich auf Sie wie aufs Jüngste Gericht, und da Sie es wünschen, so empfehle ich mich höflichst. Der Herrgott möge es Ihnen vergelten, was Sie in meinen Angelegenheiten vornehmen.«

»Ich empfehle mich gleichfalls höflichst«, sprach der Justizrat, die Mütze abnehmend, jedoch zu gleicher Zeit mit dem Knittel bergab winkend. Der Schneider nahm Abschied von ihm in den drei Tanzmeisterposituren und entfernte sich, alle drei Schritte über die Schulter zurückblickend. Der Justizrat trat in das Berghaus zurück, von dessen Fenstern aus man ihn wie den Schneider fortwährend scharf und nicht ohne Besorgnis im Auge behalten hatte.

Die Wirtin hatte ihn im Auge behalten, der Wirt saß verdrossen und tückisch hinterm Tisch, den Kopf auf beide Fäuste gestützt. Der alte Scholten grüßte die Wirtin und wendete sich an den Wirt.

»Da haben Sie aber Ihre Sache einmal wieder ganz vortrefflich gemacht, Herr Zucker«, sagte er. »Meine aufrichtigsten Komplimente! Jaja, da sieht man, daß Sie ziemlich hoch über der norddeutschen Ebene wohnen und also die Berechtigung haben, vornehm darauf hinunterzusehen. Höflichkeit soll zwar eine Tugend[302] sein, die an Wert zunimmt, je tiefer hinab sie gehandhabt wird; aber Sie müssen das besser verstehen, und ich bescheide mich gern. Seltsamerweise behaupten da in der Tiefe einige, daß es gar keine Kunst sei, vor einem Reichen und Vornehmen die Mütze zu ziehen, und daß solches kaum als Verdienst angerechnet werden könne; aber Sie müssen natürlich am besten wissen, an wem Sie am meisten verdienen. Ich habe herzlich lachen müssen über das Gesicht, mit welchem der arme Teufel da eben abzog. Denken Sie aber nur: er entblödete sich nicht, Sie einen Flegel zu nennen und Ihre Frau eine giftige alte Bergkatze! Was sagen Sie dazu, Madam Zucker?«

Sie starrten beide stumm, mit geöffnetem Munde auf den alten Juristen.

»Und jetzt ist er hinunter den Berg, seinen drei Brüdern entgegen – zwei Zimmergesellen und einem Grobschmied; und dazu ist's seine feste Absicht, Ihnen jeden Schneider, der diesen Sommer den Blocksberg erklimmen wird, auf den Hals zu hetzen. Ich suchte ihm, meinem Beruf gemäß, versöhnlichere Gefühle beizubringen, aber es ist mir nicht gelungen. Auf jedes gute Wort hin wurde er wütender und jähzorniger, sprach von Bestienvolk und fragte, was ich wohl meine, ob Sie Ihr Anwesen über seinen Wert bei einer Feuerversicherung eingeschrieben hätten. Ich sagte ihm, dies glaube ich nicht, und dann lachte er teuflisch, zog eine Tigerzigarre hervor, zündete sie mit einem Basiliskenblicke auf Ihr Dach an und ging zähneknirschend ab mit dem Worte: Sieben auf einen Schlag!, was ich nicht verstand.«

»Barmherzige Güte!« stöhnte die Frau Wirtin, und der Wirt stand längst hinter seiner Tischplatte aufgerichtet, stemmte beide Hände darauf und sagte: »Sapperlot!«, Grimm und Bestürzung in dem Ausruf aufs wirkungsvollste zutage fördernd.

Mit sozusagen trübem Auge sah der Justizrat nach seiner Uhr:

»Und meine Zeit ist leider jetzt auch abgelaufen. Schuldig bin ich wohl nichts mehr? Also – guten Tag!«

So ging auch er, und der Wirt setzte sich wieder, und seine Frau setzte sich gleichfalls.

Sie saßen eine geraume Zeit, sich mit giftigen Seitenblicken [303] anschielend, bis plötzlich sich die Frau erhob, die Hände ihrerseits auf den Tisch stemmte, sich weit über ihn hinbog und ihrem Gatten ins Gesicht fauchte:

»Hast du's nun mal wieder, wie du's willst? Ist es nun so recht? Du Grobsack, du Schnarcher, du Leuteanbeller; hast du dir nun bald genug Hypotheken aufs Haus gebellt? O du – du! – Prügel genug hast du in deiner eigenen Gaststube gekriegt – aber immer noch nicht genug! Jetzt weißt du meine Meinung!«

Damit fuhr sie hinaus in die Küche; aber leider nicht durch den Schornstein ab.

»Sapperlot!« stöhnte der Wirt noch einmal, und dann murmelte er: »Wer mir vor fünfzehn Jahren als zivilem jungem Zimmergarçon im Hotel Royal in Hannover gesagt hätte, was hier in der Wildnis aus mir werden würde, der – hätte sicher den Zug verschlafen und sein Haar im Kaffee und seine Portion Mäusedreck im Milchtopf gefunden. So verwildert man, ohne was dazu zu können! O verflucht! Aber – am meisten ärgert einen doch der verfluchte alte Besenbinder, der da eben ging, nachdem er seine Sottisen bestellt hatte, ohne daß man ihm dafür an die Gurgel konnte. Und das Verdammteste ist, daß man ihn eben kennt und weiß, daß ihm nicht beizukommen ist. An dem ist Höflichkeit und alles, was das Gegenteil davon ist, verloren. Im Dunkeln möchte man den Hund auf ihn hetzen; aber ich glaube, selbst die Hunde wagen sich nicht an ihn!«

Drittes Kapitel

Von den zutunlich wedelnden Hunden des Berghauses umgeben, stand der alte Herr noch einen Augenblick auf dem Steintritte vor der Haustür und atmete in vollen Zügen die frische Gebirgsluft. Dazu lachte er vergnügt in sich hinein, und da jetzt zu Esel, Maulesel und zu Fuße ein nicht kleiner Schwarm von Touristen sich der Wirtschaft näherte, so entfernte er sich seinerseits, das heißt er suchte seinen eigenen Weg über die Landstraße [304] weg auf einem kaum sichtbaren Fußpfade, der sich durch ein Gewirr von abgewaschenen Granitblöcken schräg bergan zog. Dieser Pfad erreichte die große Straße nach einer kleinen Stunde, kreuzte sie abermals und stieg in die Täler hinab, Jemand, der ihn nicht ganz genau kannte, der hätte ihn bald verloren, und wenn er ihn noch so fest und sicher unter den Füßen zu haben glaubte. Dem Justizrat Scholten kam er nicht abhanden; doch wurde er auf ihm aufgehalten, und zwar durch ein schönes Weib und Bild, auf welches beides er stieß, als er wiederum aus dem Tannendickicht auf die Chaussee trat.

Eine Dame hielt allein in der Einsamkeit, auch auf einem Maulesel, seitab des Weges auf einem Felsenvorsprung, den Blick über das zu ihren und ihres Tieres Füßen schroff sich senkende Waldtal in die Weite gegen Nordosten gerichtet; – regungslos, die Zugel über den Bug des ruhigen Tieres gelegt, das Kinn mit der Hand stützend – eine stattliche Figur – Kraft und Schönheit – schwarze Haare und schwarze Augen und in den Augen jenes seltsame Suchen der im Gewühl Einsamen –

»Ichor!« murmelte der alte Jurist. »Das freut mich!« Ichor aber ist ein griechisches Wort, von den griechischen Menschen erfunden als Bezeichnung für das Blut, welches durch die Adern ihrer Götter rann als ein klarer Saft – »denn nicht kosten sie Brot, noch trinken sie funkelnden Weines«. Der Rufer im Streite Diomedes entlockte es durch einen Lanzenwurf der Hand Aphrodites, und die Göttin schrie laut auf und flüchtete weinend; aber Dione sänftigte ihr die Schmerzen, und es lächelte sanft


..... der Menschen und Ewigen Vater,
Rief und redete so zu der goldenen Aphrodite:
Nicht dir wurden verliehen, mein Töchterchen, Werke des Krieges.
Ordne du lieber hinfort anmutige Werke der Hochzeit.
Diese besorgt schon Ares, der Stürmende, und Athenäa.

Ichor entquoll auch dem schrecklichen Ares, und er schrie wie zehntausend der sterblichen Menschen; weshalb jedoch der Justizrat Scholten das Wort jetzt zu einem Ausruf verwendete, [305] bleibt uns fürs erste dunkel, wir werden es aber erfahren, und zwar nach und nach.

Der letzte, nach der Straße hin vom Walde ausgestreckte Tannenzweig hob dem Alten die Mütze vom Kopfe.

»Gehorsamer Diener!« sagte er, nämlich der Justizrat; und auf dieses Wort wendete die schöne Dame das Gesicht von der schönen Aussicht ab und blickte auf die Störung, doch sie lächelte ebenfalls erfreut, als sie den Störenfried erkannte. Scholten grüßte, während sie ihr Reittier wendete, trat rasch auf den Grashang zwischen den Felsen und reichte ihr die Hand:

»Auf dem Kreuzwege am Blocksberge! Natürlich! Guten Tag, liebe Baronin! Guten Tag, Frau Salome!«

»Guten Tag, lieber Scholten«, sagte die Dame. »Im Grunde weiß ich freilich nicht, ob ich Sie so anreden darf – so mit einem ganz gewöhnlichen Familiennamen, dem Titel Justizrat und einem: Karl – Heinrich, August, Friedrich oder dergleichen dazu. Sie stehen mir da viel zu eng in Verbindung mit den Herrschaften hier unter Ihren Füßen, hundert Klafter tief in der Erde –«

»Und so glauben Sie freundlichst, man habe mich meiner Frau Mutter vor sechzig Jahren als Wechselbalg in die Wiege gelegt, und der richtige, ehelich erzeugte junge Scholten – anderthalb Fuß hoch – trete im Mondschein Hexenringe in das grüne Gras und vermelke den Bauern mit einem so gesegneten Durst die Kühe, daß die Butter da unten in den Städten der Ebene um fünf Groschen aufschlägt. Danke gehorsamst.«

Die schöne Dame lachte; aber da in diesem Augenblick ein Häher sich über ihr in einem Baumwipfel niederließ und hell herniederkreischte, so benutzte der Justizrat auch das und diesen Vogel noch zu seiner Gegenrede.

»Darf ich die Herrschaften miteinander bekannt machen«, sagte er mit einer Verbeugung und einem Blick nach dem Buchenzweig in der Höhe: »Mein Gevatter, Herr Markwart, aus dem Geschlecht Corax, Glandarius in der Familie genannt – Frau Baronin Salome von Veitor, Bankierswitwe aus Berlin, Millionärin und unzufriedene Weltbürgerin in den Kauf – reitet [306] vortrefflich, nimmt sich ausgezeichnet aus zu Maultier auf einem Felsvorsprung unter den germanischen Buchen und Tannen, würde jedoch unter den Palmen des Orients, auf einem Dromedar, sich –«

»Noch viel besser ausnehmen. Ei, lieber Justizrat, Sie waren ja nie in Palästina und können also durchaus nichts davon wissen, wenn Ihnen nicht irgendeine Erinnerung an einen Holzschnitt nach irgendeinem Bilde von Horace Vernet im Gedächtnis hängen blieb. Aber Sir Moses Montefiore sah mich auf dem Berge Karmel und war in der Tat entzückt. Ich kann Ihnen nur raten –«

»Sich in Ihrem deutschen Philisterbewußtsein zurechtzufinden und gemütlich einzurichten. Liebe Freundin, ich freue mich unendlich, Ihnen begegnet zu sein oder haben wenn ich jedoch durch den fortwährenden Umgang mit mir selber grenzenlos langweilig geworden sein sollte, so lassen Sie's nur nicht mich entgelten; – sonst aber, wie befinden sich Euer Gnaden?«

»Durch den fortwährenden Verkehr mit der Welt durchaus nicht verwöhnt, momentan sehr wohl. Bester Scholten, ich habe Sie bereits gesucht, das heißt ich habe die letzten Wochen durch fort und fort gehofft, Euch Sonderlichsten der Sterblichen an einer Wendung des Weges zu treffen. Nun haben wir hier freilich die rechte Stelle getroffen, um uns in der gewohnten Weise zu grüßen und die Wahrheit zu sagen oder allerlei Wahrheiten, wie man da unten im flachen Lande sich ausdrückt.«

Der Justizrat war so nahe als möglich getreten und hatte dem Maulesel der schönen Jüdin die Hand auf die Kruppe gelegt:

»Wird das auch heut abend zu einer Ofengabel oder einem Besenstiel?«

Die Baronin lachte:

»Ei, Herr, Sie haben es ja selber bemerkt, daß wir uns unter den germanischen Buchen- und Tannenbäumen befinden. Was habe ich mit euren Mysterien und Mythologien zu schaffen? Da wir zu Hause keine Ofen hatten, so kannten wir wahrscheinlich auch keine Ofengabeln, und über die Art der Zimmer- und Gassenreinigung zu Jerusalem sind eure Gelehrten auch noch nicht ganz einig. Auf dem Toten Meere tanzten wir leichtfüßig [307] über dem Salz-, Schwefel- und Asphaltschaum; bleibt mir gefälligst mit eurer Bratäpfel- und Singende-Teekessel-Dämonologie vom Leibe. Wie wäre es aber, wenn Sie trotz alledem endlich einmal wieder eine Tasse Tee bei mir trinken würden?«

Der Justizrat schien die letzte Frage gänzlich zu überhören.

»Götterblut!« murmelte er. »Beim Atemholen des Archipelagos, ich brauche ihr den Puls nicht zu fühlen! Ichor!«

»Was soll das bedeuten?« rief die Frau Salome. »Sie reden mit sich selber! Weshalb reden Sie nicht mit mir? Ihr Umgang scheint Sie freilich arg verzogen zu haben.«

»Hm, Sie haben recht, Gnädige. Was beliebten Sie zu sagen?«

»Ich lud Sie zu einer Tasse Tee ein, mein braver germanischer Waldspuk.«

»Und ich würde die Einladung selbstverständlich mit Vergnügen annehmen, wenn nicht heut abend vielleicht bei mir jemand zu Gaste wäre, den ich nicht gern allein am Tische sitzen lassen möchte. Wenn Sie aber eine neue Probe deutschen Spuks haben wollen, schöne semitische Zauberin, so rate ich Ihnen väterlich, mit mir zu reiten und meine Bewirtung anzunehmen. Über die letztere sollen Sie sich verwundern, und gewissen Leuten kann man keine angenehmere Gabe bieten als einen echten und gerechten Grund zur Verwunderung.«

Die Baronin Salome lachte erst, seufzte aber gleich darauf und sagte:

»So ist es.«

»Nun?«

»Ist vielleicht Freund Schwanewede aus Pilsum unterwegs?«

»Dem bin ich einen Besuch schuldig und Sie desgleichen, liebe Frau, Ich habe Sie auf einen neuen Spuk eingeladen, Baronin, und wiederhole meine Einladung.«

»Und ich nehme sie an, mein väterlicher Wundermann; die Sonne steht noch ziemlich hoch, und ich finde nachher auch wohl in einer Sternennacht den Weg durch den Wald nach Hause. Levate la tenda! Ich bin wirklich neugierig auf das, was Sie mir zeigen wollen.«

»Sie und Ihr Tier werden dann und wann vor einer Schneise [308] oder einem sonstigen Holzwege nicht zurückschrecken, und so reicht die Zeit für alles.«

»So denn hinein in das Geheimnis!« rief die Dame und ließ ihren Maulesel auf die Straße zurücktreten.

Es war ein hübsches Bild, wie die drei jetzt zusammen fürbaß zogen, der Esel, die schöne Jüdin und der Justizrat Scholten.

Viertes Kapitel

Daß der Justizrat die Gegend genau kannte, wurde bald recht deutlich. Er führte, und der Esel folgte.

Ihr Weg ging nun eine kurze Strecke auf der Landstraße hin; dann schlug der Alte einen Nebenpfad über die baumlose, mit Felsentrümmern übersäte Lehne ein und benutzte einen Waldarbeitersteig, der sie in den dunkeln Tannenwald niederführte. Nun benutzten sie einen durch den Sommer ausgetrockneten Bergbach als Weg und gelangten erst nach längeren Mühseligkeiten und Beschwerden in eine Schneise, die es dem Justizrat erlaubte, neben dem Maultier und dem Knie der Frau Salome einherzugehen. Sobald ihm das möglich geworden war, geriet er mit der Dame in ein Gespräch, das selbstverständlich seinen Anfang aus der landschaftlichen Umgebung entnahm.

»Jetzt treibe ich mich nun schon wieder an die sechs Wochen in diesen Bergen umher«, sagte die Baronin.

»Und zwar mit dem Gefühl, durchaus nicht dahinein zu gehören«, meinte Scholten.

»Da das über unsere Willkür hinausliegt, halte ich mich nicht für verpflichtet, Ihnen eine Antwort zu suchen. Sonst aber stehe ich mich durchschnittlich recht gut mit den Höhen und Tiefen, den Bäumen und Wassern und allen lebendigen Geschöpfen, Sie eingeschlossen, Scholten.«

»Das soll nun keine Antwort sein?« brummte Scholten und fügte erst nach einer geraumen Pause hinzu: »Also Euer Gnaden [309] haben sich den Stimmungen Ihrer Umgebung wieder nach Möglichkeit angepaßt?«

»Das ist der rechte Ausdruck! Wir passen uns den Stimmungen dessen, was uns umgibt, an, und ein Geschäft ist es – ein Tun, eine Arbeit, während welcher wir uns mehr Melancholie als Behagen aus Sturmwind und Stille, aus Regen und Himmelblau, aus Sonne und Schatten spinnen. Wenn einmal das Zünglein der Waage einsteht, dann –«

»Nun, dann?«

»Sehen Sie doch die Nase, die uns der alte Steinklotz dort aus dem Gebüsch dreht! Scholten, der Kerl hat eine fast ärgerliche Ähnlichkeit mit Ihnen. Nehmen Sie es nicht übel, aber Sie müssen mich unbedingt noch einmal hierherführen. Ich muß diesen Burschen zeichnen!«

»Das ist nicht der erste Esel, den ich Ihnen gehalten habe, während Sie sich derartigen artistischen Versuchen hingaben«, sagte Scholten; doch die Frau Salome neigte sich aus ihrem Reitsattel und rief:

»Glück auf, Großpapa Granit! Nicht wahr, es ist zu lächerlich, zu dumm, daß das närrische Menschenvolk hierherkommt und meint, du solltest dich seinen Grillen bequemen und deine Stimmung der seinigen anpassen? Hat er genickt, lieber Freund?«

Der Alte lächelte:

»Wohl möglich. Sie haben wohl schon ehedem die Steine zum Nicken gebracht.«

Nun lachte die schöne Frau:

»Wahrlich! In den Tagen, da uns das noch Spaß machte!« Doch da der Hochwald um sie her augenblicklich sehr dicht und dunkel wurde, so schien sie sich ebenso augenblicklich der Stimmung, die er verlangte, zu fügen, und zu ihrem Begleiter sich niederbeugend und die Hand auf seine Schulter legend, sagte sie:

»Mein Freund, nickendes Gestein droht mit Einsturz. Unsere eigenen Wälle brechen über uns zusammen. Und manchmal wird man lebendig von ihnen begraben. Führt Ihr Weg nicht bald wieder in die Sonne?«

»Nun so nach und nach«, sagte der Justizrat verdrießlich.

[310] »Übrigens reicht die Beleuchtung wohl noch hin, daß Sie sich meine Physiognomie dabei betrachten können. Sagen Sie, Sie närrische Judenmadam, sehe ich so aus, als ob ich mir durch sentimental-klägliche Redensarten die Laune verderben ließe? Da müssen Sie doch sich einen anderen Jeremias suchen und sich mit ihm auf die Trümmer von Jeruscholajim setzen. Ich habe beide Rechte studiert und dies und das noch dazu, bin dreimal meiner exakten Lebensphilosophie halber relegiert worden und nachher nur aus Gnaden zum Examen zugelassen. So ziemlich ist mir alles durch die Tatzen gegangen, vom Brotdieb aus Hunger, Elend und zu starker Familie bis zum Brandstifter und Mörder aus purem Vergnügen. Vom eintägigen Gefängnis wegen Feldarbeit am heiligen Sonntage bis zum Tod durchs Schwert oder Beil wegen sechsfachen Familienmordes weiß ich Bescheid in den Zuständen der Menschenwelt. Eine hebräische Millionärin und dazu hübsche und gesunde junge Witwe, und zwar aus Berlin, die ihre Villeggiatur hier in der Gegend in einer eigenen Villa hält, muß sich mir auf eine andere Weise zu den Akten geben, ehe ich ihr und ihrem sonor-melancholisch verschleierten Stimmorgan glaube, daß sie sich über ihr Dasein zu beklagen hat. Daß sie sich dann und wann über die krummnasige Verwandtschaft und über die liebe Bekanntschaft unter den christlich-germanisch aufgestülpten Arier-Riechern zu ärgern hat, will ich ihr wohl glauben. Zu weiteren Konzessionen lasse ich mich aber nicht herbei.«

»Sie sind doch ein furchtbarer Grobian, Scholten!« rief die schöne Frau.

»Unter Umständen – ja!« brummte der Alte und fügte unverständlich zwischen den Zähnen hinzu: »Immer aber da, wo ich nicht nur Menschenfleisch rieche, sondern auch Ichor wittere und man mir dann mit Flausen kommt.«

»Da ist die Sonne wieder«, rief die Frau Salome, »und jetzt, Scholten, bitte ich Sie freundlich, ein ander Gesicht zu ziehen. Im Grunde ist es doch nur eine komische Nachahmung und erreicht das Urbild lange nicht. Ich mache Sie da eben harmlos auf eine Felsenfratze zwischen den Tannen aufmerksam, und sofort fallen Sie ins Genre untergeordneter Talente und ziehen sie nach. [311] Was sehe ich an Ihrem Gesicht, was mir – unter Umständen – mein Spiegel nicht grimmiger zeigt? Was murmelten Sie da von: Ichor?! Da kommt ein lustiger Strahl zwischen den alten Stämmen durch, und wenn Sie höflich Abbitte leisten wollen, ziehe ich den Handschuh ab und halte meine Hand in das Licht. Über die Hand hat man mir dann und wann Komplimente gesagt, aber noch nie über das Blut, das in ihr fließt. Sehen Sie das Götterfeuer? Da flammt es zwischen Aufgang und Niedergang und wird zwischen Okzident und Orient fluten, ob ich mich dann und wann langweile oder nicht. Was haben Sie noch zu sagen, bester Justizrat?«

»Daß Euer Gnaden eine Hand zum Küssen haben!«

»Flausen!« sagte die schöne Jüdin boshaft lächelnd, das Wort von vorhin wieder anwendend, und der Alte lachte und stieß mit seinem Stock auf den Boden und rief:

»Was für ein Ohr Eure Leute haben! Nun denn, bei den Göttern des Aufgangs und des Niedergangs, bei dem hohen Liede von der Attraktion im Weltall, bei den roten Kügelchen in den Adern von Mensch und Tier: wenn du vor mir stirbst, Menschenkind, will ich mich über deinem Hügel auf den Schild lehnen und sprechen: Das war mal ein braves, ordentliches Weib! Mit dem Worte ›außerordentlich‹ wird ein zu großer Mißbrauch getrieben, als daß ein Freund dem andern es in die Grube mitgeben könnte.«

»Da ist meine Hand, mein Freund; wenngleich nicht zum Küssen. Wie weit haben wir noch bis zu Ihrer Höhle?«

»Eine Pfeife Tabak, eine gute Harzstunde, zwei und einen halben Hundeblaff weit. ›Gehen Sie nur immer meinen Eierschalen nach, in einer Stunde sind Sie am Ort‹, sagte mir einmal ein kauender landeseingeborener geistlicher Herr, den ich nach dem Wege fragte, und seine Eierschalen brachten mich richtig nach einem Gewaltmarsch von ein und einer halben Stunde an Ort und Stelle.«

»Ein recht ordentlicher Appetit!«

»Nun, den können Sie dreist außerordentlich nennen, Baronin. Mir aber ist die gute Verdauung eines andern nie von solchem Nutzen gewesen als in jenem Falle. Aber beiläufig, zum Henker, [312] was ist denn überhaupt unser Sein, Wesen und Treiben anders als ein Den-Eierschalen-anderer-Nachgehen?«

»Sagte das Merlin aus der Tiefe von Brozeliand oder Justizrat Scholten von der Höhe seines Bürostuhls aus?«

»Ichor!« murmelte Justizrat Scholten, und so zogen sie weiter, wirklich wohl noch eine gute Stunde, durch Licht und Schatten, auf gebahnten Wegen und auf ungebahnten, bis ein mit gelben Tannennadeln bedeckter Pfad, den nur hier und da die Wildschweine zerwühlt hatten, sie aus dem Hochwalde heraus und zu ihrem Ziel brachte. Vor ihnen, über eine Gebirgsebene weit ausgestreut, lag ein graues Dorf in der Spätnachmittagssonne, und trotz der Sonne traf die Wanderer ein kühler, ja kalter Luftstrom, vor welchem wie vor dem plötzlichen Blick in den gegen die westlichen Berge sinkenden Feuerball die Reiterin unwillkürlich die Zügel ihres Tieres anzog.

