[267] Die schwarze Kugel

Anfangs sagenhaft, gerüchteweise, ohne Zusammenhang drang aus Asien die Nachricht in die Zentren westlicher Kultur, daß in Sikkhim – südlich vom Himalaja – von ganz ungebildeten, halbbarbarischen Büßern – sogenannten Gosains – eine geradezu fabelhafte Erfindung gemacht worden sei.

Die anglo-indischen Zeitungen meldeten zwar auch das Gerücht, schienen aber schlechter als die russischen informiert, und Kenner der Verhältnisse staunten hierüber nicht, da bekanntlich Sikkhim allem, was englisch ist, mit Abscheu aus dem Wege geht. –

Das war wohl auch der Grund, weshalb die rätselhafte Erfindung auf dem Umwege Petersburg – Berlin nach Europa drang.

Die gelehrten Kreise Berlins waren fast vom Veitstanz ergriffen, als ihnen die Phänomene vorgeführt wurden.

Der große Saal, der sonst nur wissenschaftlichen Vorträgen diente, war dicht gefüllt.

In der Mitte, auf einem Podium, standen die beiden indischen Experimentatoren: der Gosain Deb Schumscher Dschung, das eingefallene Gesicht mit heiliger weißer Asche bestrichen, und der dunkelhäutige [268] Brahmane Radschendralalamitra, – als solcher durch die dünne Baumwollschnur kenntlich, die ihm über die linke Brusthälfte hing.

An Drähten von der Saaldecke herab waren in Mannshöhe gläserne, chemische Kochkolben befestigt, in denen sich Spuren eines weißlichen Pulvers befanden. Leicht explodierbare Stoffe, vermutlich Jodide, wie der Dolmetsch angab.

Unter lautloser Stille des Auditoriums näherte sich der Gosain einem solchen Kochkolben, band eine dünne Goldkette um den Hals des Glases und knüpfte die Enden dem Brahmanen um die Schläfen. – Dann trat er hinter ihn, erhob beide Arme und murmelte die Mantrams – Beschwörungsformeln – seiner Sekte. –

Die beiden asketischen Gestalten standen wie Statuen. Mit jener Regungslosigkeit, die man nur an arischen Asiaten sieht, wenn sie sich ihren religiösen Meditationen hingeben.

Die schwarzen Augen des Brahmanen starrten auf den Kolben. Die Menge war wie gebannt. –

Viele mußten die Lider schließen oder wegsehen, um nicht ohnmächtig zu werden. – Der Anblick solcher versteinerter Gestalten wirkt wie hypnotisierend, und mancher fragte flüsternd seinen Nebenmann, ob es ihm nicht auch scheine, als ob das Gesicht [269] des Brahmanen manchmal wie in Nebel getaucht sei. –

Dieser Eindruck wurde jedoch nur durch den Anblick des heiligen Tilakzeichens auf der dunklen Haut des Inders erweckt, – ein großes weißes U, das jeder Gläubige als Symbol Vishnus des Erhalters auf Stirne, Brust und Armen trägt.

Plötzlich blitzte in dem Glaskolben ein Funken auf, der das Pulver zur Explosion brachte. – Einen Augenblick: Rauch, dann erschien in der Flasche eine indische Landschaft von unbeschreiblicher Schönheit. – Der Brahmane hatte seine Gedanken Projiziert! –

Es war der Tadsch Mahal von Agra, jenes Zauberschloß des Großmoguls Aurungzeb, in dem dieser vor Jahrhunderten seinen Vater einkerkern ließ.

Der Kuppelbau aus bläulichem Weiß wie Kristallschnee – mit schlanken Seitenminaretts – in einer Pracht, die den Menschen auf die Knie zwingt, warf sein Spiegelbild auf den endlosen schimmernden Wasserweg zwischen traumgeschmiegten Zypressen. –

Ein Bild, das dunkles Heimweh weckt nach vergessenen Gefilden, die der Tiefschlaf der Seelenwanderung verschlungen. – – – – – – –

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Stimmengewirr der Zuschauer, ein Staunen und[270] Fragen. – Die Flasche wurde losgewickelt und ging von Hand zu Hand.

Monatelang halte sich so ein fixiertes plastisches Gedankenbild, übersetzte der Dolmetsch, zumal es der immensen stetigen Vorstellungskraft Radschendralalamitras entsprungen sei. – Projektionen europäischer Gehirne dagegen hätten nicht annähernd solche Farbenpracht und Dauer.

Viele ähnliche Experimente wurden noch gemacht, bei denen teils wieder der Brahmane, teils einer oder der andere der berufensten Gelehrten die Goldkette um die Schläfen knüpfte.

Klar wurden eigentlich nur die Vorstellungsbilder der Mathematiker; – recht sonderbar fielen hingegen die Resultate aus, die den Köpfen juridischer Kapazitäten entsprangen. – Allgemeines Staunen aber und Kopfschütteln bewirkte die angestrengte Gedankenprojektion des berühmten Professors Psychiatrie, Sanitätsrats Mauldrescher. – Sogar den feierlichen Asiaten blieb der Mund offen: Eine unglaubliche Menge kleiner mißfarbener Brocken, dann wieder ein Konglomerat verschwommener Klumpen und Zacken war in dem Versuchskolben entstanden.

»Wie italienischer Salat,« sagte spöttisch ein Theologe, der sich vorsichtshalber gar nicht an den Experimenten beteiligt hatte.

[271] Besonders der Mitte zu, wo sich bei wissenschaftlichen Gedanken die Vorstellungen über Physik und Chemie niederschlagen, wie der Dolmetsch betonte, – war die Materie gänzlich versulzt.

