Margarete von Navarra
Der Heptameron
Die Erzählungen der Königin von Navarra

[3] Vorwort.

In den ersten Tagen des September, wenn die Bäder in den Pyrenäen anfangen besucht zu werden, befanden sich in Cauterets mehrere Personen, sowohl aus Frankreich als aus Spanien und anderen Ländern; die Einen, um die Quellen zu trinken, die Anderen, um zu baden, und noch Andere, um den Moor zu gebrauchen, welcher so wunderthätig ist, daß Kranke, die schon von den Aerzten aufgegeben sind, davon gesunden. Meine Absicht ist nicht, Euch die Lage oder die Eigenschaften der Bäder zu erklären, sondern nur zu erzählen, was zur Sache gehört. In diesen Bädern blieben alle Kranken über drei Wochen, bis sie sich gesund genug fühlten, um heimzukehren. Aber zur Zeit der Abreise fielen so schwere Regengüsse, daß es schien, als habe Gott sein Versprechen an Noah vergessen, die Welt nicht mehr durch Wasser zu zerstören; denn alle Hütten und Wohnungen von Cauterets waren so mit Wasser überschwemmt, daß es unmöglich wurde, dortzubleiben.

Diejenigen, welche aus Spanien gekommen waren, gingen, so gut es ging, über die Berge zurück; Alle, welche die Wege kannten, [3] retteten sich. Aber die französischen Herren und Damen, welche meinten ebenso leicht nach Tarbes zurückkehren zu können, wie sie von da gekommen waren, fanden die kleinen Flüsse so angeschwollen, daß sie kaum an den seichten Stellen passirbar waren. Als sie aber zur bearnesischen Gave kamen, welche früher nur zwei Fuß Tiefe gehabt hatte, fanden sie diese so wild und reißend, daß sie die Brücken aufsuchen wollten; da aber diese nur aus Holz waren, hatte sie das Wasser fortgerissen. Einige, welche glaubten dem Strom widerstehen zu können, wurden so schnell fortgeschwemmt, daß die Uebrigen die Lust verloren, ihnen zu folgen. Hierauf, theils wegen Meinungsverschiedenheiten, theils um neue Wege aufzusuchen, trennte sich die Gesellschaft.

Die Einen überstiegen die Berge, durchreisten Aragonien und kamen nach Roussillon und Narbonne; die Anderen gingen direkt nach Barcelona und von da über das Meer nach Marseille und Aigues-Mortes. Aber eine Witwe, namens Oisille, entschloß sich, ohne Furcht vor den schlechten Wegen bis nach Notre-Dame von Serrance zu reisen; sie war überzeugt, daß, wenn es überhaupt ein Mittel gebe, einer Gefahr zu entrinnen, die Mönche es sicherlich finden würden, und langte schließlich auch an, nachdem sie so schwierige und mühselige Pfade hatte übersteigen müssen, daß sie trotz ihres Alters und Gewichts den größten Theil davon zu Fuß zurücklegen mußte. Es war ein Jammer, daß die meisten ihrer Diener und Pferde auf dem Wege umkamen, so daß sie in Serrance nur mit einem Knecht und einer Dienerin ankam; die Mönche empfingen sie daselbst höchst gastfreundlich.

Es befanden sich auch unter den Franzosen zwei Edelleute, welche mehr in die Bäder gereist waren, um die Damen, welchen sie dienten, zu begleiten, als weil sie selbst krank waren. Diese Herren sahen die Gesellschaft sich trennen und die Damen mit ihren Männern gehen und beschlossen, ihnen von fern zu folgen, ohne es Jemandem zu sagen.

Aber eines Abends, nachdem die beiden Gatten mit ihren Frauen Wohnung bei einem Menschen genommen hatten, welcher mehr Bandit als Bauer war, und nachdem sich die beiden jungen Edelleute in ein Haus daneben begeben hatten, hörten letztere gegen [4] Mitternacht einen großen Lärm; sie standen sogleich mit ihren Dienern auf und fragten ihren Wirth, was das zu bedeuten habe. Der arme Mann, welcher selbst Furcht hatte, sagte, es seien schlechte Kerle, welche wohl gekommen wären, um ihren Theil von der Beute seines Nachbars, des Banditen, zu holen. Darauf ergriffen die Edelleute ihre Waffen und eilten sammt ihren Knappen den Damen zu Hülfe, da sie lieber gestorben wären, als diese zu überleben. Als sie hinein kamen, fanden sie die erste Thür erbrochen und die beiden Herren mit ihren Dienern in muthiger Vertheidigung. Aber die Zahl der Banditen war zu groß, sie selbst waren verwundet, ein großer Theil der Diener gefallen, und so begannen sie zurückzuweichen.