»Welch ein merkwürdiger Wechsel der Temperatur!« rief sie, und sie fand zu der meteorologischen Bemerkung ein Dichterzitat


Ein Windstoß fuhr aus dem betränten Grunde,
Und es erblitzte purpurrotes Licht,

murmelte sie, und der Justizrat, auf die schindelgedeckten Häuser und Hütten deutend, brachte die Terzine und den dritten Gesang der »Hölle« mit einem gewissen mürrischen Nachdruck zu Ende.


Hinsank ich ohne meines Daseins Kunde,
Wie unter eines schweren Schlafs Gewicht,

zitierte er und fügte seinerseits hinzu: »Es haben schon mehr Leute ausfindig gemacht, daß es hier gewöhnlich ziemlich kühl weht. Das ist nervenstärkend, Baronin; und was den Schlaf anbetrifft, so habe ich seinetwegen hier Quartier genommen. Er hat sich niemals im Leben zu schwer auf mich gelegt; – auf meines Daseins Kunde aber verzichte ich dann und wann mit dem größten Vergnügen.«


»Um so weniger finde ich es passend und berechtigt, daß Sie mich vorhin so grimmig anfuhren und von Ihrer Amtserfahrung und Kriminalgesetzbuchweisheit aus lächerlich machten.«

[313] »Wenn wir demnächst einmal wieder eine Partie Billard zusammen spielen, wollen wir die Kontroverse fortsetzen, Frau Salome. Wenn wir uns jetzt nicht beeilen, wird wahrscheinlicherweise mein Besuch des Wartens überdrüssig werden und heimgehen, ohne eine Visitenkarte zurückzulassen.«

Er ergriff von neuem den Zügel des Maultiers und führte es von dem Waldpfade auf den steinigen Dorfweg und dem Dorfe zu.

Die schöne Frau lachte und sagte:

»So seid ihr!«

»Ja, so sind wir!« brummte Scholten. »Als ob noch jemand nötig hätte, mir das zu sagen?!«

Fünftes Kapitel

Wie unter eines schweren Schlafes Macht lag trotz der Tageshelle das Dorf da. Was die drei anging, so war der Esel der gleichmütigste unter ihnen; aber auch er hatte sich mit seinem Verdruß abzufinden. Es wuchsen ausgezeichnete Disteln farbenprächtig zwischen dem Gestein bis in den Weg; man wußte ihren Zuckergehalt wohl zu taxieren, aber der zweibeinige Narr mit dem dicken Prügel und dem ewigen widerlichen, unverständlichen Menschengeschnatter zog nicht am Zügel, sondern er riß an ihm, und die dumm-unverschämte Kreatur, die man den lieben langen Tag auf dem Rücken gehabt hatte, hätte einem freilich durch ihren Anblick den Genuß an der vollsten Krippe verleiden können.

»Was ist Talent für Lebensbehagen?« murmelte in dem Augenblick der Justizrat Scholten. »Nichts als die Gabe, aus dem Qualm etwas zu machen, der von dem Feuer der Leidenschaften in der Luft wirbelt!«

Die Frau Salome aber sah mit ihren orientalischen Augen auf das stumme Dorf.

Kein Kindergeschrei – kein Gänsegeschnatter – kein fröhliches [314] Singen der Feldarbeiter! Viel Gebüsch doch wenige Obstbäume um die Schindelhäuser. Eine graue Steinkirche abseits auf einem Hügel zwischen den Gräbern des Dorfes; das hohe Gebirge seitwärts über den Wäldern, und nach der andern Richtung hin, über die Dächer, das Gebüsch und die mageren Felder hinaus, die ferne blaue Ebene!

»Es ist ein einsilbiges Volk, das hier haust«, sagte Scholten. »Zum größten Teil befindet es sich gegenwärtig sogar unter der Erde; drei Viertel der männlichen Bevölkerung treiben Bergbau, und das letzte Viertel mit den Weibern befindet sich im Walde oder auf den Äckern. Sie haben kurz anzubeißen, das sehen Sie schon den Kindergesichtern an. Manchmal passieren da Geschichten, die das Gepräge eines ganz andern Säkulums tragen. Sie stoßen auf Worte, Ausdrücke, Ansichten, die ganz sonderbar nach der Wüstenei des siebzehnten Jahrhunderts riechen, kurz, einen idyllischern Sommeraufenthalt für einen Juristen werden Sie sich schwerlich vorstellen können, liebe Baronin. Außerdem habe ich aber natürlich auch das Vergnügen, der einzige Gast der guten Leute zu sein – ein nicht zu unterschätzender Vorzug Sagten Sie etwas?«

»Nein. Aber es wäre mir lieb, wenn wir nun bald Palämons Hüttchen und Strohdach zu Gesicht bekämen. Sie schildern so verlockend, daß man fast Lust hat, jetzt – zwanzig Schritte vor dem riegellosen Pförtchen – umzudrehen und im Galopp seinen Hals in Sicherheit zu bringen.«

»Nun, nun, das Nest liegt trotz allem mit allem übrigen rundum im neunzehnten Jahrhundert. Vorwärts, Signor Mulo!«

Sie kreuzten einen hastigen Bach und gelangten nun zwischen die Zäune und Häuser. Da fuhren wohl einige ob der Reiterin verwunderte Gesichter an die Fenster, drei oder vier eilige Frauen liefen gaffend in die Haustüren, und die Kinder rannten in den Weg und scheu zurück; aber das Dorf behielt dessenungeachtet den Ausdruck des Abgestorbenseins. Nur ein Mann begegnete dem Justizrat und der Frau Salome und grüßte den Alten ziemlich höflich.

Hügelauf und hügelab zogen sich die Dorfgassen, wenn man [315] die Wege zwischen den regellos verstreuten Wohnungen so nennen wollte; und der Kirche zu, gegen die Berge hin, zwischen Gebüsch versteckt lag die Behausung Scholtens, so nahe der Kirche, daß der kuriose Rechtsgelehrte in windstillen Nächten wahrscheinlich das Geräusch der Unruhe im Turm vernehmen konnte.

Vor einer Lücke in der lebendigen Hecke, die eine Tür vorstellen konnte, ließ der Justizrat den Zügel des Esels frei und zog die Mütze ab, indem er sich verneigte wie ein Seneschall oder Kastellan auf dem Theater oder aus einer zierlich-höflicheren Zeit.

»Euer Gnaden sind angelangt«, sprach er und war seiner Begleiterin beim Absteigen in einer Weise behülflich, die klar darlegte, daß er nicht zum erstenmal einer Dame vom Roß oder Esel half.

»Unsere Gnaden danken Euch freundlichst«, sagte die Baronin lächelnd. »Die knienden Pagen, den Salut vom Donjon, den üblichen Bewillkommnungsscherz des buckligen Burgzwergs erlassen wir unserm edlen Gastfreund. Sie hausen in der Tat recht heimlich, lieber Scholten.«

»Und Sie haben wie gewöhnlich das richtige Wort für die Sache gefunden, liebe Frau Salome. Nie oder selten hat ein alter, abgefeimter juristischer Fuchs sich so heimlich ins Grüne verzogen wie ich hier. Sehen Sie da, zur Linken und Rechten die Küsterei und Pfarrei. Da habe ich meine zwei lieben Dorffreunde dicht zur Hand. Und der Schatten des Kirchendachs fällt auf mein Dach, wenn die Sonne danach steht; aber das Gemütlichste ist doch der stille Dorffriedhof, auf welchem ich stets, der geschützten Lage wegen, meine Morgenpfeife rauche. Wenn die Witterung es irgend erlaubt, wandle ich in Schlafrock und Pantoffeln unter den Gräbern, Blumen, Kränzen und Kreuzen als ein Poet und Philosoph und notiere nichts – als eben die Witterung in meinem Terminkalender –«

»Und bringe es doch nicht dahin, von der närrischen Judenmadam Salome Veitor für den Verzwicktesten der Sterblichen gehalten zu werden. Wir haben unter uns Charaktere, denen Sie [316] längst nicht das Wasser reichen, bester Justizrat. Geben Sie sich also weiter keine Mühe.«

»Wo lassen wir nun den Asinus?« fragte Scholten, mit dem Zügel des Tieres in der Hand sich umschauend, und die Baronin lachte darauf so herzlich, daß der Alte beinahe nunmehr zum erstenmal an diesem Tage die Fassung und Haltung verloren hätte.

»Zum Kuckuck!« brummte er und fand zu seinem Glück einen Ast, um welchen er den Riemen schlang. »Tretet ein. Gnädige«, sagte er, »und nehmt die Gewißheit mit über die Schwelle, daß Ihr willkommen seid. Hätte ich viele Euresgleichen unter euch und uns gefunden, so – würde ich mich wahrscheinlich nicht mit meinen Besuchen bei Ihnen begnügt haben, liebe Freundin.«

Die schöne Frau verneigte sich, den Saum ihrer Kleider zusammenfassend, und trat über den Steintritt. In demselben Moment erschien ein altes, verwittertes Harzweib auf der Schwelle des Hauses, und der Justizrat stellte vor:

»Meine Hauswirtin, Witwe Bebenroth, vor fünfzig Jahren ein recht niedliches Kind, um das mehr denn ein Jüngling mit blutigem Kopf nach Hause kam; jetzt eine ganz brave Frau, die nur dann und wann ihr Mundwerk ein wenig im Zaum zu halten hat.«

»O Herr Justizrat!« rief die Alte.

»Nun, nun, Frau Baronin; wir wollen mit niemand zu strenge ins Gericht gehen. Sie hatte es für ihren Charakter vielleicht zu bequem mit dem Friedhof da vor ihrer Tür. Zwei Männer hat sie zu Tode geärgert, und zwar nur, weil sie sie nur über den Zaun zu schieben brauchte, um das Haus rein und ruhig zu machen.«

»O du gütiger Himmel, nun höre ihn wieder einer!« kreischte die Alte. »Ach Madam, konnte ich denn für die Ruhr bei meinem Zweiten? Und konnte ich dafür, daß mein Letzter sich im Steinbruch nicht mit der Sprengpatrone in acht nahm?! O Madam, glauben Sie nur niemalen, was der Herr Justizrat so hinsagen; auf dreimal machen sie zweimal ihren Spaß mit einem. Was meinen Ersten angeht, so hat mich der von Anfang an so schlimm [317] traktiert, daß es kein Wunder gewesen ist, wenn ich mich gegen ihn gewehrt habe, wie ich konnte.«

»Herrgott, von dem Ersten hab ich ja noch gar nichts gewußt!« rief Scholten verblüfft. »Also sind es gar drei gewesen? Und jetzt komme ich schon sechs Sommer hintereinander hier in die Einöde und gehe jeden Morgen da im Dorfarchive spazieren, und sie hat es doch möglich gemacht, mir einen – ihren Ersten gar – zu verheimlichen. O Witwe Bebenroth, o Weiber, Weiber, Weiber!«

»Der Meister Kasties kann ihn selber nicht mehr finden«, sagte die Alte kleinlaut beschönigend, und mit zum Himmel gerichteten Augen wendete sich der Justizrat an die Frau Salome und ächzte:

»Nun bitt ich Sie; dieser Meister Kasties ist der Archivar des Ortes, das heißt der Totengräber, und gut seine achtzig Jahre alt. Er ist mein guter Freund und behauptet, jedes Regal und Fach in seinem Repositorio genau zu kennen nach Datum und Inhalt. Das nennt man nun Historie; und so geht man mit den wichtigsten Dokumenten der Erde um!«

»Ich ginge in Ihrer Stelle jetzt in Ihre Stube, Herr Justizrat«, sagte die Alte verdrossen. »Das Kind ist eingeschlafen, und wenn es mir nicht gesagt hätte, daß es auf Sie warten müsse und daß Sie es eingeladen hätten, so würde ich ihm wohl eine andere Schlafstelle angewiesen haben.«

»Auf Eure Gefahr!« rief Scholten. »Kommen Sie, Baronin. Sie ziehen mir auch eine verzwickte Miene. Ist Ihnen die Witwe zu schwer auf die Seele gefallen?«

Die Frau Salome schüttelte sich ein wenig, folgte dann der einladenden Handbewegung und trat über die Schwelle der Stube des Justizrats. Der Kuckuck der Uhr im Winkel rief grade in diesem Augenblick sechsmal.

Es war eine gewöhnliche Bauernstube, jedoch kahler und geräteleerer, als man sie sonst zu finden pflegt. Der jetzige Bewohner hatte für seinen Aufenthalt alles, was ihm im Wege stand, und dessen war nicht wenig, hinausschaffen lassen. Nur die Uhr, der lange, massive Tisch, die in der Wand befestigte Bank, der Ofen und einige dreibeinige Holzstühle mit herzförmigen [318] Aussägungen in den Rücklehnen hatten Gnade vor seinen Augen gefunden. Ebenso ein Wandschrank und am Fenster eines jener bekannten untrüglichen Wetterhäuschen, aus dessen Tür bei angenehmer Witterung der Mann, bei Regen aber die Frau tritt und in welchem eine Darmsaite das bewegende Prinzip spielt. Eine alte – die erste Genfer Ausgabe der Pièces fugitives von M. de Voltaire lag in der einen Fensterbank, ein bleiernes Dintenfaß mit einem Gänsefederstumpf stand in der andern. In einer Ecke stand ein halb Dutzend langer Pfeifen und ein Reserveknotenstock. An einem Nagel hinter der Tür hing die Garderobe des Justizrats Scholten, und eine zweite Tür führte in eine Kammer, in welche einen Blick zu werfen wir uns nicht erlauben werden. Wir haben noch ein anderes zu betrachten, was auch die Baronin Salome rasch und nicht ohne Interesse ins Auge faßte und auf welches uns die Witwe Bebenroth bereits aufmerksam gemacht hat.

Auf der Bank hinter dem Tische saß oder lag vielmehr ein junges Mädchen, dem Anschein nach ein Kind von zwölf Jahren, und schlief. Von dem Gesichte sah man nichts; die Kleine hatte es auf die Arme gelegt und schlief mit der Nase auf dem Tische. Das Haar aber, dessen eine Flechte sich gelöst hatte, überströmte in merkwürdigster gelbweißer Fülle die Arme und den Tisch, und dieser Besuch schien sehr müde zu sein und lange nicht geschlafen zu haben: der Eintritt des Justizrats mit seiner schönen Freundin erweckte ihn nicht.

»Ich würde Ihnen die Bank anbieten, Gnädige«, sagte der augenblickliche Herr der vier Wände, »aber Sie sehen, es läßt sich nicht tun. Nehmen Sie Platz, ich freue mich sehr, Sie endlich einmal hier zu haben.«

Er schob der Baronin einen der dreibeinigen Stühle mit einem Herzen in der Lehne hin und holte sich gleichfalls einen. Doch ehe er sich setzte, ging er zu dem offenen Wandschrank, holte ein weißes Brot nebst einer mit Salz gefüllten Glasschale sowie ein Messer auf einem irdenen Teller mit dem Spruche: Und sie aßen alle und wurden satt. Ev. Matthäi 14, 20. – Damit kam er vergnügt zurück an den Tisch und meinte:

[319] »Es ist eine Gefälligkeit von Euch, Gastfreundin, aber Ihr tut mir wirklich einen Gefallen, wenn Ihr jetzo zum erstenmal Salz und Brot unter meinem Dache eßt.«


»Und einen Trunk der frischen Welle,
Der nie das Blut geschwinder treibt,

Gastfreund«, bat die jüdische Edelfrau, worauf Justizrat Scholten seine Witwe Bebenroth mit einem Kruge zum Brunnen schickte und brummte:

»Mit der Reservatio, daß Sie mir damit nicht kommen, wenn ich Ihnen meinen Gegenbesuch abstatte.«

Die Schläferin am Tische regte sich während dieses Zwiegespräches, doch sie erwachte nicht, sie legte ihren Kopf nur ein wenig bequemer zwischen ihre Arme.

»Wen haben Sie denn da, Scholten?« fragte die Baronin.

»Welch ein merkwürdiges Haar die Kleine hat!«

»Die Sonne Judäas hat freilich nichts mit diesem Flachsfelde zu schaffen. 's ist die Tochter Querians, den Sie auch nicht kennen, Frau Salome. Ihren Taufnamen habe ich ihr aus der Tiefe meiner germanistischen Geschichtsstudien aufgefischt und an gehängt. Eilike heißt das Kind – Eilike Querian. Ein ganz vortrefflicher Name, Eilike, den ich aber dem Pastor vor dem Taufakt in den Büchern altsächsischer Chronik und Legende aufzuschlagen hatte, ehe ich ihm denselben mundgerecht machte.«

»Und wer ist Querian?«

»Hm«, antwortete der Justizrat, »das mögen Sie sich von seiner Tochter erzählen lassen. Vierzehn Jahre ist's her, seit ich sie in der Marktkirche zu Hannover aus der Taufe hob und sie auf den Markt des Lebens brachte. Sie ist ein recht gescheites Ding in den Jahren geworden und weiß ziemlich genau Bescheid in den Umständen ihres Papas.«

»Und Querian wohnt hier im Dorfe?«

»So ist es. Und er wohnt hier nicht bloß als ein flüchtig vor überziehender Sommergast. Er hat sich ansässig hier gemacht, oh, er sitzt hier sehr fest. Nun, wenn Sie Glück haben, werden Sie ja auch wohl seine persönliche Bekanntschaft machen; ich [320] erlaube mir jedoch, Sie von vornherein darauf aufmerksam zu machen, daß der Verkehr mit ihm einige Behutsamkeit erfordert.«

»Meine Neugier –«

»Nach dem Wörterbuch ein heftiges Verlangen, etwas Unbekanntes kennenzulernen oder zu erfahren, das aber, wie ich dann und wann erfahren habe, nach seiner Befriedigung in sein Gegenteil umschlägt. Eilike!«

Er hatte bei dem letzten Worte seinem schlafenden Gaste die Hand auf die Schulter gelegt, und die Kleine erwachte. Sie fuhr aber nicht rasch und erschreckt in die Höhe, sondern sie richtete sich langsam und träge empor und strich gähnend mit beiden Händen die Haare zurück. Da ihr die Frau Salome gerade gegenüber saß, sah sie auch auf die schöne Baronin. Sie stierte sie an aus hellen, blauen Augen, und es war etwas in dem Blicke, was die Frau Salome zu dem stummen Ausrufe bewog:

»Mein Gott, das arme Geschöpf ist blödsinnig!«

Sechstes Kapitel

»Dieses wohl nicht; freilich aber ein wenig in Hinsicht auf geistige wie körperliche Erziehung vernachlässigt«, sagte der Justizrat, als ob er mit seinen leiblichen Ohren gehört habe, was die Baronin in der Tiefe ihrer Seele gerufen hatte. »Blödsinnig ist sie nicht, sie sieht nur dann und wann so aus.«

»Daß der Umgang mit Ihnen ein wenig mehr als bloße Behutsamkeit erfordert, weiß ich, es ist nicht mehr nötig, daß Sie mir dieses immer von neuem deutlich machen, Scholten. Guten Abend, mein Kind; wirst du mir erzählen, was dir eben träumte?«

Die Kleine machte nur die größten und verwundertsten Augen; wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt starrte sie die schöne Dame an, antwortete aber nicht.

»Guten Abend, Eilike«, sagte der Justizrat. »Gut geschlafen? Eigentlich sollte man dir einen guten Morgen wünschen.«

[321] Jetzt ging ein Lachen über die Züge des Mädchens, während es sich mit den Knöcheln beider Hände die Augen rieb und von neuem herzhaft gähnte.

»Wie Viele hast du heute schon verschlungen?« brummte Scholten, und jetzt zeigte es sich, daß das Ding doch auch zu reden wußte.

»Oh, noch niemand, Herr Pate. Wir haben auch gar nicht zu Mittag gekocht. Der Vater hatte keine Zeit, und ich habe ihm geholfen. Jetzt schläft er, und ich bin hier und habe auch geschlafen. Es ist wohl der heiße Tag gewesen, und unterwegs hatte mir der liebe Gott noch einen Botengang linksab geschickt. Das hat mich wohl noch schwindliger gemacht; da bin ich hier in der Kühle eingeschlafen, ohne daß ich weiß, wie es zugegangen ist. O nehmen Sie es nur nicht übel!«

»Im Brotschranke war ein halbes gebratenes Huhn – delikat! – und ein Topf mit Pflaumen in Zucker?!« sagte oder fragte der Justizrat, wie verstohlen mit dieser Bemerkung sich seitwärts anschleichend.

»O ich weiß, Herr Pate! Ich stand auf den Zehen; aber sie hat mich am Zopf umgedreht, und da habe ich hier auf der Bank gewartet und bin eingeschlafen.«

Die Augen der Kleinen leuchteten bei dem neuen Blick auf den Wandschrank; aber die Augen des Justizrats Scholten leuchteten gleichfalls bei einem Blick in denselben. Mit einem Sprunge war er vor der Stubentür, und sofort erhub sich in der Tiefe des Hauses – wahrscheinlich in der Küche – ein Lärm, der die stillen Schläfer an der Kirche unter den Kreuzen und grünen Hügeln hätte aufwecken können. Der gemütliche alte juristische Sommergast der Witwe Bebenroth schien toll geworden zu sein. Er schrie, er brüllte – Pfannen und Töpfe rasselten –, dazwischen zeterte und heulte die Witwe; die Frau Baronin Salome von Veitor aber schob der Eilike den irdenen Teller mit dem Brot zu und sagte:

»Du wirst für jetzt wohl damit fürliebnehmen müssen, mein armes Kind.«

»Oh!« rief Eilike Querian, griff mit beiden Händen gierig zu, [322] riß ganze Stücke mit den blendend weißen, scharfen Zähnen ab und erstickte fast im Kauen und Schlingen.

