[3] Der Garten
...und von Stund an hieß sie Irmelin Rose.
Der riesenhafte blonde Gärtner mit einer Ahnung von Erdgeruch und ursprünglicher Poesie im Wesen und das kleine junge Weib freuten sich über den Zauber. Auf seinem Schoße lag das aufgeschlagene Buch. Sie saßen beide darüber hingebeugt. Ihre Gesichter trafen sich. Ihr Gehör folgte den entflatterten Reimen. Der Mann wurde milde wie ein großes Kind, sein mächtiger Körper zitterte und seine harte tiefe Stimme schmeichelte sich zum Gesang. Er sagte, und sagte es beteuernd, er wiederholte: Irmelin Rose!
Das kleine Weib lächelte. Die Augen, die blind waren vor Innerlichkeit, gingen über die Blumen des Gartens und kehrten wieder ins Innere zurück. Vielleicht hatte sie nichts von dem Gedichte verstanden, als eine Stimme, die in Gebeten zu ihr sprach. Sie lächelte wieder, sie griff sich mit beiden Händen unter die Schläfen und ordnete etwas, dort, wo ihr straffes braunes Haar zu Füllhörnern des Glücks geschlungen war. Und sie erzählte sich: Es war einmal eine kleine große Königin – Irmelin Rose!
Sie blickte über den Garten, sie blickte auf die[3] männliche Gestalt an ihrer Seite. Sie lächelte fort. Alles huldigte ihr!
Der Wind buhlte um die Blütenhälse. Die Kelche tanzten auf und nieder. Sie schneuzten sich in den Wind, daß die Pollen sprühten. Im Rosenhag reckten die Knospen die geklemmten Fäustchen, blutig, jung und keusch. Eine ehrwürdige Matrone nur vergaß sich. Im letzten Krampfe neigte sie den verblühten Leib. Blatt auf Blatt entsank ihrer Fülle, in ihrem welken bröseligen Schoße, der sich schamlos dem Sonnenlichte entgegenspreitete, funkelten die tauigen Edelsteine ihrer letzten Sehnsuchtsnächte. Es pflückte der Wind die Todestränen und entführte sie hinab in das junge Gras.
Das junge Weib lächelte und vergaß. Es vergaß seine Herkunft. Vergaß die verstellten engen Mauern der Armeleutewohnung, die fransigen Teppiche, auf denen es so lange Jahre der Jugend hingegangen war und von einem Garten geträumt hatte. Es vergaß das Geräusch der blechernen Schüsseln und den muffigen Geruch des ungelüfteten Zimmers. Es vergaß, wie es auf die natürlichste Weise von der Welt in diesen Garten gekommen war. Seine Augen waren so wechselnd wie das Meer, wenn der Tageszeiten Lauf die Lichter versetzt. Nur die winzig goldenen Flammenzungen darin waren und blieben eingefroren. Nun, war sie nicht eine Königin?
Irmelin hieß sie: Und, Irmelin, trug sie dennoch eine wirkliche Matrosenbluse. Der fußfreie einfache Rock hielt sich mühelos an der leichten Fülle ihrer kleinen Gestalt. Ihre Kleidung war wie die letzte Entfaltung ihres schmackhaften Körpers. Ihr Anblick [4] war so wohltuend wie die glatte Berührung eines gesunden Mandelkernes. Nun, war sie nicht eine kleine Königin?
Der Garten war nicht groß, aber er schien unendlich in seinem Reichtum. Ringsherum führte ein Lattenzaun. Die Leute draußen kamen und gingen. Sie waren so ferne. Aber hin und wieder reckten sie sich doch die Hälse aus und durchspähten den Garten, bis sie das angenehme Köpfchen entdeckt hatten. Das Köpfchen, mit dem geteilten nußbraunen Haarmantel, der ganz dicht lag, und dem schnurgeraden Scheitel quer darüber, dessen weiße Haut schimmerte wie eine silberne Narbe. Das Köpfchen hob sich. Dann waren die Augen blind und öffneten sich nach innen und wen sie trafen, dem saugten sie die Seele aus. Aber die wohlgerundeten Brauen knickten plötzlich an den Winkeln ein.
Der Dichter ging vorbei. Sein goldbrauner Sammtanzug saß zu eng, überall rührte sich darunter das aufgeschwemmte Fleisch. An den Waden trug er geknöpfte Stoffgamaschen. Es konnte möglicherweise einen Radfahrer bedeuten, aber dazu waren die Dinge in ihrer Neuheit und Eleganz zu malerisch. Den Hut hielt er in der linken Hand, um seinen arbeitsamen Kopf der Sonne preiszugeben. In der Rechten schwang er ein dünnes Stöckchen. Seine hechtfarbenen Augen lasen Wort um Wort vom Boden auf.
Als er bei den Rosen vorüberkam, schlug er mit seinem Stöckchen gedankenvoll drauflos, daß die Blätter flogen. Eine weibliche Stimme störte ihn auf. Halloh rief es, was treiben Sie denn da?
[5] Ich? frug der Dichter. Ich? Meinen Sie mich? Oh, ich mache ein Gedicht über die Rosen!
Über die Rosen? lächelte Irmelin Rose ungläubig. Ja, was haben Sie da nun angerichtet? Zerstören denn die Dichter das immer, worüber sie dichten?
Der Dichter verwandelte sein blödes Gesicht. Es wurde nahezu geistreich. Jawohl, sagte er nachdenklich, das kann schon so sein, ei freilich, das wird wohl schon so sein.
Soso, machte Irmelin Rose. So, dann mag ich aber keinen Dichter leiden.