Die beiden Edelleute sahen durch das Fenster die beiden Damen so sehr weinen und schreien, daß ihnen das Herz vor Mitleid und Liebe schwoll und sie sich wie zwei wüthende Bären aus den Bergen auf die Banditen stürzten und so viele von ihnen tödteten, daß die Uebrigen weitere Schläge nicht abwarten wollten und die Flucht ergriffen. Nachdem die Edelleute diese Bösewichter und unter ihnen den Wirth getödtet hatten, vernahmen sie, daß die Wirthin noch schlimmer als ihr Gatte sei, und so versetzten sie ihr einen Degenstich, welcher ihr die Seele ausblies.

Als sie in die niedrige Stube eintraten, fanden sie den einen Gatten sterbend; dem andern war nichts geschehen, außer daß sein Kleid ganz von Dolchstichen durchlöchert und sein Degen zerbrochen war. Der Edelmann dankte ihnen für die geleistete Hülfe, indem er sie umarmte, und bat sie, ihn nicht mehr zu verlassen, welchem Verlangen sie sehr gern entsprachen.

Hierauf begruben sie den todten Edelmann, trösteten seine Witwe, so gut sie es vermochten, und machten sich aufs Gerathewohl auf den Weg.

Wenn Ihr wissen wollt, wie die drei Edelleute hießen, so war der Name des Verheiratheten Hircan, der seiner Frau Parlamente und der der Witwe Longarine; die beiden jungen Edelleute hießen Dagoucin und Saffredant. Nachdem sie den ganzen Tag zu Pferd gewesen waren, ersahen sie gegen Abend einen Glockenthurm; nach viel Arbeit und Mühe erreichten sie ein Kloster und wurden von [5] den Mönchen freundlich empfangen. Das Kloster hieß Saint-Savin. Der Abt, welcher aus sehr gutem Hause war, brachte sie aufs Beste unter und führte sie in seine Wohnung, um sie nach ihren Erlebnissen zu fragen. Nachdem er diese erfahren hatte, sagte er ihnen, daß es ihnen nicht allein so ergangen wäre, denn in einem anderen Zimmer befänden sich zwei Damen, welche einer ähnlichen Gefahr entgangen wären, oder vielmehr einer größeren, da sich bei den Menschen immer noch einige Barmherzigkeit fände, aber bei den Thieren nicht. Die beiden Damen waren auf halbem Wege von Pierrefite einem Bären in den Bergen begegnet und hatten vor diesem so eilig die Flucht ergriffen, daß die Pferde bei ihrer Ankunft todt unter ihnen zusammenstürzten; zwei von ihren Frauen, welche lange nach ihnen ankamen, erzählten, daß der Bär alle ihre Diener getödtet hätte. Die Damen und die drei Edelleute gingen darauf zu ihnen und fanden sie weinend; sie sahen, es waren Nomerfide und Emarsuitte. Sie umarmten sich und erzählten ihre Abenteuer; allmählich beruhigten sie sich und hörten auf die Trostworte des Abtes, daß sie sich ja nun wieder zusammengefunden hätten; am nächsten Morgen gingen sie zur Messe und lobten Gott, daß er sie aus der Gefahr errettet habe. Während sie noch alle in der Messe waren, trat in die Kirche ein Mann ein, welcher nur mit seinem Hemde bekleidet war und um Hülfe schrie, als wenn er verfolgt würde. Sogleich eilten Hircan und seine Genossen zu ihm und sahen zwei Männer mit gezogenem Degen hinter ihm, welche beim Anblick so vieler Leute die Flucht ergriffen. Aber Hircan und seine Begleiter verfolgten sie und schlugen sie nieder. Zurückkehrend fand Hircan, daß der Mann im Hemde einer seiner Gefährten namens Guebron sei, welcher ihnen erzählte, daß er in einem kleinen Bauernhause bei Pierrefite gewesen sei und daß ihn dort drei Männer überfallen hätten, während er noch im Bett lag. Den einen hätte er mit einem Schwertstreich zu Boden gestreckt; während die beiden andern sich mit ihrem gefallenen Kameraden zu schaffen machten, hätte er sich überlegt, daß er unbekleidet und ohne Waffen ihnen nur durch die Flucht entrinnen könne, dies aber um so mehr, als er ohne Kleider schneller wie sie laufen konnte; nun lobte er Gott und diejenigen, welche ihn gerettet hatten. Nachdem sie die Messe angehört und [6] gespeist hatten, schickten sie einen Boten an die Gave, um zu sehen, ob sie schon passirbar sei; aber das war unmöglich, wodurch sie in nicht geringe Verlegenheit geriethen; sie nahmen deshalb das Obdach, welches ihnen der Abt für die Zeit, bis das Wasser sinken würde, anbot, fürs Erste mit Freuden an.