Der Anblick war solcher Art, daß die Frau Salome, die Hände faltend, murmelte:

»Wer konnte darauf achten? Ich hab's nicht gesehen; aber ich hoffe, er hat seinen Spazierknittel mit in die Küche genommen und macht Gebrauch davon. Ich hoffe zu Gott, daß er das Weib durchprügelt!«

Keuchend, mit dem hellen Wutschweiß auf der Stirn, trat Scholten wieder ein.

»Das Kind habe alles gefressen, behauptet der Unhold und will darauf einen selbstverständlich falschen Eid schwören«, sagte er grinsend. »Eilike –«

Das Kind hatte sich bereits erhoben. Es stand in einer seltsam pathetischen Stellung. Die linke Hand hatte es auf die Brust gelegt, die rechte erhob es, reckte die Schwurfinger auf und sagte mit wunderlich feierlichem Tone:

»Der barmherzige Herr und Schöpfer vom Himmel und der Erde ist mein Zeuge. Ich habe es nicht getan.«

Die Frau Salome sah von dem jungen Mädchen auf den Justizrat:

»Scholten, ich bitte Sie?! Was ist das, Scholten?«

»Eilike Querian. Querians Tochter, wie ich Ihnen sagte. Mein Patchen aus der Marktkirche zu Hannover, wie ich Ihnen bemerkte. Ich habe die Person nach dem Wirtshause geschickt. Nicht wahr, Eilike, wir sind mit jeglichem Tafelabhub zufrieden?«

Das Kind lachte. Es kaute weiter, schien den Herrn Paten wenig zu verstehen und schien vor allen Dingen mit allem zufrieden zu sein, was ihm zwischen die gesunden glänzenden Zähne kam. – Die Witwe Bebenroth kam mit einem leeren Korbe zurück, trat patzig in die Stube, schlug die Arme unter und sagte grimmig, verdrossen und voll höhnischen Triumphes:

»Nichts! Alles ratzenkahl – der letzte Knochen für die Hunde. Sapperment, ist das ein Umstand!«

[323] »Sapperment«, brummte der Justizrat. »Weib, ich hätte Lust, dir einen Kriminalprozeß auf den Hals zu hängen!«

Da setzte die Witwe ihren Korb nieder und verzog den Mund zu einem neuen Geheul:

»Oh, Herr Rat, ich habe noch einen Schinken im Rauch. Mein letzter Seliger ist dieses sein letztes Frühjahr durch mit langer Zunge drumherum gegangen, und ich habe ihn leider Gottes mehr als einmal von der Leiter heruntergezogen und ihm das Messer aus den Händen gerissen. Ach Gott, ach Gott, hätte ich gewußt, daß dies sein letztes Frühjahr sein sollte, so hätte ich ihn gut und gern mit seiner Gier dran gelassen. Ein Drache bin ich nicht, sondern nur eine arme, elende Witfrau, Herr Justizrat, und das wissen Sie seit sechs Jahren am besten.«

»Herunter mit dem Schinken! Her mit ihm!« rief Scholten; doch sein kleiner Gast stand auf, knickste höflich und sagte:

»Ich bin ganz satt, Herr Pate; ich danke auch schön.«

»Sapperment«, wiederholte Scholten, und die Witwe Bebenroth murmelte etwas von einer »diebischen, gefräßigen Kröte« und verschwand, auch diesmal ihren Schinken noch rettend.

»Sie hat das Huhn doch sich selber genommen«, flüsterte Eilike Querian, und dann trug sie Teller und Brot und Messer ein jegliches an seinen Platz und wischte den Tisch ab mit einem Flederwisch, den sie vom Nagel hinter dem Ofen holte, brachte auch den Gänseflügel wieder an seinen Ort, kam zurück an den Tisch und auf ihre Bank und hub nun an, bitterlich zu weinen. Die Tränenflut kam so überraschend für die Frau Salome, daß sie beinahe erschrak und jedenfalls ihren Stuhl höchst verdutzt zurückschob. Der Justizrat, mit den Zuständen seines kleinen Gastes bekannt, zog nur ganz unmerklich die struppigen grauen Augenbrauen zusammen, schob die Brille auf die Stirn und fragte:

»Also es ist einmal wieder gar nicht auszuhalten zu Hause, mein Mädchen?«

»Ich bin aus dem Fenster gestiegen. Es ist böse von mir; aber er hat es gottlob nicht gemerkt. Ich meine, ich könnte sterben, [324] ohne daß er es merkte. Er hat mich wieder nackt abgebildet, daß ich mich vor mir selber fürchte –«

»Er ist verrückt: und wenn wir sechsmal aus einem Neste sind, meine Geduld mit ihm ist zu Ende!« rief der Justizrat, die Faust schwer auf die Tischplatte fallen lassend. »Es ist unverantwortlich, daß ich ihm nicht schon längst die Tür habe aufbrechen lassen; aber es soll heute abend – jetzt gleich – noch geschehen. Er soll hervor! Einen andern Herbst und Winter durch lasse ich dich nicht mehr mit ihm allein, mein armes Kind! Er ist unzurechnungsfähig; ich werde jetzt auf der Stelle mit dem Vorsteher reden und mich diese Nacht noch mit einer Darlegung der Verhältnisse an die zuständigen Behörden wenden. Sie sollen mir die Vormundschaft über ihn und dich legaliter übertragen. Zum Henker, es ist kaum zu glauben, was alles den verständigen Leuten in dieser Welt über den Kopf wachsen will! Prometheus?! Oh, der Narr soll mir nur mit seiner Dummheit kommen Am Kaukasus werde ich ihn nicht festschmieden lassen, wohl aber solide und behaglich in das Landesirrenhaus setzen lassen. Ichor?! Sapperment, die Doktoren und Chirurgen nennen das auch serum sanguinis, Wundwasser – Eiter und Jauche! Ich werde ihn an den Ohren hervorziehen – beim Zeus, das heißt dem verständigen, klaren, blauen Himmel, das werde ich.«

Ja, beim unbewölkten Zeus, der es aber versteht, Wolken zu sammeln und tüchtig zu regnen: der Justizrat Scholten sah in diesem Moment nicht aus, als ob er viel von dem Blute der Götter in den Adern der erdgeborenen Menschen halte! Wie ein alter Kater sah er aus oder, edler gesagt, wie ein Schwurgerichtspräsident, der bei ausgeschlossener Öffentlichkeit über einen mit dem Untergange von Sodom und Gomorrha in Verbindung zu bringenden Fall zu Gerichte sitzt.

Die Frau Salome sah noch verdutzter auf ihn wie vorhin auf die so unvermutet in Tränen zerfließende Eilike. Das Kind hielt angsthaft, mit offenem Mund, in der offenen Hand den Groschen hin, welchen es Vorhin für einen Botenweg von einer gutherzigen Seele im Dorfe zur Belohnung empfangen hatte; – der alte Jurist erschien in demselben Grad erregt wie vorhin, als [325] er, wutentbrannt ob des fehlenden Hühnerbratens und seines Topfes voll Zwetschen, in die Küche der Witwe Bebenroth stürzte, und er beruhigte sich in demselben Grade rasch wie nach jenem Zornausbruche.

Die gesträubten Brauen glätteten sich, die grimmigen Falten legten sich wieder in die gewöhnlichen Furchen zurecht, und der Justizrat sprach zur Frau Salome:

»Euer Gnaden verwundern sich? Euer Gnaden haben keine Ursache, sich zu wundern. Aber dieser Querkopf, dieser Querian, macht mir die Sache dann und wann zu arg, und wie er die Eilike traktiert, das hat sie Ihnen eben selber vorgetragen. Ein altes Vieh bin ich nicht, wie eben meine Witwe da draußen brummt, und wenn ich einmal den Polyphem herauskehre, so hat das gewöhnlich seine guten Gründe. Eilike, mein Herz, wie oft hab ich es dir verboten, von den Leuten Geld zu nehmen!«

»Oh, sie geben es mir aus gutem Herzen.«

»Und aus Mitleid«, ächzte Scholten. »Das ist der Jammer, und – der Querian gehört doch ins Irrenhaus. Du aber nimmst es aus Dummheit, mein Kind, und so muß ich auch das gehen lassen, wie es geht. Es ist, um sich die Haare auszuraufen!«

Die Frau Salome von Veitor hatte selten in ihrem Leben die anderen Menschen so lange allein reden lassen. Jetzt jedoch hielt sie es nicht länger aus, und es war ihr eigentlich auch nicht zu verdenken, wenn sie endlich eine genauere Einsicht in die Umstände der Leute wünschte, deren Bekanntschaft sie in so absonderlicher Art machte.

»Wenn ich hier nicht in die Höhle des Polyphemos geraten bin, so ist's vielleicht die Grotte des Trophonios. Nun warte ich aber mit Schmerzen auf die kluge, geheimnisvolle Stimme aus dem Dunkeln, Justizrat. Und auch der Esel draußen vor der Tür wird allgemach ungeduldig, und ich bin es gewohnt, auch auf ihn einige Rücksicht zu nehmen.«

Sie sagte das letztere lachend, aber es zitterte doch eine ganz andere Bewegung in der Stimme, mit welcher sie hinzusetzte:

»Was dieses Kind ist, sehe ich. Wie es geworden ist, kann ich [326] mir in hundertfacher Weise vorstellen. Wie da zu helfen wäre, kann ich mir auch auslegen; – im Grunde ist da noch wenig versäumt und verloren. Aber wer und was ist dieser unheimliche Herr mit dem verqueren Namen? Querian! Hat je ein Mensch ein ehrlich Handwerk getrieben, ein Geschäft gemacht oder in der Gelehrsamkeit es zu etwas gebracht mit einem Namen wie dieser?«

»Nein«, erwiderte der Justizrat, »und deshalb hat der Unglückliche es in der Kunst versucht, und es ist bis dato ihm auch damit nicht geglückt, wenngleich dieses noch am ersten das Feld war, worauf er Querian heißen konnte. Ein Doktor Querian, ein Pastor Querian und ein Geheimrat Querian sind freilich vollkommen unmöglich. Weshalb hieß der Tropf nicht Scholten und brachte es zu einer anständigen Stufe auf der Leiter bürgerlicher Respektabilität?!«

»Also Mr. Shandy hat da wieder einmal recht?«

»Wieder einmal, Gnädige; aber: ›nomina omina‹ sagen schon die Lateiner. Was die Eilike angeht, so habe ich da eine homöopathische Kur gebraucht und den Haus- durch den Taufnamen heruntergedrückt. Als Eilike Querian kann man es am Ende doch noch zu etwas bringen, sowohl im Romane wie im gewöhnlichen Leben. Nicht wahr, mein Kind, es wird doch noch etwas aus uns, und die Sonne scheint uns nicht nur in den Mund, sondern auch in das Herz. Ein wenig Hunger dann und wann bewirkt nur, daß wir den Mund ein wenig weiter aufsperren –«

»Die Witwe Bebenroth darf uns dann aber nicht zu häufig zwischen das Glück und unseren Instinkt oder Appetit geraten. Lieber Freund, was die Sonne anbetrifft, so ist dieselbe heute bereits seit einiger Zeit untergegangen, und ich habe, wie Sie wissen, noch einen ziemlichen Weg nach Hause vor mir. Was treibt, was schafft Ihr kurioser Freund und Gevatter? Es wird Dämmerung, und ich habe über keinen Hippogryphen zu verfügen, der mich aus diesem Reiche der Romantik in meine modernen, nüchternen vier Pfähle zurückbringt.«

»Er bildet Menschen, Frau Salome. Machwerke, die von ferne so aussehen, in der Nähe aber immer ein wenig anders. Es würde [327] aber ein eigener Geschmack dazu gehören, mit seinen Kreaturen Haus und Garten zu bevölkern. Sie haben es gehört; er hat wieder einmal sein Kind nackt abgebildet; – nun sage, Eilike, hast du dich da wiedererkannt, und hast du dir gefallen?«

Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf und schauderte wie in einem unüberwindlichen Grauen.

»Es war das, weshalb ich aus dem Fenster sprang. Es war nicht der Hunger. Ich will leben und möchte auch ein schönes Kleid haben wie die schöne Dame. Er aber bildet mich tot ab. Oh, ich wollte, ich wäre tot; aber dann auch begraben und mit grünem Gras und Blumen auf meinem Grabe; dann brauchte ich mich nicht mehr zu fürchten und zu schämen!«

»Scholten?!« rief die Frau Salome, zusammenschauernd wie eben Eilike Querian. »Oh, das unselige Geschöpf! Und Sie dulden das? Sie ertragen es, derartiges in dem Tone sich sagen zu lassen?«

»Prometheus im Dorf! Ein Tropfen vom Blute der Götter, Madam«, sagte der Justizrat finster.

»Oh, und Sie haben mehrmals den Versuch gewagt, mich über das unglückliche Kind lächeln zu machen! Der Himmel verzeihe das Ihnen. Aber ich will diesen Mann kennenlernen! Wenn er Geld haben will, soll er es haben. Er soll mir heraus! – Wenn er ein Künstler – ein Bildhauer ist, soll er weg von hier – einerlei wohin – nach Italien – nach Rom, und mir soll er sein Kind lassen. So antworten Sie doch, Scholten; sagen Sie etwas, sprechen Sie doch!«

Der Justizrat war aufgestanden und ging in der Stube auf und ab. Nun blieb er vor der Frau Salome stehen und sagte mit einer Stimme, die ob der Rührung nur noch schnarrender wurde:

»Ich würde es da nicht zum erstenmal erfahren, daß Ihnen der Gott Abrahams in Fällen Gedeihen gibt wo andere Leute unfehlbar und ohne Gnade fehlgreifen. Wissen Sie was? Ich will in dieser Nacht einmal nach Pilsum schreiben. Darf ich Ihnen übrigens jetzt noch die Hand küssen, teure Freundin?«

Er tat das letztere und behielt diese Hand dann noch mehrere Augenblicke zwischen seinen Händen. Eilike Querian aber sah [328] und hörte dem allen zu. Der Esel vor der Tür aber wurde nun in der Tat recht ungebärdig, zog an seinem Zaume, scharrte und stampfte und ließ Töne hören, die dem Kinde sehr spaßhaft vorkamen und über die es leise, aber doch sehr herzlich lachte.

Siebentes Kapitel

Die Dämmerung des schönen Sommertages war gekommen, und die Baronin Veitor zögerte immer noch im Hause der Witwe Bebenroth.

»Es würde mir so lieb sein, heute abend noch den Mann mit Augen zu sehen. Ich glaube, ich würde viel besser schlafen«, sagte sie.

»Was meinst du, Eilike«, fragte der Justizrat Scholten, sich an das junge Mädchen wendend, »würde der Papa sich heute abend sehen lassen?«

Eilike Querian schüttelte den Kopf:

»Ich steige wieder ins Fenster und schleiche zu Bett. Die Dachluke lasse ich offen wegen der Sterne und Wolken, und daß ich den Nachtwächter hören kann und die Katzen und Hunde und die Kühe in den Ställen. Ich schlafe dann auch viel besser. Weil aber der Mond scheint, ist's noch besser, denn da habe ich auch meiner Mutter weißes Bild am Bette, das sieht mich freundlich an und bewacht mich.«

»Es ist ein Gipsabguß des Kopfes irgendeiner Muse, Nymphe oder Nereide; aber es ist ein gutes griechisches Frauenzimmergesicht in der Tat, und so läßt man das Kind in Gottes Namen am besten bei seinem Troste. Seine Mutter kann es nicht gekannt haben, sie starb ihm zu früh«, sagte Scholten leise erklärend zu der Frau Salome.

»So lassen Sie uns die Kleine jetzt nach Hause begleiten und zeigen Sie mir wenigstens ihre und ihres Vaters Wohnung.«

Der Justizrat nahm seinen Hut und Eichenstock Eilike Querian sprang vor die Tür und löste dem Maulesel den Zaum von [329] der Hecke und legte ihm denselben geschickt zurecht. Die Witwe Bebenroth kam auch wieder herbeigekrochen und sagte höflich:

»Wollen Sie uns schon verlassen? Nun, besuchen Sie uns recht bald einmal wieder!«

»Verlassen Sie sich darauf!« murmelte die Baronin von ihrem Reittiere herunter. »Es ist nicht das letzte Mal, daß ich mich hier befand.«

So zogen sie ab vom Hause der Witwe quer durch das Dorf.

Es war längst Feierabend, und längst waren die müden Einwohner von ihrer Arbeit auf und unter der Erde heimgekommen; aber der Ort war kaum lebendiger dadurch geworden. Die Leute saßen müde Vor ihren Türen, und nur die Kinder waren wie gewöhnlich vor dem Schlafengehen noch einmal recht munter geworden und trieben wilder und mit helleren Stimmen ihre letzten Spiele an diesem Tage. Nun senkte sich wiederum am äußersten Rande des Dorfes der Weg in eine Talmulde, in die der Wald hineinwuchs. Da lag das Haus Querians, das sich, soviel man in der Dämmerung sehen konnte, durch nichts von den übrigen Gebäuden der Ortschaft unterschied. Mit Schindeln gedeckt und behangen, lehnte es sich an das Gebüsch und an die Hügelwand: ein einstöckiges Bauwerk mit einem Giebel.

»Da wohne und schlafe ich«, sagte Eilike, auf diesen Giebel deutend. »Aber nach hinten hinaus«, fügte sie hinzu. »Ein krummer Zweig reicht gerade an mein Fenster, und ich kann klettern. Hier unten wohnt mein Vater, Madam. Wir könnten drei Tage klopfen, und er machte doch nicht auf, wenn es ihm nicht gefällig wäre. Er hat soviel zu tun; und die Fensterladen macht er nie auf. Er arbeitet bei Licht – bei einem großen Feuer, er friert immer so sehr. Er hat sich selber einen Herd dazu gebaut. Aber seine Arbeitsstube ist auch nach hinten heraus. Da hat er die Wände eingeschlagen zwischen der Küche und der Kammer und sich eine große, große Werkstatt gemacht. Er kann alles, und die Leute im Dorfe wissen das auch, besser als der Herr Pate Scholten. Es ist unrecht, daß ich es sage, aber es ist doch so.«

»Das Kind hat recht, Frau Salome«, sagte der Justizrat. »Sie passen zueinander, die Leute im Dorf und mein braver Freund [330] Querian. Dieser würde sich auch sonst hier gar nicht halten. Das Kind hat ganz recht, und ich bin fest überzeugt, daß mehr als einer der Männer vom Leder hier des Nachts klopft und Einlaß findet, wo wir drei Tage vergeblich pochen würden Was wissen wir hellen Leute, Frau Salome, von den Mysterien der Narren, zumal wenn sie noch dazu ihre Tage bei ihrem Grubenlicht im Erdeingeweide verwühlen? Querian! Der König der Zwerge und Alraunen dürfte dreist Querian heißen. Wenn Sie demnächst uns einmal wieder besuchen, liebe Baronin, so fragen Sie, ehe Sie bei mir und der Witwe Bebenroth vorsprechen, in der ersten besten Bergmannshütte nach Herrn Querian und achten Sie gefälligst auf die Gesichter, mit denen man Ihnen den Weg zu seiner Behausung andeutet. Diese werden Ihnen das Verhältnis, in dem mein sonderbarer Freund zu der hiesigen Bevölkerung steht, deutlicher machen, als ich es durch die ausführlichsten Auseinandersetzungen und Erläuterungen vermöchte. Nicht wahr, Eilike, es kommen viele Leute aus dem Dorf, um sich Rat von deinem Vater zu holen, und sie bringen ihm auch allerlei, was sie in der Erde gefunden haben?«

»Die Bergleute kommen, Herr Pate«, antwortete Eilike geheimnisvoll mit dem Finger auf dem Munde. »Sie sind mein Herr Pate und dürfen mich fragen. Mein Vater kennt alle Steine und Erze und weiß gut Bescheid unter der Erde.«

»So!« sagte Justizrat Scholten, zu der Baronin von Veitor gewendet, »jetzt wissen Sie ziemlich genau Bescheid in dem, was meinen Gevatter am hiesigen Orte betrifft. Was sonst meinen Zusammenhang mit ihm anbetrifft, so kann ich Ihnen darüber das Nähere bei passender Gelegenheit beiläufig mitteilen. Wir hellen Leute lassen keine Mysterien gelten –«

»Und bleiben deshalb vielleicht so oft während der Feier der Eleusinischen Geheimnisse vor der Tür stehen!« rief die Baronin.

»Wahrscheinlich!« brummte der Justizrat; aber Eilike, der diese Unterhaltung allmählich sehr langweilig geworden war, rief nun plötzlich:

»Gute Nacht!« und sprang fort, um das Haus herum verschwindend.

[331] »Die Krabbe ist die Vernünftigste von uns allen«, murmelte Scholten. »Sie weist uns auf unsere Wege und weiß ihrerseits den Baumstamm und den Zweig, die sie zu ihrem Bette bringen, auch im Dunkeln zu finden. Es wird wahrlich Zeit, daß ich Sie auf die Landstraße geleite, Frau Baronin. Wir haben des Spukes für heute genug, und es fängt an, kühl vom Blocksberge herzublasen, und ich habe noch nach Pilsum zu schreiben. Sie haben mich ganz zur richtigen Stunde daran erinnert, Frau Salome, daß ich dem Freunde Schwanewede seit zwei Jahren einen Brief schuldig bin.«

»Das freut mich«, sagte die Baronin zerstreut, und ebenso zerstreut sagte sie: »Das Kind wird doch nicht den Hals brechen?«

»Ich hoffe nicht«, meinte der alte Scholten, und dann griff er von neuem nach dem Zügel des Maulesels und führte ihn zurück von der Tür Querians auf den holperichten Fußpfad, der vom Dorfe herüberführte. Er wußte sonst, wie wir auch schon erfahren haben, jeglichem Weggenossen die Zeit der Wanderung durch anmutige Unterhaltung zu verkürzen, doch jetzt ging er still und stieß nur dann und wann, wie um einen Punkt in seiner eigenen stummen Unterhaltung zu machen, mit dem Knotenstocke fest auf.

So brachte er seinen schönen Gast wieder auf die durch das Dorf führende große Straße und dann noch weiter ein gutes Stück Weges über das Dorf hinaus bis auf die Höhe des nächsten Bergrückens, wo die Chaussee sich über eine kürzlich abgeholzte Hochebene hinschlang. Das war eine gute halbe Stunde von seiner Behausung, und er nahm hier Abschied mit der Bemerkung:

»Jedem anderen Frauenzimmer zu Fuß, Pferd oder Esel würde ich die beiden übrigen Stunden zur Seite mitlaufen. Nehmen Sie das als ein Kompliment, liebes Herz, und kommen Sie gut nach Hause.«

Die Frau Salome lachte und schüttelte dem wunderlichen juristischen treuen Eckart von ihrem Maulesel herab die Hand.

