Die zweite Welt

»Ich bin nicht frei. Ich werde fest gehalten.
Ich fühls, hab oft darüber nachgedacht.
Ich will nach Gottes Willen mich gestalten,
Und das wird mir so schwer, so schwer gemacht.
O, dürfte meine Frage aufwärts schweben,
Wie ichs für sie ersehne, himmelan,
Empor zur Wahrheit, die mir Antwort geben,
Die mich befrein, die mich erlösen kann!«
»›Komm mit! Ich trage dich auf leichten Schwingen
Von dieser Erde fort zur zweiten Welt.
Ich kann dich nicht bis in den Himmel bringen;
Er öffnet keinem Sterblichen sein Zelt;
Doch will ich dir eins seiner Wunder zeigen,
Wenn du dich meiner Führung anvertraust.
Dein Staunen braucht nicht gegen mich zu schweigen.
Du darfst mir Alles sagen, was du schaust.‹«
[280]
»Ich seh der Erde finstre Schatten fallen,
Unendlich weit, auf Ewigkeiten hin,
Und hör aus ihnen grelle Stimmen schallen
Empor zum Glanz, in dem ich mit dir bin.
Wir schweben hoch, im sanften Erdenscheine,
So mild, wie ihn die stille Mondnacht liebt,
Und um uns klingen überirdisch reine
Accorde, die es nicht auf Erden giebt.«
»›Das ist nicht Erdenglanz und nicht ihr Schatten;
Das ist der Seelen Finsterniß und Licht.
Dort fehlt das Licht, weil sie es niemals hatten,
Doch hier wars stets, drum fehlt auch jetzt es nicht.
Wo du hier bist, das bleibe dir verschwiegen,
Doch deiner Seele ist es wohlbekannt.
Schau hin, schau hin! Siehst du es vor dir liegen,
Der zweiten Welt geheimnißvolles Land?‹«
[281]
»Der zweiten Welt? Ist das nicht auch die Erde?
Gebirge, Land und Wasser, Feld und Au,
So gleich, so ähnlich, daß fast irr ich werde,
Sogar der Dörfer und der Städte Bau!
In klarer Schönheit ragt empor das Reine,
Als hab es sich vom Irdischen befreit;
Ein Nebelzwielicht sondert das Gemeine;
In finstern Schluchten haust die Niedrigkeit.«
»›Du siehst den Trieb nach oben und nach unten,
Die Flug- und Zugkraft dieser Wunderwelt.
Die Gegensätze scheinen zwar verbunden,
Doch nur, bis Gott die letzte Frage stellt.
Nun schau, wie ihr auf sie euch vorbereitet,
Indem ihr hier an eurer Antwort baut!
Das Sein, das sich vor deinem Auge breitet,
Es spricht schon jetzt bestimmt genug und laut.‹«
[282]
»Es leuchtet mir, den Nebeln hoch entstiegen,
Als träumte ich, ein nie geahntes Land.
Ich seh es wie ein Eden vor mir liegen,
Gesegnet überreich von Vaters Hand.
Doch unter jener Dämmrung gähnt der Schauer
Erbarmungslos herauf aus Schlucht und Schlund.
Schwarz liegt dort das Verderben auf der Lauer;
Wem wird wohl seine ganze Tiefe kund!«
»›Einst wird sie kund. Und wehe, wehe Allen,
Die dieses Abgrunds Rachen zugestrebt!
Wem muß der Mensch denn beim Gericht verfallen?
Doch wohl nur dem, wofür er hier gelebt!
Dann wird auch kund, wie hoch die Berge steigen
Für Jeden, der das Graun der Tiefe flieht.
Es soll sich dir die erste Stufe zeigen.
Berichte mir, was jetzt dein Auge sieht!‹«
[283]
»Ich sehe plötzlich sich vor mir entfalten
Ein Leben, wie in einem Zauberreich.
Es regt sich wie von menschlichen Gestalten,
Und doch sind sie nicht völlig menschengleich.
Es ist ein Kommen und ein wieder Gehen,
So leicht und licht, so lieb, so wunderbar;
Ich kann es nicht begreifen, nicht verstehen,
Und doch empfinde ich in mir es klar.«
»›Es mag dir dies Empfinden offenbaren,
Daß deine Seele dieses Leben kennt.
Du sollst die Wahrheit über das erfahren,
Was ihr auf Erden Seelenleben nennt.
Hier wohnt die Seele, nicht in deinem Leibe;
Du wirst von ihr besucht – – du sagst »beseelt«.
Daß sie nicht immerwährend in dir bleibe,
Das ists, das dort die Tiefe dir verhehlt.‹«
[284]
»Die Tiefe dort? Ich seh auch sie sich regen,
So deutlich und doch ebenso versteckt,
Es ist ein unheilkündendes Bewegen,
Das mich im Innern warnt, weil es erschreckt.
Mir scheint, ein Höllennest von Geisterspinnen
In Menschenform sei nur darauf bedacht,
Sich immer neue Fäden auszusinnen
Für ein mir unbekanntes Werk der Nacht.«
»›Du kennst dies Werk. Ich hab von ihm gesprochen,
Als über das Verhehlen ich geklagt:
Dort wird durch falsche Fäden unterbrochen,
Was deine Seele deinem Geiste sagt.
Dann steigt der reine Lobgesang der Sphären
Nicht zu dir nieder in das Erdenthal,
Und es vermag dich nicht mehr zu verklären
Hier dieser Berge heilger Sonnenstrahl.‹«
[285]
»Ich danke dir! Dies Wort aus deinem Munde,
Wie groß ist es, wie groß und schön zugleich!
Es bringt von meiner Seele mir die Kunde
Aus einem andern, nicht des Körpers Reich.
Wie gern kann auf den Irrthum ich verzichten,
Der sich den Leib von ihr bewohnt gedacht!
Wer will, mag sich auch ferner nach ihm richten,
Mich aber hast du von ihm frei gemacht.«
»›Nur dich allein? Auch sie ist frei geworden,
Weil du sie dir nicht mehr im Fleische denkst.
Sie kommt zu dir nun durch die sichern Pforten,
Zu denen du ihr die Erlaubniß schenkst.
Sie wird von keinem Netz mehr aufgehalten,
Das ihr der Feind des lichten Himmels stellt;
Sie kann nun ihre Flügel frei entfalten,
Um dich zu tragen nach der zweiten Welt.‹«
[286]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). May, Karl. Gedichte. Himmelsgedanken. Die zweite Welt. Die zweite Welt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-30F1-C