Am Abend langte ein alter Mönch an, welcher jedes Jahr im September nach Serrance kam; über seine Reise befragt, erzählte er, daß er wegen der Ueberschwemmung über die Berge und zwar auf den schlechtesten Wegen gekommen sei, welche er jemals gesehen, und daß er einen großen Jammer erlebt habe. Er hatte einen Edelmann, namens Simontault, gesehen, welcher ungeduldig über das langsame Sinken des Flusses, sich entschlossen hatte, den Uebergang zu erzwingen. So verließ der Edelmann sich auf sein gutes Pferd und vertheilte seine Diener um sich, um das Wasser zu dämmen. Aber mitten im Strom wurden die, welche schlecht beritten waren, vom Wasser fortgerissen, um nie wiederzukehren. Als sich der Edelmann allein sah, wollte er auf demselben Wege umkehren, auf dem er gekommen war, verlor aber die Richtung. Doch wollte Gott, daß er noch gerade so ans Ufer kam, daß er sich, allerdings nicht ohne viel Wasser zu schlucken, auf allen Vieren an das Land schleppen konnte und auf den harten Kieseln matt und haltlos niedersank; gegen Abend kam ein Schäfer, welcher seine Heerde heimtrieb, vorbei und sah ihn zwischen den Steinen sitzen, naß und traurig über die Leute, welche er verloren hatte.