»Das ist wahrlich ein wackerer Freund und braver Lebensgenosse, der aber sicherlich seinen Trost und eine schöne, lange Nachrede auch herausfinden würde, wenn man mich morgen nach [332] Sonnenaufgang, von Räubern erschlagen oder in einem Abgrunde samt meinem Esel, mit zerschlagenen Gliedern fände. Nun, grüßen Sie auch von mir unbekannterweise, wie man sagt, nach Pilsum. Ich muß doch noch einmal Von Norderney aus Ihren Freund Schwanewede kennenlernen. Den Querian gedenke ich mir in den allernächsten Tagen hervorzuholen. Ist das ein Kleeblatt – Scholten, Schwanewede und Querian! Und da soll man, den Brocken hinter sich, ruhig nach Hause gehen, sich zu Bett legen und einen guten Schlaf tun!«

»Dort kommt der Mond über den Berg, Frau Salome, und die Straße ist in einem ausgezeichnet guten Zustand und macht der Wegebaudirektion alle Ehre. Ich wünsche Ihnen recht wohl zu schlafen und werde mich morgen durch die Eilike nach Ihrem Befinden erkundigen.«

Sie nahmen jetzt wirklich Abschied. Der Justizrat schlug sich wieder durchs Dorf nach dem Hause der Witwe Bebenroth, und die Baronin ritt fürbaß auf der nicht ohne Grund gelobten Vortrefflichen Landstraße. Den Mond hinderte auch nichts auf seinem Wege quer über das Firmament, und er ging, als ob es ihm nie eingefallen sei, die Weltmeere in Bewegung zu setzen, geschweige denn die Gemüter der Menschen sich nach und zu sich emporzuziehen.

»O Himmel, welch eine wundervolle Nacht und welch ein wunderlicher Abend!« murmelte die Baronin Salome von Veitor und gelangte richtig ohne die mindeste Gefährde und Beschwerde vor dem zierlichen Gittertor ihrer Sommerwohnung an, und niemand unter ihren Leuten hatte sich irgendwelche Sorge um sie gemacht.

Achtes Kapitel

Man weiß südwärts der Polargrenze des Weines, das heißt des trinkbaren Weines, keineswegs viel Von den Ländern und Menschen zwischen dem Harz und der Deutschen See; aber dessenungeachtet ist Karl Ernst Querian in das Kirchenbuch zu Quakenbrück[333] als ehelich erzeugter Sohn bürgerlich anständiger Eltern eingetragen, dessenungeachtet existierte Peter Schwanewede in Pilsum, ein doctor theologiae der gleichfalls vorhandenen Universität Göttingen, und dessenungeachtet hat sich soeben Justizrat Scholten von seiner Wirtin die Lampe anzünden lassen und blättert, ehe er an seinen Freund Peter schreibt – wahrscheinlich um wenigstens sich klarzubleiben –, im Recueil de nouvelles pièces fugitives de M. de Voltaire, und zwar in der Ausgabe, die man voreinst außer in Genf auch zu Paris, und zwar bei Duchesne, rue St. Jacques – au temple du goût, finden konnte.

Das ist ein langer Satz, aber es war uns unmöglich, ihn und uns kürzer zu fassen; wir werden auch gleich sehen, daß es auch dem Justizrat trotz seiner Lektüre nicht gelang, bündig zu sein. Mademoiselle Catherine Vadé mag es ihm verzeihen.

Die Witwe hatte die Lampe gebracht, noch einmal mit dem Schürzenzipfel vor den Augen die Rede auf das halbe Huhn und den Pflaumentopf bringen wollen und war mit einem Donnerwetter zur Tür hinausbefördert worden. Der Justizrat schlug Antoine Vadés »Discours« an die Welschen zu und mit der Faust auf den Tisch und ächzte:

»Wir sind das langweilig-verrückteste Volk auf Erden, und wir haben alle Aussicht, es noch längere Zeit zu bleiben. Was hilft's dem einzelnen, zu wissen, wie klug andere Leute schon vor hundert Jahren gewesen sind?«

Er schien die größte Lust zu haben, den alten Lederband mit der blassen, abgegriffenen Rokokoschnörkelvergoldung unter den Tisch der Witwe Bebenroth zu werfen, legte ihn jedoch nur um desto vorsichtiger, ja zärtlicher beiseite und sich seine Briefbogen zurecht.

»Diese hübsche, kluge Jüdin hat mir gleichfalls für einige Tage meinen Gleichmut wieder verschoben«, brummte er. »Alle Teufel, da wird der alte Mystiker an der Emsmündung einmal wieder kuriose Augen über seinen Kommilitonen und voreinstigen Hausburschen machen! Wodan und Thor mögen ihm den Appetit gesegnen! He, he, he; es muß in der Tat ein absonderliches Gefühl sein, wenn man aus Swedenborgs konstabilierter Erd- [334] und Himmelsharmonie plötzlich abgerufen wird, weil Hermode und Braga an der Tür stehen und Odins Gruß bringen: Genieße Einherierfrieden und trinke Met mit den Göttern! – Schöner Frieden! Urgemütliche Kneiperei! Prügele dich lustig weiter in Walhalla und bramarbasiere am Abend beim Bierkrug Ich danke gehorsamst!«

Er hatte bereits das Dintenfaß herangezogen und die Feder eingetaucht. Noch saß er einen Moment äußerst nachdenklich, und um so drolliger war der Effekt, als er beim Niederschreiben des Einganges seines Briefes mit sozusagen zärtlichem Grimme sich die Worte auch laut vorschrie: »Mein lieber Peter!«

Das übrige knüpfte sich dann ziemlich in einem Zuge daran; nur hatte er eine Flasche Bordeaux zu entpfropfen, dann und wann sein Glas zu füllen und dann und wann seine Pfeife von neuem in Brand zu setzen. Es gibt ärgere Störungen geistiger Tätigkeit und gemütlichen oder ungemütlichen schriftlichen Seelenergusses. Wie er sich aber dagegen wehren mochte: der bleiche Mondenschein auf den Gräbern, Kreuzen und Denksteinen des Bergdorfes vor seinem Fenster und das Glitzern der Fenster der Kirche drüben gab doch seinem Brief eine Färbung, die derselbe bei hellem, klarem Tageslicht und auch an einem Gebirgsregentage nicht bekommen haben würde. Freund Schwanewede, da um diese Stunde, wie der Justizrat glaubte, den Mond sich im Pilsumer Watt spiegeln sah und dem da vielleicht, über die Blätter der »Aurora« oder der »Morgenröte im Aufgang« weg, durch das weiße Licht ein weißes Segel nach fremden Landen vorüberglitt, verdarb sich aber den Magen nicht daran. Wir werden sehen, weshalb.

»Mein lieber Peter!

Nach zweijähriger Pause in unserm Schriftwechsel drängt es mich heute abend, die Korrespondenz durch diesen meinen Schreibebrief von neuem zu eröffnen und Dir vor allen Dingen mitzuteilen, daß ich mich noch am Leben befinde und das nämliche von Dir verhoffe. Seit wir uns in Göttingen kennenlernten und zusammen daselbst studierten, haben wir als Kastor und [335] Pollux, Orest und Pylades ein jeder den andern für den größten Narren auf Erden gehalten, und nur der Tod erst wird das freundschaftliche Verhältnis – meiner Schreibfaulheit zum Trotz – lösen. Wie oft – wie oft, während ich mich in der nichtswürdigen Praxis des Tages abängstete und abwütete, habe ich an eine Kröte gedacht, die seit einigen Jahrtausenden irgendwo in einem Steine eingeschlossen sitzt, wie oft habe ich mich an den alten Freund Peter Schwanewede in Pilsum erinnert, und wie ungemein hat mir beides Trost und Stärkung im Kummer verliehen und Nachlaß im Verdruß und Abnahme der Wut zuwege gebracht!

Peter, nicht wie ein alter Justizrat, sondern wie der jüngste der modernen Poeten, der seinen Velocipegasus zu einer Dichterfahrt gesattelt hat, sitze ich auf. Die buntesten Schwärme des Lebens wo möglich sollen sich über dieses Blatt drängen, und es kitzelt mich, wenn ich daran denke, daß ich Dich zwinge, ihnen mit flimmernden Augen nachzustieren. Wenn Du mir wieder schreibst, wirst Du Dir zwar einbilden, wie eine gotische Kirche auf einen Jahrmarkt voll Buden, Hanswürste, Bratwürste, Riesendamen und sonstiger Meßraritäten herunterzusehen, aber das tut nichts – das tut gar nichts! Solange Du mir nicht mit Deinem Heer steinerner Heiligen auf den Kopf fällst, gönne ich Dir das Vergnügen.

Peter, ich verkehre wieder einmal mit Querian, und – ich bin einem Menschen begegnet: einem Menschen weiblichen Geschlechts – einem Weibe, und zwar einen, jüdischen Weibe, welches ich im Affekt oder bei schlechter Laune, ohne Widerspruch zu erfahren, Frau Baronin anreden darf! – Nun wirst Du sicherlich fragen: Ist es denn überhaupt nötig, Menschen zu begegnen? Kann man sich nicht an die Oster-Ems setzen, von gekochtem Seegras und gebratenen Quallen leben und Bengels Auslegung der Apokalypse studieren? – Ich aber erwidere Dir, leider kann man das nicht, indem ich Dir mit Vergnügen zugebe, daß es eine Lust wäre, wenn das jeder könnte und wir da den Strand entlang einen stillvergnügten Haufen bildeten; – es erzittert da übrigens wieder einmal ein buntgefiederter Pfeil, den [336] ich vor dreißig Jahren schon auf Deinen Lebenswandkalender abgeschossen habe und der noch immer drin steckt und Dich an mehr als eine fidel-zänkische Disputiernacht erinnern wird. Schwanewede, ich schmeichle mir, so gelebt zu haben, daß 99 Prozent meiner Mitgeborenen nicht imstande sind, mein Leben zu übersehen. Ich glaube, sicher und fröhlich mit dem, was die Welt augenblicklich an Kulturelementen aufzuweisen hat, rechnen zu können; und auch ich habe mich damit abgegeben, Mücken zu seigen und die kleinsten und untergeordnetsten Tierarten zu Teufelsfratzen und Karikaturen zu magnifizieren. Aber ist das eine Kunst, aus einer Maulwurfsgrille durch ein Vergrößerungsglas ein Olimstier, ein vorsintflutlich Ungeheuer, und aus einer Raupe einen Leviathan zu machen? Ich glaube nicht; wohingegen, alter Peter, es wirklich eine Kunst ist, eine Nuß, die man knackte und hohl fand, wegzuwerfen und seine Meinung nicht darüber zu verhehlen; denn die Welt verlangt das Gegenteil und verlangt, daß man gut von ihren tauben Nüssen rede, sie für voll nehme und ihren Kern lobe.

O Du alter mystischer Nußknacker an der Nordsee, benutze meinen Brief jetzo noch nicht als Fidibus; ich werde sofort protokollarisch klar werden, Dich mit meiner Judenmadam Salome Veitor bekannt machen und nachher erst wieder von Querian reden.

Wie ein Mann, der zwischen seinen Haus- und Zimmerwänden, seinen Bücherbrettern und Aktenrepositorien sich wieder einmal den Maßstab, so der Mensch an sich selber legt, hatte fälschen lassen, ging ich vor drei Jahren in die Gerichtsferien, um mir meinen Standpunkt in und zu der Natur von neuem klarzumachen, und es gelang mir damals auf den Landstraßen des Thüringer Waldes. Ich war ein Riese geworden zwischen den Wänden meiner Schreibstube, und alle Garderobe der Gegenwart war mir den Winter über zu eng geworden. Es war die höchste Zeit, daß ich wieder einschrumpfelte und auf mein richtiges Maß zurückgedrückt wurde, und es geschah. Ewigkeit wurde mir wieder Zeit auf der Chaussee und ich selber wieder zu einem jovialen Touristen durch die Wälder, Höhen und Tiefen [337] der irdischen Vorkommnisse. Damals begegnete ich der Frau Salome zum erstenmal, und ich traf mit ihr zusammen, wie die Herrschaften im ›Don Quixote‹, im ›Tom Jones‹ und im 'Gil Blas von Santillana‹ zusammenkommen, nämlich im Wirtshaus – in der Schenke am Wege.

Du liesest keine Romane mehr oder bist doch überzeugt, keine mehr zu lesen, Peter Schwanewede; in dem einen wie in dem andern Falle spreche ich Dir mein Bedauern aus; wir alten Juristen lesen leidenschaftlich gern Romane, wenn wir es gleich häufig nicht gern gestehen wollen.

Und meine Bekanntschaft ist eine Roman-, das heißt Landstraßen- und Wirtshausschildbekanntschaft. My landlord oder el señor huésped mit der weißen Schürze und der Zipfelkappe, ›die größte Plaudertasche von ganz Asturien‹, steht unter seinem Schilde in der Tür und sieht nach seinen Gästen aus. Da steigen Staubwolken in der Ferne auf, Reiter auf englischen Stutzschwänzen oder katalonischen Langschwänzen sprengen heran, die Glocken der Maultiere klingeln, schwerfällige spanische Karossen ächzen langsam her, und ein schon in der Kneipe vorhandener Gast ist zu dem Herrn Wirt in die Pforte getreten und ist mit ihm gespannt auf die neue Kundschaft. Wer kommt? Ist es die Prinzessin Mikomikona? Ist es der Hauptmann aus der Berberei mit der schönen Zoraide? Ist es Miss Sophia Western mit Mrs. Honour oder gar der Pretender auf dem Marsche von Falkirk nach dem Feld bei Culloden? Ist es der Korregidor von Valladolid oder nur ein Trupp seiner nicht nur grausen, sondern auch groben Alguazils? Es können sehr Vornehme Leute, aber auch das nichtsnutzigste Bettler- und Vagabondenvolk, ja es können sogar auch Schaf- und Schweineherden sein, die da kommen. Diesmal ist's einfach eine zweispännige Landkutsche, und Staubwolken gibt's auch nicht; es regnet fürchterlich, und der Wirt schickt den Hausknecht mit einem alten Regenschirm an den Wagenschlag, um die aussteigende, das heißt vor der Sintflut sich rettende Dame trocken in sein Haus zu schaffen.

Lieber Peter, das Genie macht die Fußtapfen, und das nachfolgende Talent tritt in dieselben hinein, tritt sie aber schief: ich [338] kann so grob wie Du gegen die Leute sein, aber nie mit der originalen Wirkung wie Du. Dir dreht man einfach den Rücken zu mit mir fängt man, aller Bärbeißigkeit ohngeachtet, eine Unterhaltung an. Du sitzest in Pilsum fest, und ich beziehe alle Jahre ein Sommerquartier im Gebirge und Verkehre mit der Menschheit. Du besitzest die geniale Grobheit, die nur sich selbst ausspricht; ich als harmloses Talent werde stets einen großen Verkehr haben und an den Einsiedler an der Ems lange Briefe schreiben. Du zwingst ein halb Dutzend Menschen, von Dir zu reden; ich bringe alle Welt dazu, mit mir zu schwatzen.

Sagt die Dame: ›Dieses ist ein entsetzliches Reisewetter, mein Herr.‹ – Murre ich zutunlich: ›Himmeldonnerundhagel, sitze ich hier nicht seit anderthalb Tagen fest?‹ – Sagt die Dame höflich und lächelnd: ›Das sieht man Euch an, Señor; sowie auch, daß es nicht das erstemal ist, daß Euch das Wetter und Schicksal in die richtige Lebensstimmung hineinschüttelten.‹

›Hm‹, antworte ich, ›wie verstehen Euer Gnaden das, und was weiß Dero glatte Stirn davon?‹

›Hm‹, versetzt die schwarzhaarige Señora, ›ich komme heute zwar im Zweispänner; aber ich bin eine gute Reiterin, reite jedoch nicht schneller als die andern.‹

›Und die Sorge hält deshalb Schritt, Madam; – ich erlaube mir, mich vorzustellen: mein Name und Titel ist Justizrat Scholten aus Hannover.‹

Da hatten wir's; – die Bekanntschaft war gemacht und – dauert noch fort! – Die Señora gibt mir ihren Namen, Rang und Titel bekannt, und ich rücke zu am Tische, was Du in Pilsum nicht getan haben würdest. Der Wirt bringt den Kaffee, und die Frau Salome sagt: ›Ein jeder Mensch hat, meiner Erfahrung nach, seine eigenen Hausmittel, um die schlimmen Stunden zu überwinden; darf ich nach den Ihrigen fragen, mein Herr Justizrat Scholten aus Hannover?‹

Giftig schnurre ich: ›Was halten Euer Gnaden von dem gemütlichen Troste: achtzig Jahre wirst du unbedingt alt und begräbst ohne allen Zweifel alles, was dich heute ärgert?‹

Würdest Du dieses nun gesagt haben, so hätte man dem Kellner [339] gewinkt und sein Service auf einen entfernten Tisch haben stellen lassen; – an mich rückt man nur dichter heran und meint mit zärtlichem Behagen und einem Blick auf den Landregen vor den Fenstern: ›Mein bester Herr Justizrat, es ist mir höchst angenehm, Ihre werte Bekanntschaft gemacht zu haben! Haben wir nicht vielleicht denselben Weg fernerhin? Dieses würde mich ebensosehr freuen.‹

Peter Schwanewede, wir haben so ziemlich von dieser Begegnung an den nämlichen Weg gehabt, ich und die Frau Salome Veitor, und wenn einem in seinem Bekanntenkreise durchgängig nichts schwerer gemacht wird, als seiner Natur zu folgen, so machen wir, die Frau Salome und ich, uns das so leicht als möglich. Nun haben wir heute zum erstenmal in dieser Saison einander wiedergetroffen, und zwar am alten Brocken. Die Frau hat noch immer nicht wieder gefreit (sie war bereits Witwe, als ich sie kennenlernte, und ich machte sofort den Versuch, sie nach Pilsum zu dirigieren, und schilderte ihr die Gegend sowie die dort hausenden Menschen, Dich, Peter, eingeschlossen, äußerst verlockend) und langweilt sich aufs sträflichste. Sehr dankbar nimmt sie es auf, wenn ein vernünftiger Mann sich mit ihr einläßt, einen Sommernachmittag mit ihr vertrödelt und ihren Weibergrillen und Phantasien irgendeine feste Direktion gibt. Die Frau hat entsetzlich viel Langeweile und ist – bei den unsterblichen Göttern sei es gesagt! – über der Welt Eitelkeit so erhaben wie je ein tüchtiger und verständiger Mann, und da habe ich sie denn heute mit nach meinem Dorfe genommen und sie mit Querians Kinde bekannt gemacht.

Seit dieser Dritte in unserem Lebensbunde eine Närrin fand, die sich bereitwillig zeigte, in ehelicher Verbindung mit ihm diesem armen Geschöpfe den Fluch Adams aufzuladen, hast Du ihn nicht zu Gesicht bekommen, unsern Freund Querian, wohl aber ich ziemlich häufig, und ein Vergnügen ist das nicht. Nun ist das Kind, die Eilike, dreizehn Jahre alt und der Alte toller denn je. Du kennst zwar meine Ansicht, daß es bei den Mädchen absolut nicht darauf ankommt, ob sie etwas gelernt haben oder nicht, sondern ob sie einen Mann kriegen oder ledig bleiben. Wissen [340] und Kunst und Schönheit tun da nichts zur Sache; wenn wo das Schicksal rücksichtslos und allmächtig sich zeigt, so ist das hier, und die Frauenzimmer ahnen das auch instinktiv und nehmen und geben sich mit zierlichster Brutalität selber als das Schicksal. Die Egoistinnen, die so viel ahnen, haben durchaus keine Ahnung davon, welch eine Sorge sie selbst einem alten Junggesellen wie ich durch ihr bloßes Vorhandensein machen können. Nun ist da die Eilike, das Kind eines andern Mannes – geht mich im Grunde nicht das geringste an und verursacht mir doch mehr schlaflose Nächte, als ich selbst mit meiner ziemlich kräftigen Körperkonstitution ertragen will. Ich sage Dir, eine verwahrlostere und hülflosere Kreatur als diese Eilike Querian gibt es auf Erden nicht, und Querian selber treibt es ärger denn je. Und seine Verrücktheit ist ansteckend! Wie wir vor dreißig Jahren schon uns mit Macht dagegen zu wehren hatten, daß wir nicht mit in seine Tollheitsstrudel hineingerissen wurden, so habe ich mich manchmal heute noch dagegen zu stemmen. Das Bergvolk aber am hiesigen Ort hält ihn für den Mann mit den Schlüsseln zu allen Gängen und Pforten der Unterwelt. Es ist mir nicht unerklärlich, woher er die Mittel, sein Leben und verrücktes Treiben so fortzuführen, nimmt; aber ein Elend und Verdruß ist es.

Durch die Dorfschule ist das Kind des Narren zwar gelaufen; aber selbst der Schulmeister, mein guter Freund und Nachbar, ist sich nicht klar, ob es ihm gelungen ist, ihm das Lesen und Schreiben beizubringen. Dazu hungert das Geschöpf und schläft auf Stroh, und der Alte läßt es nackt Modell stehen. Seine Wege gehen nicht durch die Haustür, sondern durch das Fenster, über das Schindeldach an einem Baumast hinunter; und so ist es auch heute gekommen, und so hat es meine Freundin, die Frau Salome, kennengelernt. Nun frage ich Dich, Peter Schwanewede (und das ist der bittere innerste Kern dieses vielschmackigen Briefes!), soll und darf ich unsern Freund und Jugendgenossen Karl Ernst Querian ins Irrenhaus stecken lassen oder nicht? – – Reif dazu scheint er mir zu sein, und es ist nur die Frage, ob gerade wir beide dazu berufen sind, ein endgültiges Urteil über [341] diese seine Reife abzugeben. Du weißt nur zu gut, Peter, wie wir drei von jeher ein jeglicher über den andern dachten. Du weißt, wie häufig unser Freund uns seine Meinung über uns in dieser Richtung nicht vorenthalten hat. Du weißt, wie oft er selber uns für ganz verrückte Narren erklärte, und – Schwanewede – ich, der ich doch ein Geschäftsmann bin, in des Lebens Praktiken und Kniffen ziemlich Bescheid weiß und mir selten ein X für ein U machen lasse oder, was noch mehr für meinen gesunden Verstand spricht, es mir selber mache ich fasse die heikle Frage, je älter ich werde, mit desto spitzeren Fingern an. Peter von Pilsum, ich habe noch nie in meinem Leben vor einer größeren Verantwortlichkeit gezögert!

Meine kluge, klare hebräische Freundin, die unsern vortrefflichen Querian bis jetzt noch nicht persönlich kennengelernt hat, sondern nur seine Erziehungsresultate an seinem Kinde, hat mir den Vorschlag getan, ihn nach Rom zu spedieren, und es ist nur schade, daß sie diesen Vorschlag uns und ihm nicht vor dreißig Jahren machte.

Sie will das Kind zu sich nehmen und ihm eine menschenwürdige Existenz schaffen. Beim Blute der Götter, ich habe sie eben auf den Weg nach Hause gebracht und ihr gesagt, daß ich mich auf nichts einlassen könne, ehe ich nicht an Dich geschrieben und Deine Ansicht gehört habe. Sehr freundlich wäre es von Dir, steht aber wohl nicht zu erwarten, daß Du auf vierzehn Tage den Bengel, den Böhme und den Swedenborg zuklappst, die Eisenbahn zu erreichen suchest, hierherkommst und Dich auf einen Tag mit unserem in Frage stehenden Freunde und Patienten zusammensperrst?!