Der Dichter setzte in aller Verzweiflung seinen Hut auf und marschierte ab. Das Rosenblatt aber, das auf den Weg draußen vorm Zaun gefallen war, nahm er mit.
Irmelin Rose stand am Kiesweg und ihre Augen flüchteten wieder zurück. Es mußte doch immer und ewig die kleine Königin sein, die sie dort erblickten, in ihrem Glanz und ihren Hulden. Auf warmblauem Grunde froren winzig goldene Flammenzungen. Irmelin Rose befragte ihre Sehnsucht. Nein, der Dichter war es nicht. Es war eine unklare Gestalt männlichen Geschlechtes, sie hatte kein Gesicht und keine Hände, kaum einen Leib, sondern alles an ihr war Wirkung. Ihre Wirkung aber war gedeihlich und in die Süßigkeit von Lust und Harm getaucht. Nein, dachte Irmelin, so gut es ging, der Dichter ist es nicht.
Trotzdem, der Dichter hatte sich den Weg in den Kopf gesetzt. Wenn er vorüber ging, sagte er nichts, er nahm zum Gruße nur eine Rose mit. Er war bescheiden und wählte die welke. Irmelin Rose hob den Kopf. [6] Die gewölbten Augenbrauen waren in den Winkeln geknickt.
Der Student und der Dichter trafen zusammen. Der Student hatte seinen Lodenhut im Nacken hängen, auch trug er enge Beinkleider und einen schweren Stock, mit einem Rehsproß als Knauf. Während er ging, zog er unaufhörlich Hiebe aus dem Handgelenke. Er war groß und mager, in den Schultern bäumte sich sein letztes athletisches Ideal. Die glatte Backe vervollkommnete ein säuberlicher Schmiß. Hinter dem randlosen Zwicker, der in unheimlicher Weise mit dem Nasenrücken verwachsen schien, waren ein Paar aufgeweckter Augen auf fortwährender Reise begriffen. Er ging mit dem Kopf voraus, wahrscheinlich immer durch eine Wand hindurch.
Irmelin Rose sah auf. Der Student hatte einen Scheitel entdeckt, der schimmerte hell wie eine silberne Narbe. Er näherte sich dem Zaun. Der Dichter bückte sich nach einem Rosenkelch, an dem hingen noch drei knorpelige Rosenblätter. Als er sich aufrichtete, traf er auf die Augen des Studenten, die hinter den Gläsern hervoreilten, und ihn mit der Kraft des Hasses fingen. Einen Augenblick lang verknoteten sich die beiden Willen, dann fielen sie schlaff zurück. Es ist nicht genau erwiesen, wer zuerst weggesehen hat. Beinahe gleichzeitig stoben ihre Augen auseinander. Es war noch immer früh genug, daß sie den unauffälligen Winkel zu ihrer Richtung einschlugen und sie kamen auch richtig glatt aneinander vorbei. Der Dichter nestelte an dem traurigen Überbleibsel seiner Rose. Der Student hob seinen Hut ab, von hinten in weitem Bogen nach vorne, und klebte ihn [7] nachdrücklichst wieder an den Hinterschädel. Dabei hieb er die Hacken zusammen.
Er sagte: Guten Tag, Fräulein! Er war dreist aus Schüchternheit.
Irmelin Rose horchte auf. Fräulein! Der Garten wurde plötzlich eng, jenseits des Bretterzaunes war ja auch eine Welt, die begann bunt zu werden und zu locken. Es war eine Welt voll Glanz und Rührigkeit. Es gab dort eine große Menge proprer Herren, die zogen den Hut, verbeugten sich tief und sagten: Küß die Hand, Fräulein. Fräulein Anna, so sagten sie. Es gab große lebhafte Straßen, es roch nach Menschen und immer nach Kohlenstaub, also nach Ferne, nach Reise und Wechsel, denn man dachte dabei stets an eine Lokomotive. Die Leute taten stets so, als wäre gerade etwas Besonderes im Gange, die Erwartung fieberte von jetzt auf gleich und nicht bloß von heute auf übermorgen oder noch später. Man durfte angenehm wichtig tun. Trug stets den süßen Zwang herum, den Anschein von irgend etwas zu erwecken. Überhaupt, der Schein, das Angehen, das war das Wunderschöne an der Sache. Man bekam sich zu fühlen, die eigene Bedeutung machte ein glückliches Gesicht. Irmelin Rose spürte einen schalen Geschmack im Munde, eine Art Hunger. Ein Überschuß von Kraft plagte sie plötzlich. Ihre Sehnsucht sprach in Bildern. Ihr Gehirn stak voll Geberden und Gefühlen. Sie erinnerte sich gleichsam an leere Stellen im Raume, die ausgefüllt sein wollten. Das war ihre Art zu denken.
Irmelin sah auf den Studenten. Sie sah nicht eigentlich die hartklugen Augen und den vertieften Schmiß[8] an der Wange, der die übrigen Züge so reinlich anmuten ließ. Sie urteilte nicht eigentlich über den kompakten Zusammenhang zwischen Gelenk und Hand, als er den morschen Pfahl beim Anfassen zerbrach. Auch über diese stets beherrschten Schultern gab sie sich keine Rechenschaft, noch weniger aber über den vielleicht ungesunden Rücken, der ein wenig krumm war, jedoch selten ausdrucksvoll erschien. Sie hatte nur für das Vertrauen Empfindung, das die Gestalt erweckte. Der ganze Mensch strömte eine Vorstellung von Sicherheit aus. Seine Anwesenheit war die eines männlichen Wesens von unbestimmtem Äußern. In ihrer Sehnsucht nach ihm sah sie einen Kopf vor sich, der ein wohliges Gefühl von Liebe in ihr hervorrief. An allen Teilen ihres entfaltungsreichen Körpers begann es zu sprossen. Aber der Kopf mochte Locken tragen, blonde oder schwarze, oder eine Glatze zeigen, die Brust, an die sie sich drückte, mochte schmächtig sein oder gewölbt, der Rücken, den sie zu umfassen träumte, mochte ihrer Zärtlichkeit einen Höcker darbieten, sie wußte nichts Bestimmtes von alledem, sie unterlag nur einer Wirkung, einem unmittelbaren Kraftgebote hinter der Form. Die Wirkung aber, die sie brauchte, machte sie gedeihen und barg alle Süßigkeit von Lust und Harm.
