Die Ampel

An des Jahres Wende sprach ich: Muse,
Keiner Mutter Hand beschert mich! Gib mir
Du mein Angebinde, Muse! fleht ich.
In die Kammer, lauschend von dem Lager,
Sah ich bald der Schwestern eine schreiten.
Auf mein Tischchen setzt sie einer Ampel
Zarte Form mit schlankgeschweiften Henkeln,
Aber die mir keineswegs antik schien.
Ich erschrak. Was meinst du, Muse? Rätst du
Nächtlich auszufeilen meine Verse?
Schon entschwebend, wandte sie das Antlitz
Halb. Ich sah des Musenhauptes edeln
Umriß mit den spottend feinen Lippen...
Als ich dann in neuem Jahr erwachte,
Keine Ampel! Doch ich fand sie wieder –
Und erkannte gleich sie an der zarten
Form und an den schlankgeschweiften – Henkeln
In des Liebchens Hand, das mir die Treppe
Nächtlich hellt' mit stillen Ampelstrahlen.
Scheidend auf die letzte Stufe setzt' sie
Das Geschenk der Muse sacht und küßt' mich.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Meyer, Conrad Ferdinand. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1892). 5. Liebe. Die Ampel. Die Ampel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-357C-E