Es ist meine Pflicht gegen Querian, Dir auch dieses in Überlegung und unter die Füße zu geben.

Zu einem Entschluß müssen wir kommen!

Dein Freund Scholten.«


Dem Justizrat war über diesem Schreiben mehrmals die Pfeife ausgegangen. Jetzt stand er auf, ging zum Fenster und blickte eine ziemliche Weile auf den mondbeschienenen Kirchhof hin.

[342] »So gehen die Gespenster um«, murmelte er. »Und dann spricht man noch Von klaren Köpfen und tut sich was zugute auf seine fünf gesunden Sinne!«

Neuntes Kapitel

Mit einer schlängleingleichen Behendigkeit war die Eilike in ihr Dachfenster geglitten; man vernahm kaum ein Geräusch ihrer Bewegungen, und selbst dann kaum, als sie Von dem Fenster auf den Fußboden ihrer Kammer sprang. Der Mondschein glitt ihr fast nicht geräuschloser nach.

Das Mädchen hatte sonst den Schlaf der Tiere, die, wenn sie satt und nicht auf der Jagd sind, auch sonst nicht gehindert werden, sich zusammenrollen und die Augen zudrücken. Damit war's in dieser Nacht nichts.

Auf ihrer Bettstatt sitzend, löste Eilike mechanisch ihre Haare, um sie dann fester und zierlicher von neuem zu flechten, und sah sehr ernst und nachdenklich in den immer mehr den Raum mit seinem Lichte füllenden Mond. Aus ihrem Schlummer in der Stube des Paten und Justizrats Scholten erwachend, hatte Eilike Querian die Frau Salome gegenüber am Tisch Vor sich gesehen, und das Bild der schönen jüdischen Baronin war's, was sie munter hielt auf ihrem Strohsack.

Wir haben erzählt, wie das junge Mädchen damals jach sich aufrecht setzte, die blonden Haare zurückstrich und die schöne Dame anstarrte; – damals hatte sich inmitten ihrer verwahrlosten Seele auch etwas mit einem heftigen Sprunge aufgerichtet, und das stand noch aufrecht und starrte nun aus sehnsüchtig funkelnden Augen in eine neue Welt. Nicht eine Bewegung, nicht ein Wort der eleganten Dame war verlorengegangen, und wenn die Tochter Querians den Sinn der Worte nicht begriff, so war es doch schon allein der Ton, der Klang der Stimme, der sie im Tiefsten aufregte und jeder Fiber ihres Wesens ein Mit-und Nachklingen abzwang.

[343] »So möchtest du aussehen! So möchtest du sprechen!« In diesen beiden Ausrufen zog sich gierig das bekümmerte Herz Eilikes zusammen, und als nun der alte Pate Scholten polternd nach seinem halben gebratenen Huhn und seinem Topf mit den Zuckerpflaumen fragte, als dann die Frau Bebenroth loszeterte und in der Stube herumfuhr, und sie – die arme Eilike – von ihrem Mittagsessen Bescheid zu geben hatte, da schämte sie sich vor der fremden Dame wie noch nie in ihrem Leben vor einem Menschen. Und weil sie sich so sehr schämte – grade weil sie sich so sehr schämte, zeigte sie den Bauerngroschen in ihrer magern Hand und erzählte der schönen, schwarzen fremden Dame (nicht dem Paten Justizrat!), daß der Vater sie abgebildet habe – nackt abgebildet habe; und dann hatte sie sich zusammengenommen, um sich nichts merken zu lassen – sie hatte die Zähne gezeigt und gelacht und hätte es gern gehabt, wenn die fremde Frau laut, ganz laut gerufen hätte:

»Oh, sie ist blödsinnig!«

Das war nicht das erste Wort gewesen, welches sie von der Frau Salome vernommen hatte, als sie aufgewacht war, aber der Pate Scholten hatte gesagt, daß die schöne Dame das schlimme Wort in ihrer Seele gesprochen habe. Und da ging ein armer Mensch im Dorfe umher, von dem wußte sie, daß er blödsinnig sei. In der ganzen durch ihre unglücklichen Zustände verschütteten Reinlichkeit, Klarheit und Zierlichkeit des Weibes schauderte sie vor ihrem Dasein; es blieb ihr nichts übrig, als dumm zu lachen und die Zähne zu zeigen! Jetzt auf ihrem Bette ihre Haare flechtend und in den Strahl des Mondes, der durch ihr Fenster kam, sehend, wiederholte sie:

»Sie ist blödsinnig!«, und leiser, mit heißerem Atem sagte sie: »Und der Herr Pate sagt auch, mein Vater sei ein Narr!«

Der Mond stieg an der Wand dem Bette gegenüber hinauf und traf den griechischen Frauenkopf; – schön-ruhig sah das hellenische Gesicht gradaus, und Eilike Querian faltete die Hände auf ihrem rechten Knie und rief, ihre Tränen niederschluckend:

»Nein, du bist doch nicht meine Mutter. Meine Mutter ist erst [344] seit zwölf Jahren tot, du aber bist schon vor tausend Jahren gestorben. Ich bin blödsinnig, und du bist das fremde Bild, das mein Vater im Sinne hat und nicht finden kann, und mein Vater ist ein Narr. Wer kann uns aus unserer Not helfen? Niemand als der liebe Gott, wenn er uns einen guten Tod schickt.«

Es war eine schöne Sommernacht, kein Lüftchen regte sich, der Mond ging an dem wolkenlosen Himmelsgewölbe hin, und die Berge und Wälder lagen im tiefen Frieden. Von der Hitze und dem Frost, von dem Hundstagsfeuer, von dem Knirschen des Schnees und dem Krachen des Eises schien die Natur nichts zu wissen. Es war nur eine linde Kühle. Das Kind schlang seine Zöpfe um die Stirn; es machte noch immer nicht Miene, sich zu entkleiden. Es hatte nur den einen Schuh vom Fuße fallen lassen, und jetzt zog es auch den wieder an. Es sprang wieder empor von seiner Bettstatt und schwang sich in die Fensterbank; da saß es still eine Weile. Nun riß es ein Blatt von dem Baumast, den ihm der Wald gleich einem hülfreichen Arm hinzuhalten schien, und drückte dieses kühle, taufeuchte Blatt an die heiße Stirn. Dann kniete es von neuem auf dem Schindeldache, doch es glitt diesmal nicht hinab. Die buschbewachsene Hügelwand, welche die Hütte Querians im Rücken deckte, sperrte jede weitere Aussicht ab.

Unten im Hause schnarrte und schnurrte etwas. Ob es eine Feile oder das Rad einer Drehbank war – einerlei; es bedeutete jedenfalls, daß der närrische Vater sich auch noch wach und zu einem seiner närrischen Werke halte oder vielleicht auch wohl ein Gerät zu einer neuen Arbeit schärfe. Eilike legte den Finger auf den Mund und horchte auf den Ton; sie hatte Angst, daß sie gerufen werde aus der Werkstatt, und schon stand sie schlank und leicht auf dem Dache. Behende wie eine Katze, geschmeidig wie eine Schlange glitt sie aufwärts bis zum First da stand sie im weißen Lichte und sah tiefatmend sich um.

Ein leichter Rauch, manchmal gerötet von der Flamme des Herdes drunten, stieg aus dem Schornstein kerzengrade und verlor sich in dem klaren Äther. Eilike Querian stützte sich mit der einen Hand auf den Rand des Schornsteins, mit der [345] andern wischte sie die letzte Träne vom Auge und sah in die Ferne.

Von drei Seiten her begrenzten über der Talmunde, in welcher die Hütte ihres Vaters lag, die hohen Berge und die dunkeln Wälder die Aussicht; doch nach der vierten Seite öffnete sich das Tal auf die Hochebene und das weit darüberhin verzettelte Dorf und über die Gassen des Dorfes weg, zwischen den Gärten und Baumwipfeln durch, auf die im lichten Mondnebel flimmernde Norddeutsche Tiefebene. Seltsam und verlockend – verstreute Lichter im blauen Glanz! – blitzte und funkelte es aus der Ferne. Was Jakob Böhme sah und fühlte und wovon er zu schreiben versuchte, hier war's und konzentrierte sich in dem Herzen des unverständigen, verwahrlosten Geschöpfes, der Eilike Querian: das ewige Kontrariurn zwischen Finsternis und Licht – die »Quall« im Universo! Was vielleicht Peter Schwanewede zu Pilsum am Pilsumer Watt in dieser Mondscheinnacht aus den Büchern des mystischen Philosophen mit ächzenden Hebebäumen und knarrenden Ketten des Geistes aufzuwinden trachtete: hier lag es auf den Lippen des Kindes, unter den Zähnen, die diese Lippen blutig preßten!

Das Auge Eilikes schwebte über den ganzen sichtbaren Ausschnitt der nächtlichen Weltenschöne von der Talwand zur Linken bis zum Hochgebirge auf der Rechten und wieder zurück; es trennte das Licht von der Nacht. Dann schloß es sich eine Weile, und als es sich wieder öffnete, suchte es zur Rechten am fernen Tannenwalde. Da lief jenseits der grauen Dächer des Dorfes den Berg entlang ein weißer, schimmernder Strich, der um eine Ecke bog und noch weiter weg an einer andern Berglehne wieder auftauchte, um dann bald ganz in dem Walde zu verschwinden. Das war die Straße, auf der die Frau Salome nach ihrem Besuche beim Justizrat Scholten nach Hause geritten war.

Aus der Qual des Alls rettete das hülflose Menschenkind, nach seiner Art von Adam an, sich eben auf den nächsten Weg, der aus der Unzulänglichkeit und Verwirrung der irdischen Zustände herauszuführen schien.

[346]

»Die Welt ist so weit, so weit«, sagte Eilike Querian, und sie sagte es ganz laut. »Die Wege sind so lang, so lang, und in den Wäldern geht man in die Irre. Es sind auch viel zu Viele Menschen in der Welt – keiner kennt den andern, und wenn einer den andern kennt und fern Von ihm wohnt, weiß er nicht einmal, ob er noch lebt. – Und die einander nahe wohnen, die fürchten einander und tun sich allen möglichen Schabernack und Possen an. Die Leute im Dorfe, was die Bergleute sind und was die Ackerleute sind, und ihre Frauen und Kinder zu Hause quälen sich schlimm mit ihrer Arbeit und sind niemals zufrieden; aber am schlimmsten quält sich mein Vater, und der ist am wenigsten zufrieden. Der Herr Pate Scholten tut auch nur so, als ob er Vergnügt sei, wenn er hier im Dorfe wohnt und spazierengeht in die Berge und sich einen guten Tag macht. Bei der Witwe Bebenroth möchte ich nicht wohnen! Oh, der Pate ärgert sich genug und schimpft genug, und sein Französisch hilft ihm auch nicht viel. Er hat mit seinem lustigen französischen Buche nach dem tauben August geworfen, weil er meinte, daß der ihm den Sack voll Ameisen ins Bett geschüttet habe. Ich wollte nur, der Arme könnte genug sehen, hören und sprechen zu solchem Streich, und dem Herrn Paten hat's auch sehr leid getan, und er hat ihm einen blanken Taler geschenkt, nachdem ihm die Frau Bebenroth das Blut abgewaschen hatte. Er ist meines Vaters bester Freund, der Herr Pate, und es tut ihm auch leid, wenn er sagt, er sei ein Narr. Von mir sagte die schöne vornehme Dame, die heute hier war, in ihren Gedanken, ich sei blödsinnig – oh – und so, so hat mich noch kein Mensch angesehen wie die schöne Dame. Auch mein Vater tat ihr leid: oh, wenn sie nicht so übel dran wäre wie wir alle hier?! Wenn sie alles kann, was sie will?!« – –

Da machte sich das Elend von neuem in einem Tränenstrom Luft. Ein großer Nachtraubvogel flatterte schwarz aus dem Walde hinter dem Hause Querians auf, erhob sich schwerfällig in die Luft und stand flügelschlagend einen Moment über der Feueresse und dem Haupte Eilikes. Dann zog er langsam durch den weißen Glanz des nächtlichen Friedens, und Eilike Querian [347] sah ihm erschreckt durch ihre Tränen nach, bis er plötzlich über dem Dorfe jach herabfiel und verschwand.

Beinahe hätte sich ein Schrei um Hülfe dem jungen Mädchen entrungen, atemlos horchte es, ob sich nicht ein Todeskreischen vernehmen lasse; aber es blieb still.

»Oh, der Verderber!« flüsterte die Tochter Querians, und in diesem Augenblick wälzte sich ein dichterer, schwärzerer Qualm vom Herde des Vaters durch die Esse, an der sie lehnte, und ein röterer Glutschein beleuchtete die aufwärts rollenden Wirbel des Rauches. Der Vater mußte das Feuer, das ihm bei seinen närrischen Werken half, zu neuem Aufflammen angeschürt haben. Es krachte und prasselte drunten wie von trockenen harzigen Fichtenzweigen und Tannenzapfen. Vor dem erstickend sich verbreitenden Gewölke glitt Eilike Querian wieder hinab von ihrem wunderlichen nächtlichen Lugaus zu ihrem Fenster hin. Noch zögerte sie eine Minute; dann setzte sie den Fuß auf den schwankenden Ast. Er zerbrach auch diesmal nicht unter der leichten Last, und geschmeidig erreichte sie, an dem alten treuen Stamm hinunter, den festen Boden der Erde. Noch einmal sah und horchte sie nach dem Hause hin; schwere Hammerschläge erschallten jetzt aus der Werkstatt des Vaters, scheu rückwärts schreitend, auf den Fußspitzen, zog sich Eilike aus dem Mondenschein in das Dunkel unter den Bäumen zurück. Dann wendete sie sich rasch, das Gebüsch an der Tallehne rauschte, wie sie sich durchwand. Sie war verschwunden hier, und niemand begegnete ihr auf jenem fernen lichten Streif an den Bergen, der Landstraße, die auf der letzten Höhe im Hochwalde sich dem Auge des Dorfes verlor.

Zehntes Kapitel

Auf einem der äußersten Vorberge des Gebirges, eine gute Stunde hinter jenem Hochwalde, lag eine elegante Villa von jener jedem Stil, aber auch jeder Bequemlichkeit sich fügenden Bauart, in welcher es die jetzige Zeit zu einer so großen Vollkommenheit [348] gebracht hat. Zierliche und wohleingerichtete Nebengebäude und Stallungen, ein schöner Blumengarten mit Springbrunnen und Terrakotta-Figuren – alles an dem rechten Platz – umgaben das Haus. Ein künstlerischer Sinn und eine sachverständige Hand hatten das Grundstück für den Zweck aus der Wildnis herausgegriffen, es mit Mauerwerk und Pflanzenwuchs bedeckt und mit einem hübschen eisernen Gitter umzogen. Eine Wiese stieg im Rücken der Villa aufwärts am Berge bis an den Wald. Aus den Fenstern und von den Balkonen der Vorderseite sah man hinunter über den Garten auf eine kleine Stadt mit mittelalterlichen Türmen und den Logierhäusern, den Restaurationen eines frisch und waldduftig in den Reisebüchern Deutschlands und des Auslands aufgetauchten Badeorts für Leute, die eben nicht ins Bad reisen wollten. Über das Städtchen weg lag auch hier die Norddeutsche Ebene vor den Augen, das heißt ein gut und wohlbebaut Stück von derselben mit Städten, Dörfern, Eisenbahnlinien bis in die weiteste Ferne hinaus.

»Ein gewisser Unterschied zwischen der Villa Bebenroth und der Villa Veitor läßt sich nicht in Abrede stellen«, sagte der Justizrat Scholten, als er im vorigen Sommer seine Freundin zum erstenmal in ihrem Sommeraufenthalt besuchte und denselben gründlich inspizierte. »Wahrlich, Jehova ist groß, und es wundert mich gar nicht, daß sich immer noch Leute finden, die Panier für euren alten Rachegott aufwerfen, da er dergleichen aus dem Handel mit alten Kleidern und neuen Papieren aufwachsen läßt.«

Die Frau Salome hatte herzlich gelacht und erwidert:

»Als mein seliger Mann vor sechs Jahren sich dieses idyllische Winkelchen einrichtete, war man sofort so freundlich, ihm eine Telegraphenlinie an den Fuß des Berges nachzulegen: die Gelegenheit, Ihre Überraschung nach Berlin, Wien, London, Petersburg und Paris kundzugeben, ist Ihnen also aufs bequemste geboten. Mein seliger Mann –«

»Bleiben Sie mir mit Ihrem seligen Mann vom Leibe!« hatte Scholten fast wütend gegrunzt, und die Baronin Salome Veitor hatte von neuem gelacht, aber dann doch nach einem Seufzer tief [349] aus der Brust Atem geholt und gemeint: »Lieber Freund, ich glaube zwar mit Ihnen, daß das Schicksal uns im Grunde nur deshalb zusammengeführt und zu so guten Bekannten ge macht hat, damit wir einander heiter die größtmöglichen Sottisen sagen, allein wir wollen uns die guten Stunden doch nicht stets von vornherein verderben. Lassen wir die Toten ruhig unter ihren Steinplatten im Tale Josaphat; die Lebenden machen uns wohl genug zu schaffen, vorzüglich, wenn man eine große Verwandtschaft hat wie ich und einen bei den Namen Wien, Berlin und Frankfurt am Main eine Gänsehaut am heißesten Sommertage überkommt. Ich bin eine geplagte Frau, Scholten, und es ist durchaus nicht notwendig, daß auch meine Freunde ihre Lazzis an meine Wände schreiben wie ein Teil meiner jüngern und ältern Nachbarschaft aus der Stadt da unten die seinigen an mein Gartentor.«

Das war im vorigen Jahre gewesen, und seitdem hatten sich der Justizrat und die Frau Salome noch um vieles besser kennengelernt; und auch die Bekanntschaft eines ziemlichen Teils des großen Kreises lieber Verwandten der Dame hatte der alte Scholten gemacht. Er wußte ganz sicher, daß die Baronin Veitor eine geplagte Frau war und daß ihr der »Ichor« in ihren Adern das Dasein keineswegs gemütlicher machte. Die so weit über ganz Europa verbreitete Blutsverwandtschaft gab nichts auf den Ichor, sie ärgerte sich sogar dann und wann an dem Ichor, sie ließ es die Kusine häufig merken, daß der Ichor keinen Kurs bei ihr habe. »Was tue ich mit dem Ichor?« fragte die Verwandtschaft; und die Frau Salome, die, wenn sie in Leidenschaft geriet, sofort immer in den jüdischen Akzent und Inversionsredestil fiel, sagte zu ihrem guten Freunde:

»Es ist immer dasselbe gewesen mit mir und es wird mit mir bleiben immer das nämliche. Ich habe in einer feinen Wiege gelegen –«

»Meine Wiege hätten Sie mal sehen sollen«, warf der Justiz rat ein.

»Und ich bin geboren mit einem großen Ekel vor vielen Dingen, und alles, was mir zuwider ist, ist listiger und mächtiger als [350] ich. Und auch ich bin aus Affrontenburg wie mein Stammesgenosse, der gute Heinrich Heine, und ich bin ein armes Mädchen und Weib gewesen, und ich habe mich ducken müssen vor jedem Affront, der mir angetan worden ist zu Affrontenburg.«

»Haben Sie das wirklich?« fragte Scholten, und dann kam ein Strahl von dem uralten scharfen Geierblick, wie er durch die Bücher von den Königen funkelt und in den Büchern der Makkabäer vor Antiochus dem Syrier.

»Ja, sie hätten es gern gehabt, wenn ich hätte auch gelächelt zu jeglichem Affront; aber ich habe dann und wann gelacht! Ich habe auch meine Zähne, und sie sind echt und sind echte jüdische Zähne. Ich habe gebissen, wenn ich gleich keine bissigen Gedichte und Lieder drucken lassen konnte wie der Pariser Poet, mein talentvoller Herr Vetter aus dem Morgenlande. Ich schillerte bunt und lieblich – purpurn, golden, grün und violett und zeigte ein rot Zünglein wie eine fremde Schlange in der Menagerie. Es war aber gefährlich, die Hand in den gläsernen Behälter zu senken! Das Gleichnis paßt nicht ganz. Der Mensch blieb draußen vor dem Zelt: wir waren ganz unter uns, und es waren auch recht noble Charaktere unter uns: der stolze Löwe, der brave, kluge Elefant, der biedere Bär, das würdige Kamel! Aber die Füchse, die Luchse, die Wölfe und dergleichen Nachbarschaft war schlimm, und vor allem anderen die Affen.«

»Es geht ordentlich ein Geruch von Ihrer Schilderung aus, meine Beste«, meinte der Justizrat mit innigster ungeheucheltster Teilnahme. »Na, auch ich war in Arkadien, bin sogar noch immer drin, und Sie brauchen nichts weiter zu sagen.«

»Gott sei Dank!« rief dann die Frau Salome. »Manchmal komme ich mir nicht vor wie eine gefangene Schlangenkönigin im Glaskasten, sondern wie ein arm keuchend Häslein, und dann ist es immer ein Trost, einem Kameraden zu begegnen, der gleichfalls hinkt und mit allen Hunden gehetzt wurde.«

»Nun, ich bin ein alter Rammler, und wie ich gebraten schmecken werde, weiß ich nicht. Horazische Oden wie mein Landsmann, der Professor Ramler aus dem Preußenlande, lasse ich auch nicht drucken; aber den Horaz lese ich und den François [351] Marie Arouet dazu. Ich komme schon durch und weiß fertig zu werden mit Berlin und Hannover.«

»Und ich mit Affrontenburg!« rief die Frau Salome mit einem sozusagen glücklichen Lächeln. »Darf ich Ihnen noch eine Tasse Tee einschenken, Scholten?«

Die Sonne geht wohl glorreich, klar und würdevoll vernünftig auf; aber die Menschen, die auf die Berge klettern und dort in wüsten Hirtenhütten und unkomfortablen Hotels übernachten, um den Sonnenaufgang zu sehen, haben gewöhnlich ermüdete, überwachte Leiber, heiße Stirnen und fieberisch trockene Zungen und Hände und wenig Vergnügen von dem Pläsier. Der, welcher die Sonne wirklich aufgehen sieht, merkt eben nichts davon; es versteht sich ihm von selbst, daß die Sonne aufgeht und er an seine Arbeit. Diese Bemerkung geben wir zum besten, weil der zweite Sonnenaufgang nach der kühlen Mondscheinnacht, in der Eilike Querian von dem Dache ihres Vaters verschwand, einen außergewöhnlich heißen Morgen, eine seltsam schwüle Temperatur brachte. Und alles zu Berg gestiegene Touristenvolk im Harz behauptete, nie die Sonne so wundervoll und eigentümlich emporsteigen gesehen zu haben.