– – – und was machen Sie nun die ganze Zeit, Fräulein? sagte der Student in einem Tonfalle, als habe er bereits die Weile her eine Rede gehalten. Er fühlte sich als alter Bekannter. – Ah, Sie sind also die kleine Königin, die in dem Garten gefangen sitzt! Man hört so oft von Ihnen sprechen!
[9] Irmelin Rose seufzte. Ach Gott, ja, hier ist es recht langweilig!
Das Stück Welt, das von außerhalb des Gartenzaunes auf sie einsprach, störte den ausgeschlafenen Wunsch in ihr wach. Es war, als sprängen verrostete Angeln auf und sie träte hinaus in den köstlichen Zwang einer neuen Freiheit. Ja doch, wozu war man eine Königin, wenn man in einem Garten gefangen gehalten wurde? Es gab so viel zu tun. Bedenkenlos schob sie alles zurück. Der Garten verschwand in einer eigens dazu vorhandenen Versenkung. Der Garten war eine Lüge an ihrem Leben. Der Duft seiner Blumen, seine innige Ruhe, ihr Königinnentum. Sie war wieder das Proletarierkind und spielte auf der Straße. War es, bevor der blonde Gärtnersmann erschien und das kleine schöne Mädchen mitnahm, um es zu seinem Weibe zu erziehen. Eine Menge Dinge fielen ihr ein, in die man seine kleinen Hände und seine kleine Macht mischen konnte. Blitzschnell tauchte es auf und nieder. Sie hatte ein hastiges Bedürfnis sofort zu handeln. So vieles wartete auf sie, ganz Unaufschiebbares. Die Menge der Gesichter war groß, man schwamm obenauf, man ward von einem Strom fortgerissen. Der Lebensdrang überstürzte sich. Hunger griff nach dem Besitz von eitlen Dingen. Da war eine Empfindung von Mannigfaltigkeit in ihr. Sie zitterte vor Sammelwut. In den Kaumuskeln zog es, als hätte sie sie lange Zeit untätig gelassen. Ein blonder riesiger Mann stand im Wege. Unter der Herzgrube lag einen Augenblick lang etwas Flaumweiches, etwas wie ein erwärmtes Kissen, das bis in die Zehen-und Fingerspitzen [10] vorstach. Sie flüchtete darüber weg, blindlings, sie wandte den Kopf nicht zurück und ließ sich aus voller Laune heraus die Zügel schießen. Sie hatte eine ganz tatsächliche, aber ungedeutete Wahrnehmung von Flucht, von Hintersichwerfen. Sie erhitzte sich daran zu einem Rausch von Tun und Lassen, von Selbstliebe und beifälligem Trotze. Sie war ja keine Königin. Sie hieß auch nicht Irmelin sondern einfach Anna. In der Küche daheim warteten die schmutzigen Teller. Die Mutter schalt. Sie duckte sich unter dem Schlage. Das Flammenmal auf der Wange brannte, sie schluchzte aus Scham und Demut und Wollust. Sie lief die Straßen entlang und blieb vor allen Auslagen stehen. Kaufte nütze und unnütze Dinge. Es gab ein Wiedersehen mit der roten Korallenkette, die so gut zu ihren Haaren paßte. Sie kaufte sie, irgendwoher war plötzlich das Geld da. Sie trug sie nicht. Nur im Kästchen sollte es daheim liegen. Abends trat sie damit vor den Spiegel – sie war schön. Vielleicht nahm sie die Korallen doch einmal mit hinaus auf die Straße, oder in ein Restaurant, damit die armen Korallen zu ihrem Rechte kämen. Zum Beispiel, einmal würde sie neben einem Studenten sitzen, im beleuchteten Saal. Die Anwesenheit des Dichters war wünschenswert. Er hätte vielleicht eine sympathische Bemerkung fallen lassen, oder ein Gedicht gemacht. Ein großer blonder Mensch mit breiten Schultern war auch da. Es entlastete, sich unter seiner Obhut zu wissen. Überhaupt, alle kamen sie zusammen. Das Leben erhielt erst so recht seinen Sinn – – –
Irmelin war voll Eifers wie ein überfließendes Gefäß. [11] Sie machte ein paar Schritte den Zaun entlang. Der Student blieb mit ihr in gleicher Linie.
Irmelin Rose! Irmelin Rose trug den Duft von Blumen an ihrem königlichen Leibe. Sie wiegte sich beim Gehen in den Hüften, man mutmaßte, sie bewege sich unausgesetzt nach dem Takte einer inneren Musik. Der Student frug: Was tun Sie also immer, Fräulein? Was war das für eine Frage? Man sah ja, was Irmelin tat. Sie ging nicht, sie lief nicht, nein, sie lebte nicht einmal, sie wandelte. Jawohl, Irmelin wandelte in einem Blumengarten. Das eben war Irmelin Rose.