Der Schäfer, welcher wohl sah, was ihm vor Allem Noth that, nahm ihn bei der Hand und führte ihn in sein ärmliches Haus, wo er schnell ein kleines Feuer anmachte und ihn, so gut es ging, trocknete. Und an demselben Abend führte ihm Gott diesen alten Mönch zu, welcher ihm den Weg nach Notre-Dame von Serrance wies, indem er ihm versicherte, daß er dort besser als sonst wo untergebracht sei und daselbst eine alte Witwe namens Oisille finden würde, welche eine Leidensgenossin von ihm sei. Als die ganze Gesellschaft ihn von der guten Dame Oisille und dem edlen Ritter Simontault reden hörte, war ihre Freude groß, und sie lobten den Schöpfer, welcher nur die Diener vernichtet, die Herren und Herrinnen aber gerettet hatte; und vor Allem lobte [7] Parlamente Gott. Denn es hatte eine Zeit gegeben, wo sie diesem Ritter wohl gewogen war. Nachdem sie sich nach dem Weg gen Serrance erkundigt hatten, der ihnen zwar von dem guten Greis als schlimm genug beschrieben wurde, ließen sie sich dennoch nicht abhalten, ihn einzuschlagen; noch an demselben Tage machten sie sich auf den Weg in so guter Ordnung, daß es ihnen an nichts fehlte. Der Abt gab ihnen die besten Pferde, welche in Lavedan zu finden waren, gute bearnesische Rittermäntel, reichliche Lebensmittel und zuverlässige Begleiter, um sie sicher über die Berge zu führen. Sie überstiegen diese mehr zu Fuß als zu Pferde mit viel Schweiß und Arbeit und langten glücklich in Notre- Dame von Serrance an, wo der Abt (obgleich er sonst ein schlechter Mensch war) nicht wagte, ihnen das Obdach zu verweigern, und zwar aus Furcht vor dem Herrn von Béarn, von dem er wußte, daß er ihnen gewogen war; so machte er gute Miene zum bösen Spiel und führte sie zu der guten Dame Oisille und zu dem Ritter Simontault. Die Freude unter dieser so wunderbar versammelten Gesellschaft war so groß, daß die Nacht ihnen zu kurz erschien, um Gott für die Gnade zu loben, welche er ihnen erwiesen hatte. Nachdem sie gegen Morgen etwas Schlaf genossen hatten, hörten sie die Messe und empfingen das heilige Sakrament, in welchem alle Christen vereinigt sind, indem sie Gott baten, durch seine Güte sie ihre Reise zu seinem Ruhme vollenden zu lassen. Nach dem Essen ließen sie nachsehen, ob das Wasser sich verlaufen habe, doch fanden sie, daß es eher gewachsen sei, und beschlossen eine Brücke von einem Felsen zu einem andern zu schlagen, die sehr nahe einander gegenüberstehen; noch heute sind dort Planken für Fußgänger, welche von Oleron kommen und die Gave nicht durchwaten wollen. Der Abt, welcher sich über dieses Vorhaben freute, weil es die Zahl der Bauern und Pilger vermehren würde, gab ihnen Arbeiter, aber er legte keinen Heller zu, das verbot ihm sein Geiz. Da nun die Arbeiter sagten, daß sie die Brücke nicht unter zehn bis zwölf Tagen beenden könnten, fingen die Herren und Damen an, sich zu langweilen. Aber Parlamente, die Gemahlin Hircans, welche niemals müßig oder traurig war, bat ihren Mann um Erlaubniß zu reden und sagte dann zu der alten Dame Oisille: »Ich [8] bin erstaunt, edle Frau, daß Ihr, die Ihr so viel Erfahrung habt und jetzt Mutterstelle an den Damen vertretet, nicht einen Zeitvertreib findet, um die Langeweile, welche wir während unseres langen Aufenthalts hier empfinden werden, abzuschwächen; denn wenn wir nicht eine vergnügliche und tugendhafte Beschäftigung haben, so laufen wir Gefahr, krank zu werden.« Die junge Witwe Longarine fügte darauf hinzu: »Was noch schlimmer ist, wir werden betrübt werden, was eine unheilbare Krankheit ist; denn es ist Niemand unter uns, welcher, wenn er seine Verluste betrachtet, nicht Ursache zu größter Traurigkeit hätte.« Emarsuitte antwortete ihr lachend: »Jede von uns hat aber nicht ihren Gatten verloren wie Ihr, und wegen des Verlustes von Dienstboten braucht man nicht zu verzweifeln, denn sie sind leicht zu ersetzen. Immerhin ist es ganz meine Meinung, eine angenehme Beschäftigung zu finden, um uns die Zeit so fröhlich wie möglich zu vertreiben.« Ihre Gefährtin Nomerfide sagte, das sei gut gesprochen, denn wenn sie an einem Tage ohne Zeitvertreib sei, so würde sie am nächsten Morgen todt sein. Alle Edelleute stimmten ihr bei und baten die Dame Oisille, ihnen zu rathen, was sie thun sollten. Diese antwortete: »Meine Kinder, Ihr fordert etwas Schwieriges; ich soll Euch einen Zeitvertreib nennen, der Euch vor Langeweile bewahrt; ich habe in meinem ganzen Leben nur ein solches Mittel gefunden, und das ist das Lesen der heiligen Bücher, in denen ich die wahre und vollkommene Geistesfreude finde, aus welcher die Ruhe und Gesundheit des Körpers entspringen. Und wenn Ihr mich fragt, welches Rezept mich so gesund in meinem Alter erhält, so ist es, daß ich, sobald ich aufgestanden bin, die Bibel lese und den Willen Gottes betrachte, welcher für uns seinen Sohn auf die Welt geschickt hat, um uns dieses heilige Wort zu verkünden, durch welches er uns Erlösung von allen Sünden und Vergebung durch die Gabe seiner Liebe, seines Leidens und Martyriums verspricht. Diese Betrachtung giebt mir so viel Freude, daß ich meinen Psalter nehme und so demüthig wie ich kann mit Herz und Mund jene schönen Psalmen und Gesänge spreche, welche der heilige Geist in das Herz Davids und der anderen Sänger gelegt hat. Und die Befriedigung, welche ich danach fühle, thut mir so wohl, daß ich alles Leid, welches [9] mir täglich begegnen kann, als Segen ansehe, da ich in meinem Herzen gläubig denjenigen trage, welcher es mir schickt. Ebenso ziehe ich mich vor dem Abendbrot zurück, um meiner Seele solche Nahrung zu geben; und dann abends bedenke ich, was ich tagüber gethan habe, erflehe seine Verzeihung, danke ihm für seine Gnade und Liebe und schlafe dann friedlich ein, gewappnet gegen alles Uebel. Hier also, meine Kinder, habt Ihr den Zeitvertreib, welchen ich gefunden, nachdem ich überall gesucht und doch keine Befriedigung für meinen Geist gefunden habe. Es ist wahrscheinlich, daß, wenn Ihr ebenfalls allmorgendlich eine Stunde lesen und dann ferner die Messe anhören wollt, Ihr in dieser Einöde alle Schönheit der Städte finden werdet; denn wer Gott kennt, findet alles schön in ihm und alles häßlich ohne ihn. Darum bitte ich Euch, nehmt meinen Rath an, wenn Ihr fröhlich leben wollt.