198. Die Flut in Osterwisch.
In der Propstei nahe am Strande der Ostsee lag das große Dorf Osterwisch. Nirgend gab es üppigere Wiesen und fruchtbareres Land; nirgend waren auch reichere und wohlhabendere Bauern. Aber obgleich das Christentum in diesen Gegenden schon Eingang gefunden hatte, so wurden die Leute doch übermütig und gottlos. Immer trieben sich die Männer in dem großen Walde umher, der hinter Osterwisch lag und voll von Bären, Wölfen und Schweinen war. Selbst die Frauen entliefen oft und gerne der Spinnstube und dem Herde, wenn sie einen Wolf im Garne oder in der Grube heulen hörten, und sie töteten ihn dann mit eigner Hand und sangen und jubelten dazu. Die übermütigen Leute ließen keinen Reisenden ungeplündert vorbei und jedem Fahrzeuge paßten sie auf, beraubten es und teilten sich die Beute im Walde. Da war ein alter Mann unter ihnen; der hielt ihnen oft ihre Gottlosigkeit vor und ermahnte sie zur Besserung. Vergebens forderte er sie auf, einen Damm gegen die See zu errichten, die schon einmal früher ein Stück Land mit fortgenommen habe. Aber sie lachten ihn aus und meinten, Gottes Hand könne sie nicht reichen. Da kam in einer Nacht ein Engel zum Greise und befahl ihm, den Ort zu verlassen; denn Gott wolle den Frevel nicht länger ansehn. Eilig erhob er sich und floh auf den Kapellenberg, wo damals eine kleine Kirche stand. Und nun erhob sich ein furchtbarer Sturm und das Wasser stieg so schnell von Nordost her, daß niemand entkam und die See von der Zeit an bis an die Hügel geht. Das Dorf und seine reichen Felder waren am andern Morgen verschwunden; nur bei niedrigem Wasserstande sieht man noch Backsteine und dergleichen am Grunde liegen.
Rethwisch, Ernst und Laune, Bd. I Heft I S. 54.