Was hatte der Student für eine Frage gestellt? Fräulein! hatte er gesagt. Irmelin Rose faßte sich ein Herz und sagte: Ich heiße Anna. Sie hoffte, nun würde er den Namen laut aussprechen. O, sagte er, das freut mich sehr. Nein, wirklich, dann heißen Sie also Anna, Fräulein Anna? Er zückte allen Ernstes seine Brieftasche und steckte ihr eine Visitkarte üben den Zaun. Dabei verbeugte er sich und hieb die Hacken zusammen. Ein Wunder, daß die Stiefelabsätze nicht kaput gingen. Irmelin nahm die Karte und tastete an ihrem Rocke herum. Da sie jedoch keine Tasche fand, ließ sie die Karte kurzweg in den Ärmel ihrer Matrosenbluse verschwinden, der ihr dünnes Handgelenk umklammerte. Sie gingen die Seite des Gartens ab, sie drinnen, er draußen. An der Ecke kehrten sie um. Das taten sie ein paarmal.
Irmelin Rose wandelte, das mußte allen auffallen. Sie war ja gar nichts anderes als eine wandelnde Blume. Aber sie hieß Anna, und sie war im Besitze eines bürgerlichen Taufscheins. Das bedeutete auf alle Fälle eine [12] Zweideutigkeit des Schicksals. Es handelte sich darum, wie würde Irmelin Rose darüber hinwegkommen? Aber sie kam darüber weg. Sie warf alles hinter sich, mit einem Schlage, so federleicht wog es, genau wie sie selber – denn in Wirklichkeit war sie vielleicht doch nur eine wandelnde Blume. Gott! wie vernünftig sie war! Sie sah es ganz gut ein, man konnte nicht ewig eine kleine Königin bleiben. Obwohl das nahe lag. Es gab einige ganz seltsame Sachen – ob die anderen Menschen auch davon wußten? Aber jedenfalls war es gut, daß man Anna hieß. Es war ein vielversprechendes Gefühl, im Besitze eines bürgerlichen Taufscheines zu sein. Wie schrecklich, wenn man ewig eine Königin bleiben müßte – –
Was war denn in Irmelin gefahren? Das Andere. Die ewige Möglichkeit. Irmelin Rose wollte jetzt das Andere. Das Andere war allemal sie. Sie sammelte, sammelte: sich. Da war ihre Schatulle. – Das ist verdächtig. Sammelte sie vielleicht bloß für die? War das ihr Geheimnis? – Sollte sie gleich hinauflaufen ... nein, doch jetzt nicht, man mußte mit den Genüssen sparen. Abends, wenn die Kerze im Zimmerchen brannte, war es um so heimlicher – –
Das Andere, das war früher ein Garten gewesen und ein Prinzessinnentum. Eine blonde Männlichkeit; die Verwöhnung von seiten einer herrischen Zärtlichkeit. Jetzt war das Andere eine lebenschwärmende Stadt und ein Kreis von Gesichtern. In der runden Mannigfaltigkeit des Geschlechtes zählte dann auch der Minderwertige und Unwirksame. Die Anderen waren der Vorzug des Einzelnen. Irgend etwas Nahrhaftes lag in der Luft. Die Vielen [13] gaben die eine unpersönliche Wirkung. Man gedieh. Man fühlte die Kräfte wachsen. Ein Sprungnetz von anerkennenden Blicken war ringsum ausgebreitet und man konnte alles riskieren. Das war diesmal das Andere.
In Irmelin war eine Inbrunst zu geben und eine Hamstersehnsucht, zu nehmen, zusammenzuraffen. Sie brannte darauf, einzuheimsen. Blicke, Sehnsuchten, Wünsche, Dienen und Herrschen. Irmelin Rose wußte es ja nicht und keiner wußte es. Irmelin Rose war eine junge unerschlossene Mutter. Von aller Welt mußte sie sich bestätigen lassen, daß sie dazu da war, von aller Welt Mutter werden zu können.
– – – die Schatulle war ein wichtiges Ding. Ganz voll war sie schon. Was da noch kommen würde? Hm, vielleicht mußte man schon eine zweite haben. Auch die konnte bald voll werden. Ja, es war geradezu eine persönliche Verpflichtung, daß sie es wurde. Nun eben, es blieb nichts anderes übrig, als schleunigst nach der Stadt zu gehen ... Der Kohlenstoff war irgendein Produkt, das war ungemein lehrreich. Freilich, das war viel gesünder. Die Schatulle würde alles absorbieren – sie würde bis obenhin voll sein – mit saurem Stickstoff, das mußte man sich merken. Jawohl, nein, ja, ja, dort hinten wohne sie – – –
Irmelin zeigte mit der Hand nach dem seitwärts liegenden Gartenende. Dort stand das Haus mit drei Seiten im Garten. Die zwei rechten Fenster, in den Garten heraus, seien Irmelins Zimmerchen. Irmelin war auch in die Schule gegangen. Man mußte doch etwas antworten. Sie sagte also: Das meine ich auch, [14] der Sauerstoff, den die Pflanzen abs – abs – der kann doch nicht gesund sein!
Der Student horchte auf die schluckende Stimme. Er sah hin auf den roten, altklug tuenden Mund. Aber Irmelins Augen blieben so blau und blind, daß sie die abgeschmackte Weisheit des Mundes Lügen straften. Der Student, in dem bedrohlichen Gefühl, es handle sich um eine Auktion von Kenntnissen, beeilte sich zu betonen:
Sauerstoff, sehr richtig, Sauerstoff, den die Blüten bei Nacht ausatmen, ist gefährlich. Darauf entstand eine kleine Pause. Plötzlich wurde der Student rot, an der Stirn und an den Schläfen. Deutlich rot. Er machte ein Gesicht, als hätte er sich in die Wangen gebissen.