« Hircan antwortete darauf: »Alle, edle Frau, welche die Bibel gelesen haben (und das, glaube ich, thaten wir sämmtlich) werden zugeben, daß Ihr wahr gesprochen habt; aber bedenkt auch, daß wir noch nicht so alt sind, um eine körperliche Uebung entbehren zu können; denn zu Haus haben wir die Jagd und den Vogelfang, welche uns die thörichten Gedanken vertreibt; und die Damen haben ihre Wirthschaft und Arbeit und zuweilen den Tanz, an welchem sie ehrbar theilnehmen. Darum, wenn wir auch morgens die Bibel lesen und die großen und wunderbaren Werke, welche der Herr Jesus Christus für uns gethan hat, betrachten, müssen wir doch vom Mittagsbrod bis zur Vesper irgend einen Zeitvertreib wählen, welcher der Seele nichts schadet und dem Körper angenehm ist; so werden wir den Tag froh verbringen.« Die Dame Oisille antwortete, daß sie sich so viel Mühe gebe, alle Eitelkeiten zu vergessen, daß sie kaum einen solchen guten Zeitvertreib finden würde; aber man solle nun die Sache der Stimmenmehrheit überlassen; Hircan solle anfangen. »Was mich betrifft«, sagte dieser, »wenn ich wüßte, daß der Zeitvertreib, welchen ich wählen möchte, Einer aus der Gesellschaft ebenso angenehm wäre, wie mir, so würde ich bald entschlossen sein; aber laßt uns vorläufig hören, was die andern meinen.« Seine Frau Parlamente erröthete, weil sie diese Bemerkung auf sich bezog, und antwortete halb zornig und halb lachend: »Hircan, die, welche Ihr vielleicht für die [10] Betrübteste über Eure Worte haltet, wüßte wohl, womit sie Euch diese vergelten könnte, wenn sie nur wollte; aber sprechen wir nicht von einem Zeitvertreib, an dem nur zwei theilnehmen können, sondern von einem allgemeinen.« Hircan sagte nun, zu allen Damen gewandt: »Da meine Frau den Sinn meiner Rede so wohl verstanden hat und nichts davon wissen will, so wird am besten sie einen Vorschlag machen können, der allen gefällt; und von Stund' an bin ich von vornherein ihrer Meinung.« Die ganze Gesellschaft stimmte dem bei. Parlamente, welche sah, daß das Loos auf sie gefallen war, sprach folgendermaßen: »Wenn ich mich fähig dazu hielte, so würde ich, wie die Alten die Künste, irgend ein neues Spiel erfinden, um mich meiner Aufgabe zu entledigen; aber da ich zu gut meine Kenntnisse und Kräfte kenne, welche kaum hinreichen, um die Dinge, welche von Anderen geleistet werden, wohl zu behalten, werde ich mich glücklich schätzen, denen nachzufolgen, welche ein dem Euren ähnliches Verlangen schon vor mir erfüllt haben. Jeder von Euch hat doch gewiß die hundert Novellen von Boccaccio gelesen, welche jüngst aus dem Italienischen ins Französische übersetzt worden sind, und von denen der sehr christliche König Franz, der Erste dieses Namens, der Dauphin und die Dauphine und Prinzeß Margarethe so viel Wesens gemacht haben, daß Boccaccio, wenn er in seinem Grabe davon gehört hätte, von diesen Lobeserhebungen wieder auferstanden wäre. Damals hörte ich die beiden obengenannten Damen mit mehreren anderen vom Hofe davon sprechen, etwas Aehnliches zu schreiben, nur mit dem Unterschiede, daß alle diese Erzählungen wirklich wahr sein sollten. Zuerst beschlossen diese Damen und der Dauphin mit ihnen, sich zu Zehnen zusammen zu thun und ein jedes zehn solcher Geschichten zu schreiben, dazu aber nur solche Leute zu wählen, welche sie für dessen würdig hielten, ausgenommen Studirte und Gelehrte; denn der Dauphin wollte nicht, daß sie ihre Kunst und Rhetorik hineinmischen, aus Furcht, daß sie deswegen der Wahrheit der Erzählungen Abbruch thun könnten. Doch die großen Beschäftigungen, welche dem König inzwischen oblagen, der Friedensschluß zwischen ihm und dem Könige von England, sowie verschiedene [11] andere wichtige Hofangelegenheiten und auch die Niederkunft der Dauphine ließen dieses Vorhaben in Vergessenheit gerathen; wir aber könnten es während unserer Muße ausführen, bis unsere Brücke fertig ist. Wenn es Euch also recht ist, können wir von Mittag bis Vesper in diese schönen Gefilde längs der Gave gehen, wo die Bäume so blätterreich sind, daß die Sonne den Schatten nicht durchdringen und die Kühle nicht verscheuchen kann; dort wollen wir es uns bequem machen, und jeder wird eine Geschichte erzählen, welche er selbst erlebt oder von einem glaubwürdigen Menschen gehört hat; nach zehn Tagen werden wir das Hundert zusammen haben. Und wenn Gott will, daß unser Werk dann würdig ist, vor die Augen der oben genannten Herren und Damen zu kommen, so wollen wir ihnen ein Geschenk damit machen, wenn unsere Reise beendet ist; ich versichere Euch, es wird ihnen angenehm sein. Wenn indessen Einer von Euch einen besseren Zeitvertreib weiß, so bequeme ich mich ihm an.« Aber die ganze Gesellschaft antwortete, daß man unmöglich etwas besseres finden könne und daß sie ungeduldig den nächsten Tag erwarteten, um anzufangen.

