[217] Das Präparat

Die beiden Freunde saßen an einem Eckfenster des Café Radetzky und steckten die Köpfe zusammen.

»Er ist fort, – heute nachmittag mit seinem Diener nach Berlin gefahren. – Das Haus ist vollkommen leer; – ich komme soeben von dort und habe mich genau überzeugt; – die beiden Perser waren die einzigen Bewohner.«

»Also ist er doch auf das Telegramm hereingefallen?!«

»Darüber war ich keinen Moment im Zweifel; wenn er den Namen Fabio Marini hört, ist er nicht zu halten.«

»Wundert mich eigentlich, denn er hat doch Jahre mit ihm zusammengelebt, – bis zu seinem Tode, – was könnte er da noch Neues über ihn in Berlin erfahren?«

»Oho! Professor Marini soll ihm noch vieles geheimgehalten haben; – er hat es selbst einmal so gesprächsweise fallen lassen, – ungefähr vor einem halben Jahr, als unser guter Axel noch unter uns war.«

[218] »Ist denn tatsächlich etwas Wahres an dieser geheimnisvollen Präparationsmethode Fabio Marinis? – glaubst du wirklich so fest daran, Sinclair? –«

»Von ›glauben‹ kann hier gar keine Rede sein. Mit diesen Augen habe ich in Florenz eine von Marini präparierte Kindesleiche gesehen. Ich sage dir, jeder hätte geschworen, daß das Kind bloß schlafe, – keine Spur von Starre, keine Runzeln, keine Falten – sogar die rosa Hautfarbe eines Lebendigen war vorhanden.«

»Hm. – Du denkst, der Perser könne wirklich Axel ermordet und – – –«

»Das weiß ich nicht, Ottokar, aber es ist denn doch unser beider Gewissenspflicht, uns Sicherheit über Axels Schicksal zu verschaffen. – Was, wenn er damals durch irgendein Gift bloß in eine Art Totenstarre versetzt worden wäre! – Gott, wie habe ich auf dem anatomischen Institut den Ärzten zugeredet, – sie angefleht, noch Wiederbelebungsversuche zu machen. – – – Was wollen Sie denn eigentlich, hieß es, – der Mann ist tot, das ist klar, und ein Eingriff an der Leiche ohne Erlaubnis des Dr. Daraschekoh ist unzulässig. Und Sie wiesen mir den Kontrakt vor, in dem ausdrücklich stand, daß Axel dem jeweiligen Inhaber dieses Scheines seinen Körper nach dem Tode verkaufe und dafür [219] bereits am so und sovielten 500 fl. in Empfang genommen und quittiert habe.«

»Nein, – es ist gräßlich, – und so etwas hat in unserem Jahrhundert noch Gesetzeskraft. – So oft ich daran denke, faßt mich eine namenlose Wut. – Der arme Axel! – Wenn er eine Ahnung gehabt hätte, daß dieser Perser, sein wütendster Feind, der Besitzer des Kontraktes sein könne! – Er war immer der Ansicht, das anatomische Institut selbst – –«

»Und konnte denn der Advokat gar nichts ausrichten? –«

»Alles umsonst. – Nicht einmal das Zeugnis des alten Milchweibes, daß Daraschekoh einmal in seinem Garten bei Sonnenaufgang den Namen Axels so lange verflucht habe, bis ihm im Paroxysmus der Schaum vor den Mund getreten sei, wurde beachtet. – – Ja, wenn Daraschekoh nicht europäischer medicinae doctor wäre! – Wozu aber noch reden, – willst du mitgehen oder nicht, Ottokar? Entschließe dich.«

»Gewiß will ich – aber bedenke, wenn man uns erwischt – als Einbrecher! – Der Perser hat einen tadellosen Ruf als Gelehrter! Der bloße Hinweis auf unseren Verdacht ist doch – weiß Gott – kein plausibler Grund. – Nimm es mir nicht übel, aber ist es wirklich ganz ausgeschlossen, daß du dich geirrt [220] hast, als du Axels Stimme vernahmst? – – Fahre nicht auf, Sinclair, bitte, – sage mir noch einmal genau, wie das damals geschah. – Warst du nicht vielleicht schon vorher irgendwie aufgeregt?« –