Nein, schrie er, beinahe aufgeregt, so daß Irmelin Rose erschrak, nein! Kohlenstoff! Sie haben mich ganz wirr gemacht, Fräulein. Ich habe ja schon gesagt, Sauerstoff ist das, was absorbiert wird. Wenn ich nicht irre, sprachen Sie von Sauerstoff? Nicht wahr? Kohlenstoff! meine Liebe. Also, sehen Sie, es muß heißen: Kohlenstoff! Das ist natürlich ein doppelter Prozeß. Passen Sie auf, ich werde es ganz genau erklären. Die Assimilation ...
Der Student schwelgte in einer Rolle Wissenschaft. Er verrenkte die Augen, er krähte förmlich in seiner Hahnenweisheit. Da geschah die Veränderung. Irmelin Rose erschrak erst, dann lächelte sie, endlich wurde sie ärgerlich. Die weitgeschwungenen Sicheln der Augenbrauen waren in den Winkeln geknickt. Es ward ihr flau zumute. Sie besah sich den Studenten überm Gartenzaun. Alles war weg. Was wollte dieser lange lächerliche [15] Mensch von ihr? Seine Schultern waren nicht ganz geheuer. Überhaupt, er hielt sich krumm. Seine Gescheutheit war plump und dumm. Die Augen hinter den scharfen Gläsern schienen klein und stechend.
Jetzt muß ich wohl gehen, sagte Irmelin Rose und ging davon. Sie sagte noch »Adieu«, fertigte ihn ab. Der Student unterbrach sich bei der Assimilation. Er schnupperte vor sich hin, zum ersten Male griff er nervös nach seinem Zwicker und richtete etwas an der Lage. Küß die Hand, Fräulein Anna, rief er ihr nach. Wann kann ich Sie wieder sprechen? Irmelin Rose kehrte sich ein ganz klein wenig um, ohne hinzusehen und zuckte schweigend mit den Achseln. Sie stand fünf Schritte vom Zaun entfernt, ganz in der Nähe vom Rosenhag. Ein Rosenblatt brach ab und ließ sich auf ihr Köpfchen nieder. Es entging ihr. Das Blatt war blaß, wie eine kleine Muschel gehöhlt und endete in einem weißlichfleischigen Kolben. Den Studenten, der das mitansah, befiel eine krankhafte Sehnsucht nach diesem braunen straffbehaarten Köpfchen mit der silbernen Narbe und dem rosigen Krönchen darauf. In diesem Momente war es todsicher, daß der Student den Anblick nie mehr in seinem Leben aus dem Gedächtnisse bringen würde.
Am nächsten Tage saß Irmelin wieder hinter dem Gartenzaun und las in einem Buche. Kamen da Arm in Arm der Student und der Dichter daher und blieben ohne Absicht gerade vor dem Garten stehen. Irmelin Rose sah und hörte nichts. Darum grüßten die beiden auch nicht. Aber ihre Hände waren sprungbereit, nach dem Hute zu fahren, der beim Dichter dazumal ganz[16] speziell am Kopfe saß. Sie sprachen so laut, daß ihre Worte jenseits des Gartenzaunes hätten verstanden werden können, so unvorsichtig waren die beiden. – Fatal, wenn das der Fall gewesen wäre! – Vorausgesetzt, daß jemand da war, der sich dafür interessiert hätte. Aber das war, wie gesagt, nicht der Fall. Der Student erzählte von einem Sonett, das er gedichtet hätte, und von einem »Blumenkrönchen auf dem straffbehaarten Köpfchen«, das darin vorkomme. Daneben zerbrach er sich den Kopf, ob es ein poetischer Gedanke wäre, von »goldigen Beistrichen in eines Auges blauem Rund« – er zielte nämlich auf die malerische Präzisierung irgendeiner Laune des Farbenspiels der Iris ab – zu sprechen. Der Dichter hingegen fuhr ihm immerwährend dazwischen. Er gab eine zynisch-materialistische Anschauung über die Liebe zum besten und sprach von einem ruinösen Wirken. Nachdem sie ritterlich oder blasphemisch ihrer Rache genug getan zu haben glaubten, zogen sie beide befriedigt und in einträchtigem Streite wieder ab.