So verbrachten sie fröhlich diesen Tag, indem sie sich gegenseitig an Dinge erinnerten, welche sie erlebt hatten. Am nächsten Morgen gingen sie in das Gemach der Dame Oisille, welche sie schon bei der Andacht fanden, und nachdem sie eine gute Stunde ihre Vorlesung und dann die Messe angehört hatten, gingen sie um zehn Uhr speisen; danach zogen sich Alle in ihre Gemächer zurück und trafen sich mittags ihrer Verabredung gemäß auf der Wiese; es war dort so schön und anmuthig, daß es eines Boccaccio bedürfte, um es richtig zu beschreiben; aber es wird Euch genügen zu hören, daß es nie vorher dergleichen gab. Als die Versammlung sich auf das Gras gesetzt hatte, welches so weich und zart war, daß sie weder Kissen noch Teppiche brauchten, begann Simontault zu reden: »Wer von uns wird die Leitung über die Anderen übernehmen?« Hircan antwortete: »Da Ihr angefangen habt zu reden, ist es nur recht und billig, wenn Ihr nun auch die Führerschaft übernehmt, denn im Spiel sind wir alle gleich unter einander.« »Ich wollte wirklich«, sagte Simontault, »daß ich nichts besseres mehr auf der Welt erlebte, als allen aus dieser Gesellschaft befehlen zu können.« Parlamente [12] verstand den Sinn dieser Rede sehr wohl und fing an zu husten, damit Hircan die Röthe nicht bemerkte, welche ihr in die Wangen gestiegen war. Dieser sprach zu Simontault: »Erzählt uns nun eine hübsche Geschichte, wir werden Euch zuhören.« Simontault, von der ganzen Versammlung aufgefordert, sagte: »Meine Damen, ich bin für meine langen Liebesmühen so schlecht belohnt worden, daß ich, um mich an der zu rächen, welche so grausam gegen mich war, von schlimmen Streichen erzählen will, welche die Frauen den armen Männern gespielt haben, und ich will nichts als die lautere Wahrheit berichten.«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Navarra, Margarete von. Erzählungen. Der Heptameron. Vorwort. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-5F41-2