[136] Vergessen

Erinnerung nennt Ihr ein Glück?
Sie, die nach Eurem tiefen Falle
Die hingeschwund'nen Freuden alle
Euch höhnend vorzählt Stück für Stück?
Wißt Ihr, was mir Erinnerung?
Ein Tiger, der aus finst'rer Höhle
Grimm auf den Frieden meiner Seele
Hinstürzt, mit mörderischem Sprung!
Ein Upasbaum auf öder Trift,
Der, wag' ich es in eitlem Sehnen,
Mein Haupt an seinen Stamm zu lehnen,
Mich rasch durchdringt mit glüh'ndem Gift!
[137]
Mein Unglück trag' ich wie ich kann,
Doch soll der Muth mir nicht entgleiten.
Dann ihr verlor'nen Seligkeiten,
O tretet weinend nicht heran!
Und wenn auf meiner Stirne Rand
Sich kalt jetzt deine Lippen pressen,
Dann lass' auf ewig mich vergessen,
Wie heiß vordem ihr Kuß gebrannt!
O still! soll nicht mein eig'nes Wort
Aufrufen der Dämonen Wüthen,
Die tief in meinem Innern hüthen
Der Schmerzen Nibelungenhort.
Es ist genug! mehr als genug!
Den Abgrund kann kein Blick ermessen.
Ich will nichts weiter als vergessen
Was ich genoß, was ich ertrug!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Paoli, Betty. Gedichte. Neue Gedichte. Vergessen. Vergessen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-67FC-3