So lebte Irmelin Rose. Was war sie nicht alles? Sie war ein Kind, ein Weib, eine Königin und ein alltäglicher Gedanke und ein Mütterchen. Sie wandelte. Sie ging auf den Kieswegen oder trieb sich am Rasen unter den Obstbäumen umher. Die gepflegte Erde war ein wenig feucht und sie spielte mit Irmelins Fuße, der trotz der kommoden Schuhe noch immer klein war, sie umklammerte die Sohlen mit einer gelinden Liebkosung wie eine neckische Hand. Irmelin stand eine Stunde davor und betrachtete angelegentlich das Konterfei dieser ihrer untersten Seite. Morgens, wenn der Tag noch [17] ein silberner Spiegel war für die Welt, kam sie mit nackten Füßen vorsichtig aus ihrem Kämmerchen geschlichen. Die Steinchen schmerzten und die borstigen Halme kitzelten sie an den Zehen, aber auf der feinen Haut der Fußbuchtung konnte sie erst recht nicht gehen. So stelzte sie also, so schnell es ging, auf den abgehärteten Fersen, bis sie ins weiche Gras kam. Das Näschen legte sich in krause Falten und die Augen waren hart vor Bläue. Sie befühlte das niedliche Hühnerauge am Linken, es war so allerliebst und tat ein bissel angenehm weh. Des Mittags, wenn es heiß war, lag Irmelin in der Hängematte in der Weinlaube. Der Wind klappte die großen Weinblätter um, ein paar Scheffel Blendgold fielen in die gründunkelnde Kiste. Denn Irmelin machte sich klein und behauptete todestraurig vor sich, sie wäre eine winzige Froschkönigin am Grunde einer tiefen Kiste, die nie, nie wieder sich auftun sollte. Mittlerweile summten die Bienen und kamen oft beängstigend nahe an den Maschen der Hängematte vorbei. Eine fette Brummfliege wütete und klatschte gegen ein Weinblatt, polterte gegen das Holz. Da lag Irmelin und träumte. Sie hatte stets eine kleine Sehnsucht. Die altitalienische Prinzessin von der Ansichtskarte hatte ein so feines Gesicht und einen so schmalen langen Hals. Sie sah immer geradeaus, kehrte einem dieselbe glatte Gesichtsseite zu, ohne je einen Muskel zu rühren. Warum lächelte sie gar nicht? Hatte sie in Wirklichkeit auch nicht gelächelt? Wenn andere Mädchen photographiert werden, so lachen sie immer. Wenn sie sich doch bewegt hätte! Hm, ganz sonderbar hätte das werden müssen. Unerträglich war [18] es, sie so anzusehn und nicht mit ihr sprechen zu können. Man sollte doch wahrhaftig eine Freundin haben! Das gehörte einmal dazu, daß man eine Freundin hatte! Man könnte so gut miteinander sein. Es gab Dinge, damit konnte man sich nur vor einer Freundin ein bißchen großmachen. Überaus interessant war es auch, was sie für ein Gehenke im Haar trug. Es waren Riemen aus rotem weichem Leder, und goldene Litzen und funkelnde Rauten waren aufgenäht. Warum trug das heute niemand mehr? Es war zu verwundern. So merkwürdig war es, beinahe gar nicht auszuhalten. Man mußte immer daran denken. So angenehm war es, daran zu denken.
Irmelin merkte nie, was um sie herum war, das war das Eigentümliche an ihr, sie merkte stets nur das, was nicht da war. Abends begann der Himmel silbern aufzublühen, und Irmelin seufzte. Sie lehnte sich vertrauensvoll an eine männliche Schulter, fühlte ein blondes Kinn an ihrer Stirne, sie begrub ihr Köpfchen in einer großen milden gütigen Hand – – – Das war die Hauptsache an ihrem ganzen Leben. Aber Irmelin merkte immer nichts, und nur das, was nicht da war. Wenn sie sich recht auf ihr Dasein besinnen wollte, so spürte sie einen Geruch von Männlichkeit um sich, das war alles. Erde, Tabak, ein Geruch nach männlicher Haut und männlichem Haar und der leise Duft von Samenstäubchen, die sich im Haupt- und Barthaar festgesetzt hatten. Das war der große blonde Gärtnersmann, der sie seit Monat und Tag von der Stadt weggeholt hatte, um sie zu seinem Weibe zu machen.
Die ganze Zeit her war es schön gewesen. Nachmittags [19] begann es zu regnen. Der Garten sah vergrämt und verschwollen aus. Auf den Kieswegen schlängelten sich kleine Sandbänke und die glatten Beete standen voller Gruben und Hügel. Wie einsam war das Leben in diesem Garten! Irmelin saß am Fenster, sah auf die gedemütigten Blumen herab und weinte. Alles war so kläglich. Der Gärtner kam mit seinen schweren Stiefeln ins Zimmer. Er polterte ein wenig. Irmelin schrak auf, nachdem es schon längst vorbei war. Blitzschnell überlegte sie, daß das wohl so zu erfolgen hätte, denn die Stille und der Schmerz würden verscheucht werden. Eine ganz zeitlose kleine Unduldsamkeit gegen jeden Zweiten und besonders gegen diesen Zweiten fand schleunigst Muße zu verweilen und wieder zu verschwinden. Der Gärtner lächelte, sein blonder feuchter Kinnbart dampfte. Wie er ins Zimmer trat, verbreitete er etwas Freudiges, Nahrhaftes um sich. Grüß Gott, Irmelin, sagte er. Irmelin lief ihm entgegen, er hob sie in die Höhe wie ein kleines Kind. Seine Schultern waren breit und fest wie Muskelbolzen, aber Irmelins kleiner Arm ging beinahe um seine Hüften. Er zog die Stiefel aus und legte sich mit den Socken auf das Sofa, das ihm viel zu kurz war. Irmelin pochte zum Scherz an die Rippen, hinter denen es wie aus einem Gewölbe klang, und tanzte mit der forciert atmenden Brust auf und nieder. Großer, Blonder, sagte sie, versprich etwas!
So, schon wieder! Und er heuchelte ein ängstliches Gesicht. Du Nimmersatt! Du liest ja viel zu schnell! Du mußt eben noch einmal von vorne beginnen!
Ach nein, zögerte Irmelin, 's ist etwas Andres. Na[20] du, drohte der Gärtner, halb im Scherz, halb in ahnungsvollem Ernste. Irmelin war sonst nicht ängstlich im Wünschen.
Hier regnet es immer, bereitete sie vor. Da lachte er gerade heraus. Sie sah ihn verzweifelt an, die Tränen kamen ihr in die Augen. Da lachte er nicht mehr. Er nahm ihre Hände, er begrub sie in seiner mächtigen Faust, die von dem heiklen Dienst der Rosenedlinge und der zarten Bastfäden gebändigt war. Er erschrak ernstlich. Du willst in die Stadt? frug er endlich.