»Aber gar keine Spur! – Eine halbe Stunde früher war ich auf dem Hradschin und sah mir wieder einmal die Wenzelskapelle und den Veitsdom an, diese alten fremdartigen Bauten mit ihren Skulpturen wie aus geronnenem Blut, die immer von neuem einen so tiefen, unerhörten Eindruck auf unsere Seele machen, – und den Hungerturm und die Alchimistengasse. – Dann ging ich die Schloßstiege herab und bleibe unwillkürlich stehen, da die kleine Tür, die durch die Mauer zum Hause Daraschekohs führt, offen ist. – Im selben Augenblick höre ich deutlich, – es mußte aus dem Fenster herübertönen – eine Stimme [und ich schwöre einen heiligen Eid darauf: es war Axels Stimme] – rufen:

Eins – – zwei – – drei – – vier –

Ach Gott, wäre ich doch damals sofort in die Wohnung eingedrungen; – aber ehe ich mich recht besinnen konnte, hatte der türkische Diener Daraschekohs die Mauerpforte zugeschlagen. – Ich sage dir, wir müssen in das Haus! – Wir müssen! – Was, wenn Axel wirklich noch lebte! – Schau, – man kann uns ja gar nicht erwischen. – Wer geht [221] denn nachts über die alte Schloßstiege, bitte dich, – und ich kann jetzt mit Sperrhaken umgehen, daß du staunen wirst.«


* * *


Die beiden Freunde hatten sich bis zur Dunkelheit in den Straßen umhergetrieben, ehe sie ihren Plan ausführten. Dann waren sie über die Mauer geklettert und standen endlich vor dem altertümlichen Hause, das dem Perser gehörte.

Das Gebäude – einsam auf der Anhöhe des Fürstenbergschen Parkes – lehnt wie ein toter Wächter an der Seitenmauer der grasbewachsenen Schloßstiege.

»Dieser Garten, diese alten Ulmen da unten haben etwas namenlos Grauenhaftes,« flüsterte Ottokar Dohnal, »sieh nur, wie drohend sich der Hradschin vom Himmel abhebt! – Und diese erleuchteten Nischenfenster dort in der Burg! – Wahrhaft, es weht eine seltsame Luft hier auf der Kleinseite. – Als ob sich alles Leben tief in die Erde zurückgezogen hätte – aus Angst vor dem lauernden Tode. Hast du nicht auch das Gefühl, daß eines Tages dieses schattenhafte Bild plötzlich versinken könnte – wie eine Vision, – eine Fata morgana, – daß dieses schlafende, zusammengekauerte Leben wie ein gespenstisches Tier zu etwas Neuem, [222] Schreckhaftem erwachen müßte? – Und sieh nur, da unten die weißen Kieswege – wie Adern.« –

»Komm doch schon,« drängte Sinclair, »mir schlottern die Knie vor Aufregung, – hier, – halte mir unterdessen den Stationsplan.« – –

Die Türe war bald geöffnet, und die beiden tappten eine alte Treppe empor, auf die der dunkle Sternenhimmel durch die runden Fenster kaum einen Schein warf.

»Nicht anzünden, man könnte von unten – vom Gartenhaus – das Licht bemerken, hörst du, Ottokar! Geh dicht hinter mir. – – – –

Achtung, hier ist eine Stufe ausgebrochen. – – – – – Die Gangtür ist offen – – – – hier, hier – links.«

Sie standen plötzlich in einem Zimmer.

»So mach doch keinen solchen Lärm!«

»Ich kann nicht dafür: die Türe ist von selbst wieder zugefallen.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Wir werden Licht machen müssen. Ich fürchte jeden Augenblick etwas umzuwerfen, es stehen so viel Stühle im Weg.«

In diesem Moment blitzte ein blauer Funke an der Wand auf, und ein Geräusch wurde hörbar – wie ein seufzendes Einatmen.

[223] Leises Knirschen schien aus dem Boden aus allen Fugen zu dringen.

