Die gezeichnete Stirne

»Weib, verrate mir, von wem gerufen
Du zur Leidgesellin dich gegeben?
Wer herunter dieses Kerkers Stufen
Dich gezogen, du mein süßes Leben?«
– »König Enzio, keine Menschen haben
Mich vermocht im Kerker zu verbleichen!
Nein, ein Schicksal war mir eingegraben,
Meine junge Stirne trug ein Zeichen.
Unsre Väter nahmen dich gefangen
Und wir Kinder hatten's bald erfahren,
Daß du nimmer wirst ans Licht gelangen,
König Enzio mit den Ringelhaaren!
Daß du nimmer tragen eine helle
Rüstung wirst, wo die Drommeten klingen,
Daß du nimmer rauschen Wald und Quelle
Hörst, noch einen freien Vogel singen!
Und wir Kinder lauschten sachte, sachte
Durch das Gitter in des Kerkers Tiefe,
Leis und heftig streitend, ob er wachte
Schwerbekümmert, oder ob er schliefe –
Meine Stirne drückt ich an das Eisen,
Drinnen lagst du schlummernd, wie mir deuchte,
Blickte... blickte, war nicht wegzuweisen,
Bis der Wächter drohend mich verscheuchte.
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Mütterlein ersah mich und wehklagte,
Schlug die Hände jammervoll zusammen:
'Kind, wer hat dir in die Stirne' – fragte
Sie – 'gezeichnet dieses Kreuz von Flammen?'
Hieß mich dann in ihren Spiegel schauen –
Teuerwerter Herr, so wahr ich lebe,
Eingezeichnet über meinen Brauen
Waren deines Kerkers Eisenstäbe!
Außen wich das Zeichen; aber innen
Blieb's, da ich zur Maid erwuchs, geschrieben –
Herr, seit jenem Tag war all mein Sinnen,
Dich und deinen Kerker nur zu lieben.«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Meyer, Conrad Ferdinand. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1892). 7. Frech und Fromm. Die gezeichnete Stirne. Die gezeichnete Stirne. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3531-3