Irmelin sagte voller Schauer über ihre Schrecklichkeit: Ja! einfach ja! es hinten im Gaumen hervorhauchend, die vermessene Schwere des Augenblicks verlangte es. Sie legte ihm die Hand an die flaumige Wange und senkte die Augen, denn sie bangte voll süßen Grauens vor der Fühlbarkeit der Übermacht, die sie in ihm beschworen haben mußte. Sie fühlte sich süß zerbrechlich unter seinem Blicke.
Da schlug sie verwundert die Augen auf. Des Riesen Stimme klang verzagt. Er sagte: Irmelinchen, Prinzeßchen, kleine Königin, warum willst du das tun? Die Stadt ist nichts für Leute wie dich und mich. Wir gehören zum Garten und zu den Blumen, zu den Rosen, Irmelin Rose, Irmelin Röschen – die Stadt wird dich verderben.
Irmelins Augenbrauen waren bitterböse geknickt. Nein, diese blauen Augen, die wie ein Strahlentrichter nach innen gingen, immerfort nach innen, konnten nie etwas Anderes sehen als eine kleine Königin. Diese Augen waren prallend blau. Winzig goldene Flammenzungen [21] waren darin erstarrt. Der blonde Mann versuchte hineinzusehen, versuchte ein blondes Mannesgesicht dann zu erkennen. Das war vergebliche Mühe. Irmelin ließ sich hochmütig vernehmen: Aber ich bin doch ein Stadtkind! Ich will doch nicht ewig in einem dummen Garten wohnen.
Der Gärtner zog wieder die schweren Stiefel an. Im Garten drunten ging er auf und ab. Es hatte aufgehört zu regnen. Er schüttelte den Kopf, während er ging. Aus Gewohnheit trat er zu den Blumen, richtete sie auf, die von dem Regen niedergetreten dalagen, und schob mit dem Stiefel eine Erdscholle zurecht. Wie schön doch der Garten war! Ein junger seimiger Geruch stieg auf. Der Himmel gleißte blaßblau, die Wölkchen waren Riesenreptile mit silbernen Schuppen. Über der Hügelkette lagen drei rotdurchglühte Lachen mit gebrochenem Goldsaum, intensiv wie ein erstarrter Zickzackblitz. Der Gärtner lauschte in das Fallen der Tropfen. Ein Heer von Tropfen war auf dem Marsche. Friedsam, reifend, säugend, zärtlich lag der Garten. Das war das Leben. Und die Stadt?
Er stampfte auf, aus Zorn; um das Schreckgespenst zu bannen. Gerade über seinem Haupte sah er deutlich die Speichen eines Wagenrades herabkommen. Als kleiner Junge war er das erstemal in der Stadt gewesen ...
Es blieb ein tiefes Loch von seinem Absatze in der Erde zurück. So stark war er. Irmelin oben am Fenster erschauerte. Sie fühlte eine interessante Beziehung zu dem Märchen von der Prinzessin, die von dem [22] Untier gefangengehalten wurde. Wie kam es, daß er sie noch nie erdrückt hatte? Diese ungerechtfertigte Gunst des Schicksals verstimmte beinahe. Es gelüstete sie, bedauert zu werden.
Der Abend war schwül. Die Erde dampfte. Der Mond glotzte wie ein blutig rotes Auge. Irmelin ging an Blumen vorbei. Sie machten abenteuerliche Gesichter, zwinkerten aus halbgeschlossenen Lidern und schreckten Irmelin. Unversehens strichen sie ihr über die Hand und ließen einen feuchten Kuß zurück. Dort wo die ägyptischen Sumpfblumen üppig standen, huschte Irmelin vorüber, versucherisch, das Grauen herausfordernd, das sie ihr einflößten. Was war an diesen Blumen? Woran erinnerten sie? Irmelin sträubte sich, aber es zog sie hin, trotz der Beklemmung im Schlunde. Manchmal dachte sie an den Dämon aus dem Märchen, an eine zottelige penetrante Umarmung. In wächsernen Düten sammelten die Blumen das Mondlicht; die gelben fetten Stempel züngelten lüstern und krümmten sich über den Rand, sich abscheulich verdünnend, wie ein langer lasterhafter Finger. Im Röhricht schnarrten die Frösche im Chor. Eine Unke sang. Der Boden röchelte und gurgelte. Die Erde schmatzte. In der Ecke bei dem alten steinverfallenen Keller, wo die Obstbäume dicht standen, kicherte ein Käuzchen.
Auf der Bank vor dem Hause saß der Gärtner. Irmelin setzte sich auf seinen Schoß. Sie nahm ihn um das breite Handgelenk. Die kleinen Finger langten nicht aus. Unter dem Schutze dieser Hand war sie geborgen. Irmelin gab sich keine Rechenschaft von den[23] Kräften, die in sie überströmten. Sie tat jedem einzelnen Finger lieb. Liebkosung war ihre natürliche Gedankenlosigkeit. Im nächsten Augenblick besann sie sich, um etwas Liebes tun zu wollen, aber jetzt, da sie es beabsichtigte, gelang es nicht. Es blieb ein Zwischenraum in ihr, den sie vergrößerte, von Pause zu Pause, die sie sich gab. Schließlich langte sie mit den Händen unter die Schläfen, wo die Haare zu Füllhörnern des Glücks aufgerollt lagen, und befestigte etwas. Dunkeläugig und mit gebeugtem Köpfchen sah sie unter den Brauen hinweg ins Ferne. Da wurde sie lebhaft.