Eine Sekunde wieder Totenstille. – Dann zählte laut und langsam eine röchelnde Stimme:

Eins – – – – zwei – – – – drei – –

Ottokar Dohnal schrie auf, kratzte wie wahnsinnig an seiner Streichholzschachtel, – seine Hände flogen vor grauenhaftem Entsetzen. – Endlich Licht – Licht! Die beiden Freunde blickten sich in die kalkweißen Gesichter: »Axel!« –

– – viiier – – fünfsssechsssiiieben


»Dort aus der Nische kommt das Zählen.
Die Kerze anzünden! rasch, rasch!«

achtneunzeeeehnelf

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Von der Decke der Wandvertiefung an einem Kupferstab hing ein menschlicher Kopf mit blondem Haar. – Der Stab drang mitten in die Scheitelwölbung. – Der Hals unter dem Kinn mit einer seidenen Schärpe umwickelt – – und darunter mit Luftröhren und Bronchien die zwei rötlichen Lungenflügel. – Dazwischen bewegte sich rhythmisch das Herz, – mit goldenen Drähten umwunden, die auf den Boden zu einem kleinen elektrischen Apparate führten. – Die Adern, straff gefüllt, leiteten Blut aus zwei dünnhalsigen Flaschen empor.

[224] Ottokar Dohnal hatte die Kerze auf einen kleinen Leuchter gestellt und klammerte sich an seines Freundes Arm, um nicht umzufallen.

Das war Axels Kopf, die Lippen rot, mit blühender Gesichtsfarbe, wie lebend, – die Augen, weit aufgerissen, starrten mit einem gräßlichen Ausdruck auf einen Brennspiegel an der gegenüberliegenden Wand, die mit turkmenischen und kirgisischen Waffen und Tüchern bedeckt schien. – Überall die bizarren Muster orientalischer Gewebe. –

Das Zimmer war voll präparierter Tiere – Schlangen und Affen in seltsamen Verrenkungen lagen unter umhergestreuten Büchern. –

In einer gläsernen Wanne auf einem Seitentische schwamm ein menschlicher Bauch in einer bläulichen Flüssigkeit.

Die Gipsbüste Fabio Marinis blickte von einem Postamente ernst auf das Zimmer herab. –

Die Freunde konnten kein Wort hervorbringen; hypnotisiert starrten sie auf das Herz dieser furchtbaren menschlichen Uhr, das wie lebendig zitterte und schlug.

»Um Gotteswillen – fort von hier – ich werde ohnmächtig. – Verflucht sei dieses persische Ungeheuer.«

Sie wollten zur Türe. –

[225] Da! – wieder dieses unheimliche Knirschen, das aus dem Munde des Präparators zu kommen schien.

Zwei blaue Funken zuckten auf und wurden von dem Brennspiegel gerade auf die Pupillen des Toten reflektiert.

Seine Lippen öffneten sich, – schwerfällig streckte sich die Zunge vor, – bog sich hinter die Vorderzähne, – und die Stimme röchelte:

Ein Vierrrrtel.

Dann schloß sich der Mund und das Gesicht stierte wieder geradeaus. –

»Gräßlich!! – Das Gehirn funktioniert – lebt. – – – – – Fort – fort – ins Freie – – hinaus! – die Kerze, – nimm die Kerze, Sinclair!«

»So öffne doch, ums Himmels willen – warum öffnest du nicht?«

»Ich kann nicht, da – da, schau!«

Die innere Türklinke war eine menschliche Hand, mit Ringen geschmückt. – Die Hand des Toten; die weißen Finger krallten ins Leere. –

»Hier, hier, nimm das Tuch! was fürchtest du dich – – es ist doch unseres Axels Hand!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Sie standen wieder auf dem Gang und sahen, wie die Türe langsam ins Schloß fiel.
Eine schwarze gläserne Tafel hing daran:

[226] –––––––––––––––––––––––––

Dr. Mohammed Daraschekoh

Anatom

–––––––––––––––––––––––––


Die Kerze flackerte im Luftzug, der über die ziegelsteinerne Treppe emporwehte.

Da taumelte Ottokar an die Wand und sank stöhnend in die Knie: »Hier! das da – –« er wies auf den Glockenzug.

Sinclair leuchtete näher hin.

Mit einem Schrei sprang er zurück und ließ die Kerze fallen. – –

Der blecherne Leuchter klirrte von Stein zu Stein. –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Wie wahnsinnig, – die Haare gesträubt, – mit pfeifendem Atem rasten sie in der Finsternis die Stufen hinab.

»Persischer Satan. – Persischer Satan.«

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Meyrink, Gustav. Erzählungen. Des Deutschen Spiessers Wunderhorn. Erster Teil. Das Präparat. Das Präparat. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-371E-5