Es war etwas daran. Auch die Arbeiter auf dem Felde tauschten vom ersten Erscheinen der roten Kugel ihre Bemerkungen darüber aus und hielten von Zeit zu Zeit ein mit ihrer Beschäftigung, um sich um und nach oben zu schauen. Es war ein Dunst in der Luft, den der Mittag nicht zerstreute, und in der Ferne, über der Ebene im Norden, Nordwesten und Nordosten lag dieser Dunst zusammengeschichtet, doch nicht zu massigem Gewölk, sondern wie ein dunkler Schleier. Gegen elf Uhr morgens wurde die Hitze schier unerträglich; der dichteste Waldschatten gab keinen Schutz vor ihr; die Tiere in der Gefangenschaft wie in der Freiheit fingen an zu merken, daß nicht alles richtig sei in der Atmosphäre, und die Menschen fragten einander: »Nun, was soll denn das mal wieder werden?« Am verwundertsten aber sahen sich die Bergleute in der Oberwelt um, wenn sie aus ihrem unterirdischen Reich zu Tage auffuhren. Älteste, Knappen und Jungen schüttelten in gleicher Weise die Köpfe, sobald sie den Druck dieses [352] glühenden Firmaments auf ihnen verspürten, und sie huben einer wie der andere an, von allerhand gefährlichen Vorkommnissen da unten in ihrem Reich, von den bösen Wettern und den Bergwassern, vom Einsturz und dergleichen zu sprechen, und erinnerten sich gegenseitig an einzelne Fälle, wie das damals war, als das und das geschah und die und die zugrunde gingen da unten in der Tiefe. –

Trotz geschlossener Jalousien und niedergelassener Vorhänge war die Hitze auch in der Villa Veitor arg zu spüren. Die bunten Farben auf Wänden und Decken linderten sie nicht, die bunten Glasscheiben machten sie nur noch bemerkbarer, und das Rauschen des Springbrunnens im Garten gewann in der niedergedrückten Phantasie eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Singen und Brodeln eines überkochenden Kessels auf dem Kohlenfeuer. Die Frau Salome hatte den Kampf bereits aufgegeben; sie lag hingestreckt wie die büßende Magdalena auf dem Bilde Correggios, jedoch mit keinem Totenkopfe vor sich, sondern umringt von einem Kreise zerknitterter deutscher und ausländischer Zeitungen. Gar sehr verwunderte sie sich, als sie, das Journal des Débats zu den übrigen werfend, jetzt unter ihrem Altane eine fremde Stimme im Verkehr mit ihrer Dienerschaft vernahm.

»Besuch? Mein Gott, was ist das für ein Menschenkind, das zu dieser Stunde und bei dieser Temperatur mich sprechen will? Wer es auch sei und was ihn zu mir treiben mag: wenn er nicht schwitzt und wenn er mir drei vernünftige Worte im logischen Zusammenhang mitbringt, so ist der Äquator sein Vater, die Wüste seine Mutter und der Schirokko sein rechter Bruder – o ihr Götter, es ist ja Scholten! – Scholten, sind Sie es denn wirklich? Eben habe ich da noch gelesen, daß man wieder einmal die Stadt München mitten in den sibirischen Steppen als Spiegelbild in der Luft gesehen habe: ich bitte Sie, Scholten, reden Sie auch, geben Sie mir die Gewißheit, daß Sie kein Produkt der Fata Morgana sind!«

»Jawohl – leider bin ich's, und heute mal ich zu Esel!« ächzte der Justizrat, in den nächsten Sessel fallend und die Mütze in [353] die fernste Ecke schleudernd. Halstuchlos, mit aufgerissener Weste, stierte er um sich, und wenn's auf Schwitzen ankam, so gehörte er nicht in die Verwandtschaft, welche die Baronin ihm soeben zurechtgemacht hatte. Er schwitzte gräßlich.

»Zu Maulesel – im Galopp zu Esel bin ich da; das heißt, was noch von mir übrig ist. Warten Sie nur – es ist eine Kunst, drei verständige Worte zusammenzubringen. Ah, den ganzen Kant und Aristoteles für ein Glas Selterswasser mit einer Nuance von Kognak! O Jesus, meine Beste, und Sie haben es sogar bei dieser Witterung fertiggebracht, sich mit der Orientalischen Frage zu beschäftigen?«

Das letztere war mit einem kläglichst matten Blick auf den Zeitungshaufen gesagt. Die Baronin fand zwischen den Aufträgen, welche sie in aller Hast dem Diener betreffs der Aufrichtung und Erfrischung des lieben und liebenswürdigen Besuchers gab, die Zeit, mit fröhlicher Miene zu erwidern:

»Sie kennen doch meine Stellung zu der Lehre von der Seelenwanderung, Scholten? Vor dritthalb tausend Jahren kam ich aus Saba zum König Salomo.«

»Jetzt lassen Sie mich gütigst mit alledem in Ruhe, Frau Salome! Auf der Wanderschaft befindet sich meine Seele augenblicklich auch, und ich wollte nur, sie hätte das Eisbärenfell schon gefunden, in das sie am liebsten aus ihrem jetzigen abgeschmackt unerträglichen Futteral sich verziehen möchte. Uh – oh, am Nordpol ist es schön!«

»Aber das Dach der Witwe Bebenroth ist an einem solchen abnormen Sommermorgen wie der heutige, gegen einen Eselritt von dritthalb Stunden gehalten, auch nicht zu verachten?!«

Da sprang der Justizrat Scholten, vor Ärgernis pfeifend, in die Höhe und schrie:

»Glauben Sie etwa, meine Gute, ich sei pour vos beaux yeux jetzt hier? Da könnten Sie sich ebensogut einbilden, Frau, mein Esel habe mich gesattelt und gezäumt, um auf mir zur Visite nach der Villa Veitor zu reiten! Alle Teufel, Sie Närrchen – meine Gute, Liebe, Beste, der Teufel reitet mich freilich und nicht mich allein, sondern das Dorf, den Querian, die Eilike, kurz uns [354] alle! Die Eilike ist seit gestern verschwunden und bis heute noch nicht wiedergefunden; Querian ist vollständig toll geworden, und ich – ich war drunten in der Stadt auf der Kreisdirektion, um als braver deutscher Staatsbürger daselbst bescheidentlich anzufragen, was unter den obwaltenden Umständen zu tun sei. Glauben Sie wirklich, ich habe ganz und gar vergeblich Jurisprudenz studiert? Glauben Sie, ich wisse ganz und gar nicht, woran der germanische Mensch in seinen Nöten sich zu halten habe- he?«

»Ich weiß nur, daß Ihr Studium und Ihr Germanentum Sie nicht hindern, einer der ausgezeichnetsten Grobsäcke zwischen der Weichsel und dem Wasgau zu sein; und ich glaube versichern zu können, daß die heutige etwas schwüle Witterung eine mildernde Wirkung auf Ihr Temperament und Ihre Ausdrucksweise nicht ausgeübt hat.«

»Und Ihr Eiskeller ist so vortrefflich, und Ihr Rheinwein dito – ah, noch ein Glas Soda! So? Ich grob, Liebste? Außer mir bin ich – weiter nichts! Verrückt bin ich – hundertmal toller als Querian, und das ist das Ganze, und dann kommen noch die Leute, die hier auf dem Diwan liegen und die kühlen Bergwasser in ihre Trägheit, um nicht zu sagen Faulheit, hineinsprudeln hören, und wollen von Grobheit reden! Verrückt, verschroben und toll bin ich: Querian und Schwanewede, aufeinander gepackt, reichen längst nicht mehr an den armen Scholten heran. Und nun falten Sie einmal Ihre glatte, kluge Stirn, Frau Salome; raten Sie, helfen Sie! Die Polizei allein tut's nicht, zumal wenn die Landreiter über Land geritten sind und heute abend erst nach Hause kommen werden.«

»Nehmen Sie noch ein wenig Eiswasser und versuchen Sie dann, mir ruhig zu erzählen, was vorgefallen ist. Vor allen Dingen aber, was ist mit dem Kinde, das ich vorgestern bei Ihnen kennenlernte?«

»Das Mädchen ist fort, und mein kuriöser Freund Querian behauptet, man habe es ihm gestohlen. Und ich soll es ihm gestohlen haben! Wutschnaubend hat er mir seine dahingehende Ansicht von der Sache in die Zähne gerückt.«

[355] »Und dieses ist nicht der Fall? Sie haben keine Schritte getan –«

»Ich habe nichts getan. Nach Pilsum an Peter Schwanewede habe ich geschrieben um Rat; und in der Nacht, während ich schrieb und Sie nach Hause ritten, muß das Ding davongegangen sein. Da ist ein Halunke im Dorfe, ein armer geistesschwacher Kretin, halb blind und ganz taubstumm, August sein Name, und mir sonst als Charakter ziemlich verdächtig, der hat zu Protokoll gegeben, daß er das Mädchen im Mondschein von ihres Vaters Dach kletternd und im Walde laufend gesehen habe. Seine Mutter hat ihn geprügelt, und jedesmal, wenn ihn seine Mutter geprügelt hat, so hat sich der Hydrocephalus, der Wasserkopf und der Kropfmensch, in den Schutz der Eilike begeben, das heißt unter einem überhängenden Stein im Busch hinter ihrem Hause seine Zuflucht genommen. Er sagt nun aus, die Eilike sei an ihm vorbeigeschlüpft, und ich glaube nicht, daß der Tölpel dieses Mal lügt. Fort ist sie, und dann ist am Morgen Querian zu mir gekommen – seit langer Zeit zum erstenmal am hellen Tage hat er sich aus seiner Höhle erhoben – und hat seine Fräulein Tochter von mir zurückverlangt. Da hat es Auftritte gegeben in der Idylle bei der Witwe Bebenroth und auf der Dorfgasse, die mir den Aufenthalt auf Patmos für alle Zeiten verleidet haben. Der ganze liebenswerte Ort ist zu einem Tollhause geworden, und alles Bergmannsvolk hat für den primus inter pares, für meinen Freund Querian, Partei genommen. Wahrhaftig, da leben wir mitten im erleuchteten neunzehnten Jahrhundert und erleben es, daß einem die Tierheit, der Unverstand die Tor mit den Köpfen einrennen und Recht verlangen für ihren weisen Meister! Sie nennen ihn wirklich und wahrhaftig ihren weisen Meister, und sie haben vor meiner justizrätlichen, whistklub- und landtagswahlfähigen Nase auf den Tisch geschlagen und es sich verbeten, daß ich mich in – ihre Angelegenheiten mische! Sie haben behauptet, ich habe das Kind fortgeschickt; und Querian, selbstverständlich Methode in seinen Wahnsinn bringend, hat mich sehr verständig gefragt, ob ich in der Tat nicht die Absicht habe, mich in seinen Haushalt einzumischen und ihn in dem Seinigen [356] zu stören. – Nun komme einer einem Narren wie er mit der Kreisdirektion und der Polizei! – Dem Vorsteher muß ich es lassen, er hat sich als ein vernünftiger Beamter gezeigt, und auf einen Teil der Bauern konnten wir gleichfalls zählen als verständige Männer. So haben wir den Wald abgesucht bis zum gestrigen Abend, die Eilike jedoch nicht gefunden. Und nun sitzt der Querian wieder und hat sich noch fester verbollwerkt in seiner Behausung, und die Bergleute haben die heillose Geschichte unter die Erde getragen und verarbeiten sie da weiter. Frau Salome, in dem Augenblick, wo Sie als klare israelitische Baronin und europäische Bankierswitwe und ich als hannoverscher Justizrat hier am hellen Tageslichte verhandeln, wird da unten in der Tiefe auch verhandelt, und wenn sie uns nicht eine Kompanie Musketiere schicken, ist kein Gedanke daran, daß wir den Querian in ein Asyl für Nervenkranke und die Eilike in unsere Hände und ein Erziehungsinstitut für junge Damen besserer Stände kriegen. Alles unterirdische Volk ist für Querian, die Waldarbeiter sind schwankend, und nur die Bauern, wie gesagt, sind zum Teil für uns, wollen aber natürlich erst wissen, was der Herr Kreisdirektor zu der verfluchten Geschichte sagt. Jawohl, die zuständige Behörde da unten in der Stadt wartet ab, daß ihre Landdragoner nach Hause kommen, und hier sitze ich. Mein Reittier steht in der Goldenen Forelle, und mein Brief an Peter von Pilsum befindet sich auf der Eisenbahn, auf der Reise nordwestwärts. Sollte man da nun nicht selber rappelig werden, zumal an einem solchen mörderlichen Tage, wo die Wendekreise des Krebses und des Steinbocks sich einem im Hirnkasten zu schneiden scheinen und einem der Gleicher grade üb er die Nase herunterläuft?!«

»Die Unglücklichen!« seufzte die Frau Salome, und sie meinte den Vater und das Kind in dem aufgeregten Dorfe hinter den Bergen. »Was für einen Rat wollen Sie von mir in dieser traurigen Sache? Nehmen Sie mich mit sich; ich werde sogleich den Befehl geben, anzuspannen, und wir können auf der Stelle abfahren. Ich will mit dem unseligen Menschen reden; ich will ihn sehen; – oh, ich weiß, ich kenne ja noch gar nichts von ihm! Sie [357] haben mir von ihm gesprochen, aber von seinem Leben, seinen Anfängen und seinem Entwicklungsgange kaum etwas erzählt, Scholten.«

»Da ist eben wenig zu erzählen, gute Frau. Ich, Schwanewede und Querian sind sämtlich aus Quakenbrück, drei Wiedehopfe aus einem Neste – Schulgenossen, Jugendgenossen. Studienfreunde, wir alle drei zusammen –, aber drei geborstene Töpfe machen keinen ganzen und heilen. Jeder von uns ist seine eigenen Wege gegangen, und hier sind wir angekommen; jeder mit seinem Sprunge vom Henkel bis zum Boden, und nur ich von der alten Drahtbinderin Notwendigkeit für den ferneren notdürftigen Lebensküchengebrauch notdürftig konserviert. Ich nehme es nicht zu sehr übel, wenn Sie mich für den Vernünftigsten von den drei edeln Quakenbrückern halten wollen. Daß ich Jurist bin, wissen Sie; Schwanewede hat Theologie studiert und Querian eigentlich alles und die Bildhauerei noch obendrein. Da er der Begabteste von uns war, so fuhr die Welt natürlich am schlimmsten mit ihm. Um irgendeinen Halt zu haben, heiratete er und hat sein Weib bald genug in lauter Liebe und Zärtlichkeit zu Tode gequält. Ja, Frau, ich lasse meinen Esel in der Goldenen Forelle an der Krippe, und Sie lassen anspannen, und wir fahren zusammen. Sie sollen Querian sehen und mit ihm reden. Als er in die Welt fiel, purzelte er auf den Rücken wie ein Käfer. Er hat auch sechs Beine oder Krallen wie ein Käfer, und damit zappelt und greift er in der Luft umher und hat es immer noch nicht aufgegeben, den Halm zu finden, an dem er sich aufrichten könne. Bis dato ist er auf dem Rücken liegengeblieben und hat jenen Halm oder Strohhalm nicht gefaßt. Im fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert würde er vielleicht ein großer Mann geworden sein, ein Alchimist und Archimedikus am Hofe von Burgund, ein Professor zu Bologna, Prag oder Wittenberg oder ein fürtrefflicher Skulptor in der Bauhütte des Kölner Domes. Es ist schade um ihn; ich versichere es Sie, Frau Salome! Im Gefolge Eurer Königlichen Majestät von Saba würde er sich auch gar nicht übel ausgenommen haben – er hat eine leichte Hand und schneidet ausgezeichnet gut Krähenaugen aus; auf der Universität hat er sie [358] mir oft ausgeschnitten. Ach, wie es jetzt ist, wird ihm wohl kein Hofmarschallamt bei seinem Begräbnis eine Hofkutsche nachschicken! Ja, lassen Sie anspannen, Frau Salome, und fahren Sie mit mir zu meinem armen Freunde Querian!«

»Wie ist er in dieses Dorf gekommen?«

»Grade wie Sie auf diesen Vorsprung des Gebirges, Frau Salome. Sie bewohnen hier die Villa Veitor, weil Ihnen der Lärm, der Geruch und die Verwirrung dort in den Städten der Menschen zuviel werden. Er hatte wohl noch zwingendere Gründe. Mit einem goldenen Löffel schöpfte er nicht vom süßen Brei dieser besten Welt. Ei, und die Tollen sind schlau! Es geht eigentlich nichts über die List der Wahnsinnigen, und es ist ein großes Glück für uns, daß sie selten so heimtückisch sind wie die vernünftigen Leute. Querian ging nur schlau den Leuten durch, die ihm nicht gefielen; – habe ich Ihnen nicht gesagt, daß die größere Hälfte des Volkes hier auf ihn schwört?«

Die Baronin zog die Glocke und befahl, den Wagen hervorzuziehen und die Pferde anzuschirren. Der Justizrat Scholten lobte noch einmal den Wein, das Wasser und den Eiskeller seiner Gastfreundin, dann sprach er mit gedrücktem Tone:

»Ich warne Sie, Liebste. Es gibt keine gefährlicheren Verbindungen als mit Menschen, welche die Rolle, die sie nur spielen sollen, ernst nehmen. Mit dem mächtigen Kaiser Octavianus Augustus ließ sich vortrefflich auskommen und höchst angenehm verkehren; aber mit dem armen hintersinnigen Schlucker, meinem Freunde Ernestus Querianus, läßt sich verdammt schlecht Kirschen essen. Wer bürgt Ihnen dafür, beste Frau, daß nicht die Verflechtungen und Verpflichtungen, in welche Sie vielleicht durch diese Fahrt geraten, Ihnen die Sommerfrische hier an den Bergen ganz so verleiden, wie sie mir bereits zuwider gemacht worden ist?! Ist's die Witterung oder etwas anderes – ich traue dem Tage nicht.«

»Ich bin aus Affrontenburg und fürchte mich vor keinen Verwicklungen.«

»Schön«, sagte der alte Scholten. »Neulich traf ich da unten im Kurgarten eine recht patriarchalische Familie, deren greisendes [359] Oberhaupt eben einen von einem jüngeren Sprößling unter dem Nebentische zwischen den Füßen der Nachbarschaft gefundenen Silbergroschen mit hundert Prozent Agio bezahlte. Lange hat mir nichts so wohl gefallen. So richtet man in der richtigsten Weise für alle Vorkommnisse des Lebens ab! Die liebe Familie war auch aus Berlin, Frau Salome! Eine sehr christliche Familie, Euer Gnaden.«

»Seien Sie nicht allzu unvorsichtig, Scholten!« sagte die schöne Frau lächelnd. »Sie wissen, ich beiße, wenn man die Hand zu vermessen in mein gläsern Haus und Gefängnis steckt.«

»Beißen Sie!« rief Scholten. »Davor fürchte ich mich auch nicht; ich kenne den Saft, der in die zierlichen Wunden fließt. ›Sie alter Schmeichler, Sie!‹ werden Sie sagen; nicht wahr, Frau Salome? Übrigens wartet der Wagen, und wir können abfahren.«

Dem stellte sich noch ein Hindernis entgegen.

Elftes Kapitel

Ein Hindernis konnte man es eigentlich nicht nennen; es war vielmehr ein Begebnis, das sie noch aufhielt. Sie waren aus dem Saal auf den kiesbedeckten Rundplatz der Hinterseite des Hauses hinabgestiegen, wo der leichte, offene Wagen sie an der Veranda erwartete. Seltsamerweise schien das ganze Hauspersonal sich diesmal für die Abfahrt der Herrin außergewöhnlich zu interessieren. Es hatte jedoch einen andern Grund, daß jedermann seine Beschäftigung unterbrochen oder ganz aufgegeben hatte.

»Bei der Hitze solch eine Vergnügungsfahrt!« ächzte der Justizrat mit einem anklägerischen Aufblicke zum erbarmungslosen verschleierten Blau über seinem Kopfe.

»Wollen Sie ein Exemplar der ›Odyssee‹ mit auf den Weg haben?« fragte die Baronin lächelnd. »Das ist immer kühl und erfrischt euch germanische Gemüter. Ich meinesteils versetze mich einfach in der Phantasie nach Judäa, wo sie an die Wüste Edom stößt – das kühlt auch.«

[360] Sie setzte eben den Fuß auf den Wagentritt, als sie von ihrem Gärtner angesprochen wurde.

»Gnädige Frau, wir haben jetzt endlich unsern Gartendieb. Er soll uns hoffentlich von nun an nicht mehr durch die Hecken brechen. Im Waschhause haben wir ihn in Numero Sicher unter Schloß und Riegel, und in der Mooshütte habe ich ihn beim Fittich genommen. Solch eine Frechheit! Denken Sie, er lag und schlief, so voll gefressen hatte er sich in den Kirschen.«

»Haltet ihm eine Rede, Friedrich; gebt ihm einen kleinen Denkzettel und laßt ihn laufen«, meinte Scholten. »Selbst einen Mordbrenner sollte man bei einer solchen Temperatur nicht vor Gericht schleppen.«

»Es ist kein Er; es ist eine Sie, Herr Justizrat.«

»Eine Sie?« fragte die Baronin. »Dann wollen wir doch die Verbrecherin sehen, Scholten. Schließen Sie einmal das Waschhaus auf und bringen Sie uns das arme Ding her, Fritz. Ich will nicht umsonst den Blutbann auf meinem Gebiet ausüben. Gütiger Himmel, sind denn die Kirschen schon genießbar? Ich würde es mir nie vergeben, wenn sich jemand die Ruhr auf meinem Grund und Boden holte.«

Im Haufen hatten sich die Leute auf die Waschhaustür gestürzt, und inmitten des Haufens geführt, erschien die Sünderin, die man in der Mooshütte schlafend gefangen hatte.

»Ich traue meinen Augen nicht!« rief der Justizrat Scholten.

»Das Kind?« rief die Frau Salome. »Unsere Eilike Querian!«

»Die Eilike!« wiederholte Scholten matt.

Die Dienerschaft der Villa Veitor hatte ihren Fang verwundert freigelassen und ihren Kreis um die Gefangene auf einige Schritte erweitert. Wie schlaftrunken auf den Füßen schwankend, stand das Mädchen und starrte aus geschwollenen, geröteten Augen blinzelnd umher.

»Ich habe keine Kirschen gestohlen!« rief es. »Ich stehle nicht. Mein Vater macht unsterbliche Götter, und ich stehle nicht! Sie lügen wie die Frau Bebenroth ich weiß nichts von des Herrn Paten Huhne. Die Köhler im Walde haben mir genug zu [361] essen gegeben. Ich wollte nur die Dame besuchen – so wahr mir Gott helfe, ich wollte nur die schöne Dame noch einmal sehen!«

»Mich hast du aufgesucht, mein liebes Kind? Du bist um das Haus geschlichen – großer Gott, vielleicht seit vorgestern! – Weshalb bist du nicht hereingekommen zu mir?«

»Ich habe mich doch gefürchtet, und ich habe mich auch geschämt. Es war zu schön.«

Justizrat Scholten saß auf einem Rohrstuhl unter der Veranda mit Hm und Ha und einem fortwährenden Abnehmen und Wiederaufsetzen der Mütze. Jetzt ließ er die Arme hängen und stöhnte:

»War ich dir vielleicht auch zu schön, Eilike? Na, ich sage nichts mehr, und ich tue nichts mehr. Hier sitze ich wie ein obergerichtsadvokatliches Fräulein von Klettenberg und warte ruhig ab, was noch weiter passiert.«

»Wir verschieben unsere Fahrt in den Wald noch um eine Stunde, nicht wahr, Scholten?« fragte die Frau Salome, und schon hatte sie die Eilike unter dem Arme gefaßt und führte sie die Treppe hinauf in ihren Salon zurück.

Der Justizrat folgte langsam; aber im Saal angekommen, warf er seine Mütze auf den Boden und rief:

»Ich hänge alles an den Nagel und mich dazu! Was hilft mir nun meine mit den nützlichsten Studien hingebrachte Jugend? Was hilft alle meine Jurisprudenz und andere Prudenz, all mein Wissen und meine Weissagungen? Ich habe nur den einen Wunsch, nämlich daß ein anderer kommt, um mir mitzuteilen, was dieses Menschenkind gerade hierher getrieben hat.«

»Ich ahne es«, murmelte die Frau Salome.