Großer, schmeichelte sie. Ihre Hand kam wieder um das männliche Gelenk. Der Gärtner beugte sich vor und strich mit seinen Lippen über ihr feines straffes Haar. Irmelin merkte es beinahe nicht, aber ihre Haut und ihr Fleisch gediehen. Den Gärtnersmann sengte es im Herzen. Er sagte: ja! ja! und unterdrückte eine wehe Beklommenheit. In der Ecke beim verfallenen Steinkeller, wo die schweren Bäume sich drängten, kicherte ein Käuzchen. Aus der Erde kam ein Gurgeln. Die Frösche schnarrten und die Unke sang. Wie rund Irmelins Köpfchen war!
Also, gehen wir? drängte Irmelin.
Irmelin! bat der große blonde Mann. Da wurde Irmelin traurig und verfiel. Das konnte der Mann nicht mit ansehen. Er räusperte sich, als Vorbereitung zu einem Entschlusse. Es war aber gar nicht seine heisere Stimme, sein Gemüt war gleichsam heiser und er wollte es befreien. Er räusperte sich also und sagte plötzlich hart: Also gut, Irmelin Rose. Nächste Woche fahren [24] wir in die Stadt! Alles wurde klar vor diesem Worte. Es war wie ein fanatischer Besen, der in das aufregende, blutdürstige, dämonische Spinnwebennetz fuhr, und der gesunde weiße Mörtel kam zum Vorschein. Recht laut ging es doch heute im Garten zu! Was die Frösche für einen Spektakel machten, denen tat die Pfützerei wohl. Richtig, jetzt hatte er wieder vergessen, in der Ecke bei dem alten Steinkeller die Falle zu stellen. – Aber das sollte nun schon alles aufgehoben werden, bis man von der Stadt zurückkam. Es war doch eigentlich ein prächtiger Einfall von Irmelin, daß sie nun nach der Stadt gingen. Selbstverständlich nur auf ein paar Tage. Man konnte sich jetzt schon auf das Wiedersehen mit dem Garten freuen. Wirklich, es war herrlich, in die Stadt zu gehen, mit dem Garten als Rückhalt. Es geschah ja gleichsam ihm zuliebe – wer weiß, was man alles profitieren konnte. Rein lächerlich, diese grundlose Beklemmung vor der Stadt – – –
Schwarzverhangen war für Irmelin die Erfüllung. Sie hatte verzagt aufgesehen. Seine Worte hatten unversöhnlich nachgegeben. Aber sie hielt sich an das Versprechen. Eine Weile hatte sie triumphiert. – Wie die Unke weinte! Tropfen fielen von Blatt zu Blatt, langsam. Sie sagten, daß alles aus sei. Was denn? Alles – aus, alles – aus, sagten sie. Die Zeit nahm träge Schritte, als käme sie nicht mehr weiter. Alles – aus! Was konnte das für ein Vogel sein, in der Ecke bei dem alten Keller, der so wehmütig pfiff? Eigentlich, es war traurig, daß man nun von dem armen Garten fortging. Bedenket, so ganz einsam mußte er jetzt bleiben [25] und niemand kümmerte sich um ihn. Ach, sie war so müde und schläfrig. Jetzt würde ein lauter Tag nach dem anderen kommen. Sie saß nicht mehr zwischen den stillen Blumen, anstrengungslos, verwöhnt – ihr bangte vor Anforderungen und Regsamkeit. Was für gute knappe Hände der große Mann hatte. Nun war es nicht mehr im Garten, daß sie auf seinem Schoße so süß träge sein konnte – – –
Im Zimmerchen brannte die Kerze. Irmelin saß im Bette, machte einen lieblichen runden Rücken, den man bei der unruhigen Beleuchtung drüben im Spiegel auf- und niedertauchen sah und kramte in der Schatulle. Eines nach dem Anderen nahm sie sorgfältig heraus und schichtete es eben so sorgfältig wieder ein. Jedes Einzelne mußte nach langer Zeit wieder ausgekostet werden. Heiligenbilder als erste Liebespfänder, Schmuckfragmente, steilbeschriebene Papierfetzen mit Klein-Jungen-Ortographie, welke Blumen, die raschelten und wie Tee rochen, Visitkarten, rosarote und lila Billetchen und großkuvertige Episteln. Dann die Photographien. Die männlichen. Gott, diese feierlichen Gesichter in den tadellosen hohen Krägen Wenn man bedachte, daß das sozusagen Eigentum war, ein Schatz von Triumphbehagen, den niemand nehmen konnte. Sie fletschte die Zähne vor Erobererlust. Brrr, jetzt explodierte die Kerze, ein-, zwei-, dreimal knallte es, dann wurde die Zunge groß, es prasselte, und die Lichtzunge wurde klein und bläulich. Arbeitsmüde legte sich der verhältnismäßig längliche Docht des kleinen Wachsstümpfchens zur Ruhe. Ffft – ward die Kerze ausgeblasen. Irmelin Rose rutschte ein bischen vom [26] Kissen herunter und knäuelte sich schluchzend vor Lebenslust in die Decken – mit kundiger Hand, wie in einen luftdichten Federnsack. Die Kerze rauchte noch. Ein paar strähnige graue Locken zogen milchig durch die Dunkelheit in die Höhe. Das Fenster war ein großes graues Quadrat, das war beruhigend. Man wußte ja nicht, ob man nicht zufällig blind war, wenn es ganz schwarz gewesen wäre. Es roch süßlich nach verbranntem Wachs wie in einer Kirche. Ach, das Leben – – –