Auf Erklärungen, wieso und wodurch die Phänomene eigentlich zustande kämen, ließen sich die Inder nicht ein. »Später einmal, – später« – sagten sie in ihrem gebrochenen Deutsch. – – – – – –

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Zwei Tage darauf fand wieder eine Vorführung der Apparate – diesmal halbpopulär – in einer anderen europäischen Metropole statt.

Wieder die atemlose Spannung des Publikums und dieselben bewundernden Ausrufe, als zuerst unter der Einwirkung des Brahmanen ein Bild der seltsamen tibetanischen Festung Taklakot erschien.

Abermals folgten die mehr oder weniger nichtssagenden Gedankenbilder der Stadtgrößen.

Die Mediziner lächelten nur überlegen, waren jedoch diesmal nicht zu bewegen, in die Flasche – hineinzudenken.

Als endlich eine Gesellschaft Offiziere näher trat, machte alles respektvoll Platz. – Na selbstverständlich! – – – –

»Gustl, was meinst du, denk du amol wos,« sagt ein Leutnant mit gefettetem Scheitel zu einem Kameraden.

[272] »Ah, – i nöt, mir is vüll z'vüll Ziwüll do.«

»Na, aber ich biddde, ich biddde, doch einer von die Herren – – – – – – – –« forderte gereizt der Major auf.

Ein Hauptmann trat vor: »Sö, Dolmetscher, kann ma sich a wos Idealls denken? I wüll ma wos Idealls denken!«

»Was wird es denn sein, Herr Hauptmann?« (»Auf den Zwockel bin ich neugierig,« schrie einer aus der Menge.)

»No,« sagte der Hauptmann, »no, – i wier halt an die ehrenräddlichen Vurschriften aus 'm neuesten bürgerlichen Duellcoder denken!«

»Hm.« der Dolmetsch strich sich das Kinn. »Hm, – ich – hm, ich denke, Herr Hauptmann – hm, – dazu – hm – sind die Flaschen vielleicht doch nicht widerstandsfähig genug.«

Ein Oberleutnant drängte sich vor. »Alsdann laß mich, Kamerad.«

»Ja, ja, laßt's 'n Katschmatschek,« schrien alle. »Dös is a scharfer Denker.«

Der Oberleutnant legte sich die Kette um den Kopf. – »Bitte« (– verlegen reichte ihm der Dolmetsch ein Tuch –) »bitte: ... Pomade isoliert nämlich.« –

Deb Schumscher Dschung, der Gosain mit seinem roten Lendentuch und dem weißgetünchten Gesicht,[273] trat hinter den Offizier. – Er sah diesmal noch unheimlicher aus als in Berlin.

Dann hob er die Arme. – – – – –

Fünf Minuten – – – – –

Zehn Minuten – – nichts.

Der Gosain biß vor Anstrengung die Zähne zusammen. Der Schweiß lief ihm in die Augen.

Da! – Endlich. – – Das Pulver war zwar nicht explodiert, aber eine sammetschwarze Kugel, so groß wie ein Apfel, schwebte frei in der Flasche.

»Dös Werkl spüllt nimmer,« entschuldigte sich verlegen lächelnd der Offizier und trat vom Podium herab. – – Die Menge brüllte vor Lachen. –

Erstaunt nahm der Brahmane die Flasche – – Da! – Wie er sie bewegte, berührte die innen schwebende Kugel die Glaswand. Sofort zersprang diese, und die Splitter, wie von einem Magnet angezogen, flogen in die Kugel, um darin spurlos zu verschwinden.

Der sammetschwarze runde Körper schwebte unbeweglich frei im Raum. –

Eigentlich sah das Ding gar nicht wie eine Kugel aus und machte eher den Eindruck eines gähnenden Loches. – Und es war auch gar nichts anderes als ein Loch. –

Es war ein absolutes: – ein mathematisches »Nichts«! –

[274] Was dann geschah, war nichts als die notwendige Folgeerscheinung dieses »Nichts«. – Alles an dieses »Nichts« angrenzende stürzte naturnotwendig hinein, um darin augenblicklich ebenfalls zu »Nichts« zu werden, d.h. spurlos zu verschwinden.

Wirklich entstand sofort ein heftiges Sausen, das immer mehr und mehr anschwoll, denn die Luft im Saale wurde in die Kugel hineingesaugt. – – – Kleine Papierschnitzel, Handschuhe, Damenschleier – alles riß es mit hinein. –

Ja, als einer von der Miliz mit dem Säbel in das unheimliche Loch stieß, verschwand die Klinge, als ob sie abgeschmolzen wäre. –

»Jetzt dös geht zu weit,« rief der Major bei diesem Anblick, »dös kann i nöt dulden. Geh' mer, meine Herren, geh mer. Biddde, – ich biddde.« –

»Was host dir denn denkt, eigentlich, Katschmatschek?« fragten die Herren beim Verlassen des Saales.

»I? – No – – – – wos ma sich halt a so denkt.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Menge, die sich das Phänomen nicht erklären konnte und nur das schreckliche, immer mehr anwachsende Sausen hörte, drängte angsterfüllt zu den Türen.

Die einzigen Zurückbleibenden waren die beiden Inder.

[275] »Das ganze Universum, das Brahma schuf, Vishnu erhält und Siva zerstört, wird nach und nach in diese Kugel stürzen,« sagte feierlich Radschendralalalamitra, »– das ist der Fluch, daß wir nach Westen gingen, Bruder!«

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»Was liegt daran,« murmelte der Gosain, »einmal müssen wir alle ins negative Reich des Seins.«
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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Meyrink, Gustav. Erzählungen. Des Deutschen Spiessers Wunderhorn. Zweiter Teil. Die schwarze Kugel. Die schwarze Kugel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3729-B