»Jawohl! Natürlich! Versteht sich! Was mich anbetrifft, so hat es bei mir nie mit dem ›Ahnen‹ und ›Schwanen‹ so recht vonstatten gehen wollen, und wenn mir was geschwant hat, so ist sicher eine Dummheit herausgekommen. Nun sprich, Eilike, du Kindskopf, du Heckenspatz, du echte Tochter deines Vaters, was wolltest du hier? Weshalb bist du uns durchgegangen und hast den alten Querkopf ganz rabiat und desperat gemacht und [362] das ganze Dorf auf den Kopf gestellt? Ist es dir gar nicht eingefallen, daß man dich suchen, daß man sich Sorge um dich machen werde?«

Die schöne Baronin hatte währenddessen das arme, zitternde, verschüchterte Mädchen auf den Diwan niedergedrückt; sie hatte ihr auch ein Glas kühles Getränk bereitet und es ihr fast mit Gewalt eingezwungen. Sie saß neben ihr und sprach ihr mit mütterlichem, zärtlichem Tone zu:

»Nicht wahr, die Sache ist ganz einfach, mein Herz; du bist zu mir gekommen, weil du Gefallen an mir gefunden hast?«

»Jaja – ja!« flüsterte Eilike Querian.

»Du hast mich vorgestern, als ich bei euch – bei dem Herrn Paten war, darauf angesehen, ob ich dir wohl helfen würde, wenn du zu mir kämest. Und weil du gern möchtest heraus aus deinem Leben in ein anderes, mein armes Herz, haben sie dich schlafend gefunden in meinem Garten! Weil du so groß gewachsen sein möchtest wie ich und solche Kleider tragen und reinlich sein, bist du gekommen! Du hast deinem Vater nicht aus Bosheit, aus bösem Herzen weglaufen wollen?!«

»Nein, o nein!« schluchzte die Eilike. »Es ist alles stärker gewesen als ich. Ich habe müssen! – Ich weiß aber nicht zu sagen, was ich getan habe, was ich will, und das weiße Bildnis in meiner Kammer ist nicht meine Mutter, sondern eine fremde, heidnische Frau. Meine Mutter ist tot.«

»Und das Universum leidet am Sonnenstich! Ich – du – wir alle!« schrie der Justizrat.

»Seien Sie mir jetzt still, Scholten«, sprach aber die Frau Salome mit souveräner Herrschaft über alle Zustände der Minute. »Was wissen Sie? Was verstehen Sie? Die Eilike soll jetzt ein ganzes Huhn essen; in meinem Küchenschranke wird sich wohl noch eins finden; und wir wollen mit ihr frühstücken, denn in Ihrem Dorf ist man doch nicht sicher, ob das Wirtshaus nicht wieder ratzenkahl gezehrt ist, wie sich Ihre gemütliche Witwe ausdrückt, lieber Scholten. Nachher wollen wir dann alle drei in den Wald zum Vater Querian fahren und alles in Ordnung bringen. Wir bringen doch noch alles in Ordnung!«

[363] Zwischen Lachen und Weinen hatte das die Frau Salome gerufen; doch der alte Scholten sagte seufzend:

»Wahrscheinlich wird eben alles so, wie es jetzt ist, in der schönsten Ordnung sein; und wir sind insgesamt nur zu dumm, um die Harmonie herauszufühlen und einzusehen. Appetit habe ich nicht, und kann das auch keiner von meinem Magen und mir verlangen. Mit der Aussicht auf einen Besuch bei Querian zu verdauen? Das könnte einem Leber, Milz und Pankreas für alle Ewigkeit in Unordnung bringen, und dann möchte ich freilich wohl den Philosophen kennenlernen, welcher dann auch das in der schönsten Ordnung fände.«

Sprach's und frühstückte mit und war der einzige von den dreien, der wirklich aß, und zwar mit Appetit. Gerade um die zwölfte Stunde des Mittags fuhr man nun wirklich von der Villa Veitor ab und gelangte bald auf die große Straße, den weißen Streif, welcher der Eilike so deutlich durch die kühle Mondnacht geschimmert hatte.

Jetzt lag die allerheißeste Sonne auf dieser Straße; doch die Ebene sah noch dunkler im still schwülen Scheine herüber auf das Gebirge. Die Pferde schnoben und stöhnten auch, und die Höhen brachten heute keine kühlere Luft; im Gegenteil. Dagegen aber erblickte das Auge, als man auf das schon geschilderte Bergplateau gelangte, über die nächsten Tannenwälder und Höhenzüge weg gegen Westen hin eine schwere, weiße Wolkenwand, die stillzuliegen schien, aber doch rückte. Der Brocken war nicht mehr zu sehen, das Gewölk hatte sich bereits über ihn weg und vor ihm her geschoben, aber ein Bergzug lag noch tiefblau, ja schwarz, einer letzten Mauer gleich, gegen den unheimlichen, weißen, stillen Feind.

Stille! Nur einmal kam ein leises, wie spielendes Lüftchen und trieb zehn Schritte vor den Pferden ein Wirbelsäulchen von Staub und Strohhalmen und Blättern auf. Dann legte es sich wieder, und alles war ruhig wie zuvor; aber der Kutscher, seine Zügel fester in der Hand zusammennehmend, wendete sich zu den Herrschaften im Wagen und sagte, mit der Peitsche nordwärts und westwärts deutend:

[364] »Das sieht schlimm aus; und es gibt heute sicherlich noch was.« »Sehen Sie zu, daß Sie uns wenigstens trocken in das Dorf bringen, Ludwig.«

»Das wird sich wohl noch machen lassen, Herr Justizrat. Das platte Land da geht uns überhaupt nichts an; wenn nur die Berge da vor uns standhalten. Auf dem Brocken haben sie heute eine schlechte Aussicht.«

Die Straße lief jetzt ohne weitere bedeutende Steigung weiter. Die Pferde flogen, der Wagen rollte leicht auf dem guten Wege, und Eilike Querian ließ wieder den Kopf auf die Brust sinken und schlummerte von neuem ein, betäubt durch die Hitze der Stunde und die Aufregungen der letzten Tage.

Die Baronin saß still dem Kinde gegenüber; nur einmal bemerkte sie:

»Ich habe das in Sizilien vor einigen Jahren, kurz vor Ausbruch eines sehr heftigen Orkans, so gesehen und gefühlt. Wie dunkel es über der Ebene wird und doch wie klar die Türme der Städte und Dörfer und das übrige hervortreten!«

»Und es ist möglich, daß wir hierher keinen Tropfen Regen bekommen. Daß wir von hier aus wie aus der Arche auf die Sintflut sehen. Ich habe das häufig erlebt. Den Wind aber kriegen wir dann, und zwar tüchtig. Sehen Sie, die Titanen, die den Blocksberg verschlungen haben, vermögen jenen letzten Wall nicht zu nehmen.«

Die Frau Salome schauerte zusammen:

»Wissen Sie, Freund, dieser unheimliche Sonnenschein, der uns begleitet, trotzdem daß die übrige Welt ringsum so finster wird, würde auf die Länge meinen Nerven zuviel werden. Ich traue den Göttern nicht. Sie machen uns hohnlächelnd ein Kompliment mit dieser Sonne und in ihr für einen Egoismus verantwortlich, an dem wir nicht die Schuld tragen. Was haben sie im Sinne mit uns? Sehen Sie nordwärts – da bricht es schon los! Bei meinem Wort, ich gäbe viel darum, wenn der schwarze Flügel uns wie unsere Brüder dort überschatten würde. Ich würde mit Vergnügen naß bis auf die Haut werden.«

»Damit wird es nun wohl nichts werden«, meinte Scholten.

[365] »Hier haben wir das Dorf. Machen Sie sich übrigens nur ja keine unnötige Sorge, daß man uns in der Hinsicht Vergesse. Kriegen wir heute nicht unser Teil, so kriegen wir es morgen. Wir wollen jetzt aber die Kleine wecken; da sie den Weg so ziemlich verschlafen hat, so mag sie alles für einen Traum halten, sowohl was sie selbst ausgeführt, als was sie von anderen Leuten erfahren hat.«

Der Wagen hielt Vor dem Wirtshause, einer Schenke, die auch in einem der Bücher stehen konnte, von denen der Justizrat an Peter Schwanewede schrieb. Mit leiser, sanfter Hand strich die Frau Salome der Eilike über die Stirn, und das Kind fuhr auf und sah sich wahrlich um, als wenn es aus einem Traum erwache.

Sie stiegen aus, und in dem Augenblick, als sie den Fuß aus dem Wagen setzten, sank das schwüle Himmelsgewölbe mit verdoppeltem Gewicht auf sie.

Die Baronin sagte:

»Über das Wetter haben wir im Fahren vieles gesprochen; über uns selber auch nicht wenig. Es sind uns aber viele Leute begegnet, meistens mit schweren Lasten auf dem Rücken. Was diese Fußgänger, diese alten Mütterchen, Weiber und Kinder wohl von diesem Tage halten, haben wir nicht gefragt.«

»Es ist ein Glück, daß einem nicht alles zu gleicher Zeit in den Sinn kommt«, brummte Scholten. »Für jetzt haben wir selber genug auf dem Buckel an Querian und Querians Tochter.«

Er nahm sein Patenkind an der Hand, und nun gingen sie durch das Dorf. Die Baronin erinnerte sich der Eiskühle, von der sie vorgestern auf diesem Wege getroffen worden war. Von der Aufregung, von der ihr vorhin der alte Freund erzählt hatte, bemerkte man nichts mehr.

Im Gegenteil, die Gassen und Hütten erschienen noch ausgestorbener als damals. Die Bergarbeiter befanden sich wieder in ihren Gruben und Stollen, die Feldarbeiter mit ihren Frauen und Kindern auf den kümmerlichen Äckern, die Waldarbeiter in den großen Wäldern und so weit ab, daß der Schall ihrer Äxte nicht hierher drang.

Nur ein einziges lebendes Wesen begegnete ihnen auf dem [366] Wege zu der Hütte Querians, eine weiße, magere Katze, die scheu vor ihnen über die Straße ging und in einer offenen Haustür verschwand.

Aus einem anderen Hause ertönte das laute Weinen eines Säuglings, der – von der hart arbeitenden Mutter notgedrungen sich selbst überlassen – zu früh aus seinem Schlafe aufgewacht war und nun seinen Jammer laut, aber vergeblich in die Welt hinausschrie. Das war der einzige Lebenslaut, den sie vernahmen.

Des Justizrats schien sich jetzt eine eigentümliche Lustigkeit bemächtigen zu wollen. Dazu sprach er zwischen den Zähnen mit sich selber. Eilike machte ihre Hand von der seinigen los und hing sich schüchtern an den Arm der schönen Jüdin.

»Ich fürchte mich so!«

»Dummes Zeug«, schnarrte der alte Scholten. »Was soll das Geschwätz, Mädchen? Wir werden schon mit dem Bruder Zauberer fertig werden. Heraus soll er jetzt! Ich versichere Sie, Frau Salome, daß ich in diesem Moment nötigenfalls ebenso toll sein kann wie er. Aber wir wollen ihn in Güte zur Räson bringen; wenn wir ihm mit Musik – Hörnern und Pauken – vor die Bude rückten, wär's wohl noch besser; aber er soll auch so die Überzeugung gewinnen, daß die Welt noch auf ihn rechnet. Peter von Pilsum? Dummes Zeug! Ich weiß wahrhaftig nicht, was mich bewogen hat, an den zu schreiben! Der Mond schien mir damals auf den Kopf; einen anderen Beweggrund find ich nicht heraus. – Was kocht und quirlt er nun wieder? Sehen Sie den Qualm über seinem Schornstein! Wer kann bei dieser Hitze heizen? – Und die Tür richtig wieder verschlossen. Warte, mein guter Freund, endlich reißt die hausmachenste Geduld. Wir werden dich beschwören, mein Bester, wir wollen und werden dir itzo die Nägel beschneiden, die Haare und den Bart kämmen und scheren! Holla, heda, Karl Ernst Querian, mach auf; wir sind es, die Klaren, die Verständigen, die Vernünftigen dieser Erde!«

»Ich bitte Sie, Scholten, bedenken Sie, was Sie tun!« rief die Frau Salome ängstlich, und Eilike klammerte sich jetzt heftig [367] zitternd an sie. »Scholten, lassen Sie uns vorsichtig zu Werke gehen!«

»Ich werde ihn beschwören und ihm zugleich ein Rezept geben, damit er es noch zu etwas bringe in der Welt!« rief der Justizrat grimmig lustig. Dann pochte er mit der Faust an die Tür seines Jugendgenossen und erhob von neuem die Stimme: »Holla, heda, Queriane! Mach die Tür auf und nimm guten Rat –


Eiweißstoff und Hundedreck,
Albumin und Album graecum,
Und dazu drei Fingerspitzen
Mäusekot, was auf lateinisch
Nennt der Magus Album nigrum,
Mische, koche, quirle man,
Wie man will, man hat darum
Kein unsterbliches Gedichte
Für das Album unsrer Damen,
Kein erquickliches Gerichte
Für der Jetztzeit Göttertafel
Von dem Herde abzuheben!

Queriane, Queriane, alter Freund, schließe auf und zeige uns wenigstens, was du gekocht hast! Wir stehen vor deiner Tor, das Kapital und der Witz, und warten auf dich, und dein hübsches, braves Kind bringen wir dir obendrein zurück!«

»Er ist toller wie der andere«, murmelte die Frau Salome, wirklich scheu so weit als möglich von der Pforte des Dorf-Prometheus zurückweichend und dabei wie schützend den Arm um den Nacken der Eilike legend. »Der Himmel schütze und erhalte mir mein kühl semitisch Gehirn.«

Sie hatte vorgestern beim ersten Erblicken des Dorfes einen Vers aus dem Dante zitiert –


Ein Windstoß fuhr aus dem betränten Grunde;


aber sie hätte jetzt mehr Grund gehabt, den Vers herzusagen, nein, laut hinauszuschreien.


Auf einmal war er wieder da, der Wind! Unvermutet, plötzlich, [368] im atem- und herzerdrückenden Überfall und Ansturm. Es erbrauste der Wald um das Haus Querians, ein erstickender Staub erhob sich aus allen Gassen des Dorfes und verhüllte teilweise alles. Wie es jetzt rund um das Bergplateau aussah, konnte man aus dieser schon beschriebenen Talmulde nicht erkunden; nur griff der Gewitterdunst aus Norden bereits bis zum Zenit hinauf, und das Gewölk im Westen hatte auch seine Farbe geändert und drohte dunkel herüber. Ein dumpfes Rollen ging auch herum; aber der Wind wollte noch den Donner nicht zum Worte kommen lassen.

»Da haben wir's!« rief der Justizrat, dem die Mütze vom Kopfe gerissen und weithin entführt war, ehe er zugreifen konnte. Der Qualm vom Herde und aus dem Schornsteine Querians wurde auch über das Dach zu Boden getrieben. Staub, Rauch, welkes Laub vergangener Jahre aus den Forsten wirbelten hin – die Tür des Hauses hatte sich geöffnet, und Querian stand auf der Schwelle, mit der Rechten den Griff festhaltend gegen den Sturm, mit der Linken die Augen gegen das kreisende Gestäube schützend. Die Frau Salome hätte beinahe einen Ruf der Enttäuschung ausgestoßen – der kleine, scheue, schämige, schwächliche Mann mit dem kümmerlichen dünnen Haar, im kümmerlichen grauen Röckchen mochte Zauberer, Hexenmeister. Tausendkünstler sein, soviel er wollte; ein Riese im Sturme war er nicht, und es hätte wenig gefehlt, daß er der Mütze seines Jugendfreundes nachgeflogen wäre.

»Wir sind es, lieber Karl; siehst du, da bringen wir dir dein Töchterlein zurück. Wozu war nun gestern all die Aufregung und der Lärm notwendig?« rief der Justizrat, die Baronin und das junge Mädchen heranwinkend. »Als einzigen Lohn fordere ich, daß du dich heute einmal höflichst erzeigst, und zwar gegen eine der schönsten und wohlhabendsten Damen des Universums, die noch dazu eine ganz spezielle Freundin deines speziellen Gevatters und Freundes Scholten ist. Gestatte uns, aus dem Winde in dein Haus zu treten, und ich werde euch genauer miteinander bekannt machen.«

Das schüchterne Herrchen betrachtete sich von seiner Schwelle [369] aus die Baronin Von Veitor; es zog einen Taschenkamm hervor und suchte ängstlich damit seinen Haarwuchs in Ordnung zu bringen – über sein Kind schien Querian ganz wegzusehen.

Es mußte in der Tat angenehm sein, eine Mauer zwischen sich und den Sturm zu bringen. Die Frau Salome war herangetreten an die Tür des geheimnisvollen Mannes und hatte auch die Eilike sich nachgezogen.

»Mein Herr, es würde mich sehr freuen, in den Kreis Ihrer Bekannten aufgenommen zu werden«, sagte sie. »Unser gemeinschaftlicher Freund Scholten hat mir soviel Gutes von Ihnen erzählt – –«

»Hm, hm. So? So? – Ei, ei!« lächelte der Kleine, sich immerfort verbeugend. »Die gnädige Frau belieben zu scherzen; noch niemand hat etwas Gutes von Dero untertänigem Knecht erzählt. Aber es ist ein häßliches Wetter; friert die gnädige Frau nicht auch?«

»Na, bei dem Samum!« ächzte Scholten. »Jetzt mach weiter keine Umstände, Querian, sondern mach Platz und uns die Honneurs deines Ateliers. Vorgestern habe ich an unsern Freund nach Pilsum geschrieben und ihn sehr herzlich von dir gegrüßt.«

»Jaja – ei freilich, freilich! Große Ehre – ich danke dir, Scholten. Es ist heute noch kälter als gestern. Treten Sie doch gefälligst ein, aber lachen Sie nicht – o bitte, lachen Sie nicht!«

Er sagte das alles ganz schlaff hin, mit der müdesten Gleichgültigkeit in Ton und Gestus.

»Er ist in der Tat unheimlich; aber auf eine ganz andere Weise, als ich mir vorstellte«, murmelte die Baronin. Sie faßte in dem Gedanken, daß das Kind mit diesem Manne hatte leben müssen, die Hand Eilikes fester; doch der Justizrat winkte, und sie traten alle in das Haus; der Wind schlug sofort die Tür hinter ihnen zu, und sie fanden sich zuerst in einer vollkommenen Finsternis.

»Ich bin dicht hinter Euch«, flüsterte der alte Scholten. »Fürchten sich Euer Gnaden nicht; Sie wissen ja, daß er seine Fensterladen wie die Klappen seines Intellekts gegen die Außenwelt hermetisch verschlossen hält.«

[370] Die Frau Salome griff mit ihrer freien Hand nach dem Arm des Justizrats; Eilike Querian flüsterte:

»Hier und in der Stube nebenan steht alles voll Gerät. Die schöne Dame würde sich wundern, wenn es hell genug dazu wäre.«

»Das würde sie«, sagte der Justizrat; doch der Herr dieses Reiches der Finsternis hüstelte jetzt in der Tiefe des Hauses, und dazu hörte man den Sturmwind draußen immer heftiger pfeifen und zischen und einmal auch einen fernen langhinrollenden Donner sehr deutlich.

»Wollen die Herrschaften es mir fest versprechen, nicht zu lachen?« fragte es schläfrig. »Ich möchte sehr bitten, nicht zu lachen!«

Und die Frau Salome raunte dem Justizrat zu: »Bei allem, was einen an den Nerven zerren kann, ich fange auch an, es kalt zu finden! Und dabei wird man noch gefragt, ob man Lust habe zu lachen.«

»Wir versprechen dir, alle Rücksichten auf deine Gefühle zu nehmen, alter Bursch! Es wird niemand von uns die Miene verziehen, selbst wenn es dir einfallen sollte, dich einmal ganz solide vom Kopf auf die Füße zu stellen«, fügte er leise hinzu. In demselben Augenblick stieß Querian die Tür seiner Werkstatt auf, und die Baronin Veitor wie der Justizrat Scholten stießen einen Schrei aus und fuhren auf den ersten Anblick und Anhauch mehrere Schritte weit in den dunkeln Hausflur zurück.

Ein roter Schein und eine erstickende Glut schlugen ihnen entgegen. Auf einem Backsteinherde unter einem mächtigen schwarzen Schlote loderte das Feuer, das den schwarzen Dampf durch den Schornstein sandte. Die Tannenscheite prasselten, knackten und krachten, und der Wind trieb einen Teil des Qualms und der Funken zurück in das weite und doch in der verwirrendsten Weise vollgepfropfte Gemach. Steine und Erze, Holzstücke, riesige Haufen von Hobelspänen, Töpfe, Tiegel und Pfannen, Abgüsse von antiken und modernen Bildwerken, das Material und Werkzeug des Erzarbeiters, Zimmermanns, des Bildschnitzers, Bildhauers und des Chemikers durcheinander! Im Hintergrunde [371] aber durch die wirbelnden Dämpfe und knisternden Funken sichtbar das jüngste Werk Querians, das Bildwerk, welches die Eilike mehr denn alles andere aus dem Hause ihres Vaters gescheucht hatte!

Von der dunkeln Wand hob sich die Tongruppe im roten, flackernden Schein des Herdes riesenhaft, übertrieben karikaturartig, aber doch mächtig und überwältigend ab. Der nackte Gigant mit dem toten Kinde in den Armen lebte! – Die Muskeln zuckten, er mußte den grinsenden Mund jetzt, gerade jetzt zu einem Gebrüll der Verzweiflung aufreißen!

Eilike verbarg ihr Gesicht in dem Kleide der Baronin; diese stand festgebannt mit weitgeöffneten Augen, schweratmend und wortlos.

»Alle Wetter, Querian!« rief der Justizrat Scholten. »Was sagen Sie, Frau Salome? Wenn er aus seiner Haut herauskönnte, wäre er ein großer Mann! Wenn er Rechenschaft ablegen könnte über das, was er macht, wäre er längst Professor an irgendeiner Akademie der bildenden Künste und Professor der Philosophie obendrein. Wie das Ding sich im Tageslichte ausnehmen wird, wer kann das freilich sagen?!«

Mit dem Tone eines Cicerone in einer öffentlichen Kunstsammlung sagte der Meister des Werkes:

»Das ist mein Kind, gnädigste Frau. Ich habe fünfzig Jahre gearbeitet, ein Lebendiges zu schaffen; es stirbt mir aber immer in den Armen; ich möchte wohl einmal die Sachverständigen fragen.«

Da lachte Scholten doch.

Zwölftes Kapitel

Justizrat Scholten lachte gegen sein Versprechen, und was nachher in den Zeitungsblättern über das Nachfolgende zu lesen gewesen ist, gab nur eine matte Relation der hereinbrechenden schrecklichen Ereignisse.

Um diese Stunde – zwischen drei und vier Uhr nachmittags – [372] ist es in der Tiefe der Erde, fern in den Wäldern auf den Holzschlageplätzen und an den Meilern sowie auf den entlegenen Feldern und Wiesen den Leuten gewesen, als habe sie plötzlich jemand gerufen. Der Bergmann hat Fäustel und Eisen sinken lassen, der Holzhauer die Axt, der Köhler den Schürbaum. Auf den Äckern und Wiesen hat man mit der Arbeit innegehalten und der Hirt sein Pfeifen unterbrochen und die Hand ans Ohr gelegt. Jedermann, der einen Nachbar beim Tagewerk zur Seite hatte, hat den angesehen und ihn gefragt, ob er nichts gehört habe. Wunderlicherweise hatte dann doch niemand etwas vernommen, und jeder hat seine Beschäftigung wieder aufgenommen, jedoch in einer gewissen Befangenheit und Zerstreutheit und nicht mit der vorigen Lust.

So weit des Dorfes Feldmark ging, hat es nicht geregnet; doch der heiße Sturm ist freilich überall gewesen und hat den Menschen die Stirnen betäubt. Die Bauern, die Holzarbeiter, die Köhler und Hirten sind vielleicht dadurch schon auf ein Außergewöhnliches vorbereitet worden, zumal sie von dem dunkeln Horizont rundum sich umgeben sahen und die Donner rollen hörten. Für die Leute unter der Erde galt das freilich nicht, die haben sich über die Mahnung nachher am meisten gewundert oder vielmehr entsetzt.

Wer schrie es in die Schachte hinunter, in die Stollen hinein, daß Feuer zu Hause sei? Wer verkündete es in den brausenden Forsten, auf den Feldern? Wer sagte es dem einsamen Hirten auf seiner Waldwiese?

Sie wußten es alle zu gleicher Zeit. Sie warfen ihre Geräte hin, sie stiegen auf, sie sprangen über die Hecken und Hohlwege, sie stürzten die Schneisen hinunter – mit hocherhobenen Armen liefen sie von den Feldern weg. Auf allen Wegen und Stegen wimmelte es von entsetzten, angstvollen Menschen.

Es war Feuer zu Hause und sie fern vom Hause! – – Viele haben ein Lachen in dem Sturmwind gehört. Alle aber haben noch nimmer mit solcher Verzweiflung das Zischen und Pfeifen über und um sich vernommen und den Atem des Sturmes in ihren Haaren und Kleidern gefühlt.

[373] Ja Feuer! Es war Feuer, und der alte Scholten, die Frau Salome und Eilike Querian waren die einzigen im Dorfe, die Bericht darüber geben konnten, wie es entstanden war. – – –

»Ach ja, ich habe es wohl gefürchtet, daß Sie doch wieder lachen würden«, sagte Querian mit einem Gesichte wie ein Kind, das nach einer verbotenen Frucht griff und einen Verweis erhielt. »Oh, Sie haben wohl ganz recht; Sie verstehen das viel besser als ich. Es ist nichts, es ist gar nichts – ich sehe es wohl, ich weiß es wohl. Es ist alles sehr lächerlich und ich auch – ja! Nun, nun, die Herrschaften haben recht, und wir wollen es fortschaffen; der Eilike gefiel es auch nicht; aber es wäre mir freilich lieb gewesen, wenn die Herrschaften nicht gelacht hätten.«

Langsam, fröstelnd die Hände reibend und dazwischen die Knöpfe seines Rockes zuknöpfend, ging er an den Herd, sah einen Augenblick in die Glut und dann noch einmal wie fragend, sehnsüchtig auf den Besuch, und dann nahm er ein brennend Reis. Er schleuderte es nicht, er ließ es nur fallen zwischen die Hobelspäne und das dürre Holzwerk, das hoch in Haufen den Fußboden bedeckte und gegen die Wände sich auftürmte. Von den Besuchern hatte noch keiner eine Ahnung, was kommen sollte – was da geschah – was dieser arme Mensch in seiner Verwirrung anrichtete.

»Ei, mein bester Querian –« hatte der Justizrat noch einmal einen Satz begonnen; da war es aber bereits für jegliches tätige Zugreifen zu spät. Er tat einen Satz und trat mit dem Fuße auf die nächste aufhüpfende Flamme. Die Baronin stieß einen Angstruf aus, Eilike schrie hell, und schon war aller Kampf gegen das furchtbare Element vergeblich!

Sie sahen den Tollen inmitten des Feuers und des Dampfes. Mit einem Hammer schlug er auf sein kurios mächtiges Bildwerk. Er zerschlug das tote Kind in den tönernen Armen des Genius, des Riesen – die große Figur zersplitterte und stürzte polternd zusammen, teilweise auf den Künstler selber. Das Feuer war überall – auf dem Fußboden, an den Wänden, an der Decke; – es leckte schon nach dem leichten Sommerkleide der Frau Salome. Scholten riß die Freundin mit einem rauhen, heisern [374] Entsetzensgeächz zurück gegen die Tür, die Eilike flüchtete bereits durch den dunkeln Hausgang.

Das Haus Querians brannte im Innern lichterloh, und um das Haus sauste der Wind wilder denn zuvor. Von dem Eintritt der drei bis jetzt, wo sie wieder auf dem Wege standen, waren kaum zehn Minuten vergangen.

Der Justizrat kam zuerst wieder zur Besinnung und griff sich mit einem Verzweiflungsruf in die Haare; – der Qualm der Feuersbrunst quoll bereits zwischen den Schindeln des Daches durch und aus der Haustür hervor.

»Ins Dorf! Um Hülfe – Feuer!« schrie Scholten. Die Frau Salome mußte alle ihre Kräfte aufbieten, um das Kind Querians abzuhalten, sich abermals in das Haus zu stürzen. Die Eilike schrie, sie wolle mit ihrem Vater untergehen; doch dann verlor sie die Besinnung, und die Frau Salome trug sie weiter weg von der brennenden Hütte, den Waldabhang hinauf.

Grad auf das Dorf zu trieb aber der Sturm die ersten vorbrechenden Funken. Schon loderte zehn Schritte vom Haus ab ein trockener Baumzweig – nun zwanzig Schritte weiter eine dürre Tanne. Das nächste Haus am Eingange des Tälchens hatte ein Strohdach, und fast mit dem fortstürzenden Scholten langte das Feuer im Dorfe an.

Ein altes Weiblein lief zitternd aus der Strohhütte hervor, hielt sich kaum gegen den Wind aufrecht und starrte in. Betäubung und Zweifel auf ihr flammendes Dach. Schon klangen andere Stimmen ängstlich her; – das Feuer überhüpfte das folgende Haus, faßte jedoch mit einem Griff die drei nächstliegenden. Nun sprang es über auf die andere Seite der Gasse, und – das schlimme Geschick hatte seinen Lauf! Keiner, der es an Ort und Stelle miterlebte, wird den Tag je vergessen, und noch lange wird von ihm in den neuen Häusern und Hütten geredet werden und wird man sich erzählen, wie das Feuer flog, über weite Strecken, Hecken und Gärten sich schwang; wie die Mütter, die vom Hause entfernt gewesen waren, ihre Häuser nicht mehr erreichen konnten und nach ihren Kindern schrien; wie man das brüllende, widerspenstige Vieh aus einem Stalle in den andern rettete, [375] schleppte und zog und von dem nachfolgenden Verderben stets weitergescheucht wurde; wie der Wind in Stößen heulte und der ferne Donner übertönt wurde von den Explosionen der Sprengpatronen, welche die Bergleute in ihren Häusern aufbewahrten. Während des Tumultes selbst hatte nur ein Menschenkind für alle diese Einzelheiten des großen Brandes Auge und Ohr – die Frau Salome Veitor.

Sie stand auf dem höchsten Punkte des Kirchenhügels, von dem man das Dorf überblickte und einen Teil der Norddeutschen Ebene dazu. Sie hatte zu retten gesucht, wie und wo sie konnte. Sie hatte kleine Kinder aus den Häusern getragen und schlechte Habseligkeiten ärmsten Volkes in Sicherheit gebracht; ihre Hände bluteten, ihre Kleider waren zerrissen, und jetzt waren ihre Körperkräfte zu Ende, wenn sie gleich ihre geistigen Fähigkeiten noch klar und vollständig beisammen hatte.

Die Frau Salome hatte sich sehr nützlich gemacht. Ihr Wagen verbrannte mit dem Wirtshause; aber auf dem einen Pferde hatte sie ihren Ludwig nach einer entlegenen Ortschaft um Hülfe geschickt und auf dem zweiten Gaul den besten Reiter des Dorfes von dannen gejagt. Sie hatte ein Wort für die Witwe Bebenroth, deren Haus unversehrt blieb, die aber dessenungeachtet im Weinkrampf auf dem Grabhügel ihres letzten Gatten saß. In Abwesenheit des Justizrats und des Vorstehers war's die Frau Salome, welche die Offiziere der aus der Kreisstadt im Eilschritt zu Hülfe marschierenden Füsilierkompanie empfing, sie mit der Sachlage und dem Situationsplane des Dorfes bekannt machte und sie dahin dirigierte, wo ihre Hülfe vom besten Nutzen sein konnte.

Nun aber stand sie an einen Grabstein gelehnt und neben ihr der alte Pastor des Dorfes, den sie gleichfalls aufrecht zu erhalten hatte durch allerlei Trostesworte. Der Schulmeister zog noch immer unnötigerweise im Turme die Sturmglocke.

Zu ihren Füßen lag Eilike Querian auf einem liegenden Grabstein, mit dem Gesichte auf den Händen. Die Baronin hatte das junge Mädchen hierhergeschafft, wo allmählich alles sich zusammendrängte, was sich nicht selber zu helfen vermochte und noch viel weniger andern zunutze war.

[376] Die Augen der Frau leuchteten, wenngleich ihre Glieder zitterten und der Atem heiß und stoßweise sich ihrem Busen entrang. Sie sah über die Flammen der Nähe auf die Blitze und Wolkenbrüche der Ferne; und alte Verse aus den Psalmen ihrer Väter gingen ihr durch den Sinn und wurden laut auf ihren Lippen. Sie stand wie die Seherinnen ihres Volkes, wenn unter ihren Füßen die Schlachten gegen die Heiden geschlagen wurden; sie reckte ihren Arm aus und murmelte:

»Die Erde bebete und ward bewegt, und die Grundvesten der Berge regeten sich und bebeten, da er zornig war.

Dampf ging auf von seiner Nase und verzehrend Feuer von seinem Munde, daß es davon blitzete.

Er neigte den Himmel und fuhr herab, und Dunkel war unter seinen Füßen.

Und er fuhr auf dem Cherub und flog daher, er schwebete auf den Fittichen des Windes.

Sein Gezelt um ihn her war finster – vom Glanz vor ihm trenneten sich die Wolken – und der Herr donnerte im Himmel.

Er schoß seine Strahlen und zerstreute sie, er ließ sehr blitzen und schreckte sie.

Da sahe man Wassergüsse, und des Erdbodens Grund ward aufgedeckt, Herr, von deinem Schelten, von dem Odem und Schnauben deiner Nase.«

Wenn sie sich dann aber, was immer, immer von neuem geschah, das gräßliche Erlebnis in dem Hause Querians, die Stimme und Gestalt des Wahnsinnigen, sein letztes Bild und den zertrümmernden Hammer in der Hand des Tollen von neuem vor den inneren Sinn rief, dann schloß sie die Augen vor der Nähe und Ferne, und der Aufruhr, das Geheul und Krachen um sie betäubte sie, daß ihr die Stirn zu zerspringen drohte; und so wechselte das ab bis zum Abend, bis es in der Ferne und in der Nähe still wurde. Ja still!

Um sechs Uhr abends legte sich der große Wind, und aus den Gewittern in der Ebene wurde ein Landregen, der acht Tage lang nicht aufhörte und viel böses Blut machte. Zwei Drittel des Dorfes lagen in Asche, das letzte Drittel war gerettet, ohne daß [377] bis zum Ende ein Tropfen aus der Höhe dazu geholfen hätte. Die Menschen aber hatten nicht mehr die Kraft, über ihr Elend zu schreien oder laut zu fluchen; sie beteten und weinten leise oder knirschten leise mit den Zähnen.

Gegen sieben Uhr erschien der Justizrat Scholten mit verbundenem Kopfe, versengtem Haar und Backenbart auf dem Kirchhofe, schüttelte die Witwe Bebenroth ziemlich grimmig auf und schickte sie in ihren Keller nach dem Vorrat seines Getränkes. Er ließ die Frau Salome ein Glas Wein trinken und setzte sich dann zu ihr und der Eilike auf den alten verwitterten Stein. Nach einer geraumen Weile sagte er so matt und müde und gleichgültig wie vor vier Stunden Querian:

»Und da glaubt man denn noch, man sei etwas und bedeute etwas, wenn man mit den Armen und Beinen zappelnd sich eine Meinung, eine Ansicht bildet und sie von dem Mist laut hinauskräht! O Querian, Karl Ernst Querian! – Ob wohl die Behörde glauben wird, daß es sich so einfach zutrug, wie wir es sahen und es wohl demnächst als Augenzeugen werden bekräftigen müssen, Frau Salome? – Übrigens, meine Beste, müssen wir heute abend noch das Kind des Unglücklichen von hier fortschaffen. Es ist unbedingt notwendig; denn das Volk ist jetzt so wahnsinnig wie der Alte, spinnt grimmige Phantasien und sucht nach jemand, gegen den es seiner Verzweiflung und Wut Luft machen kann. Ich habe bereits absonderliche Worte gehört, und Querians Kind würde morgen früh manches zu klagen haben, wenn wir es hier über Nacht ließen. Sehen Sie sich um – wir drei sitzen allein – sie haben einen leeren Raum um uns gelassen; aber sie sehen nach uns herüber.«

So war es in der Tat. Eine unsichtbare Linie hatte das Dorfvolk gezogen und stand um den Kreis stumm, aber mit schlimmen Blicken.

Die Baronin Veitor blickte gleichgültig auf, zu gleicher Zeit den Kopf des Kindes sanft berührend.

»Wir können nicht heraus«, sagte sie; »es ist vergeblich – wir stecken in uns, wir stecken in der Menschheit, wir sind gefangen in dem harten Gefängnis der Welt. Wir keuchten nach Freiheit, [378] Erkenntnis, Schönheit, und im günstigsten Falle wird uns gestopft der Mund mit Erde. Morgen werd ich wieder anders denken; aber jetzt sehne ich mich nach der dunkeln Ecke auf der Weiberseite der Synagoge, wo ich saß mit meiner Mutter und sang, und wo ich hörte ablesen die Thora – das Gesetz.«

»Jawohl«, ächzte Scholten. »Es war eine schöne eine behagliche, anmutige Zeit, wo das Gesetz, das Corpus juris meine Welt war und die Aussicht auf das Staatsexamen mein allereinzigstes Elend in sich schloß. Morgen werde ich wohl gleichfalls wieder anders denken.«

Der alte Sommergast des Dorfes durfte es sich schon für eine Weile gönnen, zu sitzen und zu verschnaufen. Die Behörden des modernen Staates befanden sich jetzt in der erstaunlichsten Tätigkeit, und man konnte sie nur loben. Ehe die letzte Hütte, die das Feuer erfaßte, in sich zusammenstürzte, überlegte man und sorgte bereits von Amts wegen für das provisorische Unterkommen der Abgebrannten und ihre sonstige Bequemlichkeit. Die Kirche wurde aufgeschlossen und in eine Vorratskammer und in einen großen Sicherheitsschrank für die gerettete Habe der Ortseinwohner umgewandelt; der obdachlose Teil der Bevölkerung, soweit es anging, dem verschont gebliebenen Dritteil unter die Dächer gelegt. Aus den umliegenden Ortschaften kamen Wagen mit Hülfsmannschaften und Spritzen über Spritzen an. Proviant langte an. Verwandte und Freunde wurden eingeladen, fürs erste zu der Vetterschaft der nahen Dörfer überzusiedeln. Für die Alten und Kranken waren Ärzte genug vorhanden, und wer bis jetzt höchstens den Kuhhirten seiner Gebrechen wegen um Rat gefragt hatte, der konnte sich nun von einem Sanitätsrat den Puls fühlen lassen. Einen der Doktoren rief auch die Baronin Veitor an, der Eilike wegen. Auf einem zu Tal fahrenden Leiterwagen, auf einer Kiste sitzend, brachte dann die Frau Salome das Kind Querians in Sicherheit. Es wurde nur einmal ein schwacher Versuch gemacht, die beiden zu insultieren und die Eilike wieder vom Wagen herabzuziehen.

Der Justizrat sah die Freundin und sein Patenkind abfahren, schärfte dem Fuhrmann, als er schon auf die Gäule schlug, immer [379] von neuem ein, vorsichtig zu fahren und die beiden Frauenzimmer ja recht in acht zu nehmen, und blieb auf der Brandstätte zurück Er wußte es, daß er eine der brauchbarsten Personen hier war, und die Behörden hatten das auch bereits erfahren und befestigten sich im Laufe des Abends immer mehr in ihrer günstigen Meinung von ihm.

Der alte Scholten kannte jedermann im Dorf und jedermanns Umstände und Charakter; und die Leute kannten ihn und wußten, daß er ebenso gutherzig wie grob war. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, fuhr er von neuem umher, vervielfältigte sich wie eine Kugel oder ein Becher in den Händen eines Prestidigitateurs und erschien wie Pythagoras an sechs verschiedenen Orten zu gleicher Zeit.

Er legte eine gelähmte, hundert Jahre alte Schlackenpucherwitwe in das weiche Bett der höchlichst darüber entrüsteten Witwe Bebenroth und den taubstummen August, seinen Todfeind, welchem ein stürzender Balkon die Schulter getroffen hatte, in sein eigenes. Er machte Quartier – er verstand es, Quartier zu machen; der Ortsvorsteher sah ihm mit offenem Munde zu, und das böseste Volk ward zahm vor ihm, wenngleich er sich dann und wann gebärdete wie ein Fourier im Feindeslande.

Endlich konnte aber auch er nicht mehr, und gegen Mitternacht schleifte er ein Bund Stroh in das alte Beinhaus an der Kirchhofsmauer, wo trotz dem Wohnungsmangel niemand ein Unterkommen suchte, warf das Stroh in die Ecke, sich darauf und ächzte:

»Oh, Donnerwetter – uh, meine Knochen! O ja, wenn der Kaiser Carolus der Fünfte hier am Orte heute mir zur Hand gewesen wäre und jetzt mit mir hier auf dem Stroh läge und seine Karolina mit mir durchsprechen wollte, so wurde ich ihm freundlich raten, die Strafe des Räderns nicht unter seine Züchtigungsmittel aufzunehmen. Gevierteilt, gesäckt, gespießt zu werden, meine ich muß nur ein angenehmer Kitzel sein gegen – dieses! Wenn ich nur wüßte, wie's möglich ist, daß, einem die Schulterblätter ins Kreuz und die Hüftknochen in die Knie rutschen können? O Querian, Querian, was hast du angerichtet! Dies Resultat [380] kam dir nicht in den Sinn, als du zuerst deinen Kopf darauf setztest, nach deinem Tode einen Kirchhof berühmt zu machen!«

Er sah sich noch einmal in der Werkstatt Querians und ächzte. Dann aber gähnte er, drehte sich, eine bequemere Lage suchend, und murmelte schlaftrunken:

»Jaja – das Beinhaus! – Im Beinhaus! – Ich Urnarr! – Wenn ich gestern ihn am Kragen genommen hätte?! – Ach, es ist einerlei; ich wollte nur, ich hätte meinen Brief an Peter Schwanewede in Pilsum von der Post zurück. Die Mühe hätte ich mir auch sparen können!«

Damit entschlief er und hub an, sehr zu schnarchen. Die Füsiliere hielten die Wacht um die Brandstätte, und die lauteste Verzweiflung wurde allmählich still in der Erschöpfung; – es war aber im Sommer, und die Nächte waren kurz. Die Sonne war wieder da, ehe irgendein Schmerz, irgendeine Angst ausgeschlafen hatten – geschweige denn verschlafen worden waren.

Wie der Justizrat erwachte und seine Tätigkeit in Angelegenheiten seines Lieblingssommeraufenthaltes von neuem aufnahm, brauchen wir nicht des weiteren zu schildern. Um es kurz zu machen, er betrug sich so auffällig, so eigentümlich, daß ihm zu Neujahr zu seinem argen Schrecken von höchster Stelle aus mitgeteilt wurde, er habe sich durch sein sonderbares Verhalten die zweitunterste Klasse des Landesordens verdient und sich fortan ohne Weigerung als einen Ritter desselbigen anzusehen.

»I so was!« rief er. »Na, das soll mir aber inskünftige eine Warnung sein. Brennt mir noch einmal mein Sommerquartier ab, so lasse ich es ruhig in Dampf aufgehen, setze mich höchstens auf der Windseite auf einen passenden Aussichtspunkt und schlage die Harfe zu dem Malheur. O Querian, Querian, wenn sie dir doch das Anhängsel zur rechten Zeit gegeben hätten?!« – –

Am vierten Tage nach dem Tode Querians und dem großen Brand erschien er zum erstenmal wieder in der Villa Veitor. Er ging mühsam und schwerfällig an seinem treuen Eichenstock und schien um mehrere Jahre älter geworden zu sein. Die Frau Salome traf er am Bette der Eilike, die in einem hitzigen Fieber lag.

[381] Die Frau Salome teilte ihm alles mit, was sich seit ihrer Rückkehr in das Landhaus mit ihr und dem Kinde zugetragen hatte, dann auch ihre Ansichten und die des Arztes. Glücklicherweise hatte der Doktor bereits den Trost gegeben, daß die gute Natur des jungen Geschöpfes wohl auch ohne seine Hülfe sich geholfen haben würde.

»Und nachher soll sie es gut bei mir haben«, schloß die Frau Salome, Baronin von Veitor.

Scholten nickte und legte ein versiegeltes Schreiben auf die Bettdecke seines Patenkindes:

»Meine Beste, da ich das Ding einmal geschrieben und seit einigen Tagen einen merkwürdigen Wider willen und Abscheu gegen jeglichen Feuerherd und Kohlentopf habe, so betrachten Sie es wohl bei Gelegenheit als an sich gerichtet.«

Die Baronin nahm das Schreiben und sah erschrocken den Justizrat an. Es war der Brief des Alten in Sachen Querians und Eilike Querians an Peter Schwanewede. Die Post hatte ihn zurückgeschickt mit der Bemerkung auf dem Umschlage:

»Adressat bereits vor einem Jahre verstorben.« – –

»Im nächsten Sommer werde ich in Pilsum wohnen und mich nach dem Genauern erkundigen«, sagte Scholten. »Vielleicht besuchen Sie mich auch dort einmal, und dann bringen Sie die Eilike mit. Wir wollen ihr einmal die See zeigen. – O Frau Salome, liebe Frau Salome, der Streich sieht dem Peter ähnlich! So – grade so schlich er sich stets um die Ecke und überließ es uns anderen, fertig zu werden, wie wir konnten. Ei, ei, dieser Peter! Er hatte alle möglichen Schrullen – unter anderen die, daß er die See dem Gebirge vorzog. Es war seine Natur so; – ich kletterte meinesteils lieber in den Bergen; doch, offen gestanden, augenblicklich säße auch ich am liebsten und sähe über die kühlen Wasser ins Weite. Meine Natur ist's freilich nicht.«

»Ich komme im nächsten Sommer nach Pilsum«, sagte die Frau Salome.

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TextGrid Repository (2012). Raabe, Wilhelm. Erzählungen. Frau Salome. Frau Salome. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8B22-5